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50 BRANDEINS 11/09 SCHWERPUNKT: DENKEN _EINLEITUNG 1. Geschäftsschädigung Als sich die Erben des großen englischen Denkers und Forschers Isaac Newton im Jahr 1727 daran- machten, die Hinterlassenschaften des Meisters zu sichten und zu ordnen, erlebten sie eine böse Überraschung. Inmitten der Aufzeichnungen und Gerätschaften des Labors, in dem Newton die Grundlagen für die moderne Physik gelegt hatte, stießen sie auf merkwürdige Dinge: Sachen, die mit logischer, systematischer und also vernünf- tiger Denkarbeit wenig zu tun hatten. Allerlei Kram, den der Gelehrte heimlich, aber offensicht- lich mit großer Leidenschaft sammelte. Mate- rialien zum „Goldmachen“, alchemistisches Zeug, esoterisches Gewurble. Was für eine Schande! Und mehr als das: Der Fund war geschäftsschädigend. Schon zu Lebzeiten war Sir Isaac Newton zu einem Leuchtturm des neuen Wissens geworden. Weit über seine Heimat anerkannt, stand er für eine aufgeklärte, vernünftige und zielgerichtete Wissenschaft – Denken mit Hand und Fuß sozu- sagen. Wie sollte man der Welt nun diesen Teil seines Vermächtnisses erklären? Die Leute wür- den sagen, dass der Alte nicht alle Tassen im Schrank gehabt hätte. Für die Erben war das mehr als peinlich. Denn man lebte schließlich auch vom Ruf des Alten. Das Zeug, so viel stand fest, muss- te weg. So wurden die Wohnräume und Labors Sir Isaac Newtons von der besorgten Verwandtschaft Fotos: © ullstein bild - NMSI / Science Museum (S. 50), © Keystone Pictures USA / eyevine (S. 51) Isaac Newton Die Besserwisser Alle reden von der Wissensgesellschaft. Blöd nur, dass man in der viel nachdenken muss. Und das nicht quer, sondern nach vorn. Text: Wolf Lotter

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SCHWERPUNKT: DENKEN _EINLEITUNG

1. Geschäftsschädigung

Als sich die Erben des großen englischen Denkersund Forschers Isaac Newton im Jahr 1727 daran -machten, die Hinterlassenschaften des Meisterszu sichten und zu ordnen, erlebten sie eine böseÜberraschung. Inmitten der Aufzeichnungen undGerätschaften des Labors, in dem Newton dieGrundlagen für die moderne Physik gelegt hatte,stießen sie auf merkwürdige Dinge: Sachen, diemit logischer, systematischer und also vernünf -tiger Denkarbeit wenig zu tun hatten. AllerleiKram, den der Gelehrte heimlich, aber offensicht-lich mit großer Leidenschaft sammelte. Mate -rialien zum „Goldmachen“, alchemistisches Zeug,esoterisches Gewurble.

Was für eine Schande! Und mehr als das: DerFund war geschäftsschädigend.

Schon zu Lebzeiten war Sir Isaac Newton zueinem Leuchtturm des neuen Wissens geworden.Weit über seine Heimat anerkannt, stand er füreine aufgeklärte, vernünftige und zielgerichteteWissen schaft – Denken mit Hand und Fuß sozu-sagen. Wie sollte man der Welt nun diesen Teil seines Vermächtnisses erklären? Die Leute wür -den sagen, dass der Alte nicht alle Tassen imSchrank gehabt hätte. Für die Erben war das mehrals peinlich. Denn man lebte schließlich auch vomRuf des Alten. Das Zeug, so viel stand fest, muss -te weg.

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Isaac Newton

Die BesserwisserAlle reden von der Wissensgesellschaft. Blöd nur, dass man in der viel nachdenken muss. Und das nicht quer, sondern nach vorn.

Text: Wolf Lotter

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gründlich auf alle Spuren eso-terischer Nebenbeschäftigun -

gen durchsucht und von ih -nen gesäubert. Weil dochnoch ein gewisses Maßan Ehrfurcht und Res -pekt vor den Uten silien,mit denen der Meis terhantierte, bestand, pa -ckten die Erben alles fein

säuberlich in einen gro-ßen Koffer, den sie im

Garten des Newton’schenAnwesens verbuddelten. Erst

viele Jahre später fand man beiUmbauarbeiten den Kram, und

selbst dann waren die Nachfahren undSachwalter des Newton’schen Weltbildes

nicht bereit, reinen Tisch zu machen – und denKoffer auszupacken. Erst in den dreißiger Jahrendes vergangenen Jahrhunderts – mittlerweile hat-ten Leute wie Albert Einstein das „Newton’scheWeltbild“ einer gründlichen Revision unterzogen– wurde die Hinterlassenschaft auf den Markt geworfen. In London wurden auch die alchemis -tischen Bestände Newtons versteigert. Die Ma - nuskripte landeten bei einem berühmten Wirt-schaftswissenschaftler John Maynard Keynes (wasganz nebenbei schon einiges erklärt).

Die Sache mit dem Koffer, die der italienischeAutor Federico Di Trocchio in seinem Buch„Newtons Koffer“ im Jahr 1998 noch mal aufroll-te, zeigt vor allen Dingen eines: Wer Neues denkt,hat selten Freunde. Und wer glaubt, dass das nur1727 galt, der war schon länger nicht mehr vor der Tür. Dabei klingt Wissensgesellschaft, dieneue Formation, in der Wirtschaft und Gesell-schaft aufgestellt sind, irgendwie schon nach Denken. Denken ist, laut Schischkoffs „Philoso-phischem Wörterbuch“, ein Vorgang, bei dem„Vorstellungen, Erinnerungen und Begriffe eineErkenntnis formen“, um daraus „brauchbare

Handlungsanweisungen zur Meisterung von Lebenssituationen zu gewinnen“. Das klingt prak-tisch, und das ist es auch.

Aber es hat seine Tücken. Am Beispiel Newton wird das klar. Dass

nämlich die Erben den alchemistischen Zweig desMeisters verpackten und verscharrten, war prak-tisch unvermeidlich. Denn die Mitbewerber desgroßen Denkers hätten mit diesem Fund gleichdas Gesamtwerk des Meisters infrage gestellt.Darauf lauerte beispielsweise die halbe Royal Society, die angesehene Forschervereinigung desKönigreiches. Deren Mitglieder hatten durchNewtons fundamentale Entdeckungen auf demGebiet der Optik (Spektrum und Teilchentheoriedes Lichts), der Mechanik (Gravitationsgesetz)und der Mathematik (Infinitesimalrechnung)einer seits jede Menge Erkenntnisse gewonnen –andererseits wurden ihre eigenen Arbeiten wider-legt. Das war auch Geschäftsschädigung und bedeutete vor allem jede Menge Mehrarbeit.Selbst diejenigen, die die Früchte des Denkensschätzen, haben es nicht so sehr mit unfreiwil -ligen Überstunden. Es gab viele, die Newton dis-kreditieren wollten – erst recht nach seinem Tod.Und dass Newton seine Erkenntnisse tapfer ver-teidigte, machte die Sache nicht besser.

Sagen wir es, wie es ist: Newton war ein Klug-scheißer, einer, der neu denkt und das auch lautsagt. Ein Besserwisser eben. Einer, der den See-lenfrieden und die Ruhe anderer stört. Die Idylleall jener, die nicht wissen, wie es besser geht.

Im Großen und Ganzen kann man die sichgeistig anstrengende Menschheit, also ohnehinwohl nur einen Bruchteil der Gesamtpopulation,in zwei Denkschulen einteilen: in die Denkbüro-kraten und die Denkunternehmer. Newton warohne Zweifel Denkunternehmer, denn was er anWissen produzierte und damit an Problemen lös-te, gab es vor ihm nicht. Damit stellte er sich aberzwangsläufig gegen die große Mehrzahl jener, diemit dem vorhandenen Wissen gut ausgekom- 3

Albert Einstein

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men waren, es verwaltet und sich gemütlich da -rin eingerichtet hatten: die Denkbeamten. Leute,von denen Di Trocchio schreibt: „Sie waren nichtnur nicht in der Lage, anders zu denken, sondernweisen diejenigen, die es versuchen, auch nochzurück und grenzen sie aus.“

Wer Bürokraten bei der Routine stört, derkann schon mal die Koffer packen.

2. Denken an sich

Es gibt Leute, die halten das Internet für eine gro-ße Denkmaschine, in der die kollektive Intelligenzausbricht; und es gibt Leute, die halten das Inter-net für die Heimat der Doofen und Bekloppten.Für beide Thesen spricht eine Menge. Dazwischenist gelegentlich ein wenig Erkenntnis. In unseremFall liegt diese in einer scheinbar nebensächlichenDebatte in einem Web-Forum namens Yahoo -Clever verborgen. Dort wurde vor geraumer Zeiteine schöne Debatte zum Thema Denken geführt.Was ist das eigentlich? Und kann man das auchlassen? Nee, fanden die meisten Forenmitglieder,das geht gar nicht, es bleibt einem ja gar nichtsanderes übrig, als zu denken. Man denkt eigent-lich ununterbrochen, jede wache Sekunde.

Dann aber kam ihr Newton. Einer, der nichtviel herumquatschte, die Sache aber auf den Punktbrachte: Es gehe, so sein Beitrag sinngemäß, dochüberhaupt nicht um die Frage, ob man denkt odernicht. Sondern ob man nachdenkt oder nicht.Denken. Nachdenken. Das sind zwei Paar Stiefel.Darüber solltet ihr mal nachdenken. Guten Abendallerseits.

Nach dieser Wortmeldung kam die Debattenicht mehr so richtig in Schwung, und die opti-mistische Interpretation dieser Funkstille ist, dasssich die Forenteilnehmer seither die Köpfe überdiesen Zwischenruf zerbrechen. Gut wäre dasschon. Schöner als der unbekannte Held des Den-kens aus dem Yahoo-Clever-Forum kann man esnämlich nicht sagen. Denken ist echt keine große

Sache. Denken kann jeder Trottel. In Abwandlungder auf die Kommunikation gemünzten Einsichtdes Psychologen Paul Watzlawick kannman getrost sagen: „Man kann nichtnicht denken.“ Irgendwas ist im-mer. Aber was?

Diese energische Fragemuss man sich am Beginnder Wissensgesellschaftschon mal stellen. Wiegehen wir mit Denkenund Denkern um?Haben wir verstanden,dass ihre Erkenntnissedie Grundlage für un -ser täglich Brot sind?Oder machen wir nurunsere Arbeit – oder wieman früher sagte: Tun wirnur unsere Pflicht? Dass manda ein „nur“ verwendet, zeigtschon, wie der Hase läuft. Wer vonWissen lebt, muss mehr tun als seinePflicht, mehr, als die Rou tine verlangt. Wasbedeutet es, wenn man sagt: Wissen ist die wich-tigste Ressource? Und wo liegen die Unterschiedezwischen Routinedenken und Nachdenken? Werist Denkbürokrat, wer Denkunternehmer? DieUnterschiede waren bisher Nebensache.

Hilft uns die Gehirnforschung weiter? Die besten und teuersten Messgeräte der Neurologenkönnen den Unterschied zwischen hohlem Rou-tinedenken und Geistesblitz nicht zutage fördern.Das Gehirnbild zweier Menschen, die man kopf-seitig in den Kernspintomografen packt, brächtekeine Erkenntnis über die Qualität ihres Denkens.Der eine, der sich gerade den Kopf über sein Wochenhoroskop zerbricht, wäre vom ande ren,der eben eine Formel zur endlosen und sauberenHerstellung von Energie gefunden hat, nicht zuunterscheiden. Ein wenig Zucken und Blitzen irgendwo zwischen Thamalus, Fornix, Cortex

John Maynard Keynes

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3. Die Störung

Selbst das ist noch eine Übertreibung, denn bereits Grübeln über die Bedeutung von Horos -

kopen ist Nachdenken und nicht Gehirnroutine.Das ist eine ziemlich bescheidene Prognose fürdie Wissensgesellschaft. Doch die Mittel müssengenügen. Das lehrt die Erfahrung.

Die Konflikte zwischen Alt und Neu, Routineund Innovation, Denkbürokratie und Denkunter-nehmern bestimmen seit jeher die Entwicklung.Was Newton – wie so viele seiner Art – auszeich -net, war das, was der große Ökonom Joseph A. Schumpeter die schöpferische Zerstörungnannte, die eine der Grundfunktionen des Kapi-talismus ist – und nicht allein dieser Wirtschafts-form. Jede Innovation bringt Durchbruch, eineRevolution, jede Erfindung zumindest eine spür-bare Veränderung – oder Störung – des bestehen-den Systems und des Verhaltens der Leute, die es tragen. Der durch Nachdenken ausgelöste Erkenntnissprung bedroht das Bestehende, dieRoutine. Nachdenken stört die Routine – oderzerstört sie sogar.

Die meisten Menschen waren und sind bis heu-te vornehmlich mit der Verwaltung des Bestehen-den beschäftigt. Das Produkt von Nachdenken,das Neues schafft, ist für die Mehrheit also bestenfalls ärgerlich – weil sie von ihren Routinenabweichen müssen. Dies gilt sogar dann, wenn siedaraus einen Nutzen ziehen könnten, wenn näm-lich die Innovation, die sie „stört“, auf längere Sichteine Arbeitserleichterung oder höhere Einkommenund Gewinne bescheren würde.

Die fast natürliche Reaktion auf die Innovationist also die Abwehr. Das ist nur verständlich: DieRoutinierten sind das Ziel der Attacken der Er-neuerung. Schumpeter war sich bei seiner Arbeitdieser menschlichen Grundmuster bewusster alsalle Ökonomen vor ihm – und den meisten da-nach. In seinem Buch „Konjunkturzyklen“ ausdem Jahr 1939, dem unmittelbaren Vorgänger 3

undHippo-

campus wärealles, was die Monitore zeigen könnten. Mög -licherweise blinkte es beim einen ein wenig mehrim Stirnlappenbereich, dort, wo die Forscher den„Sitz“ des „Selbst“ vermuten. Doch sicher ist dasnicht. Die Geräte könnten uns nicht sagen, ob gerade ein Einfaltspinsel oder ein Genie vomScanner erfasst wird.

Denken an sich ist auch anders nicht einzu-ordnen. Von den elf Millionen Informationssigna -len (Bits), die unser Gehirn pro Sekunde, vermit -telt durch unsere Sinnesorgane, erreichen, bleibengerade mal 40 Bits übrig – also der 275 000. Teildes Ganzen –, um daraus einen bewussten Ge-danken zu formen. Mehr packt das Gehirn nicht.Der Rest versickert im großen Unbewussten, dasvom alten archaischen Stammhirn beanspruchtwird; er mündet in die automatischen Abläufe,das Steuern von Muskeln, Bewegungen, Reaktio -nen und all den notwendigen Kram, den unserOrganismus braucht, um am Laufen gehalten zuwerden. Reine Selbsterhaltung ist also ein sehraufwendiges Geschäft.

Auch hier gilt die Einsicht, dass die meisten Informationen und der größte Teil der Energie da-für aufgewandt wird, die Routine – die biolo -gische Bürokratie – am Laufen zu halten. FürsNachdenken – Voraussetzung von Innovation,Verbesserung und bewusster Problemlösung –bleibt nur ein Bruchteil übrig. Das menschlicheGehirn hat einen ziemlich ungünstigen F&E-Fak-tor. Die 40 Bits sind aber unser einziges Kapital.

Paul Watzlawick

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seines Opus magnum „Kapitalismus, Sozialismusund Demokratie“ (1942), beschreibt er die Machtder Denkroutinen, der „Vorlieben“, wie er esnennt, an dramatischen Beispielen. Er berichtetvom Schicksal jenes preußischen Innovators, derden Bandwebstuhl erdachte, ein für die massen-hafte Herstellung von Stoffen wesentlicher Appa -rat. Allerdings hätte die Maschine auch das Weber- Establishment seiner Zeit arg bedrängt.Auf Betreiben der Konkurrenzunternehmer wurdeder Mann – durch Urteil der Danziger Stadt -behörde – im Jahr 1579 erdrosselt. Es dauerte fastzwei Jahrhunderte, bis sich das Prinzip gegen alleWiderstände neu entfalten konnte – und zu einerder wichtigsten Maschinen der frühen industriel-len Revolution führte.

In England wurden im Jahr 1624 Maschinenzerstört, mit denen Nadeln automatisiert herge-stellt werden konnten; ein königliches Dekretsorgte für die zügige Exekution. Sogenannte Maschinenstürmer, das zeigt Schumpeter in einerReihe von Beispielen, waren nicht immer wütendeArbeiter, die als Automationsopfer – quasi im Af-fekt – gegen die Innovation anrannten. Oft genug waren es Routine-Unternehmer und Be-hörden selbst, die das Neugeschaffene – und beiGelegenheit auch gleich dessen Schöpfer – demo-lierten, weil sie die Perspektive der Innovationdurchaus richtig einschätzten: Wir müssen dasverhindern, weil wir uns sonst ändern müssen.

4. Die Alchemisten

Als Schumpeter seine Karriere als Ökonom be-gann, war er, wie die meisten seiner Kollegen bisheute, von Zahlen und Modellen besessen. Docher wurde zum Meister der Erfahrung, zu einemÖkonomen, der unaufhörlich predigte, dass mandas Wesen des Kapitalismus und des Unterneh-mertums eben nur dann verstehen kann, wennman die Wirtschaftswissenschaften mit dem his-torischen Gedächtnis, der Geschichte paart. Wie

denkenMenschen?Das ist die eigentlicheFrage. Nicht Modelle und große „allgemeine Theorien“ beantworten diese Frage, auch wenneine solche Vorstellung heute wieder populär ge-worden ist. Die große Mehrheit der Ökonomenverliert sich in mathematischen Spielereien undtheoretischen Modellen abseits der Realität. DieseModelle folgen einer Logik, die ähnlich albern istwie die Spielchen mit jenen Bits und Bytes, diezum Gehirn durchdringen. Sie suggerieren Serio-sität – eine naturwissenschaftliche Grundlage mitdem Ziel eines unumstößlichen, „ewigen“ Ge -setzes. Doch das ist Unfug. Die Gesellschaft istebenso in Bewegung, wie es der Kapitalismus ist.Nachdenken und das Schöpfen von Neuem be-deuten eben Veränderung, was für Leute, die lie-ber ihre Ruhe hätten, ärgerlich ist. Diese geistigeSchonhaltung kann man auch Antikapitalismusnennen.

Der vermeintliche Schutz gegen die Attackender Erneuerung ist, dass man sich „spezialisiert“,zum „Experten“ wird. In dieser Nische ist es ge-stattet, dass das Denken zur Routine wird undsich nicht mehr über den Tellerrand hinaus -bewegt. Forscher und Denker verfahren dabeiganz ähnlich wie Juristen, die die Grundlage dermodernen Beamtenschaft bilden. Ihr Merkmal isteine Sprache, ein Code, der die erste Schutzhüllegegen Eindringlinge von außen darstellt. Die zwei-te Schutzschicht ist ein enges Regelwerk, sind Fo

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Standards, Normen und sogenannte „Prozesse“,die zwingend vorgeschrieben werden. Was inner-halb dieser Welt passiert, ist ziemlich berechenbar.Innovationen und Erneuerungen werden sofortals solche erkannt – wie Fremdkörper vom Im-munsystem. Das ist nichts Neues. Im Mittelaltergaben sich die Zünfte und die „Zechen“ derHandwerker klare, nicht öffentliche Regeln, umsich gegen potenzielle Konkurrenten abzuschot-ten. Im Großen erledigen das heute Verbände,Parteien und Lobbys.

Auf der breiten Fläche ist die Denkroutine, derintellektuelle Bürokratismus, durch die Expertenund Spezialistenkaste repräsentiert. Hier wird ge-dacht, selbstverständlich, aber immer nur in denengen und vorgegebenen Korridoren der Regelnund Methoden, deren Einhaltung man streng bewacht. In diesen Systemen ist alles auf Erhaltabgestellt. Das ist Bürokratie, nicht mehr Pro -duktion, und das Klima ist naturgemäß innova -tionsfeindlich. Aber auch diese Systeme müssensich gelegentlich erneuern, sich anpassen – aller-dings in unglaublich zähem Tempo. Das nenntman Reformen. Reformen beinhalten immer einNachdenkverbot.

Es geht darum, das bestehende System ebennicht durch ein neues zu ersetzen, sondern es mitallen Mitteln am Laufen zu halten. Das erklärtnicht nur die unfassbare Zähigkeit von Reform -prozessen in der Politik. Auch in vielen Unter -nehmen hat der intellektuelle Bürokratismuslängst das Sagen – und er verhindert im-mer erfolgreicher Neues oder auch nurdie Debatte darüber. Dieser Prozess hatsich nach dem Zweiten Weltkrieg in derwestlichen Welt etabliert. Es ist kein Zufall, dass dabei von den Menschen,die in diesen Systemen arbeiten, immeröfter Begriffe wie „Routine“ und „Kreis-lauf“ benutzt werden. Letzteres klingtschick – ist aber ein untrügliches Zeichenfür Denkbürokratie, die sich im Kreis dreht.

Wer mehr will, „schießt übers Ziel hinaus“, demfehlt „das richtige Augenmaß“, der hat „die Bo-denhaftung verloren“ oder „die Folgen seinesHandelns nicht bedacht“. Die ganze Killerphra-seologie des Alltags zielt auf ein Kopfbeamtentumab. Wer etwas besser weiß, gilt als Klugscheißer.Ein Systemfeind.

Nachdenken geht aber anders. Es ist undbleibt ein ergebnisoffener Prozess. Nachdenkensagt nie: Das geht mich nichts an, da kenne ichmich nicht aus. Früher hielt man es für richtig,dass sich gebildete Menschen auch um Dinge den Kopf zerbrachen, die nicht „ihre Sache“ sind.Der liberale Citoyen, der auf deutschem Bodenstets nur in homöopathischen Dosen vorkam, verstand sich als Nachdenker – als jemand, derdas, was Experten, Interessengruppen und Sys -teme als richtig und falsch darstellten, nochmalsselbstständig überdachte. Diese Leute waren Bes-serwisser, weil sie im wahrsten Sinn des Wortesdurch Nachdenken zu besserem Wissen kamen.Die Dienstbezeichnung dieser Leute, gleichsamzum Schimpfwort geworden,heißt Intellek-tuelle.

Wladimir Iljitsch Lenin

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5. Intellektuelle

Menschen, die ihren Intellekt benutzen, strengensich an, um Erkenntnis und Einsichten zu ge -winnen, also um nachzudenken. Im Idealfall istder Intellektuelle damit der Denkunternehmerschlechthin – der auch bestehende Weltbilder und Positionen zerstört, um eigenständige, selbst -ständig erworbene Erkenntnis – neues Wissenalso – zu erlangen. Solche Leute haben in Denk-bürokratien aber ganz schlechte Karten.

Niemand fordert heute, zu Beginn der Wissensgesellschaft, mehr Intellekt – gefordertwird mehr Bildung, und das meist im Sinne vonAusbildung, also Spezialistentum. Nun ist Bildung sicher eine Voraussetzung für Nachdenken, aberauch nicht mehr: Sie ist der Werkzeugkasten, ausdem man sich bedient, wenn man etwas Neuesschafft. Die totale Überhöhung von Bildung – undeben nicht von Nachdenken – weist darauf hin,dass niemand Lust hat, sich mit selbstständigenDenkern auseinanderzusetzen. Verräterisch ist indiesem Zusammenhang das Wort Kopfarbeiter.Was man wirklich will, sind jede Menge Spezia -listen, Akademiker, wenn möglich, die ihren Intellekt nicht nutzen, um selbstständig zu den-ken. Sie sollen in der Tradition des Fabrikarbeiterstun, was man ihnen sagt – und nicht stören, schongar nicht unternehmerisch.

Einer der Ersten, die das in vollem Umfang erkannt haben, war der Staatsgründer der frühe-ren Sow jet union, Wladimir Iljitsch Lenin. Der1870 gebo rene Russe war selbst durch und durchein „Intellektueller“, ein Angehöriger der „Intel -ligenz“. Sein kritisches Reflektieren über das, wasman im zaristischen Russland für richtig undfalsch hielt, machte ihn dazu. Doch auf dem Weg zur Macht lernte Lenin, wie leicht selbst-ständig denkende, kritische Menschen schöne Pläne stören können. Diese Leute stellten ihm Fragen zum Aufbau der Partei, der Organisation.Und vor allem stellten sie infrage, ob seine,

Lenins, Sicht der Dinge die Lösung der Problemeist. Mist.

Wütend schreibt er 1904: „Niemand wird zuleugnen wagen, dass die Intelligenz als beson dereSchicht der modernen kapitalistischen Gesell-schaft im Großen und Ganzen gerade durch denIndividualismus und die Unfähigkeit zur Disziplinund Organisation gekennzeichnet ist.“ Intellek -tuelle sind für Lenin „überhaupt alle Gebildeten,Vertreter freier Berufe“. Hier lauert die Gefahr. In der Selbstständigkeit, die natürlich im Kopf beginnt. Unberechenbar. Mit solchen Leuten istkein Staat zu machen, schon gar kein sozialis -tisches Paradies.

Zuverlässig beseitigen totalitäre Regime so -fort nach der Machtübernahme deshalb zuerst die Intellektuellen. Dass von denen größte Gefahrselbst dann ausgeht, wenn man meint, die Machtstabilisiert zu haben, zeigen prominente Beispielewie Alexander Solschenizyn in der UdSSR oderRobert Havemann in der DDR, die selbst unterden Bedingungen der Diktatur noch versuchten,eine Handlungsalternative aufzuzeigen. Schließ -lich ist das der wichtigste Job des Nachdenkers:eine Alternative zur Routine, zum Bestehendenzu zeigen. Genauer gesagt: Es wäre sein wich -tigster Job.

Denn es gibt auch Situationen, in denen dievermeintlichen Nachdenker zu den wichtigstenStabilisatoren des Bestehenden werden. Das siehtnur nicht immer gleich so aus. Rund um das Jahr1968 war es nahezu Pflicht für jeden Intellektuel-len, sich zu den Zielen der Studentenbewegungzu bekennen. Diese Ziele waren durchaus echteInnovationen – eine radi-kale Zerstörungdes spießig-bürger -lichen

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Nachkriegsmilieus, das herrschte, ein Aufbruch,der für mehr Demokratie sorgen sollte. Rechtschnell war aber auch klar, dass die Umsetzungder „Innovation“ in dem Umfang und in der Geschwindigkeit, die man sich wünschte, nichtmachbar war. Und dazu kam auch die Einsicht,dass es nicht genügen konnte, nur Nein zu sagen – ohne eine gesellschaftliche Innovation zu entwickeln, die von der Mehrheit akzeptiertwird. Intellektuelle wie Jürgen Habermas, die aufdiesen Widerspruch hinwiesen, wirkten wie ein-same Rufer in der Wüste.

Damals war viel vom Nachdenken die Rede.Man stellte viele Fragen. Die Antwort aber warbereits vorgegeben. Sie lautete: nein. Nein undnochmals nein, insbesondere dort, wo es umWirtschaft und Technik ging. So ist das bis heuteunter „anständigen Intellektuellen“ geblieben. Einanständiger deutscher Intellektueller muss selbst-verständlich – nach der Finanzkrise – einen „kri-tischen Standpunkt“ zu dem haben, was er für„Kapitalismus“ hält – und was meist nichts anderes ist als ein Unbehagen, gepaart mit einerPortion Unwissenheit und der Unfähigkeit, in einen Diskurs einzutreten. Dass man die Regelnkennen muss, bevor man sie bricht, davon will

niemand etwas wissen.Statt auf Besser-

wissen setztman auf

Starr-

sinn, Arroganz und Behauptungen, die so langewiederholt werden, bis sie zum festen Bestandteilder Folklore werden. Praktisch – denn darübermuss man nicht streiten und schon gar nichts dazulernen. Und wenn mal statt eines trotzigenNeins wider Erwarten ein Vorschlag kommt, dannkann man sicher sein, dass damit mehr Knete vomStaat gemeint ist. Diese Intellektuellen sind keine.Damit macht man Karriere in einer Gesellschaft,die den Unterschied zwischen Wichtigtuerei undkonstruktiver Kritik nicht mehr kennen will. Dienicht mehr fragt, was das Nachdenken nützt, son-dern die nur mehr Denkbeamte fordert.

6. Querdenker

Wo ist der Intellekt, das Nachdenken? Einige mei-nen, er habe sich in der Nachkriegsgesellschaftsozusagen gleichmäßig im Volk verteilt, was manauch „Demokratisierung des Wissens“ nennenkann. Intellektuelle bräuchte man nicht mehr, weilja alle irgendwie schon intellektuell geworden seien. Klingt gut, aber wovon ist eigentlich dieRede? Sind die Bürger und Angestellten so unab-hängig durch ihr Wissen, dass sie sich selbststän-dig machen können, oder haben die meistenAngst um ihren Arbeitsplatz und ihr regelmäßi -ges Einkommen? Treffen die meisten Bürgerselbstständige Entscheidungen für ihr Leben undbrechen aus der oft beklagten Routine aus? Wiesieht’s aus?

Hätte sich das Wissen „demokratisiert“, danndürfte die Routine und die Denkbürokratie in Unternehmen und Organisationen gar nicht exis -tieren. Denn längst müssten dort alle gemeinsaman einem Strang ziehen, um durch Nachdenkenimmer wieder zu Innovationen zu kommen. DasGegenteil ist der Fall. Die Bürokratisierung nimmtin dem Maße zu, in dem in bunten Konzern -broschüren der gemeinsame Wille zur Innovation beschworen wird. Als Hinweis für diese Entwick -lung dient der Begriff des „Querdenkers“. Das

Alexander Solschenizyn

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SCHWERPUNKT: DENKEN _EINLEITUNG

sind Leute, die, einfach gesagt, etwas anderesglauben, meinen oder sagen als die im CorporateDesign erzogenen Mitarbeiter einer Organisation.Warum eigentlich „quer“?

Früher nannte man Leute, die uns durchNachdenken weiterbrachten, Vordenker. Querhingegen verwenden wir in der Sprache nur, wennetwas stört. Da liegt etwas im Weg, da steckt etwas fest, da behindert etwas den Ablauf. Quer-denken ist also nicht normal. Nachdenken, so lernen wir daraus, geht nicht mehr nach vorn los,sondern kommt uns in die Quere. Das zeigt denganzen Größenwahn der „effizienten Organi -sation“. Ihre Protagonisten, die sogenannten Macher, halten sich für perfekt. Sie können alles.Ab und zu lassen sie dann einen Hofnarren an-tanzen, ein bisschen Spaß muss sein. Wer sich ansieht, wie sich die Macher, also die führendenDenkbürokraten, des Intellekts anderer Leute bedienen, weiß, wie weit es mit dem Denken gekommen ist. Man bestellt sich Querdenker wieeinen Milchkaffee. Die Macher kennen den Unter -schied eh nicht.

Für den Umstand, dass Nachdenken in Orga-nisationen nur der Form halber erwünscht ist,spricht auch das schöne Wort „Thinktank“, aufDeutsch ein wenig verräterisch „Denkfabrik“ ge-nannt. Diese ausgelagerten Denkeinheiten gibt esseit Jahrzehnten mit der Begründung, dass radi-kales Nachdenken und Innovationsstreben in derOrganisation selbst durch zu viele „Faktoren“beeinflusst werden würde. Was bedeutet das?

Dass man Nachdenker, die im Sinne des Un-ternehmens, der Organisation über Verbesse -rungen und Innovationen nachdenken, vor derBürokratie schützen muss? Fürchtet man um denBetriebsfrieden, ein anderes Wort für bürokrati-sche Routine? Drohen Störungen im sozialis ti -schen Gang? Gar Veränderungen?

Nachdenken wird wie Aussatz behandelt. Esherrscht Denk-Quarantäne. Die Bürokratisierungist so weit fortgeschritten, dass man sie nicht

mehr direkt mit Innovatoren konfrontieren willoder kann. Deshalb werden Thinktanks undQuerdenker ausgelagert oder in den Organisa -tionen sorgfältig isoliert. Dabei geht immer mehrSubstanz verloren: Wo die Auseinandersetzungfehlt, der Diskurs, wie man das in grauer Vorzeitnannte, verlieren die isolierten Ebenen völlig denBezug zueinander. Das Resultat sind sture Denk-bürokraten und Spezialisten auf der einen und frustrierte Nachdenker auf der anderen Seite. Keiner will mehr mit dem anderen reden – bisman es nicht mehr kann. Das gilt in den Organi-sationen und im Verhältnis nach außen. Ausge-rechnet jetzt.

7. Die andere Intelligenz

Das Produkt von Nachdenken ist Innovation –wir nennen es Wissen. Der Philosoph, Sozialwis-senschaftler und Berater Bernhard von Mutius hat in seinem Buch „Die andere Intelligenz“ denTypus beschrieben, den es dazu braucht: den„konstruktiven Intellektuellen“. Er ist weder Außenseiter noch Neinsager. Er kooperiert, erstellt Beziehungen her. Und vor allen Dingen teilter sein Wissen, weil er weiß, dass es nur so denMehrwert schafft, den wir alle brauchen. Eine völlig neue Übung für alle, weiß von Mutius:„Wissen durch Teilung zu vermehren – das ist die ebenso neue wie schwierige Aufgabe, vor derheute viele Wissensarbeiter in ihren Wertschöp-fungsketten stehen (…). Es geht um die Entwick -lung eines immateriellen Vermögens (im doppel-ten Wortsinn), das nur in Beziehungen entstehtund nur durch in Beziehungen gelebte Werte ge-fördert werden kann. Solche ,Beziehungs-Werte‘wie beispielsweise Toleranz, Respekt vor dem anderen, Kooperationsfähigkeit, Integrität undTransparenz ermöglichen erst die grenzüber-schreitenden Prozesse der Wissensbearbeitung.Sie sind die Voraussetzung für gelingende Inno-vationsvorhaben.“ All das zusammen habe noch Fo

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Page 10: 050 b1 11 09 Einleitung - teamdenzer.de · Autor Federico Di Trocchio in seinem Buch „Newtons Koffer“ im Jahr 1998 noch mal aufroll-te, zeigt vor allen Dingen eines: Wer Neues

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einen weiteren, wichtigen Vorteil: Es gebe den„Wissensflüssen Richtung“ und „den Wissens -produzenten in ihrer Arbeit Halt und Sinn“.

Aus Nachdenken wird Mitdenken. Bezie-hungen, nicht Trennungen, sind die Zukunftdes Denkens und der Innovation, meint vonMutius. Was er beschreibt, ist wie vieles rundum die Wissensgesellschaft theoretisch bestensdokumentiert. Die Praxis aber, weiß er, brauchteinfach ehrliches Bemühen und den Willen zumVerstehen. Dialog. Diskurs. Auseinandersetzung.Der Anfang des Verstehens. „Wir reden von derWissensgesellschaft und der Kreativität – dannwird genickt, aber in der Bedeutung hat das nochkaum jemand wirklich verstanden. Denken ist einezentrale ökonomische Ressource. Aber man gehtmit dieser Ressource so um wie mit indus triellenGütern. Das kann nicht funktionieren“, sagt vonMutius.

Der konstruktive Intellektuelle ist eine Lösungfür die Trennung, die heute so offensichtlich ist –und die uns scheinbar nur die Wahl lässt zwischenBürokratismus und Abgehobenheit. „Die Intellek-tuellen müssen in die Organisationen“, fordertvon Mutius, „und die in den Organisationen müs-sen aufhören, Denken für etwas Überflüssiges zuhalten – so nach dem Motto: Intellekt ist nichtwirklich wichtig für das tägliche Leben.“ Wo Denken aber das „Ferment der Wertschöpfung“wird, so von Mutius, kann man sich derlei Vor-urteile einfach nicht mehr leisten – ebenso wenigwie die Haltung des alten Spezialistentums ausder Industriegesellschaft, das sich verschanzt undden Austausch mit anderen Fächern und Diszipli-nen konsequent verweigert. Ihnen hält von Mutius das Wort des Ökonomen Friedrich Au-gust von Hayek entgegen, wonach man, wennman ein guter Ökonom sein wolle, eben nichtnur Ökonom sein dürfe.

Konstruktives Denken braucht breites Inte -resse und Neugier am anderen – oder es kommtzum „Fachduckmäusertum“, wie Bernhard von

Mutiusdie Entwick -lung nennt: „Das züch -ten wir ohnehin bereits, getriebene Leute, die weder Zeit noch Muße haben, nach links oderrechts zu schauen.“ In Anspielung auf zwei un -geliebte Bildungskürzel ist es für ihn „von Pisa bisBologna eben nicht weit“. Eine Sackgasse. DasWendemanöver gelingt nur, wenn die „Macherdemütiger“ und die Nachdenker „selbstbewussterund mutiger werden. Wir brauchen eine zweiteAufklärung, in der die Wende vom Ich zum intel-ligenten Wir vollzogen wird.“

Eine zweite Aufklärung? Hohe Ansprüche hatder Mann – die aber auch daher rühren, dass dieerste Aufklärung eigentlich noch nicht wirklichdurch ist. Da sind immer noch Hausaufgaben, dienicht gemacht sind, und zwar, wen wundert’s, dieanspruchsvollsten, die seit mehr als 200 Jahrenherumliegen.

Denn Nachdenken ohne Mut ist gar nichts.Wer nicht durchsetzen will, was er herausgefun-den hat, wer das, was er weiß, nicht wert befin -det, dafür – gepflegt – zu streiten, der hat seineHausaufgaben nicht gemacht. Sapere aude, sagte Horaz, und Immanuel Kant hat das richtig über-setzt: „Habe den Mut, dich deines eigenen Ver-standes zu bedienen.“

Das genügt völlig. Die Bürokraten könnendann einpacken. Gern auch ihre Koffer. --

Bernhard von Mutius (2. von rechts)