GESCHICHTE NEWSLETTER / POLITIK - … · Der Versailler Vertrag umfasste insgesamt 440 Artikel....

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NEWSLETTER GESCHICHTE / POLITIK Der Versailler Vertrag www.klett.de © Ernst Klett Verlag GmbH, Leipzig 2009. Von dieser Druckvorlage ist die Vervielfältigung für den eigenen Unterrichtsgebrauch gestattet. Die Kopiergebühren sind abgegolten. 1 Die Vertragsunterzeichnung „Bringen Sie die Deutschen herein!“ rief der der franzö- sische Ministerpräsident Georges Clemenceau am Nach- mittag des 28. Juni 1919 den Saaldienern im Spiegel- saal des Schlosses von Versailles zu. Gefolgt von vier Offizieren betraten die beiden Bevollmächtigten des Deutschen Reiches, der Sozialdemokrat Hermann Müller, seit kurzem Außenminister, und der Zentrums- politiker Johannes Bell, Verkehrs- und Kolonialminister, den einstigen Prunksaal der französischen Könige. Nach einer kurzen Ansprache Clemenceaus unter- schrieben Müller und Bell den in den Monaten zuvor ausgehandelten Friedensvertrag. Anschließend setzten die anwesenden Vertreter aller alliierten und assoziier- ten Länder ihre Unterschrift unter den Vertrag. Der Erste Weltkrieg war nun auch offiziell beendet. Die französischen Gastgeber hatten den berühmten Spiegelsaal von Versailles mit Bedacht für die symbol- trächtige Zeremonie ausgewählt. 1871 war in diesem Saal – kurz vor Ende des Deutsch-Französischen Krieges – das Deutsche Kaiserreich ausgerufen worden. Diese nationale Demütigung durch Deutschland hatte man in Frankreich nie vergessen. Die Annexion Elsass-Loth- ringens 1871 und die erneute Invasion der Deutschen in Nordfrankreich im Ersten Weltkrieg hatten ein Übri- ges getan, die antideutschen Gefühle vieler Franzosen zu verstärken. Der Ort des Friedensschlusses und die demonstrativ demütigende Behandlung der deutschen Vertreter während der Verhandlungen und bei der Unterzeichnung des Vertrages besaßen also eine tiefe symbolische Bedeutung. Nachkriegsziele der Alliierten Der Versailler Friedensvertrag ist vor allem wegen seiner gegen das Deutsche Reich gerichteten Bestimmungen, die von den Deutschen als hart und ungerecht empfunden wurden, in Erinnerung geblieben. Selbst un- ter den Alliierten gab es viele Stimmen, die während der Verhandlungen noch zur Be- sonnenheit geraten hatten. Während vor allem Deutsch- lands Nachbarn Frankreich und Belgien, die im Westen Europas am meisten unter dem Ersten Weltkrieg gelitten hatten, eine be- sonders harte Bestrafung der Deutschen forderten, wollte Groß- britannien das Deutsche Reich zwar ebenfalls schwächen, es aber als wichtigen mitteleuropä- ischen Machtstaat erhalten. US- Präsident Woodrow Wilson favo- risierte eine Politik der Mäßigung und Verständigung, ganz im Sinne seines schon während des Krieges verkündeten „14-Punkte- Programms“, das auf eine ge- rechte Weltordnung und einen dauerhaften Frieden abzielte. Seine Vorstellungen von einem gerechten „Verständigungsfrie- den“ sollte Wilson aber nicht durchsetzen können. Europa nach dem Krieg Rückblende: Der Erste Weltkrieg war im November 1918 zu Ende gegangen. Er hatte nicht nur Mil- lionen Tote gefordert und ganze [1] Die Unterzeichnung des Versailler Vertrages. Im Spiegelsaal von Versailles unterzeichnen Außenminister Hermann Müller (SPD) und Verkehrsminister Johannes Bell (Zentrum) am 28. Juni 1919 den Friedensvertrag. Sie sitzen bzw. stehen mit dem Rücken zum Betrachter. Ihnen gegenüber sitzen: US-Präsident Wilson, der französische Ministerpräsident Clemenceau und der britische Premierminister Lloyd George (zwischen den Pfeilern von links nach rechts). © AKG, Berlin

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Die Vertragsunterzeichnung„Bringen Sie die Deutschen herein!“ rief der der franzö­sische Ministerpräsident Georges Clemenceau am Nach­mittag des 28. Juni 1919 den Saaldienern im Spie gel­saal des Schlosses von Versailles zu. Gefolgt von vier Offi zieren betraten die beiden Bevollmächtigten des Deut schen Reiches, der Sozialdemokrat Hermann Müller, seit kurzem Außenminister, und der Zentrums­politiker Johannes Bell, Verkehrs­ und Kolonialminister, den einstigen Prunksaal der französischen Könige. Nach einer kurzen Ansprache Clemenceaus unter­schrieben Müller und Bell den in den Monaten zuvor ausgehandelten Friedensvertrag. Anschließend setzten die anwesenden Vertreter aller alliierten und assoziier­ten Länder ihre Unterschrift unter den Vertrag. Der Erste Weltkrieg war nun auch offiziell beendet.

Die französischen Gastgeber hatten den berühmten Spiegelsaal von Versailles mit Bedacht für die symbol­trächtige Zeremonie ausgewählt. 1871 war in diesem Saal – kurz vor Ende des Deutsch­Französischen Krieges – das Deutsche Kaiserreich ausgerufen worden. Diese natio nale Demütigung durch Deutschland hatte man in Frankreich nie vergessen. Die Annexion Elsass­Loth­ringens 1871 und die erneute Invasion der Deutschen in Nordfrankreich im Ersten Weltkrieg hatten ein Übri­ges getan, die antideutschen Gefühle vieler Franzosen zu verstärken. Der Ort des Friedens schlusses und die de monstrativ demütigende Behand lung der deutschen Vertreter während der Ver handlungen und bei der Un terzeichnung des Ver trages besaßen also eine tiefe symbolische Bedeu tung.

Nachkriegsziele der AlliiertenDer Versailler Friedensvertrag ist vor allem wegen seiner gegen das Deutsche Reich gerichteten Be stimmungen, die von den Deut schen als hart und ungerecht emp f u n d e n w u r d e n , i n Erinnerung geblieben. Selbst un­ter den Alliierten gab es viele Stimmen, die während der Verhandlungen noch zur Be­sonnenheit geraten hatten.

Während vor allem Deutsch­lands Nachbarn Frankreich und Bel gien, die im Wes ten Europas am meis ten unter dem Ersten Welt krieg ge lit ten hatten, eine be­sonders har te Be stra fung der Deut schen for der ten, woll te Groß­bri tan nien das Deut sche Reich zwar ebenfalls schwächen, es aber als wichtigen mitteleuropä­ischen Macht staat erhalten. US­Präsident Woodrow Wilson favo­risierte eine Politik der Mäßi gung und Verständigung, ganz im Sinne seines schon während des Krieges verkündeten „14­Punk te­Prog ramms“, das auf eine ge­rechte Welt ordnung und einen dauerhaften Frieden abzielte. Seine Vor stel lungen von einem gerechten „Ver ständi gungs frie­den“ sollte Wil son aber nicht durchsetzen können.

Europa nach dem KriegRückblende: Der Erste Weltkrieg war im November 1918 zu Ende ge gangen. Er hatte nicht nur Mil­lionen Tote gefordert und ganze

[1] Die Unterzeichnung des Versailler Vertrages. Im Spiegelsaal von Versailles unterzeichnen Außenminister Hermann Müller (SPD) und Verkehrsminister Johannes Bell (Zentrum) am 28. Juni 1919 den Friedensvertrag. Sie sitzen bzw. stehen mit dem Rücken zum Betrachter. Ihnen gegenüber sitzen: US-Präsident Wilson, der französische Ministerpräsident Clemenceau und der britische Premierminister Lloyd George (zwischen den Pfeilern von links nach rechts).

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Landstriche komplett zerstört, sondern auch die poli­tische Land karte in erheblichem Maße verändert. Einstige Großmächte wie das Deutsche Reich, die ös­terreichisch­ungarische Doppelmonarchie, das rus­sische Zarenreich und das Osmanische Reich waren militärisch besiegt worden und befanden sich zum Teil in Auflösung. Revolution und Bürgerkrieg, zumindest aber Instabilität bestimmten die dortigen Verhältnisse. Aber auch in manchen Siegerstaaten war die Lage teils katastrophal.

Verlauf der FriedensverhandlungenIm Januar 1919 kamen die Vertreter der Siegermächte des Ersten Weltkrieges und der mit ihnen verbundenen Staaten in Paris zusammen, um auf einer Kon ferenz die Nachkriegsordnung zu regeln. Die Ergebnisse flossen in die „Pariser Vorortverträge“ von 1919/20 ein (Vertrag von Trianon mit Ungarn, Vertrag von St. Ger main mit dem nun von Ungarn getrennten Deutsch­Österreich und Vertrag von Sèvres mit dem Osmanischen Reich und Bulgarien). Im „Versailler Vertrag“ schließlich re­gelten die Siegermächte ihre zukünftigen Beziehungen zum Deutschen Reich.

Auch die Repräsentanten der im Krieg unterlegenen Staaten waren nach Paris eingeladen worden, sie blie­ben aber von den Verhandlungen ausgeschlossen. So wurde die deutsche Friedensdelegation lediglich über die Ergebnisse der Verhandlungen informiert. Die wich­tigen Entscheidungen über die künftige Friedensordnung trafen die „Großen Vier“. Dies waren die Vertreter der

Hauptsiegermächte, also der französische Minister prä­si dent Georges Clemenceau, der britische Premier mi­nis ter David Lloyd George, US­Präsident Woodrow Wilson und der italienische Ministerpräsident Vittorio Emanuele Orlando.

Nach mehreren Wochen Verhand lungen legten die Alliierten den Deutschen Anfang Mai 1919 den von ihnen entworfenen Friedensvertrag vor. Auch wenn sich die deutsche Delegation zunächst weigerte, dem Entwurf zuzustimmen, konnte sie den „Gro ßen Vier“ in kurzen Nachverhandlungen nur geringe Zugeständnisse abringen. Die Alliierten beharrten auf der Annahme der Bedingungen und setzten der deutschen Seite ein Ultimatum: Sie drohten mit der Wiederaufnahme der Kampfhandlungen und dem Einmarsch in das Deutsche Reich, sollten die Deut schen den Vertrag so nicht ak­zeptieren. Auf Grund dieser Drohung und der für sie unannehmbaren Ver tragsinhalte trat die deutsche Re­gie rung des sozialdemokratischen Reichskanzlers Philipp Scheidemann am 20. Juni 1919 zurück. Scheidemann hatte schon im Mai 1919 erklärt, dass er einer Demü­tigung Deutschlands nicht zustimmen werde: „Welche Hand müsse nicht verdorren, die sich und uns in diese Fesseln legt.“

Zur Unterzeichnung des Vertrags gab es jedoch keine Alternative. Militärisch war das Deutsche Reich zu ge­schwächt, um eine alliierte Invasion aufhalten zu kön­nen. Realpolitiker wie Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD) oder der Chef der Waffenstillstandskommission und spätere Finanzminister Matthias Erzberger (Zen­

[2] Die Folgen des Friedensvertrages von Versailles für das Deutsche Reich.

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trum) rieten unter diesen Umständen schließlich eben­so zur Annahme des Vertrags wie auch die Oberste Heeresleitung. Schließlich übernahm der Sozialdemo­krat Gustav Bauer als neuer Reichskanzler die Verant­wortung für den unvermeidlichen Schritt. In einer emo­tional aufgeladenen und dramatischen Sitzung stimmte schließlich auch das deutsche Parlament – die in Wei­mar tagende Nationalversammlung – am 22. Juni für die Annahme des Friedensvertrages. Eine Woche spä­ter, am 28. Juni 1919, unterzeichneten Müller und Bell dann den Vertrag. Er trat jedoch nicht sofort, sondern erst einige Monate später, am 10. Januar 1920, in Kraft. Zuvor musste der Vertragstext noch in allen an den Verhandlungen beteiligten Staaten ratifiziert werden.

Die VertragsbedingungenDer Versailler Vertrag umfasste insgesamt 440 Artikel. Deutschland verlor mit dem Vertrag etwa 13 Prozent seines bisherigen Territoriums und ca. zehn Prozent sei­ner ehemaligen Bevölkerung sowie die schon während des Krieges von den Alliierten besetzten früheren deut­schen Kolonien. Das im Deutsch­Französischen Krieg 1870/71 von Deutschland annektierte Elsass­Lothringen fiel an Frankreich zurück, die ehemaligen preußischen Landkreise Eupen und Malmedy wurden Belgien ange­gliedert, Nordschleswig kam zu Dänemark. Das neu gegründete Polen erhielt große Teile der Provinzen Westpreußen und Posen, das wirtschaftlich wichtige oberschlesische Kohlenrevier sowie kleinere Teile Schlesiens und Ostpreußens. Der neue tschechoslowa­kische Staat erhielt das Hultschiner Ländchen in der schlesisch­mährischen Grenzregion. Einige dieser Ge­biete mussten von Deutschland sofort abgetreten wer­den, andere erst nach den von den Alliierten angeord­neten Volksabstimmungen bis 1921. Das Saargebiet, Danzig, das Memelland im Osten und die ehemaligen deutschen Kolonien blieben unter der Aufsicht des Völkerbundes, der im Januar 1920 gebildet wurde, um die neue Friedensordnung zu sichern. Das Rhein land – das gesamte linke Rheinufer und einige „Brückenköpfe“ rechts des Rheins – sollten für eine Dauer von fünf bis 15 Jahren von den Alliierten militärisch besetzt bleiben.

Die Reduzierung des deutschen Heeres auf eine Be­rufs armee von maximal 100 000 Mann ohne schwere Waf fen – sowie zusätzlich einer Marine mit 15 000 Mann – sollte verhindern, dass Deutschland jemals wie­der in die Lage versetzt würde, einen Angriffskrieg zu führen. Der Besitz von Panzer­ und Luftwaffen wurde Deutschland verboten.

ReparationsforderungenBesonders hart war das Deutsche Reich von den hohen Reparationsforderungen der Alliierten betroffen. Da Deutschland für alle entstandenen Kriegsschäden ver­antwortlich gemacht wurde, sollte es auch alle Kriegs­kosten tragen und diese in Form von Sachleistungen und Geldzahlungen begleichen. Die Gesamtsumme der

Reparationsleistungen wurde nach längeren Verhand­lungen im Jahr 1921 auf 132 Milliarden Goldmark fest­gelegt – eine unvorstellbar hohe Summe, von der klar war, dass Deutschland sie nicht tragen konnte. Dass diese Forderung dennoch erhoben wurde, hatte mit der wirtschaftlichen Situation der Siegerstaaten zu tun. Mit den Reparationsleistungen sollten nicht nur die Kriegsschäden, sondern auch die Kriegsfolgekosten und vor allem die immensen Schulden beglichen wer­den. Insbesondere Großbritannien und Frankreich hat­ten hohe Kredite bei den USA aufgenommen, um den Krieg zu finanzieren.

Die Höhe der Reparationen und der Modus der Rück­zahlung boten immer wieder neuen Konfliktstoff. So nahmen Franzosen und Belgier Anfang 1923 ausblei­bende Lieferungen zum Anlass, um ins Ruhrgebiet ein­zumarschieren. In Deutschland führten die Reparations­forderungen zu wirtschaftlichen Problemen und trugen durch die Instrumentalisierung seitens der innenpoli­tischen Opposition zur Destabilisierung der Wei marer Republik bei. Sie waren aber keineswegs die alleinige Ursache für das spätere Scheitern der Republik, zumal die ursprüngliche Reparationssumme in Verhand lungen immer weiter reduziert wurde. 1932 wurden die Zahlungen faktisch eingestellt. Insgesamt zahlte Deutsch­land zwischen 21 (alliierte Angaben) und 67 Mil liarden Goldmark (deutsche Angaben) an Reparationen.

Versailles aus heutiger SichtDie Art und Weise, wie Deutschland von den Alliierten be handelt worden war, und einige der Vertrags be din­gungen selbst, empfanden viele Deutsche als demüti­gende Kränkung. Kritik und offener Hass entzündeten sich vor allem am Artikel 231 – dem in der Weimarer Re­ publik sogenannten „Schmachparagraphen“. Er schrieb Deutschland und seinen Verbündeten die Ver ant wor­tung für den Krieg und seine Folgen zu. Aus der um­strittenen Formulierung des Paragraphen 231 wurde in der bewussten Zuspitzung der Nationalkonservativen und der rechtsradikalen Kräfte in Deutschland schnell eine „Alleinschuldthese“, was weder sachlich noch nach dem Wortlaut des Vertragstextes zutraf.

Überhaupt scheinen die deutschen Reaktionen auf den Friedensvertrag aus heutiger Sicht überzogen. Der Vertrag bedeutete immerhin das Ende eines mörde­rischen, von Deutschland zu einem maßgeblichen Teil mit zu verantwortenden, Krieges. Eine von den Deut­schen bestimmte Nachkriegsordnung hätte nach einem deutschen Sieg für die besiegten Gegner wohl weitaus dramatischer ausgesehen. Die „Kriegszieldiskussion“ wäh rend des Krieges und der 1918 mit der Sowjet­Regierung abgeschlossene „Diktatfrieden“ von Brest­Litowsk geben Anlass zu dieser Vermutung. Vergessen schien in Deutschland auch, dass territoriale Verluste, wirtschaftliche Verpflichtungen und Entschädigungen bei Friedensschlüssen seit jeher den Besiegten aufge­bürdet wurden.

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Trotz der teils harten Bestimmungen des Vertrages hätte es für Deutschland nach dem verlorenen Krieg durchaus schlimmer kommen können. In Versailles war am Ende ein Kompromissfrieden entstanden, der die Maximalforderungen einiger Alliierter – etwa nach ei­ner Teilung Deutschlands – nicht aufnahm. Deutschland blieb so auch nach Versailles politisch und wirtschaft­lich eine europäische Großmacht mit Entwicklungs­potential und Perspektiven.

Versailles und die FolgenTrotzdem spielte die tatsächliche und gefühlte Demü­tigung durch die Alliierten während der Weimarer Re­publik und im „Dritten Reich“ eine zentrale Rolle in der Gefühlswelt der Deutschen. Die stetige Instrumen ta­lisierung des „Schmachfriedens“ durch nationalistische, monarchistische und rechtsextreme Kreise erwies sich am Ende der Weimarer Republik als verhängnisvoller für die weitere Entwicklung als der Frie densvertrag selbst. Zumal dieser durch die Ver stän di­gungspolitik in den 1920er­Jahren viel von seiner ursprünglichen Härte verloren hatte. Im Verbund mit der auf Lüge und Selbst­täuschung aufbauenden „Dolchstoß le­gende“ – angeb lich war das „im Felde unbe­siegte Heer“ durch die im November 1918 ausgebrochene Revolution hinterrücks „er­dolcht“ worden – und einer ebenso fal schen „Kriegs unschuldthese“ lieferte „Ver sailles“ der deutschen Rechten immer wieder neuen Nährstoff, die parlamentarische Demokratie und ihre Vertreter zu verunglimpfen. Der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger und Reichs außenminister Walther Rathenau zähl­ten zu den ersten prominenten Opfern dieser Diffamierungs kam pagnen. Sie wurden von An­hängern rechtsextremer Grup pen ermordet.

Im Programm der Nationalsozialisten nahm Versailles gleichfalls eine zentrale Stel lung ein. Hitlers auf „Revanche“ und Revision aus­gerichtetes außenpolitisches Programm wur­de nach 1933 von den Nationalsozialisten in die Praxis umgesetzt. An Stelle der bisherigen erfolgreichen Verhandlungspolitik trat nun eine offene Aggressionspolitik: Der Austritt aus dem Völkerbund 1933, dem Deutschland erst 1926 beigetreten war, die Remilitarisierung und Wieder auf rüstung, der völkerrechtswid­rige Ein marsch in das entmilitarisierte Rheinland 1936 und in Österreich 1938, die Zer schlagung der Tschechoslowakei und schließlich der mit dem Angriff auf Polen 1939 entfesselte Zweite Weltkrieg sollten die „Schmach“ von Versailles tilgen – mit ver­hängnisvollen Folgen für die Welt.

[4] „Frei von Versailles“, Plakat der DNVP zur Reichstagswahl 1920

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[3] „Unerfüllbarer Friede“?Reichsaußenminister Ulrich von Brockdorff-Rantzau (1869–1928) verteidigt bei der Entgegennahme des Ent-wurfs des Friedensvertrages in Versailles am 7. Mai 1919 noch einmal die deutsche Position gegen über den Alliierten:Meine Herren! Wir sind tief durchdrungen von der erha­benen Aufgabe, die uns mit Ihnen zusammengeführt hat: Der Welt rasch einen dauernden Frieden zu geben. Wir täuschen uns nicht über den Umfang unserer Niederlage, den Grad unserer Ohnmacht. Wir wissen, daß die Gewalt der deutschen Waffen gebrochen ist; wir kennen die Wucht des Hasses, die uns hier entgegentritt, und wir ha­ben die leidenschaftliche Forderung gehört, daß die Sieger uns zugleich als Überwundene zahlen lassen und als Schuldige bestrafen sollen.

Es wird von uns verlangt, daß wir uns als die allein Schuldigen bekennen; ein solches Bekenntnis wäre in meinem Munde eine Lüge. Wir sind fern davon, jede Verantwortung dafür, daß es zu diesem Weltkriege kam,

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und daß er so geführt wurde, von Deutschland abzuwäl­zen. Die Haltung der früheren Deutschen Regierung auf den Haager Friedenskonferenzen [1899/1907], ihre Hand­lungen und Unterlassungen in den tragischen zwölf Juli­tagen [1914] mögen zu dem Unheil beigetragen haben, aber wir bestreiten nachdrücklich, daß Deutschland, des­sen Volk überzeugt war, einen Verteidigungskrieg zu füh­ren, allein mit der Schuld belastet ist.

Keiner von uns wird behaupten wollen, daß das Unheil seinen Lauf erst in dem verhängnisvollen Augenblick be­gann, als der Thronfolger Österreich­Ungarns den Mörder­händen zum Opfer fiel [gemeint ist das Attentat von Sara­jewo am 28. Juni 1914, das letztlich den Ersten Weltkrieg auslöste]. In den letzten 50 Jahren hat der Imperialismus aller europäischen Staaten die internationale Lage chro­nisch vergiftet. Die Politik der Vergeltung wie die Politik der Expansion und die Nichtachtung des Selbst bestim­mungs rechtes der Völker hat zu der Krankheit Europas beigetragen, die im Weltkrieg ihre Krisis erlebte. Die rus­sische Mobilmachung nahm den Staatsmännern die Möglichkeit der Heilung und gab die Entscheidung in die Hand der militärischen Gewalten.

Die öffentliche Meinung in allen Ländern unserer Gegner hallt wider von den Verbrechen, die Deutschland im Kriege begangen habe. Auch hier sind wir bereit, ge­tanes Unrecht einzugestehen. Wir sind nicht hierherge­kommen, um die Verantwortlichkeit der Männer, die den Krieg politisch und militärisch geführt haben, zu verklei­nern und begangene Frevel wider das Völkerrecht abzu­leugnen. Wir wiederholen die Erklärung, die bei Beginn des Krieges im Deutschen Reichstag abgegeben wurde. Belgien ist Unrecht geschehen, und wir wollen es wieder gutmachen [gemeint ist der völkerrechtswidrige deutsche Einmarsch in Belgien zu Beginn des Ersten Weltkrieges].

Aber auch in der Art der Kriegführung hat nicht Deutschland allein gefehlt. Jede europäische Nation kennt Taten und Personen, deren sich die besten Volksgenossen ungern erinnern. Ich will nicht Vorwürfe mit Vorwürfen erwidern, aber wenn man gerade von uns Buße verlangt, so darf man den Waffenstillstand nicht vergessen. Sechs Wochen dauerte es, bis wir ihn erhielten, sechs Monate, bis wir Ihre Friedensbedingungen erfuhren. Verbrechen im Kriege mögen nicht zu entschuldigen sein, aber sie ge­schehen im Ringen um den Sieg, in der Sorge um das nationale Dasein, in einer Leidenschaft, die das Gewissen der Völker stumpf macht. Die Hunderttausende von Nichtkämpfern, die seit dem 11. November [1918, dem Tag des Waffenstillstands] an der Blockade zugrunde gin­gen, wurden mit kalter Überlegung getötet, nachdem für unsere Gegner der Sieg errungen und verbürgt war. Daran denken Sie, wenn Sie von Schuld und Sühne sprechen.

Das Maß der Schuld aller Beteiligten kann nur eine un­parteiische Untersuchung feststellen, eine neutrale Kommission, vor der alle Hauptpersonen der Tragödie zu Worte kommen, der alle Archive geöffnet werden. Wir haben eine solche Untersuchung gefordert, und wir wie­derholen die Forderung. (…)

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Als nächstes Ziel betrachte ich den Wiederaufbau der von uns besetzt gewesenen und durch den Krieg zerstör­ten Gebiete Belgiens und Nordfrankreichs. Die Ver pflich­tung hierzu haben wir feierlichst übernommen, und wir sind entschlossen, sie in dem Umfang auszufahren, der zwi schen uns vereinbart ist. Dabei sind wir auf die Mitwir­kung unserer bisherigen Gegner angewiesen. Wir können das Werk nicht ohne die technische und finanzielle Betei li­gung der Sieger vollenden; Sie können es nur mit uns durch­fuhren. Das verarmte Europa muß wünschen, daß der Wie­der aufbau mit so großem Erfolg und so wenig Auf wand wie möglich durchgeführt wird. Der Wunsch kann nur durch eine klare geschäftliche Verständigung über die bes­ten Methoden erfüllt werden. Die schlechteste Methode wäre, die Arbeit weiter durch deutsche Kriegsgefangene be sorgen zu lassen. Gewiß, diese Arbeit ist billig. Aber sie käme der Welt teuer zu stehen, wenn Haß und Verzweiflung das deutsche Volk darüber ergreifen würde, daß seine ge­fangenen Söhne, Brüder und Väter über den Vorfrieden hinaus in der bisherigen Fron weiter schmachteten. Ohne eine sofortige Lösung dieser allzu lange verschleppten Frage können wir nicht zu einem dauernden Frieden gelangen.

Unsere beiderseitigen Sachverständigen werden zu prü­fen haben, wie das deutsche Volk seiner finanziellen Ent­schädigungspflicht Genüge leisten kann, ohne unter der schweren Last zusammenzubrechen. Ein Zusammenbruch würde die Ersatzberechtigten um die Vorteile bringen, auf die sie Anspruch haben, und eine unheilbare Verwirrung des ganzen europäischen Wirtschaftslebens nach sich zie­hen. Gegen diese drohende Gefahr mit ihren unabseh­baren Folgen müssen Sieger wie Besiegte auf der Hut sein. Es gibt nur ein Mittel, um sie zu bannen: das rückhaltlose Bekenntnis zu der wirtschaftlichen und sozialen Solidarität der Völker zu einem freien und umfassenden Völkerbund.

Meine Herren! Der erhabene Gedanke, aus dem furcht­barsten Unheil der Weltgeschichte durch den Völkerbund den größten Fortschritt der Menschheitsentwicklung her­zuleiten, ist ausgesprochen und wird sich durchsetzen; nur wenn sich die Tore zum Völkerbund allen Nationen öffnen, die guten Willens sind, wird das Ziel erreicht werden, nur dann sind die Toten dieses Krieges nicht umsonst gestor­ben. Das deutsche Volk ist innerlich bereit, sich mit seinem schweren Los abzufinden, wenn an den vereinbarten Grundlagen des Friedens nicht gerüttelt wird. Ein Frieden, der nicht im Namen des Rechts von der Welt verteidigt werden kann, würde immer neue Widerstände gegen sich aufrufen. Niemand wäre in der Lage, ihn mit gutem Gewissen zu unterzeichnen, denn er wäre unerfüllbar. Niemand könnte für seine Ausführung die Gewähr, die in der Unterschrift liegen soll, übernehmen.

Wir werden das uns übergebene Dokument mit gutem Willen und in der Hoffnung prüfen, daß das Endergebnis unserer Zusammenkunft von uns allen gezeichnet werden kann.

Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau, Dokumente (Berlin-Charlottenburg 1920), S. 113ff. (http://www.dhm.de/lemo/html/dokumente/brockdorff/index.html)

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schärft. Die Grenzen werden hermetisch abgeschlossen. Die neutralen Länder haben bereits Anweisung von den Alliierten, jede Ein­ und Ausfuhr nach bzw. von Deutschland zu sperren. Die wehrfähige Bevölkerung kann, da es sich um Kriegszustand handelt, in Kriegsgefangenschaft abge­führt werden. Die übrige Bevölkerung in den weiten be­setzten Gebieten wird nach Kriegsrecht behandelt; es ist zu erwarten, daß die Alliierten mit den stärksten Repre­ssalien vorgehen werden. Die Requisitionen werden in härtestem Maßstab durchgeführt werden. Von Osten her werden die Polen ins Land einrücken.

2. Innenpolitische Folgen: Allgemeine Lebensmittel­, Waren­ und Rohstoffnot in Deutschland. Von den Grenzen Deutschlands werden die Bevölkerungen von Osten und Westen nach dem Innern Deutschlands zusammenströ­men und die Lebensmittelnot ins Ungeheure steigern. Durch die Besetzung des Ruhrgebietes fällt der Nachschub an Kohlen fort, daher ist allgemeiner Zusammenbruch des

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[5] Unterzeichnen oder ablehnen?In einer Denkschrift vom 1. Juni 1919 erläutert der Leiter der deutschen Friedensdelegation, der Zentrumspolitiker und spätere Reichsfinanzminister Matthias Erzberger (1875–1921 der Reichsregierung die zwei Szenarien, die sich nach einer Unterzeichnung bzw. nach einer Ablehnung des Friedensvertrages für Deutschland ergeben würden:I. Wenn der Friede unterzeichnet wird.Ungeheure schwere Lasten ruhen auf dem deutschen Volk.

1. Außenpolitische Folgen: Der Kriegszustand hört auf. Die Blockade wird beseitigt. Die Grenzen öffnen sich, es kommen wieder Lebensmittel und Rohstoffe ins Land, der deutsche Kaufmann kann auf Privatkredit Waren kaufen. Der Export kann wieder beginnen. Die Kriegsgefangenen kommen wieder in die Heimat zurück. Polen wird gezwun­gen, seine Angriffsabsichten aufzugeben. Die Einheit des Reiches bleibt bestehen.

2. Innenpolitische Folgen: Die Steuerlasten wer­den außerordentlich drückend sein, aber durch die vermehrte Einfuhr von Lebensmitteln, Waren und Rohstoffen wird eine Beruhigung und ein gewisser Ausgleich geschaffen. Die Arbeit wird in steigen­dem Umfang wieder aufgenommen werden kön­nen. Neben der Befriedigung der Inlandsbedürfnisse kommt der Außenhandel wieder in Gang. Der Bolschewismus verliert an Werbekraft. Arbeitslust und Arbeitsleistungen werden wieder wachsen. Durch vermehrte Kohlenproduktion wird die Ver­kehrslage gebessert. Lebensmittel, Waren und Roh­stoffe sind die Voraussetzungen für die Arbeitslust und Arbeitsmöglichkeit, die nötig sind, um den Frie densvertrag durchzuführen. Die gegenwärtige Regierung bleibt aller Voraussicht nach. Von rechts her und von einem Teil des liberalen Bürgertums wird ein erbitterter Kampf gegen die Regierung entbrennen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß es zu einem militärischen Putsch gegen die Regierung kommt. (…) Die Bewegung wird aber wahrschein­lich an der vorbehaltslosen Friedenssehnsucht der großen Mehrheit des Volkes wie an der greifbar in Erscheinung tretenden Besserung der allgemeinen Lage durch den Friedenszustand bald verpuffen.

II. Wenn der Friede nicht unterzeichnet wird.1. Außenpolitische Folgen: Der Kriegszustand

wird wieder aufgenommen, und zwar wahrschein­lich sofort mit dreitägiger Kündigung des Waffen­stillstandes. Die Alliierten, und zwar sämtliche, auch die Amerikaner, rücken in breitester Front vor, wie weit, ist nicht bekannt, aber mindestens bis zu einer Linie, die durch Kassel parallel des Rheins läuft. Insbesondere wird das Ruhrgebiet besetzt. Außerdem liegen Nachrichten vor, nach denen die Alliierten einen Korridor von Frankfurt bis Prag bilden wollen, um Norddeutschland von Süd­deutsch land zu trennen. Die Blockade wird ver­

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[6] „Germania am Marterpfahl“, Propagandapostkarte gegen die Bestimmungen des Versailler Vertrages, ca. 1920

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Verkehrs und Hungersnot in den großen Städten in eini­gen Wochen zu erwarten. Überhandnehmen des Bolsche­wismus, der seine Zeit gekommen sieht. Plünderung, Mord und Totschlag wird an der Tagesordnung sein. In der allgemeinen Verwirrung wird es kein Nachrichtenwesen mehr geben. Daher Atomisierung Deutschlands. Die Be­hörden werden nicht mehr arbeiten können, da sie keine Autorität mehr besitzen und von oben her keine Weisungen mehr empfangen können. Stillstand der ganzen Staats­maschine. Der Mangel an Lebensmitteln und Bedürfnis­waren wird ein wahnsinniges Emporschnellen der Preise hervorrufen. Die Folge davon ist die völlige Entwertung des Geldes. Wir werden dann tatsächlich russische Ver­hältnisse in Deutschland bekommen. Aus Angst vor die­sem Terror werden, wie in Rußland, zahlreiche bürgerliche Elemente der äußersten Linken in die Arme geführt wer­den. Der andere Teil wird sich zur Rechten schlagen. Blutiger Bürgerkrieg, vor allem in Berlin und in den großen Städten.

Das Deutsche Reich fällt auseinander. Die einzelnen Frei­staaten werden dem Anerbieten und dem Druck der Alliierten, mit ihnen Frieden zu schließen, nicht widerste­hen können. Wenn schon jetzt in Bayern, in den Rhein­landen und auch im Osten solche Tendenzen auftreten, so ist dies um so sicherer zu erwarten, wenn der völlige Zusammenbruch Deutschlands Wirklichkeit geworden ist. Die rheinische Republik wenigstens ist in einigen Tagen Tatsache geworden. Werden diese Tendenzen verwirklicht, so werden die Alliierten die in Betracht kommenden deut­schen Staaten so fest an sich binden, daß das Deutsche Reich tatsächlich aufgehört hat zu existieren. (…) Die Spekulation, als ob die Alliierten die Verwaltung eines am Boden liegenden Deutschlands übernehmen würden, dürf­te verfehlt sein. Dieser Zustand der Ohnmacht Deutsch­lands wäre einer mächtigen Strömung innerhalb der Alliier ten (Frankreich und England) erwünscht. Die Alliier­ten würden Deutschland daher auflösen und die einzelnen Teile sich selbst überlassen.

Die Folgen eines durch Nichtunterzeichnung hervorge­rufenen Einmarsches der Alliierten wären, kurz zusammen­gefaßt:

I. Zertrümmerung des Reiches, Auflösung desselben in Einzelstaaten. Der Haß der Einzelstaaten gegen Preußen, dem die Verantwortung für die Katastrophe Deutschlands zugeschrieben wird, würde die Trennung der Einzelstaaten zu einer dauernden machen.

II. Nach kurzer Frist müßte doch Frieden geschlossen werden, aber nicht vom Reich, sondern von den Einzel­staaten, denen zur Bedingung gemacht würde, keine Ein­heitsbildung mehr einzugehen. Dieser Friede wäre noch schlimmer als der jetzige. III. Sturz der Regierung und Ersetzung derselben durch Unabhängige [Sozialdemokraten der USPD] und Kommunisten, Auflösung der Reichs­wehrbrigaden, Ordnungslosigkeit im ganzen Lande.

Matthias Erzberger, Denkschrift vom 1. Juni 1919, zit. nach: Klaus Schwabe (Hg.), Quellen zum Friedensschluß von Versailles, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1997, Dokument 116, S. 308ff.

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[7] „Deutschland fühlte sich als Nation zweiten Ranges“Der Historiker Heinrich August Winkler (geb. 1938) hat den Versailler Vertrag und seine Folgen für die deutsche Gesellschaft als einen „unbewältigten Frieden“ bezeich-net. Über die Auswirkungen der Vertragsunterzeichnung schreibt Winkler in seinem Standardwerk zur Geschichte der Weimarer Republik:In keinem Punkt war sich Nachkriegsdeutschland fortan so einig wie in der Empörung über das „Diktat“ der Sieger. Was im Vertrag von Versailles stand, wurde nicht an dem ge­messen, was Deutschland selbst an Kriegszielen verfolgt und, im Vertrag von Brest­Litowsk, durchgesetzt hatte. Maß­ stab der Beurteilung waren allein jene Vorstellungen von einem gerechten Frieden, die sich mit den Vierzehn Punkten [des US­Präsidenten] Woodrow Wilson verknüpf ten. Das Sel bstbestimmungsrecht der Völker, Wilsons wirkungsvollste Parole, wurde durch den Vertrag von Versailles in der Tat nachhaltig verletzt. Das galt vor allem im Hinblick auf die deutsche Ostgrenze. Aber gab es irgend eine Chance, Polen, dem die staatliche Existenz seit eineinhalb Jahrhunderten brutal verweigert worden war, mit deutscher Zustimmung zu einem lebensfähigen, unabhängigen Staat zu machen? War im östlichen Mittel­ und in Südosteuropa, in Gebieten mit nationaler Gemengelage also, das Selbst bestimmungs­recht des einen Volkes überhaupt durchsetzbar, ohne das anderer Völker zu beeinträchtigen? Und was das Selbst­bestimmungsrecht der Öster reicher anging: Wie hätten die Völker in den Siegerstaaten reagiert, wenn das geschla­gene Deutschland durch einen Anschluß Deutsch­Öster­reichs mit einem beträchtlichen Gewinn an Land und Leuten aus dem Krieg herausgegangen wäre?

Die Erwartungen ihrer eigenen Völker setzten die Staats­männer der Siegerstaaten in jeder Hinsicht unter massiven Druck. Für die Kriegskosten würden die Deutschen auf­kommen: Das war den Franzosen während des Krieges von der Regierung in Paris immer wieder versichert worden, und dieses Versprechen galt es nun einzulösen. Die Repa­ra tionen, deren Höhe noch immer nicht absehbar war, mußten Deutschland auf das schwerste belasten und eine „Rückkehr zur Normalität“ auf Jahre hinaus unmöglich machen. Aber in Frankreich wie in England wäre jede Re­gierung, die die Folgelasten des Krieges nicht den „Boches“ oder „Krauts“ [die in Frankreich bzw. England besonders im Krieg gebräuchlichen Schimpfnamen für die Deutschen], sondern dem eigenen Volk auferlegt hätte, durch einen Sturm der Entrüstung aus dem Amt gefegt worden.

Erwartet wurde von den Regierungen der Entente [der gegen Deutschland verbündeten Siegermächte] auch, daß sie einen Frieden zustande brachten, der eine deutsche Revanche für alle Zeit ausschloß. […]

Deutschland fühlte sich durch den Vertrag von Versailles auf den Platz einer Nation zweiten Ranges zurückgewor­fen. Vom Völkerbund […] war es fürs erste ausgesperrt; seine Souveränität war drastisch eingeschränkt, sein Terri­torium geschrumpft, seine Wirtschaftskraft geschwächt, sein militärisches Potential nur noch ein schwacher Abglanz dessen, was der Hohenzollernstaat einst besessen hatte.

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Aber das Reich bestand fort; es war noch immer das bevöl­kerungsreichste Land westliche der russischen Grenzen und die wirtschaftlich stärkste Macht Europas.

Auch außenpolitisch war Deutschlands Lage keineswegs hoffnungslos. (…) Zwischen den Westmächten und Sowjetrussland klaffte ein Abgrund; die alliierte Intervention zugunsten der „Weißen“ [im russischen Bürgerkrieg] en­dete erst im Spätjahr 1920. Das republikanische Deutsch­land hatte zwar die diplomati schen Beziehungen zu Mos­kau […] nicht wieder aufgenommen. Aber eine An näh­erung der beiden „Parias“ [Ausgestoßene, Außen seiter] der neuen Friedensordnung von 1919 lag in der Logik der Entwicklung. Deutschlands Aussichten, wieder zu einer europäischen Großmacht aufzusteigen, waren durch den Vertrag von Versailles keineswegs zerstört worden.

Innenpolitisch wurde „Versailles“ alsbald zu einer Waffe der Rechten. Die Versicherungen von DNVP und DVP [Deutschnationale Volkspartei und Deutsche Volkspartei], die parlamentarische Mehrheit, die für die Unterzeichnung des Vertrages stimmte, habe sich von patriotischen Beweg­gründen leiten lassen, geriet rasch in Vergessenheit. Die republikanischen Kräfte mußten mit dem Vorwurf leben, sie hätten durch die Unterschrift unter den Vertrag die Hand zur Erniedrigung Deutschlands gereicht. Seit im Mai 1919 die Friedensbedingungen der Alliierten bekannt ge­

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worden waren, hatten auch jene Mahner keine Chance mehr, die eine kritische Durchleuchtung des deutschen Anteils am Kriegsausbruch von 1914 verlangten. […] Im Kampf gegen die „Kriegsschuldlüge“ fanden sich Vertreter unterschiedlichster Richtungen zusammen; das Auswärtige Amt förderte entsprechende Aktivitäten, und die deutsche Geschichtswissenschaft stellte sich nahezu geschlossen in den Dienst der vermeintlich guten Sache. Aus der Abwehr der falschen These, Deutschland sei allein schuld am Welt­krieg, erwuchs binnen kurzem eine deutsche Kriegs un­schuld legende. Sie trug kaum weniger als ihre Zwillings­schwester, die „Dolchstoßlegende“ [nach der das deut­sche Heer im Ersten Weltkrieg unbesiegt geblieben, aber durch die Revolution vom November 1918 hinterrücks erdolcht worden wäre], dazu bei, jenes nationalistische Klima zu erzeugen, in dem sich das politische Leben der Weimarer Republik entwickelte.

Heinrich August Winkler: Weimar. Ein Lesebuch zur deutschen Geschichte 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie. München: Verlag C. H. Beck 1993, S. 96ff. (ISBN: 978-3406-42038-2)

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Zeittafel: Der Versailler Vertrag4. Oktober 1918 die neue Reichsregierung unter Prinz Max von

Baden richtet ein Waffenstillstandsersuchen an Präsident Woo­drow Wilson, in dem sie um Vermittlung eines Friedens bittet.

9. November 1918 doppelte Ausrufung der Republik in Berlin durch Philipp Scheidemann (parlamentarische Republik) und Karl Liebknecht (Räterepublik)

10. November 1918 Bildung des Rates der Volksbeauftragten als provisorische Regierung

11. November 1918 Die deutsche Waffenstillstandsdelegation, die von Matthias Erzberger (1921 ermordet) angeführt wurde, muss auf Weisung der OHL die Waffenstillstands bedingungen annehmen.

6. – 15. Januar 1919 Spartakusaufstand in Berlin (Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg)

18. Januar 1919 Beginn der Friedenskonferenz in Versailles19. Januar 1919 Wahlen zur Nationalversammlung 6. Februar 1919 Eröffnung der Nationalversammlung in Weimar11. Februar 1919 Friedrich Ebert (SPD) wird 1. Reichspräsident7. Mai 1919 Übergabe des alliierten Friedensentwurfes an die

deutsche Delegation unter dem Außenminister Ulrich Graf von Brockdorff­Rantzau

28. Juni 1919 Unterzeichnung des Versailler Vertrages durch die Minister Hermann Müller (SPD) und Johannes Bell (Zentrum)

10. Januar 1920 Inkrafttreten des Versailler Vertrages27. April 1921 Festsetzung der Reparationen auf 132 Mrd.

Goldmark

1. Nenne die wichtigsten Bestimmungen des Versailler Vertrages. Welche trafen in Deutschland auf besonderen Unmut (VT, M2, M3)?

2. Stelle dir vor, das Bild M1 erscheint am Tag nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrages in einer deutschen und einer französischen Zeitung. Verfasse jeweils eine Bildlegende.

3. Lies M5 und fasse in fünf Stichpunkten zusammen, was Erzberger im Falle einer Nichtunterzeichnung des Vertrages befürchtet. Welche Probleme sieht er im Fall einer Akzeptanz des Vertrages? Untersuche, inwieweit seine Befürchtungen zu-trafen und welche Folgen er nicht vorhersah.

4. Stellt euch vor, ihr seid Abgeordnete der Weimarer Nationalversammlung und müsst über die Unterzeichnung des Versailler Vertrages entscheiden. Bringt eure Meinung in einer Parlamentsdebatte zum Ausdruck (VT, M3, M5). Stimmt am Ende der Debatte ab.

5. Erkläre, wie es der politischen Rechten gelang, den Versailler Vertrag für ihre Zwecke zu instrumentalisieren (VT, M4, M6, M7).6. War der Versailler Vertrag ein zu harter Frieden oder war der Friedensschluss ausgewogen? Sammle Argumente für beide

Positionen und formuliere am Ende eine eigene Stellungnahme (VT, M7).Autor: Jens Thiel

Den gesamten Wortlaut des Versailler Vertrages bietet folgende Internetseite des Deutschen Historischen Museums: http://www.dhm.de/lemo/html/dokumente/versailles/index.html