000 Geleitwort

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 GELEITWORT Wiederum  eine neue Zeitschrift S o  pfeifen  d ie  Jungen, singen  di e  Älteren, meckern wir Greise, und die  Gegenwart die uns  alle beherrsc ht,  sagt:  ja, gut Durch die  Bekanntschaft  mit der  Sprache  und  Weisheit  der  Indier  wie mit den Entwicklungsgedanken  der  Naturwissenschaften hatte  die  euro- isc he Sprachwissensc haft eine Mutation erlebt, deren Entfaltun g etwa e i n  Jahrhundert dauerte.  Auf  Geschichte  u n d  Phonetik  fest  gegründet stand sie da, vor dem  Ersten Weltkrieg,  mit  einer leicht überschaubaren Zahl von  Lehrstühlen  und  Zeitschriften, wobei  Nicht-Europäisches  fast quantite  negligeable  war, oder  als  eine solche betrachtet wurde. Die  Zeit  von  1910  bis  1960  - das  merkwürdigste halbe Jahrhundert vielleicht  in der  Geschichte  der  Menschheit  -  brachte eine solche  Fülle von  Tod und Geburt, von Untergang und Entstehen, daß erst ein künftiges  Geschlecht  das  alles wird überschauen können.  Sie  brachte auch eine neue, wenn man will,  existentialistische  Mutation der Sprach- wissenschaft. War  früher  die  Seinsfrage  der Antike  fast  durch die  Frage  "Wie  ist es geworden?" abgelö st gewe sen, so besann man sich jetzt darauf, daß dennoch  die  Frage "Wie  is t  es?"  nicht  überflüssig sei.  Di e  völkerpsycho- logische Abkehr  von der  Sprachphilosophie  hatte  Versinken  in  Kleinig- keiten  und  Unklarheit über Wesentliches gezeitigt.  Es  entfaltete sich dann  im  Jahrzehnt  vor dem  Zweiten Weltkrieg  die  Blüte  der  strukturali- stischen Begeisterung  - im  vollen Sinne  de s  Wortes  -  wobei sich  rand- europäische und außereuropäische Geister geltend machten. Als nach der Lähmung und Erschütterung der zweiten noch viel furchtbareren Kriegskatastrophe  das  Leben  uns  wieder  hatte,  sproß  noch einmal Neues. Die  Wissenschaft schickte sich  an - was sie  früher  nie war -  global  zu werden.  Die numerische Steigerung der Menschheit ist unheimlich. Bei allen  Völkern entstehen immer mehr Universitäten und son stig e Gele hrten - sitze, indem  die  wissenschaftliche Bildung  -  glücklicherweise auch inner-

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Folia Linguistica 1967.1.1-2

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  • GELEITWORT

    Wiederum eine neue Zeitschrift! So pfeifen die Jungen, singen die lteren,meckern wir Greise, und die Gegenwart, die uns alle beherrscht, sagt: ja,gut!

    Durch die Bekanntschaft mit der Sprache und Weisheit der Indier wiemit den Entwicklungsgedanken der Naturwissenschaften hatte die euro-pische Sprachwissenschaft eine Mutation erlebt, deren Entfaltung etwaein Jahrhundert dauerte. Auf Geschichte und Phonetik fest gegrndetstand sie da, vor dem Ersten Weltkrieg, mit einer leicht berschaubarenZahl von Lehrsthlen und Zeitschriften, wobei Nicht-Europisches fastquantite negligeable war, oder als eine solche betrachtet wurde.

    Die Zeit von 1910 bis 1960 - das merkwrdigste halbe Jahrhundertvielleicht in der Geschichte der Menschheit - brachte eine solche Fllevon Tod und Geburt, von Untergang und Entstehen, da erst einknftiges Geschlecht das alles wird berschauen knnen. Sie brachteauch eine neue, wenn man will, existentialistische Mutation der Sprach-wissenschaft.

    War frher die Seinsfrage der Antike fast durch die Frage "Wie ist esgeworden?" abgelst gewesen, so besann man sich jetzt darauf, dadennoch die Frage "Wie ist es?" nicht berflssig sei. Die vlkerpsycho-logische Abkehr von der Sprachphilosophie hatte Versinken in Kleinig-keiten und Unklarheit ber Wesentliches gezeitigt. Es entfaltete sichdann im Jahrzehnt vor dem Zweiten Weltkrieg die Blte der strukturali-stischen Begeisterung - im vollen Sinne des Wortes - wobei sich rand-europische und auereuropische Geister geltend machten. Als nachder Lhmung und Erschtterung der zweiten noch viel furchtbarerenKriegskatastrophe das Leben uns wieder hatte, spro noch einmal Neues.Die Wissenschaft schickte sich an - was sie frher nie war - global zuwerden. Die numerische Steigerung der Menschheit ist unheimlich. Beiallen Vlkern entstehen immer mehr Universitten und sonstige Gelehrten-sitze, indem die wissenschaftliche Bildung - glcklicherweise auch inner-

  • 2 GELEITWORT .

    halb der Humaniora - immer tiefere Schichten der Bevlkerung ergreift.Es ist unvermeidlich - und zu begren! - da in einem Lande nach demanderen, und in wohl allen Disziplinen, neue wissenschaftliche Zeit-schriften entstehen.

    Es ist beschwerlich, unbersichtlich. Es ist auch nicht unbedenklich,da dadurch vielfach Overlapping' nicht vermieden wird. Mit der Zeitwird eine reinlichere Spezialisierung hervortreten, mit der Zeit werdeneinige Zeitschriften auch wieder verschwinden oder zusammenschmelzen.

    Eine eigene Zeitschrift der europischen Linguistik ist etwas sehrnatrliches, solange diese Sprachwissenschaft (was sie sehr gern sollte) diezentrale bleibt, und falls die Zeitschrift zugleich allgemein bleiben undihr eigenes Geprge bilden und wahren kann. Hauptsache ist dabei, dasie nicht einseitig sein sollte, da sie sowohl dem Sprachbau als derSprachgeschichte, vielleicht besonders der Ausnutzung strukturalistischerErgebnisse durch das Studium der Entwicklung, dient. Kein Problemeiner Einzelsprache, ja, auch nicht der kleinsten Mundart, sollte der Zeit-schrift fernbleiben - vorausgesetzt, da es von hoher Warte, im Lichteallgemeiner und historischer Prinzipien gesehen wird.

    Diese Folia Linguistica sollen ein groer Markt sein. Hier sollte Nahr-haftes, Ntzliches, Merkwrdiges verhandelt werden. Man sollte sichnicht scheuen, seine Haut zu Markte zu tragen, und es sollte niemals eineAntwort fehlen auf die jeweils entscheidende Frage "Quid novi exAfrica?".

    L. L. HAMMERICH