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    Gründungsmythen Europasin Literatur, Musik und Kunst

    Band 10

    Herausgegeben von

    Uwe Baumann,

    Michael Bernsen und

    Paul Geyer

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    Milan Herold

    Der lyrische Augenblick als Paradigmades modernen Bewusstseins

    Kant, Schlegel, Leopardi, Baudelaire, Rilke

    V& R unipress

    Bonn University Press

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    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

    ISSN 2198-610XISBN 978-3-8471-0651-7

    Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter : www.v-r.de

    Veröffentlichungen der Bonn University Presserscheinen im Verlag V& R unipress GmbH.

    Die Dissertation wurde durch Promotionsstipendien der Universität Bonn und der Studienstiftungdes deutschen Volkes gefördert.

    � 2017, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen / www.v-r.deAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigenschriftlichen Einwilligung des Verlages.Printed in Germany.Titelbild: Kairos auf einem Fresko von Francesco Salviati im Audienzsaal des Palazzo Sacchettiin Rom, 1552/54, gemeinfrei.Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, D-96158 Birkach

    Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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    Ich bedanke mich bei meinem Doktorvater Prof. Michael Bernsen für dieBetreuung und die langjährige Unterstützung, bei meinen Eltern,Marita und Hans-Jürgen Herold, und bei Laurenz Haverkamp für

    den Beistand und für die Korrekturen.

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  • Inhalt

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    Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

    Vorblick – Faust als Paradigma und Augenblick als Denkfigur . . . . . . 23

    1. Kant: Aufhebung der Klassik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451.1 Der Augenblick des Schönen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481.2 Reflexion als ästhetische Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . 601.3 Okkasionalität des Schönen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 671.4 »Jedes Kunstwerk ist ein Augenblick« . . . . . . . . . . . . . . . . 74

    1.4.1 Augenblick als Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 781.4.2 Inspiration ohne Augenblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94

    2. Schlegel : Romantik als Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1052.1 Über das Studium oder über eine »günstige Katastrophe« . . . . . 1102.2 Kunstwerke als Fragmente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134

    2.2.1 Fragmente als Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1512.2.2 Denken als »�chapp�es de vue ins Unendliche« . . . . . . . . 161

    2.3 Kritik als ästhetische Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170

    3. Leopardi: Übergang zur modernen Dichtung . . . . . . . . . . . . . . 1813.1 Ein italienischer Studium-Aufsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1873.2 »La mutazione totale« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2013.3 Variationen des Scheiterns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210

    3.3.1 Ironisches Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2143.3.2 Phänomenologie der Lust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

    3.4 Leopardis unironische Ausnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2353.4.1 (K)ein Augenblick: L’infinito . . . . . . . . . . . . . . . . . 2383.4.2 Exkurs: Montales Mauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255

  • 3.5 Leopardis moderner Klassizismus wider Willen . . . . . . . . . . 2623.6 Lunatic fantasies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280

    3.6.1 Alla Luna . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2823.6.2 Endspiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294

    3.7 Mythos der Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3113.7.1 Mythische Konstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3153.7.2 La sera del d� di festa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331

    3.8 Überlegungen zur modernen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3493.8.1 Trionfo della Moda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3533.8.2 Flaneure denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367

    4. Baudelaire: eine andere Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3794.1 Welt in Bewegung – Liebe auf den letzten Augenblick . . . . . . . 386

    4.1.1 Rückblick: Rilkes Begegnung in der Kastanienallee . . . . . 3884.1.2 Augen-Blick: � une passante . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3914.1.3 Exkurs: Apollinaires Zone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411

    4.2 Ich im Stillstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4214.3 Freie Protentio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436

    4.3.1 Uhr und Sprung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4454.3.2 Kehrseite des Extrahierens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4564.3.3 Blicke auf den Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470

    4.4 Abstrakte Analogien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4874.4.1 Fragmentierung und Rekomposition . . . . . . . . . . . . . 5054.4.2 Erinnerungsstätten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5254.4.3 Sammlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 544

    5. Ausblick: Rilkes orphische Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5595.1 Präorphische Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5745.2 Tanz und Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 590

    5.2.1 Aufsteigen und Aufsingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5995.2.2 Orphische Gegenwart als Versprechen . . . . . . . . . . . . 6055.2.3 Tanz als Aufgegebenes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612

    6. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625

    7. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 629

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    Siglen

    Im Folgenden werden Siglen verwendet. Die jeweilige Werkausgabe findet sichebenfalls im Literaturverzeichnis zitiert. In den entsprechenden Hauptkapitelnzu den Autoren wird die jeweilige Werkausgabe ohne Siglen zitiert. Am Endeeines Kapitels folgt als Abschluss eine knappe Zusammenfassung.

    Kant, Immanuel

    WA = Werkausgabe in zwölf Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M.:Suhrkamp. 1968ff.

    KU = Kritik der Urteilskraft. In: WA Bd. X.KrV = Kritik der reinen Vernunft. In: WA Bd. III, IV.R = Reflexionen. In: Kants gesammelte Schriften. hrsg. v. d. Königlich Preußischen

    Akademie der Wissenschaften etc. Bd. XV–XVIII (hier : Bd. XV und XVI). Berlin.1902ff.

    Schlegel, Friedrich

    KA = Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hrsg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung vonJean-Jacques Anstett und Hans Eichner. München. 1958ff.

    A = Athenäum-Fragmente. 1798. In: KA Bd. II, S. 165–255.L = Kritische Fragmente (Lyceum-Fragmente). 1797. In: KA Bd. II, S. 147–163.LN = Literary Notebooks. 1797–1801, hrsg. v. Hans Eichner. 1957. London: Athlone Press

    (Sammlung der Konvolute V bis X der Fragmente zur Literatur und Poesie in KA Bd.XVI).

    Baudelaire, Charles

    OC = Baudelaire, Charles: Œuvres compl�tes. 2 Bde., hrsg. v. Claude Pichois. Paris:Gallimard. 1975 (Biblioth�que de la Pl�iade).

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    Leopardi, Giacomo

    TPP = Tutte le poesie, tutte le prose e lo Zibaldone, hrsg. v. Lucio Felici und EmanueleTrevi. Rom: Newton Compton. 2010.

    Rilke, Rainer Maria

    W = Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden und einem Supplementband(Französische Gedichte), hrsg. v. Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Horst Nalewski,August Stahl. Frankfurt a. M./Leipzig: Insel Verlag. 1996.

    SW = Sämtliche Werke, Bd. VII. Die Übertragungen, hrsg. v. Rilke-Archiv, Walter Simon,Karin Wais, Ernst Zinn. Frankfurt a. M./Leipzig: Insel-Verlag. 1997.

    ST = »Die Seele und der Tanz«, in: SW Bd. VII, S. 435–515.SO = Die Sonette an Orpheus. In: W Bd. II, S. 237–272.

    Valéry, Paul

    AD = »L’ffme et la Danse«, in: Œuvres. Biblioth�que de la Pl�iade, hrsg. v. Jean Hytier.Gallimard: Paris. 1960, Bd. 2, S. 148–176.

    Siglen10

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    Einleitung

    Eine Definition der Poesie kann nur bestimmen, was sie sein soll, nicht was sie in derWirklichkeit war und ist; sonst würde sie am kürzesten so lauten: Poesie ist, was manzu irgendeiner Zeit, an irgendeinem Orte so genannt hat.

    (Schlegel, Athenäum, Fr. 114; KA II, S. 181)

    »Quid est ergo tempus?« Die berühmte Frage von Augustinus nach dem Wesender Zeit endet aporetisch.1 Die Gegenwart ist aufgespannt zwischen Vergan-genheit und Zukunft, ihre idealen Erscheinungsformen sind Dauer und Ewig-keit. Stellt man die Frage nach dem Augenblick (›Quid est ergo instans?‹), legtman den Finger auf die zeittheoretische Wunde, dass die Antwort auf die Fragenach der Zeit in einer relativen Nicht-Definierbarkeit zu verenden droht. Goe-thes Gedicht Vermächtnis bietet eine dichterische Antwort an: »Der Augenblickist Ewigkeit«2. Das ist ein poetisches Ideal. An diesem Diktum lassen sich diegroßen europäischen Dichter Leopardi (1798–1837), Baudelaire (1821–1867)und Rilke (1875–1926) messen.

    Der lyrische Augenblick tritt in vielen divergenten Formen auf. Er kann soUnterschiedliches bezeichnen wie momento di innamoramento, coup d’œil, choc,den Augenblick des Schönen oder des Erhabenen. Es stellt ein philologischesund systematisches Problem dar, dass sich die Liste (fast) beliebig erweiternließe. Deshalb kann Schlegels aporetische Frage nach einer »Definition derPoesie« ebenso auf eine ›Definition der Poesie‹ des Augenblicks übertragenwerden. Der Begriff »Augenblick« versperrt sich einer eindeutigen, definitivenBestimmung. Das ist allerdings kein Manko, sondern gerade seine Stärke.Deshalb spricht man auch vom fruchtbaren Augenblick. Dieser Fruchtbarkeit

    1 – »Quid est ergo tempus? Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare uellim, nescio[…]« (»Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es; wenn ich esjemandem auf seine Frage hin erklären will, weiß ich es nicht.« [Flasch 2004, S. 250f. ; Con-fessiones 11.17]).

    2 Goethe 2007, S. 369f. , hier S. 36 (V. 30). Vgl. die Einleitung zu Der lyrische Augenblick. EineDenkfigur der Romania (Herold/Bernsen 2015a, S. 1–6).

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    oder Prägnanz des Augenblicks versuchen drei grundlegende Überlegungengerecht zu werden:

    Die Poesie des Augenblicks wird auf doppelte Weise normativ rückbezogen aufdas, »was sie sein soll«. Einerseits werden die lyrischen Augenblicke an GoethesIdeal gemessen, der Augenblick sei Ewigkeit. Andererseits werden für jedenDichter persönliche, normative Varianten des Augenblicks vorgestellt, die meist intheoretischen und ästhetischen Schriften entwickelt und die in ihren Gedichtenlyrisch verarbeitet werden. Durch diese Rückbindung an ideale Augenblicke las-sen sich die unterschiedlichen lyrischen Augenblicke ordnen. Dadurch ergebensich zwei literaturwissenschaftlich erstrebenswerte Konsequenzen.

    Der »Augenblick« ist in einer ersten philosophieästhetischen Perspektiveweniger ein Zeitbegriff denn eine Struktur oder eine Denkfigur. Der Augenblickbezeichnet als Strukturbegriff entweder eine spezifische ästhetische Beschaf-fenheit eines schönen oder erhabenen Gegenstands oder eine bestimmteStruktur der ästhetischen Erfahrung. Die zeitlichen Eigenschaften von Augen-blicklichkeit und Plötzlichkeit werden als ein Strukturbegriff übersetzt, dereinen bestimmten Widerfahrnischarakter benennt. Die Okkasionalität der äs-thetischen Erfahrung des Schönen verkörpert das Versprechen einer harmoni-schen objektiven Struktur. Diese bruchlose ästhetische Entsprechung vonSubjekt und Welt wird im Erhabenen widersprüchlich. Die Augenblicklichkeitmeint hier das Überwinden eines Widerspruchs und einer Unzweckmäßigkeit.Diese beiden Modelle lassen sich übertragen auf die literarischen Topoi desSchocks und der Epiphanie. Sie können lyrisch ausgestaltet werden als eineplötzliche (positive oder negative) Wendung oder Lust. Idealerweise wäreGoethes Gleichung »Der Augenblick ist Ewigkeit« entweder direkt und unmit-telbar oder indirekt und vermittelt erfüllt. Nach Kants grundlegenden Überle-gungen ist die treibende Kraft der ästhetischen Erkenntnis die Reflexion. Damitist der Augenblick eine Reflexionsfigur, d. h. – nach Auerbach – eine modernefigura3 oder Denkfigur. Der Begriff der »Denkfigur« ist selbst offen, kaum zudefinieren und hat eine anordnende und Bezüge herstellende Kraft, die immernur ex post attestiert werden kann und diskursübergreifend einsetzbar ist.Damit sind Denkfigur und Augenblick verwandt.

    Der Augenblick verkörpert als Denkfigur zunächst die Intuition, dass er einkonstantes Faszinosum des Denkens und Dichtens darstellt. Der Augenblickstellt ein bestimmtes Wechselverhältnis dar. Damit ist er notwendig (selbst-)reflexiv und hinterfragt sich selbst. Diese Selbstreflexivität trifft wiederum auchauf die Struktur bzw. auf die Stimmigkeit einer ästhetischen Ordnung oderErfahrung zu. Friedrich Schlegel fasst diese Augenblicklichkeit in seiner (äs-

    3 Vgl. Auerbachs grundlegenden Aufsatz Figura von 1938 und für eine Annäherung an denBegriff der Denkfigur neuerdings Torra-Mattenklott 2013 und Müller-Tamm 2014.

    Einleitung12

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    thetischen) Kategorie (der Reflexion), die er »Witz« nennt. Der »Augenblick« istals Struktur anbindbar an diverse poetische Ausprägungen, die verschiedeneAttribute umfassen, von denen hier aber keinem ein Vorrang vor dem Augen-blick eingeräumt wird: Plötzlichkeit – wie Karl Heinz Bohrer in zwei Büchern4

    hervorgehoben hat – kann als zentraler Bestandteil des Augenblicks angesehenwerden. Dass Plötzlichkeit ein mögliches Attribut einer augenblicklichen Er-fahrung ist, bedeutet nicht, dass es ein notwendiges oder hinreichendes wäre.Daher ist der Augenblick eine paradigmatische Denkfigur des Ästhetischenselbst, insofern das notwendig Nicht-Hinreichende eine grundlegende Eigen-schaft unseres Sprechens über Kunst ist.5 Das gilt auch für den möglichen epi-phanischen Zug des Augenblicks. Denn analog zur Möglichkeit, plötzlich, un-erwartet und blitzartig aufzutreten, scheint auch Adornos Diktum, ›jedesKunstwerk sei ein Augenblick‹, definitorisch unzureichend zu sein. So zumin-dest schreibt Rainer Zaiser in seiner einschlägigen Habilitationsschrift DieEpiphanie in der französischen Literatur. Zur Entmystifizierung eines religiösenErlebnismusters von 1995: »Eine absolute Verwässerung des Epiphaniegedan-kens lässt sich schließlich in der Ästhetiktheorie Theodor W. Adornos feststel-len, der in der Andersartigkeit des Kunstwerks […] eine Epiphanie des derWirklichkeit immanenten Wesensgrundes erkennt.«6 In der hier vorliegendenArbeit wird hingegen eine weniger mystische Interpretation vertreten, indemAdornos Satz strukturell ausgelegt wird. Das geht poetisch mit der Entmystifi-zierung der poeta vates-Tradition einher : Die hier untersuchten Werke derDichter destabilisieren das Modell des göttlich inspirierten Sehers, der zu sub-stantiellen Einsichten und Visionen fähig ist, ebenso wie die Unmittelbarkeit, dieman intuitiv einer augenblicklichen Erfahrung zusprechen mag. So werden auchDarstellungen von (negativen) Epiphanien7 analysiert, wie z. B. Leopardis LeRicordanze oder Baudelaires Une charogne. Ein Spezialfall des Augenblicks –nämlich augenblickliche diff�rance-Erfahrungen, also die unaufhebbare Ver-schiebung, den Ursprung einer augenblicklichen Erfahrung anzugeben – fügtsich in das Schema der transzendentalen Erinnerung ein, die Leopardi sowohltheoretisch ausarbeitet als auch in La sera del d� di festa dichterisch gestaltet. Dasentspricht passgenau Derridas Ausführungen zur Unsagbarkeit des gegenwär-

    4 Vgl. das Kapitel Utopie des Augenblicks und Fiktionalität. Die Subjektivierung von Zeit in dermodernen Literatur in Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins (Bohrer 1981)und die Sammlung Das absolute Präsenz. Die Semantik ästhetischer Zeit (Bohrer 1994; eineergänzende Sicht auf den Scheincharakter anhand Platons Parmenides bietet Beierwaltes1966/1967 zur 9na�vmgr).

    5 Vgl. Kreis 2010b, s. Kap. 1.3.6 Zaiser 1995, S. 53f.7 Hier gibt Tigges’ Aufsatz The Significance of Trivial Things. Towards a Typology of Literary

    Epiphanies (Tigges 1999) einen guten Überblick.

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    tigen Augenblicks in La Diss�mination und im späten Vortrag Une certainepossibilit� impossible de dire l’�v�nement von 1997.8

    Die seit Walter Benjamins Baudelaire-Schrift – Ein Lyriker im Zeitalter desHochkapitalismus – geläufige Augenblicksform des Schocks verliert ebenfallsihren unmittelbaren und auratischen Charakter. Die genannten Entsubstantia-lisierungen von Augenblicksversprechen sind dem ironischen Bewusstsein ge-schuldet, dessen Struktur als Analyseschema mit Schlegels frühromantischenFragment- und Ironie-Begriffen eingeführt wird. Dennoch sind auch unironi-sche Ausnahmen möglich, wenn sich Gedichte auf performative Weise selbsterfüllen. Indem der Augenblick diese Attribute bündeln kann, zeigen sie seineOffenheit für Grenzwerte des Ästhetischen9. Für den Ansatz der Arbeit ergibt sichdaraus, dass der »Augenblick« – auch als Motiv der Literatur und als ästhetischeIdee im Sinne Kants – immanenter Fixpunkt eines »komplizierte[n] Netz[es]von Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen«10 ist. Diese Form von »›Familien-ähnlichkeiten‹«11 prägt der Augenblick in all seiner Komplexität aus.

    Zwei philosophische Ansätze fügen paradigmatische Fälle hinzu, den Au-genblick ästhetisch zu denken: Der überzeitliche bzw. transzendentalphiloso-phische Geltungsanspruch der in den ersten beiden Kapiteln aufgearbeitetenThesen fungiert einerseits als eine relative Ordnungsfunktion, der die lyrischenAugenblicke in ihrer Verschiedenheit vergleichbar macht. Indem Kant undSchlegel den Augenblick als Struktur und als Denkfigur analysieren, ergibt sichandererseits ein Schema, mit dem der Wert des Augenblicks philologischüberprüfbar wird.

    Dieser kommt sowohl als weiteres Ideal – neben Goethes Ewigkeitsverspre-chen – als auch als Struktur von Kunstwerken bzw. von ästhetischen Ordnungenvor. Das ist eine innerhalb der Kant-Forschung neue und unterrepräsentierteLesart, die sich auf Aufsätze von Christel Fricke und Guido Kreis stützen kann.12

    Wenn man Kant gegen den Strich liest, indem man die Perspektive Schlegels

    8 Derrida 1972, S. 367f. (s. eingangs Kap. 3.3.2) und Derrida 2001, S. 89.9 Nach dem gleichnamigen Titel der Herausgeberschaft Stockhammer 2002, S. 17.

    10 Wittgenstein 1984, S. 278, §66.11 Ebd., S. 278, §67.12 In Ansätzen verfolgt diese Lesart Christel Fricke 2000 in ihrem Aufsatz Freies Spiel und Form

    der Zweckmäßigkeit in Kants Ästhetik. Zur Frage nach dem schönen Gegenstand. Guido Kreisreaktualisiert den kantischen Begriff der Zweckmäßigkeit systematisch (Kreis 2008:Kunstwerke als autonome Ordnungen). Die Idee, Kants Kritik der Urteilskraft mit demStudium-Aufsatz und den Fragmenten des frühen Friedrich Schlegel zu lesen, ist aus Se-minaren bei Guido Kreis an der Universität erwachsen (Friedrich Schlegel: FrühromantischeÄsthetik und Dialektik [Übung für Fortgeschrittene, WS 2006/07], Kant: Kritik der Ur-teilskraft [Übung, WS 2007/08], Adorno: Texte zur Philosophie der neuen Musik [Übung fürFortgeschrittene, WS 2008/09]). Die daraus resultierende Magisterarbeit Ästhetische Kritikbei Kant und Schlegel (WS 2009/2010, Erstgutachter : Wolfram Hogrebe) ist in überarbeiteterund erweiterter Form in die Kapitel 1. und 2. eingegangen.

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    einnimmt und den Vorrang der subjektiven Erfahrung hinterfragt, hält die Kritikder Urteilskraft nicht nur eine Theorie der ästhetischen Erfahrung bereit, son-dern auch eine des Kunstwerks. Diese urteilstheoretische Grundlegung unsererWeltbegegnung – die besondere Form der Bezugnahme auf Gegenstände in derWelt durch eine reflexive Rückwendung auf das subjektive Gefühl der Lust, dasuns anlässlich eines ästhetisch qualifizierten Gegenstandes widerfährt – wirdmit Gadamer13 als ästhetische Erfahrung gefasst. Der frühe Friedrich Schlegelhingegen geht in seinen Aufsätzen zur modernen Literatur von der Werkseite ausund steht zunächst noch ganz in der Tradition der querelle des Anciens et desModernes, jener hitzigen Debatte im Frankreich des 17. Jahrhunderts um denNachahmungswert der klassischen Literatur und um die Frage nach dem Fort-schritt in der Kunst. Diese Debatte wird durch Perraults ›Loblied‹ Le si�cle deLouis le Grand (1687) angestoßen und ruft den Zorn des ancien Boileau hervor.In der Zeit der Athenäum-Fragmente wendet sich Schlegel hingegen, wie er sichausdrückt, von seiner unironischen ›Objektivitätswut‹ ab, d. h. er gibt das Zielauf, objektive Kriterien für gelungene Kunst aufstellen zu wollen. Während Kantvon der Subjektseite ausgeht und bis auf Andeutungen den Gegenstandsbezugvernachlässigt, entwickelt Schlegel seine Theorie der ästhetischen Erfahrunganhand derjenigen Struktur, die Kunstwerke aufweisen müssen, um autonomeGebilde zu sein. Damit folgt diese Arbeit nicht der postmodernen Verkürzungder kantischen Ästhetik auf die subjektive Seite der ästhetischen Erfahrung, wieBubner und Lyotard gefordert haben.14 Hiergegen ist einzuwenden, dass es auchfür die Moderne nicht zuträglich ist, auf den Werkbegriff gänzlich zu verzichten.Das hat Schlegel in der kantischen Ästhetik entdeckt und damit ihre Modernitätbetont.

    Unumstritten ist, dass Leopardis, Baudelaires und Rilkes Lyrik sowohl in-haltlich als auch sprachlich mit dem poetischen Erbe Europas bricht. In ihrenGedichten drückt sich der Aufbruch in die Moderne aus. Ihre Dichtungs- und

    13 Vgl. Gadamer 1990, S. 48–87 (Kap. Subjektivierung der Ästhetik durch die Kantische Kritik)und kritisch gegen dessen Deutung, diese Subjektivierung »als Verlust erscheinen zu lassen«(Hogrebe 1992, S. 67), die historische Skizze bei Hogrebe zur mantischen Deutungsnatur desMenschen, die Kant in der Ästhetik als Erkenntnistheorie ohne Erkenntnis (ebd., S. 79–82)behandelt.

    14 Vgl. Bubners Aufsatz »Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik« von 1973. DieseReduzierung geht davon aus, dass Kants Überlegungen nur dort auf moderne Kunstwerkeanwendbar seien, wo das Erhabene besprochen wird; vgl. Lyotard 1994 (zuerst 1991: LeÅonssur l’analytique du sublime, Kant: Critique de la facult� de juger, §§ 23–29). Der postmo-derne Primat der subjektiven Erfahrung wird allzuoft deutlich: denn »en un coup d’œil, alsin einem Augenblick« erfolge die ästhetische Erfahrung (Lyotard 1991, S. 133), aber nur imSubjekt: »Il ne s’agit pas […] d’une peur r�elle ou empirique […]. Ce qu importe […] est lasensation« (ebd., S. 171).

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    Denkbewegungen15 werden dadurch auf die Gegenwart fokussiert. Dieser klas-sische Idealwert des Augenblicks ist ein Mythos der Literatur. Der Bezug zurEwigkeit ist zugleich Teil derjenigen disparaten Eigenschaften, die man intuitivmit dem Augenblick als Ideal verbindet. Während »Mythos« und »Ideal« in denbeiden letzten Sätzen im geläufigen Sinne als ein berühmter (über-) zeitlicherBezugspunkt verwendet werden, bedeuten sie im Folgenden – besonders hin-sichtlich der Gedichtsanalysen – immer auch eine reflexive symbolische Ord-nung. Allein am Rande, in Bezug auf die Augenblicksgötter, die eine begrifflicheVorgeschichte der Augenblicke andeuten – wie sie im Vorblick angesprochenwerden –, und anläßlich der impliziten, je schon vollzogenen Verdrängung dermythischen Gewalt – wie sie Kapitel 1.1 anhand des Augenblicks des Schönennach Kant darstellt – wird »Mythos« auch im Sinne eines Umgangs mit einerUrangst verstanden. In dieser Bedeutung verstehen paradigmatisch JammesGott an hat ein Gewand16 und Blumenbergs Arbeit am Mythos das Mythische. BeiBlumenberg findet sich zur Frage nach der »ikonische[n] Konstanz« von My-thologemen bzw. Mythos-Motiven eine Antwort, die so auch auf die Prägnanzdes Augenblicks als Struktur zutrifft : »Die Grundmuster von Mythen sind ebenso prägnant, so gültig, so verbindlich, so ergreifend in dem Sinne, daß sie immerwieder überzeugen«17. Diese Doppelperspektive – hier zwischen Konstanz undPrägnanz – bedeutet für den Ansatz dieser Arbeit auf verschiedenen Ebenen,dass sie mehrstufig bzw. reflexiv vorgeht. Diese Perspektive auf den Augenblickzergliedert sich in zwei Teile. Der Augenblick wird als philosophischer Begriffdergestalt eingeführt, dass er als Denkfigur grundlegende Kategorien einermodernen Ästhetik vorstellt. Der poetische Umgang mit dem Augenblick de-konstruiert schrittweise ebenso Ideale und Versprechen des Augenblicks, wie erBlickweisen auf die Gegenwart als poetisches Material variiert. Es ist die Leistungvon Walter Benjamins Dissertation Der Begriff der Kunstkritik in der deutschenRomantik (1920), die (frühromantische) Analogie zwischen Kunstwerk undSubjekt (und Augenblick) erkannt zu haben:

    Das Subjekt der Reflexion ist im Grunde das Kunstgebilde selbst, und das Experimentbesteht nicht in der Reflexion über ein Gebilde, welche dieses nicht, wie es im Sinn derromantischen Kunstkritik liegt, wesentlich alterieren könnte, sondern in der Entfal-tung der Reflexion, d. h. für den Romantiker : des Geistes, in einem Gebilde.18

    15 Während Baudelaire (vgl. Jauß 1989a, 1989b) und Rilke (vgl. Heidegger 2003 [1946], ein-schlägig für die Rilke-Forschung Bollnow 1948) gemeinhin als Dichter und Denker gelten,hat prominenterweise – und bereits im Titel: Il pensiero poetante (zuerst 1980) – AntonioPrete diesen ›Nachweis‹ für Leopardi hergestellt (vgl. Prete 2006).

    16 Vgl. Jamme 1991, S. 88–105.17 Blumenberg 2006, S. 166.18 Benjamin 1974b, S. 65f.

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    Diese (quasi-) bruchlose Einheit zwischen Kunstwerk und Kritik wiederholtdiejenige zwischen Subjekt und Natur. Diese Einheit wird transformiert in eineästhetische Erfahrung, die als Kritik auch einlöst, je nur ein Augenblick (bzw. einFragment) zu sein. Georg Luk�cs bringt dieses (unerfüllbare) Ideal (der Lyrik)auf den Punkt, wenn er – in Aufnahme von Schlegels frühromantischen Schriften– zum Roman bzw. zur Epik schreibt:

    Die Lyrik kann das Phänomenalwerden der ersten Natur ignorieren und aus derkonstitutiven Kraft dieses Ignorierens heraus eine proteische Mythologie der sub-stantiellen Subjektivität schaffen: für sie ist nur der große Augenblick da, und indiesem ist die sinnvolle Einheit von Natur und Seele oder ihr sinnvolles Getrenntsein[…] ewig geworden: losgerissen von der wahllos abfließenden Dauer, herausgehobenaus der trüb bedingten Vielheit der Dinge, gerinnt im lyrischen Augenblick die reinsteInnerlichkeit der Seele zur Substanz, und die fremde und unerkennbare Natur ballt sichvon innen getrieben zum durch und durch erleuchteten Symbol. Aber nur in denlyrischen Augenblicken ist diese Beziehung zwischen Seele und Natur herstellbar.19

    Wird solchermaßen die »Natur« verabschiedet und als ästhetische Kategorie»Augenblick« benannt, stellt sich die Frage nach der Struktur dieses »erleuch-teten Symbol[s]«, die eine »Beziehung zwischen Seele und Natur« anzeigt. DasVersprechen des Augenblicks geht auf »die reinste Innerlichkeit«. Diese ober-flächliche Idee einer unzerrissenen Weltpassung ist ein bereits poetologischhinterfragtes Ideal. Was Kant als Naturmäßigkeit ausdrückt, meint ein Gut-gemacht-Sein (s. u. S. 96). Daraus folgt, dass Augenblicke gemacht werden.Augenblicke sind singuläre Stimmigkeiten, die gerade – gegen Luk�cs – keineEinheit, sondern einen Bruch darstellen. Luk�cs’ Bild des Augenblicks lässt sichals der positive Mythos des Augenblicks verstehen. Den negativsten Pol veran-schaulicht systematisch Karl Heinz Bohrers Monographie Ästhetische Negati-vität von 2002, zu der sich diese Arbeit positionieren muss, da hier ebenfallsLeopardi und Baudelaire als Augenblicksdenker und -dichter analysiert werden,und da Bohrer in Der Abschied von 1996 Rilke (gegenüber Baudelaire) eineschwache und unterlegene Form des Abschieds attestiert. Lyrische Darstellun-gen von Augenblicken können allerdings weder bruchlos sein, noch Ausdruckreiner ästhetischer Negativität20. Diese Verteidigung nimmt – wie es für den

    19 Luk�cs 1982, S. 53f.20 Vgl. zur fragmentarischen Verweisstruktur, die Bohrers Rede von einem absoluten Präsens

    (vgl. Bohrer 1994) und seiner Verabsolutierung ästhetischer Negativität widerspricht, die erLeopardis und Baudelaires Lyrik attestiert (vgl. Bohrer 2002a, S. 38, 50, 88, 97), in dieserArbeit das Kap. 2.2.1, die Besprechung in Kap. 3.3 (s. u. S. 212). Vgl. zum Begriff ästhetischerNegativität die kritischen Ausführungen von Schmidt 2006, S. 118. Gegen Bohrers Begriff desabsoluten Abschieds, der ihn Rilke aus der – in einem emphatischen Sinne – modernen Lyrikausschließen lässt, vgl. Bohrer 1996, S. 37, Petry 1999, Bors� 2005, S. 118–120 und Kap. 5dieser Arbeit. Meuthens Arbeit zur Ironie (Meuthen 2011, S. 18–28) formuliert eine in-

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    modernen Augenblick angemessen ist – rückwirkend und ex post das ab-schließende Kapitel 5 vor, indem zwei Aspekte betont werden: ›Absolute‹ Ne-gativität ist nicht zu erreichen – weder philosophisch noch poetisch – und RilkesFigur des Augenblicks bzw. des Abschieds ist keineswegs »eine schwache Formder Abschiedsfigur« und auch die »Affinität des Mythos zeigt dies« in keinerWeise.21 »Augenblick« oder »Abschied« sind eine Denkfigur oder nicht.

    Mit Schlegel kommt im kantischen Ansatz eine Theorie der Unzweckmä-ßigkeit zum Vorschein. Der Augenblick ist immer vermittelt und reflexiv. In derBesprechung der Gedichte wird für diese ästhetische, fragmentarische Strukturauch der Ausdruck coincidentia oppositorum benutzt. Schlegel beschreibt diesesZusammentreffen der Gegensätze in der Denkfigur des Witzes, Leopardi benutztdas Vokabular des genialen Augenaufschlags, des colpo d’occhio, und Baudelairespricht von poetischen Korrespondenzen und fragilen paradis artificiels. Dieimmanente Machart der Stimmigkeit eines ästhetischen Gegenstands ist, wasästhetische Wahrheit genannt werden kann.22 Diesen Ansätzen sind sprachlicherKalkül und Selbstreflexivität gemeinsam. Dadurch wird der Mythos des zeitlo-sen Augenblicks unterlaufen, der – wie Luk�cs es ausdrückt – »losgerissen[wäre] von der wahllos abfließenden Dauer«. Aus den kantischen Prämissen, vorallem aus der Grundannahme, dass es keine objektiven Kriterien für das Schönegebe, ergibt sich, dass prinzipiell jeder Gegenstand als ästhetisch qualifiziertergilt, solange er anhaltende Reflexionslust erlaubt. Neben diesen systematischenÜberlegungen bündelt Kant Traditionsströme, v. a. die der visio beatifica bzw.der unio mystica23 und den des Erhabenen, der seit Boileaus Übersetzung (1674)von Pseudo-Longinus’ Peri hypsous eine wichtige Rolle spielt. Diese Traditionenmünden – neben dem Ewigkeitsversprechen nach Goethe – in zwei weiterenAugenblicksversprechen: in eine Weltpassung im Schönen und in eine Welt-passung im Erhabenen.

    Durch diese Anlage der Arbeit sind entscheidende Weichenstellungen vor-genommen. Grundlegend ist ein topologischer, systematischer Anspruch: Der»Augenblick« wird philosophisch und poetisch betrachtet. Das gilt sowohl aufder Makroebene – insofern zwei philosophieästhetische Kapitel drei Kapiteln zuje einem Dichter gegebenüberstehen – als auch auf der Mikroebene, denn dietheoretischen und philosophischen Schriften und Überlegungen der Dichterwerden ebenso einbezogen. Dabei nimmt die Anzahl der unterschiedlichenPrimärtexte tendenziell zu. Während sich das erste Kapitel fast ausschließlichauf den ersten Teil von Kants Kritik der Urteilskraft (1790), der die Ästhetik

    struktive Kritik an Bohrers absoluter Trennung von Philosophie und Dichtung bzw. vonDenken und Sprache (Bohrer 2002a, S. 161, 335 und Bohrer 1996, S. 35).

    21 Bohrer 1996, S. 37.22 Vgl. Adorno 2003a, S. 235; s. hier S. 70.23 Vgl. den Überblick zum Kairos bei Ley 1985 und zur visio beatifica bei Rentsch 2011.

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    behandelt, stützt, werden im zweiten Kapitel zu Friedrich Schlegels Weiterent-wicklung der kantischen Ästhetik mehrere Aufsätze und Fragmentsammlungenherangezogen. Die frühen philologischen und geschichtsphilosophischen Ju-gendschriften Geschichte der Poesie der Griechen und Römer (1798) und VomWert des Studiums der Griechen und Römer (1795/1796) sind entscheidendeDokumente, um den berühmten, im Ansatz klassizistischen Studium-Aufsatz(Über das Studium der griechischen Poesie) von 1795–1797, den Kapitel 2.1einleitend vorstellt, hinsichtlich dreier Aspekte einzuschätzen: Schlegel kom-biniert Kants ästhetische und geschichtsphilosophische Position und entwickeltsie weiter. Der ursprünglich klassizistische Ansatz wird in der hinzugefügtenVorrede – als Replik auf Schillers Über naive und sentimentalische Dichtung(1795) – hinsichtlich zweier für den poetischen Umgang mit dem Augenblickentscheidenden Kategorien neu verhandelt: Der Ursprung (der Antike, derModerne, etc.) ist notwendig unverfügbar und das Interessante – später wirdman dazu das Neue sagen – wird als moderne Kategorie unter der Hand auf-gewertet. Die Idee eines rettenden Augenblicks, der die Geschichte eines kul-turellen Abfalls und einer künstlerischen Degeneration aufhöbe, weitet denBegriff des Augenblicks zu einem Ideal aus, das als Kontrastmittel dient für dierelative Hoffnungslosigkeit der Dichter hinsichtlich des Augenblicks.

    Damit sind entscheidende Entwicklungen angelegt: Die metaphysischeHoffnung Kants, die die Kapitel 1.1–1.3 aufarbeiten, dass die augenblicklicheErfahrung des Schönen eine versöhnende Funktion haben könne, oder dass diein sich gebrochene Augenblickserfahrung des Erhabenen – die die folgendenKapitel 1.4–1.4.2 als Struktur und als Nachfolgefigur der (romantischen) In-spiration untersuchen –, das (moderne) Subjekte retten könne, wird ironischunterlaufen.

    Kapitel 2.1 bzw. Schlegels Studium-Aufsatz weisen zugleich vorweg auf die insich gebrochene Figur des Augenblicks, sei es als Struktur von Kunstwerken, diedie Kapitel 2.2–2.2.1 v. a. anhand der Athenäum-Fragmente (1797/1798) – dis-kutieren, sei es als Denkfigur des Denkens und des kritischen Umgangs mitKunstwerken, wie die abschließenden Kapitel 2.2.2 und 2.3 vorschlagen. DerÜbergang zur modernen Dichtung, den Kapitel 3 über eine Skizze der Melan-cholie herstellt, verbindet Leopardi und Baudelaire. Der Sache nach verfasstauch Leopardi einen solchen Studium-Aufsatz wie Schlegel, wenn er in seiner zuLebzeiten unveröffentlichten Antwort auf de Sta�l und di Breme, im Discorso diun italiano intorno alla poesia romantica (1818), gegen die romantische Be-wegung und gegen die drohende Europäisierung Italiens anschreibt. Auf ver-gleichbare Weise schreibt hier ein Klassizist und wird nolens volens zum Mo-dernen. Damit stellt Kapitel 3.1 ein Manifest vor, das direkt auf den inszeniertenAugenblick des Schicksalsjahres 1819 verweist, der im Zibaldone di pensieri(geschrieben von 1818–1832) festgehalten wird als ein Augenblick, der die

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    conversio zum Dichter und Philosophen bezeichnen soll. Kapitel 3.2 geht diesernegativen Epiphanie nach – und es genügt, darunter zunächst eine paradoxeEpiphanie oder eine Epiphanie von etwas Widersprüchlichem zu verstehen.Diese Epiphanie hat Konsequenzen für Leopardis Gegenwarts- und Augen-blickskonzeption. Kapitel 3.3–3.3.2 isolieren paradigmatische Überlegungenaus dem Zibaldone, um ein theoretisches Schema herauszuarbeiten. Der Au-genblick wird phänomenologisch gefasst als eine diff�rance-Erfahrung – d. h. alseine nicht-intentionale bzw. nicht-intendierbare Erfahrung, die – wie die»Denkfigur« – immer nur ex post rekonstruierbar ist.

    Kapitel 3.3.2 führt anhand dieser negativen Figur Leopardis augenblicks-feindliche teoria del piacere ein. Als Ausnahme von dieser Theorie bzw. dieserRegel stellen die Kapitel 3.4 und 3.4.1 den lyrischen Augenblick aus der Ge-dichtssammlung der Canti (erste Ausgabe 1830, postum 1845) vor, L’infinito,den berühmtesten piccolo idillio, der im Ganzen repräsentiert, wie man lustvollan der Darstellung von Totalität – und man mag die faustische Wette auf denAugenblick mit Ewigkeitsbezug mithören – scheitert. Kapitel 3.5 nimmt dievorletzte canzone der Canti, den Ultimo canto di Saffo zum Anlass, um denAugenblick des Todes, der ausbleibt, als Chiffre für Leopardis ambivalenteModernität zu lesen. Die Kapitel 3.6–3.6.2 führen diese Ambivalenz mit den insich gebrochenen Mondaugenblicken der Gedichte Alla Luna und Il tramontodella luna weiter aus, die eine quasi-mythische ästhetische Idee als das Anderedes lyrischen Ichs inszenieren. Der Mond steht aber auch für das Ideal derKindheit, das durch die Erinnerung re-präsentiert werden soll, wie die Kapi-tel 3.7–3.7.2 anhand der Gedichte Alla Primavera o delle favole antiche, Le Ri-cordanze und La sera del d� di festa veranschaulichen, indem sie den tran-szendentalen Wert der Erinnerung als eine Epiphanie oder als instant po�tiqueherausarbeiten. Die Überlegungen zur modernen Welt, die Kapitel 3.8 anstellt,erweitern das Bild von Leopardis Gegenwartsbegriff. Das Langgedicht Palinodiaal Marchese Gino Capponi ist eine ironische Ausnahme der Canti, da hier dieJetztzeit der fortschrittsgläubigen, technisierten Moderne poetisiert wird.

    Baudelaire entwickelt diesen Komplex poetologisch in seinem Essai Le peintrede la vie moderne im Zeichen der Flüchtigkeit der modernen Großstadt. Aufgebrochene Weise kommt damit die Gegenwart als poetisches Material wieder inden Blick. Kapitel 4 leitet anhand vom 29. Gedicht der Fleurs du mal, Unecharogne, das baudelairesche Motiv des Antilyrischen ein, das für eine andereModerne einsteht, wie sie Baudelaires augenblicksaffine Poetik der De- undRekomposition (Kap. 4.4.1) vorstellt. Die Kapitel 4.1.1–4.1.3 widmen sich demAugenblicksmythos der Passantin anhand von Baudelaires � une passante. ImFolgenden wird eine andere Seite des Menschen aus der Sicht der Dichtungangesprochen: das Subjekt im Stillstand – ohne Fortschritt noch Entwicklung.Kapitel 4.2 führt diese Perspektive am Beispiel von Baudelaires Essai De l’essence

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    du rire aus, d. h. anhand einer ironisch-fragmentarischen Theorie des Men-schen, die sowohl einen Ur-Augenblick des Sündenfalls umschließt als auch eineEntsprechung im Tagebuch (Mon cœur mis � nu) und in der Dichtung (La Vieant�rieure, J’aime le souvenir de ces �poques nues, L’H�autontimoroum�nos).

    Die Frage nach der freien Zukunft und der perte d’aur�ole des Dichters, diedas gleichnamige Prosagedichts stellt, nimmt Kapitel 4.3 auf mithilfe des Au-genblicks des (verzweifelten) Liebens (Portraits de maitresse, Le Miroir und LeGalant Tireur), der zugleich das Ideal des Flaneurs und des Dandys hinterfragt.Kapitel 4.3.1 geht auf die Frage nach dem Ursprung und auf das Motiv derUhr (-zeit) ein, indem die entsprechende fleur du mal (L’Horloge) als ein Be-wusstsein des Bösen gelesen wird, das eine Poetik des Extrahierens vorstellt, dieKapitel 4.3.2 ausführt: Der Umschlagswert des Augenblicks sedimentiert sich imironischen Bewusstsein bzw. im homo duplex, wie im Text zu Asselineaus Ladouble vie und zur Karikatur in Le peintre de la vie moderne ausgeführt wird.Das hat eine karikaturale Seite, die ein weiterer kunstkritischer Aufsatz (Quel-ques caricatures �trang�res von 1857/1858) ausarbeitet.

    Dieser Doppelcharakter des Schönen lässt sich sowohl theoretisch in �loge dumaquillage wiederfinden als auch poetisch (in Au Lecteur, L’Irr�parable, LeMauvais Moine, L’Ennemi, L’Avertisseur, Le Voyage) als Kehrseite der Existenzund der Augenblickspoetik, aus Flüchtigkeit Ewigkeitswerte zu retten, was sichin der Metapher der Insel und der Karte – als Sinnbild für das Neue – mitLeopardis Ad Angelo Mai und mit einer Denkfigur bei Kant (aus der Kritik derreinen Vernunft) kontrastieren lässt. Kapitel 4.3.3 schließt mit dem Blick desFlaneurs auf den Anderen, wodurch der poetische Wert des Ennuis aus eineranderen Perspektive dargestellt wird, der durch die Blinden als Untersu-chungsgegenstand, die Schwellenerfahrung der Verdunklung (Les Aveugles, LeCr�puscule du soir, Le Couvercle) und durch die krankhafte Augenblickslust (derhebetudo mentis) aus einer post-eschatologischen Perspektive (Chacun sachim�re), die dennoch auf eine augenblickliche Erlösung hofft (Les petites Vi-eilles), gesteigert wird.

    Das abschließende Baudelaire-Kapitel 4.4 endet mit abstrakten Analogien,die den Augenblickswert seiner Dichtung als (ideale) Struktur anstreben mit-hilfe der kalkulierten Apostrophe (Sur mes contemporains), der abstraktenMetapher des Todes im Versuch, Neues zu finden (Le Voyage) und der (super-naturalistischen) Poetik von Korrespondenzen (Exposition universelle [1855],Salon de1849, de 1859), die das Prosagedicht Le Confiteor de l’artiste als choc-Abwehr und als in sich gebrochene Selbsterfahrung in der Landschaft, die dieEinbildungskraft überformen kann (Salon de 1859, La Reine des facult�s) alsExistenzialmetapher (Fus�es, Le Voyage, Spleen IV [Quand le ciel bas]). Kapi-tel 4.4.1 setzt sich mit der Abstraktion der alchemistischen Fragmentierung undRekomposition anhand der Gedichte Alchimie de la douleur, Le Poison, Corre-

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    spondances auseinander. Sie prägen einen poetologischen Dolorismus aus, dereine ambivalente Augenblicklichkeit gestaltet (Le Masque), die als Summa dergegenseitigen Gedichte La Beaut� und Hymne � la Beaut� gelten kann, die dentraditionellen Augenblick der Versteinerung poetologisch auslegen. Auf dieseVariationen des Augenblicks der Inspiration folgen in Kapitel 4.4.2 abstrakteFiguren (des Augenblicks) der Erinnerung (Spleen II [J’ai plus de souvenirs]), diesich lautlich erfüllt und im Zeichen einer Mnemotechnik (Le Cygne, Le Flacon)lyrisch desavouiert. Kapitel 4.4.3 geht abschließend auf die unironische Aus-nahme Recueillement ein, das einen Augenblick der Sammlung und das Ein-gangsgedicht der Fleurs du mal, B�n�diction, aufnimmt, die sich als eine lyrischecura sui (Hygi�ne) verstehen lässt, die sich auch als schizophrener Augenblickder Inspiration (La Chambre double), als Alltagsverlust der Inspiration (� uneheure du matin) oder als �chapp�e de vue ins Ewige (L’Horloge) darstellt. Kap. 5.wirft einen ersten Blick auf die Poetik der Sonette an Orpheus mit Maltes Poetikdes Sehen-Lernens und mit Rilkes Poetik des Abschieds (Sonette an Orpheus II,13), die sich an seinem Begriff des Offenen ablesen lässt, den er bereits in seinerÜbersetzung von Leopardis L’infinito andeutet. Kap. 5.1 verfolgt diesen Aus-blick auf einen orphischen Begriff der Gegenwart weiter auf der Grundlage vonRilkes Übersetzung von Val�rys L’ffme et la Danse, die sich im Umgang mit derGegenwart sowohl auf Rilkes An die Musik stützen kann als auch auf eine ge-genwartsgestaltete Dingpoetik. Kapitel 5.2 erweitert den Gegenwartsbegriff desspäten Rilke durch exemplarische Mythologeme Orpheus’, die meist nicht direktaufgenommen werden. Kap. 5.2.1 beginnt mit den Sonetten an Orpheus, diedeiktisch Präsenz evozieren (Sonett I, 1), aber auch eine Offenheit beschwören,die das zweite Sonett als lyrische Selbstschöpfung und als Ideal anspricht. Dersprach-evokatorische Zug steht im Mittelpunkt von Kap. 5.2.2: Eine szenischeSprachauffassung (Sonett II, 2) wendet den Mythos des lyrischen Sprechensselbstreflexiv um (Sonett I, 26). Das nimmt die Sammlung auch in der eigenenOrdnung auf (Sonett II, 26) und in Figuren der Flüchtigkeit (Sonett II, 27).Kap. 5.2.3 bündelt Rilkes dialektisches und lyrisches Augenblicksversprechen:Orpheus’ Gegenwart wäre ein Augenblick, der sich selbst nicht sagen müsste(Sonett II, 28), sich aber doch sprachlich vollzieht (Sonett II, 29) und eine my-thische Vorgeschichte andeutet (Sonett II, 12), die sich als (Tanz-) Figur selbstermöglicht (Sonette II, 12, 18). Der orphische Augenblick wird auf lyrischeWeise wieder ursprungsaffin.

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    Das Faß der Danaiden bleibt ewig leer. Durch jeden Genuß werden die Begierden nurheftiger ; mit jeder Gewährung steigen die Forderungen immer höher, und die Hoff-nung einer endlichen Befriedigung entfernt sich immer weiter. Das Neue wird alt, dasSeltene gemein, und die Stachel des Reizenden werden stumpf. Bei schwächererSelbstkraft und bei geringerm Kunsttriebe sinkt die schlaffe Empfänglichkeit in eineempörende Ohnmacht; der geschwächte Geschmack will endlich keine andre Speisemehr annehmen als ekelhafte Kruditäten, bis er ganz abstirbt und mit einer ent-schiednen Nullität endigt. Wenn aber auch die Kraft nicht unterliegt, so bringt es wenigGewinn. Wie ein Mann von großem Gemüte, dem es aber an Übereinstimmung fehlt,bei dem Dichter von sich selbst sagt:»So tauml’ ich von Begierde zu Genuß,Und im Genuß verschmacht’ ich nach Begierde;«so strebt und schmachtet die kraftvollere ästhetische Anlage rastlos in unbefriedigterSehnsucht, und die Pein der vergeblichen Anstrengung steigt nicht selten bis zu einertrostlosen Verzweiflung.

    (Schlegel: Über das Studium der griechischen Poesie ; KA I, S. 223; s. u. S. 31)

    Paradeigma signifie »plan d’architecte«, par exemple. Mais paradeigma, c’est aussil’exemple. Il reste � savoir ce qui arrive quand on parle d’un paradigme pour d’autresespaces, d’autres techniques, arts, �critures. Le paradigme comme paradigme pourtout paradigme. Du jeu de mots en architecture – et si le Witz y est possible.24

    (Derrida: Cinquante-deux aphorismes pour un avant-propos)

    Bis er sie sah, hatte sie ihn schon gesehen. Als sein Blick sie erreichte, war ihr Blickschon auf ihn gerichtet.25

    (Walser : Ein liebender Mann [erster Satz])

    Schlegels berühmter Jugendaufsatz Über das Studium der griechischen Poesievon 1795 erhebt das faustische Begierdengesetz, das er zitiert, zum Symptom derGegenwart, der seine Zeitdiagnostik gewidmet ist. Im Ausgreifen auf die Welt-geschichte und im Versuch, einen Begriff von der eigenen Gegenwart zu bilden,

    24 Derrida 1987, S. 510.25 Walser 2008, S. 9; vgl. zu Walsers Goethe-Rezeption Zemanek 2009.

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    ist Schlegels Aufsatz ein Vorläufer von Robert Musils Das hilflose Europa von1922.26 Schlegel und Musil denken eine immanente Poetologie der europäischenModerne, die in der Diagnose von Symptomen eine Verfallsgeschichte entdeckt.Sie leisten Begriffsarbeit an der Gegenwart, denn »wir besaßen nicht die Begriffe,um das Erlebte in uns hineinzuziehen«27, und sie suchen, eine neue Objektivitätin Kunst und Gesellschaft vorzustellen, im Bewusstsein, dass das Allgemeine»unpersönlich« ist: »Objektivität stiftet daher keine menschliche Ordnung,sondern nur eine sachliche.«28 So denkt auch Schlegel die Gegenwart von derSache, von der Kunstproduktion her, und entdeckt an ihr ein »Bewegungsge-setz«29, das er in Goethes Faust bereits angelegt sieht. Während der Faust sol-chermaßen zum Paradigma der europäischen Moderne aufsteigt, wird er imÜbergang zu Schlegels Fragmentsammlungen als eine der drei Tendenzen derGegenwart benannt: »Die drei größten Tendenzen des Zeitalters sind dieWl.[Wissenschaftslehre] W[ilhelm] M.[eister] und die franz[ösische] Revo-luz[ion].« (XVIII, 85, 662). Der Studium-Aufsatz bündelt frühere philologischeund literaturhistorische Überlegungen und stellt diese in einen gesamteuro-päischen Rahmen. So schreibt er noch in der Vorlesung zur Geschichte der altenund neuen Literatur von 1812: »Unsre Geistesbildung beruht so sehr auf der derAlten, daß es überhaupt wohl schwer ist, die Literatur zu behandeln ohne vondiesem Punkt auszugehen.« Dieser Anfangspunkt ist für Schlegel die griechischeLiteratur, ein quasi-mythischer Ursprung, »welche[r] die Bildung von Europaangefangen hat« (KA VI, S. 17f.).30

    Im »Studium der gemeinsamen europäischen Wurzeln«31 bestehe die Aufgabeder Philologie und der Philosophie darin, die historiographischen Prämissenselbst explizit zu machen. Solchermaßen sind Denkfiguren elastische, witzigeBegriffe im Sinne Schlegels (s. Kap. 2.2), die paradigmatische Vereinzelungenvon unterschiedlichen, oft auch widersprüchlichen Bestimmungen bündeln undso die Fähigkeit besitzen, »sich die verschiedensten Gegenstände anzuverwan-deln«32. Der Augenblick ist eine solche Denkfigur, die der begrifflichen Welter-kenntnis voranzugehen scheint, indem sie als Form symbolischer Prägnanz in»der Vielfalt der Welterschließungsformen«33 »die Gewähr dafür [bildet], daß

    26 Vgl. Fetz 2009, S. 93f. Im Folgenden wird Schlegels Aufsatz als Studium-Aufsatz abgekürzt.Im Vorblick und dann wieder ab den Kapiteln zu Schlegel (Kap. 2–2.3) wird die KA (s. o.Siglen) zitiert in folgender Form: Die römischen Ziffern verweisen auf den Band, gefolgt vonder Seitenzahl und gegebenenfalls dem zitierten Fragment.

    27 Musil 1961, S. 5.28 Ebd., S. 29.29 Adorno 1966, S. 34.30 Vgl. Herrmann 2009, S. 190f.31 Ebd., S. 191.32 Torra-Mattenklott 2013, S. 60.33 Kreis 2010a, S. 249.

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    diese Fülle [der Erfahrung] nicht einfach verströmt, sondern sich zu einer festen,in sich geschlossenen Form rundet.«34 Wie in Goethes Verwendung des prä-gnanten Augenblicks ist symbolische Prägnanz entsprechend der lateinischenBedeutung (praegnans) schwanger und produktiv, sie ist schöpferisch undweltbildend.35

    Denkfiguren sind sprachliche Äquivalente des Erkenntnishintergrunds, denCassirer »symbolische Prägnanz« nennt: Sie bezeichnen die Art, »in der einWahrnehmungserlebnis, als sinnliches Erlebnis, zugleich einen bestimmtennicht-anschaulichen Sinn in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkretenDarstellung bringt.«36 Diese artikulative Deutungskraft kommt in exemplari-scher Weise dem Augenblick zu, insofern er eine »ideelle Verwobenheit« im»Hier und Jetzt« in Bezug auf ein »Sinnganzes« bezeichnet oder bezeichnensoll.37 Hier kann die frühromantische Ironie als »Epideixis der Unendlichkeit«38

    ihre zersetzende Kraft ausspielen. Cassirers Rede von der symbolischen Prä-gnanz hat eine Parallele bei Walter Bejamin: Dieser versteht den Schock als»kurzzeitig aufblitzende[s] Bild«, als »unhintergehbare Instanz, die dennocheiner Dynamik unterworfen ist«.39 Denn Benjamin bestimmt den Schock als denbesonders zur Reflexion auffordernden Fall eines Augenblicks, der erst durchreflexive, sprachliche Aufarbeitung zum Status symbolischer Prägnanz auf-steigen könnte:

    Je größer der Anteil des Chockmoments an den einzelnen Eindrücken ist, […] destoweniger gehen sie in die Erfahrung ein; desto eher erfüllen sie den Begriff des Erleb-nisses. Vielleicht kann man die eigentümliche Leistung der Chockabwehr zuletzt darinsehen: dem Vorfall auf Kosten der Integrität seines Inhalts eine exakte Zeitstelle imBewußtsein anzuweisen. Das wäre eine Spitzenleistung der Reflexion. Sie würde denVorfall zu einem Erlebnis machen.40

    Auch wenn es für Baudelaire fraglich ist, ob seine dichterische Aufgabe (allein)darin zu suchen wäre, Schockerfahrungen abzuwehren, lässt sich dennoch daranfesthalten, dass viele seiner Gedichte versuchen, symbolische Prägnanz herzu-stellen, um so Augenblicke darzustellen. Cassirer gibt ein analoges, auf die

    34 Cassirer 2010, III, S. 233 (Phänomenologie der Erkenntnis [1929]).35 Vgl. zum Goethebezug Schings 1998, S. 231.36 Cassirer 2010, III, S. 231.37 Ebd.38 KA, XVIII, S. 128, Fr. 76.39 Waldow 2006, S. 139. Vgl. »Durch seine [des Bildes] eigentümliche Schwellenposition kann

    es im kurzen Augenblick, im choc als einem Moment der Gegenwärtigkeit, eine Arretierungerzeugen, in dem sich die Vorstellungen kristallisieren und das Nicht-Darstellbare erahntwerden kann« (ebd., S. 260).

    40 Benjamin 1974c, S. 615 (Über einige Motive bei Baudelaire).

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    »Gegenwärtigkeit« eines einzelnen Moments abzielendes Beispiel symbolischerPrägnanz:

    Jeder Moment schließt die Dreiheit der Zeitbeziehungen und der zeitlichen Intentionenunmittelbar in sich. Die Gegenwart, das Jetzt empfängt den Charakter als Gegenwartnur durch den Akt der Vergegenwärtigung, durch den Hinweis auf Vergangenes undKünftiges, den sie in sich schließt. […] Das Ich findet und weiß sich nur in derdreifachen Form des Zeitbewußtseins, während andererseits die drei Phasen der Zeitsich nur im Ich zur Einheit zusammenschließen.41

    In dieser Einheit wird das cassirersche »Prinzip der Inhaltsausbildung durchAusdifferenzierung von Reihen von geistigen Vorkommnissen«42 veranschau-licht, und die Denkfigur des Augenblicks entspricht ihr. Die Erfahrungssucheunter dem Ideal des Augenblicks, der in der Zeit gerade der Nullpunkt jederReihe ist, strebt an, dasjenige auszudifferenzieren, das im Geist bzw. im Be-wusstsein vorkommt. Paradigmatische Denkfiguren solcher Inhaltsausbildun-gen sind für lebendige Subjekte Augenblicke, die prägnant sein sollen. Mankönnte sie innerhalb von Cassirers symbolischen Formen aus der mythischenDenkfigur der »Augenblicksgötter«43 ableiten, auch wenn Cassirer diesen Bezugselbst nicht herstellt.44 Augenblicksgötter sind bewusstseinsmanifeste Vor-überwindungsstufen der Denkfigur des Augenblicks: Sie sind Quasi-Epipha-nien, die eine Vorstufe der Reflexivität und Psychologie späterer Bewusst-seinsformen darstellen.45

    Wo dieses Bewußtsein noch ganz im Augenblick gebunden und von ihm ausschließlichbeherrscht ist, wo es jeder momentanen Regung und Erregung schlechthin unterliegtund sich ihr gefangen gibt – da sind auch die Götter in dieser bloß sinnlichen Ge-genwart, in dieser einen Dimension des Augenblicks beschlossen.46

    Solche »Gebilde« entstehen als Resultate einer »einmaligen, vielleicht niemalsgleichartig wiederkehrenden Bewußtseinslage, aus einer momentanen Span-

    41 Cassirer 2010, III, S. 193.42 Kreis 2010a, S. 248.43 Cassirer 2010, III, S. 120. Die ex-post Denkfigur des Augenblicksgottes allegorisiert die

    Tieferlegung ins Mythische der expressiven Weltständigkeit des Menschen (vgl. dazuSchwemmer 2005, S. 127).

    44 Dass Cassirer diesen Bezug nicht herstellt bzw. die Augenblicksgötter und Dämonen (vgl. III,S. 75) nicht als mythische Vorform symbolischer Prägnanz darstellt, mag der systematischenStelle geschuldet sein, die ihr zukommt, denn »[s]ymbolische Prägnanz ist eine Unterart derRepräsentation« (Kreis 2010a, S. 251 Fn 12), während aber das mythische Bewusstsein durchseine a-repräsentationale Struktur ausgezeichnet ist.

    45 In dieser vorpsychologischen Form sind sie mit den homerschen Epiphanien bzw. Theo-phanien vergleichbar, die nicht nur eine narrative Funktion haben, sondern »a psychologicalimpulse in concrete corporeal form« repräsentieren (vgl. dazu Dietrich 1983, hier S. 59).

    46 Cassirer 2010, II, S. 255 (Das mythische Denken [1925]).

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    nung oder Entspannung des Bewußtseins«47. In solchen (erhabenen) Momentenwerden Augenblicksgötter geschaffen, die Ausdruck für die unbestimmbare undelementare Gewalt des Sinneseindrucks sind. Ist der Augenblick noch nicht alssolcher begrifflich gefasst – und das ist auch die mythische Welt der poetischenIdeale Leopardis (s. Kap. 3.1) –, werden einschneidende Ergebnisse verarbeitetund in Distanz gebracht durch die Identifizierung eines Ereignisses mit demWirken eines Augenblicksgottes; eine pantheistische Vorstellung, die Hegel indem Kapitel »Natürliche Religion« der Phänomenologie des Geistes beschreibtals »Attribute, die nicht zur Selbstständigkeit gedeihen, sondern nur Namen desvielnamigen Einen bleiben.«48 Es ist eine »gemeinsam[e] Leistung von Spracheund Mythos«49, auch wenn »die Beseelung dieses Geisterreichs [… »den Tod derAbstraktion«] durch die Bestimmtheit und die Negativität an sich«50 hat. Ausdieser kontingenten Vergöttlichung und Veraugenblicklichung wird erst eineDenkfigur, wenn »[e]in Moment der Ruhe und der inneren Beständigkeit«eintritt und so »das Bild gewissermaßen über sich selbst hinauswächst«.51

    Solche Bilder verkörpern im mythischen Bewusstsein die Totalität der frag-mentarischen Erfahrungswelten des Einzelnen. Diese Kontingenzüberwindungim personifizierten Augenblick ist die Vorform des Augenblicks als Denkfigurund als prägnante Form, denn auch er ist nicht »›nackte‹ Empfindung, als ma-teria nuda«, sondern »die lebendige Vielgestalt einer Wahrnehmungswelt«52. DerMythos spricht dergestalt durch die Denkfigur des Augenblicks, dass eine vor-mals substantielle Erfüllungsfigur (d. i. Gott) durch eine funktionale Überset-zung ersetzt wird: »Wo nicht über Mythos reflektiert wird, sondern wo wahrhaftin ihm gelebt wird – da gibt es noch keinen Riß zwischen der ›eigentlichen‹Wahrnehmungswirklichkeit und der Welt der mythischen ›Phantasie‹«53. Genaudiesen Indifferenzpunkt spricht Kants Rede von der Zwecklosigkeit an, er wirdvon Schlegel durch die bewusste Aufhebung von philosophischen Einheitspos-tulaten destruiert, und Leopardi und Baudelaire kennen die mythische Phantasienur noch als Unmöglichkeit. Das mythische Erfahrungsschema ist ein verlore-nes Ideal von reiner Gegenwart, der Mythos »versetzt uns in den lebendigen

    47 Ebd., S. 236. In einer allgemeineren Perspektive kommt Schlaffer in seinem Poesie undWissen auf die »Intensität ästhetischer Erfahrungen« zu sprechen, die »nicht verständlich[wäre], wenn sie nicht vom Erbe des Enthusiasmus zehrte.« Die Augenblicksgötter Cassirerssind Verkörperungen mythischer Erfahrung, während »ästhetische Distanz« erst »konkretdadurch zustande[kommt], daß der Körper des Zuschauers von der szenischen Darstellungferngehalten wird«; erst so wird ästhetische Erfahrung möglich (Schlaffer 2005, S. 150f.).

    48 Hegel 2006, S. 453 (A. Natürliche Religion, a. Das Lichtwesen).49 Cassirer 2010, III, S. 120.50 Hegel 2006, S. 454.51 Cassirer 2010, III, S. 120.52 Ebd., S. 16.53 Ebd., S. 68.

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    Mittelpunkt« und zeigt eine Weise der »Weltgestaltung«, die a-repräsentationalist und deshalb »den Charakter echter Präsenz [hat]: Ein Seiendes und Wirkli-ches steht in ihm in voller Gegenwart da«. Die entscheidende Kraft der Denkfigurdes Augenblicks speist sich aus dieser mythischen Spur einer »Welt«, die »injedem Augenblick als Totalität erfahrbar ist«.54 Die Unmittelbarkeit der Au-genblicksgötter im mythischen Bewusstsein ist das unvordenkliche Ideal desBegriffs Augenblick.

    Als kunsttheoretische Kategorie ist der Augenblick einschlägig als »prä-gnanter Augenblick«, insbesondere seit Lessings Laokoon-Aufsatz und seinerzeitlichen Unterscheidung der bildenden Kunst und der Literatur. Der Augen-blick sei Thema der »prägnante[n] Szenen« der Malerei, die einen dramatischenIndifferenzpunkt auswählen, der Vor- und Nachgeschichte einer Geschichte aufden dramatischen, besonderen Augenblick einschränkt. Die Dichtung dagegenverfahre prinzipiell linear. Die Dauer des (gemalten) Bildes fängt eine »augen-blickhaft-plötzlich[e]« Dauer ein, sie hat Prägnanz.55 Goethe hat daraufhin einenAufsatz Über Laokoon verfasst, der die Augenblicksdarstellung als Proprium fürdie bildende Kunst relativiert:

    Um die Intention des Laokoons recht zu fassen, stelle man sich in gehöriger Entfernungmit geschloßnen Augen davor; man öffne sie und schließe sie sogleich wieder, so wirdman den ganzen Marmor in Bewegung sehen, man wird fürchten, indem man dieAugen wieder öffnet, die ganze Gruppe verändert zu finden. Ich möchte sagen, wie siejetzt dasteht, ist sie ein fixierter Blitz, eine Welle, versteinert im Augenblicke, da siegegen das Ufer anströmt. Dieselbe Wirkung entsteht, wenn man die Gruppe nachts beider Fackel sieht.56

    Entscheidend ist der Hinweis auf die Perspektive und die Möglichkeit, den »fi-xierte[n] Blitz« mit der Fackel wieder zucken zu lassen. Was theoretisch für denBetrachter gerettet wird – die mögliche Verlebendigung des Steinernen –, ent-

    54 Ebd., S. 74f. , 76.55 Vgl. »Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt« und

    diesen fruchtbaren »einzigen Augenblick macht er so prägnant wie möglich, und führt ihnmit allen den Täuschungen aus, welche die Kunst in Darstellung sichtbarer Gegenstände vorder Poesie voraus hat« (Lessing 1970, S. 25f. , 124). Später wird die zu strenge Ausgliederungdes Hässlichen bei Lessing aus der Kunst aus der Perspektive Schlegels kritisiert. Vgl. Bät-schmann 2011 zum historischen Kontext (S. 23–15, 30–40), ausführlich zu Lessing Mülder-Bach 1992 und resümierend, dass als »allgemeine Regel […] Lessings ›fruchtbarer Augen-blick‹ keinen Anspruch auf Originalität erheben kann«, mit Rekurs auf Shaftesbury, Diderotund Mendelssohn, Mülder-Bach 1998 (hier S. 36). Vgl. speziell zu Diderots Vorschrift desprägnanten Augenblicks für die Malerei Schöch 2007, S. 29ff. »Dichtung als Zeitkunst«hingegen verfahre in sich linear und könne deshalb eine Simultaneität von Vorher undNachher nur evokativ als Gleichzeitigkeit erreichen (Blümle 2013, S. 44).

    56 Goethe 1982, Bd. XII, S. 60 (Über Laokoon, S. 56–66). Die Formulierung »Dieselbe Wirkung«zeigt aber auch an, dass Goethe gegenüber Lessing »jede analytische Dissoziation von Werkund Wirkung prinzipiell ablehnt« (Wolf 2002, S. 387).

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    spricht der logischen Paradoxie des Augenblicks, die die französische Debatteum die tableaux vivants umkreist.57 Wie soll das ausgezeichnete punctumtemporis der Schwierigkeit entgehen, dass dieser Ausschnitt mit dem Augenblickidentisch sein soll? Es gibt kein Kriterium dafür, dass eine bestimmte Anzahl anElementen umschlägt in eine Anschauung des Begriffs »Augenblick«.58 Das hatKonsequenzen für Goethes Beschreibung der Statuengruppe, indem er nicht voneinem »qualitativ permanent[en], aber zugleich transitorisch[en]« Augenblickausgeht, sondern die Figurengruppe vielmehr »als ein fortlaufendes Geschehen«beschreibt.59 Gerade deshalb sind Inszenierungen von prägnanten oder insze-nierten Augenblicken eine Herausforderung; so in den »novellistischen Au-genblick[en]« in Goethes Romanen, den tableaux vivants, die den Erzählflussanhalten und »notwendiges Fragment« bleiben.60 Das Lebendige wird aufgeführtund soll »in ein ewiges, zeitenthobenes Reich der Dauer überführt werden« als»tödliche[s] Moment«.61 Diese aporetischen Augenblicke werden 35 Jahre zuvorim Werther vorbereitet als »Dezentrierungserfahrung eines sich der Flüchtigkeitder Zeit des Universums ausgesetzten Subjekts«62:

    Es hat sich vor meiner Seele wie ein Vorhang weggezogen, und der Schauplatz desunendlichen Lebens verwandelt sich vor mir in den Abgrund des ewig offenen Grabes.Kannst du sagen: Das ist! da alles vorübergeht? da alles mit der Wetterschnelle vor-überrollt […], ach, in den Strom fortgerissen, untergetaucht und an den Felsen zer-schmettert wird? Da ist kein Augenblick, der dich nicht verzehrte und die Deinigen umdich her, kein Augenblick, da du nicht ein Zerstörer bist, sein mußt; […] mir unter-gräbt das Herz die verzehrende Kraft, die in dem All der Natur verborgen liegt […].Und so taumle ich beängstigt. Himmel und Erde und ihre webenden Kräfte um michher : ich sehe nichts als ein ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer.63

    Goethes Werther, der deutsche Roman, der in ganz Europa gelesen wurde undein wirkliches Wertherfieber hervorrief, stellt das exemplarische Leiden einesvereinzelten Subjekts an der Flüchtigkeit der Zeit und metaphysischen Ob-dachlosigkeit der Existenz dar. Leopardi geht so weit, aus dem Werther das Ende

    57 Vgl. dazu Frantz’ Monographie L’esth�tique du tableau dans le th��tre du XVIIIe si�cle(Frantz 1998), speziell zu Diderot Delon 2007 und zum Begriff des Steinernen als Form desErhabenen Böhme 1989. Die in diesem Kontext emblematische Denkfigur der Hieroglypheuntersucht ausgehend von Diderots Lettre sur les sourds et muets Chartier 2011.

    58 Vgl. Gombrich 1984, S. 45.59 Pochat 1984, S. 238.60 Pfotenhauer 2000, S. 45, 49.61 Öhlschläger 2003, S. 190f. ; vgl. Goethe 1982, XII, S. 256: »Zunächst bedenke der Schau-

    spieler, daß er nicht allein die Natur nachahmen, sondern sie auch idealisch vorstellen solleund er also in seiner Darstellung das Wahre mit dem Schönen zu vereinigen habe« (§36, in:Regeln für Schauspieler, S. 252–261).

    62 Ebd., S. 193.63 Goethe 1982, VI, S. 52f.

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    der Dichtung abzuleiten.64 Der Schleier der Maya wird gelüftet, Werther erleidetparadigmatisch den unversöhnlich gewordenen Gegensatz zwischen der er-sehnten Fülle des eigenen Lebens. Diese aber bleibt auf der indifferenten Bühne»des unendlichen Lebens« unerfüllt und geht im Bewusstsein der eigenenEndlichkeit und Nichtigkeit unter. Das werthersche Ich steht an der Schwellezum Nihilismus, vor dem »Abgrund des ewig offenen Grabes«.65 Er ist einerderjenigen, die Shelleys Warnung nicht gefolgt sind:

    Lift not the painted veil which those who liveCall Life: though unreal shapes be pictured there,And it but mimic all we would believeWith colours idly spread,– behind, lurk FearAnd Hope, twin Destinies; who ever weaveTheir shadows, o’er the chasm, sightless and drear. […]66

    Ist der Schleier weggezogen, erkennt die Seele plötzlich und unmittelbar denVerlust der Ewigkeit. Die erlebte Zeit des Individuums bietet keinen Halt. DieSchock-Erfahrung Werthers ist der zeitnahe Nachhall des historischen Ereig-nisses des Jahrhunderts, der französischen Revolution. Die Tendenz des Zeit-alters, das Alte und Tradierte zu zerstören, bestimmt auch – gegen seinen Willen– das Individuum. Die Zeit reißt den Menschen fort wie einen »Schiffbrüchigen,ohne Halt, ohne Hoffnung auf Heil und Rettung […]. Was bleibt ist pure Zeit-lichkeit. Mechanische Zeit gekoppelt mit dem Bewußtsein der Leere und derSinnlosigkeit.«67 Der Augenblick hat hier seine etymologische Konnotationverloren. Nichts Blitzhaftes kommt ihm mehr zu. Der Augenblick hat darüberhinaus auch seine visuelle Komponente verloren. Er ist zum indifferentenZeitpunkt geschrumpft, der alles spurlos »zerschmettert« und dessen »verzeh-rende Kraft« das anonyme, deterministische und verborgene Walten der Naturist. Da ist kein Augenblick, der Hoffnung auf etwas Bleibendes verspräche. »Daist kein Augenblick, der dich nicht verzehrte« ist die Chiffre eines Zeitbe-wusstseins, das nur Kontingenz und Vergänglichkeit kennt.

    Diese Erkenntnis führt nicht nur in eine temporale Obdachlosigkeit, sondernauch in eine soziale und zwischenmenschliche Außenseiterrolle. Ist erst der

    64 Vgl. Zib. 4479: »Il successo delle poesie di Lord Byron, del Werther, del Genio del Cris-tianesimo, di Paolo e Virginia, Ossian ec., ne sono altri esempi. E quindi si vede che quelloche si suol dire, che la poesia non � fatta per questo secolo, � vero piuttosto in quanto agliautori che ai lettori. (1. Aprile. 1829.)« (TPP, S. 2400).

    65 Die Heimatlosigkeit und der asymmetrische Wettlauf mit der Zeit im Werther stehen na-türlich nicht singulär da, sondern werden z. B. in Tiecks William Lovell (1795) aufgenommenund in Die Nachtwachen von Bonaventura (1805) vollendet, das programmatisch mit Nichtsendet; vgl. Hillebrand 2001 zur »Entleerung der Welt als ästhetische Innerlichkeit« (S. 230–250, hier S. 245).

    66 Shelley 1970, S. 569 (Lift not the painted veil, V. 1–6).67 Hillebrand 1999, S. 14f.

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    Augenblick der Erkenntnis eingetreten, dass einen Stillstand der Zeit nur derTod einlösen kann, vereinzelt die Entsubstantialisierung jedes erlebten gegen-wärtigen Augenblicks das Individuum. Werther ergeht es wie dem namenlosenlyrical I in Shelleys Gedicht. Das romantische Schema der Vereinzelung meint imKern eine Veraugenblicklichung, eine Wette auf den Augenblick:

    Through the unheeding many he did move,A splendour among shadows, a bright blotUpon this gloomy scene, a Spirit that stroveFor truth, and like the Preacher found it not.68

    Goethe hat beide Seiten im Faust als Wette zusammengefügt: die »Anti-Epi-phanie«69 des Werthers und die Vorstellung erfüllter Zeit, dass der Augenblickdas Glück (des gesamten Lebens) verbürgen könne.70 Die Frage nach dem Au-genblick wird gestellt vor dem Horizont der leeren Zeit, allerdings nicht alsDauer. Denn »Sinn für Zeit« bzw. »für Zukünftiges« geht vom (platonischen)aion als »Lebenszeit« aus, die auf eine erfahrbare Dauer abzielt.71 Gemäß demMaßstab der Lust läuft die Lebenszeit Fausts schnell ab – oder langsam –, je-denfalls unerfüllt. Der Mythos des erfüllten, unmittelbaren Augenblicks wirdnicht nur inszeniert als Problematisierung des Augenblicks, sondern auch alsmythische Selbstkritik im Stück, so wenn Mephisto sagt: »Viel klüger, scheint es,bin ich nicht geworden; / Absurd ist’s hier, absurd im Norden, / Gespenster hierwie dort vertrackt, / Volk und Poeten abgeschmackt« (V. 7791–7794). Auch dieFrage nach der Beziehung zwischen Romantik und Klassik wird ironisch undrückblickend aufgefasst : »Romantische Gespenster kennt ihr nur allein, / Einecht Gespenst auch classisch hat’s zu seyn« (V. 6946f.). Dieses Einschränken›der‹ Klassik entspricht dem mythischen Personeninventar im Faust II, das dieEinheit des Mythos ironisch desavouiert.72 Vollends zur Tendenz der Zeit wirdder Faust, da er Werthers Flüchtigkeitserfahrung »Und so taumle ich beängs-tigt«73 dialektisch ergänzt zu einer dynamisch-erhabenen74 Bewegung: »Sotauml’ ich von Begierde zu Genuß, / Und im Genuß verschmacht’ ich nachBegierde« (V. 3249f.). Faust kann sich mit dem Genuss des Augenblicks und den

    68 Shelley 1970, S. 569 (Lift not the painted veil, V. 11–14).69 Scharold 2000, S. 32. Vgl. die Bewegung von der »profanierte[n] Epiphanie« in der litera-

    rischen Moderne hin zur negativen: ebd., S. 27ff.70 Vgl. zum Begriff des erfüllten Augenblicks Schings 1998, S. 121, Hillebrand 2001, S. 55–86.71 Gadamer 1987, S. 139, 143.72 Goethe 2011b, S. 87, 114. Beide Faust-Teile werden ohne weitere Angaben nach den Versen

    zitiert. Vgl. Bennett 1980, S. 532f. ; »Myth, for him [Goethe], is not that mysterious primalsource of poetry which it was for Friedrich Schlegel.« Dass Schlegels Mythos-Konzeption vonBennett nicht treffend in Anschlag gebracht wird, wird im Folgenden gezeigt.

    73 Goethe 1982, VI, 53.74 Vgl. Schmitz 1959, S. 146.

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    augenblicklichen Lusterfahrungen, die Mephisto ihm bietet, nicht arrangieren,da sein Ideal des Lebens in der autonomen Verwirklichung kraftlos ist. Aber imreflexiven Überschreiten ist zugleich jeder lustvolle Augenblick kraftvoll, derihm geboten wird. Faust strebt nach dem Unendlichen und nach der Ewigkeit.Nach diesen Prämissen scheint er die Wette mit Mephisto nur verlieren zukönnen. Fausts Worte – kurz vor seinem Tod – werden von seinem Gegenspieler,dem inkarnierten satanischen Prinzip jedes Augenblicks-Suchenden, wennnicht falsch, so zumindest doch anders interpretiert:

    Solch ein Gewimmel möcht ich sehn,Auf freyem Grund mit freyem Volke stehn.Zum Augenblicke dürft’ ich sagen:Verweile doch, du bist so schön!Es kann die Spur von meinen ErdetagenNicht in Aeonen untergehn. –Im Vorgefühl von solchem hohen GlückGenieß ich jetzt den höchsten Augenblick. (V. 11579–11586)

    Der Augenblick »jetzt«75 wird nicht an sich genossen, sondern verendet in sichgebrochen durch das Transzendenzbewusstsein, durch »Entgrenzungsver-such[e]«, die ja gerade die Wette zusammen mit der »Zeitlichkeit« überwindenwollten.76 Aber Faust als der exemplarisch Hoffende hat vielleicht weniger eineWette im Sinn denn ein Bekenntnis77:

    Werd’ ich zum Augenblicke sagen:Verweile doch! du bist so schön!Dann magst du mich in Fesseln schlagen,Dann will ich gern zu Grunde gehn!Dann mag die Totenglocke schallen,Dann bist du deines Dienstes frei,Die Uhr mag stehn, der Zeiger fallen,Es sey die Zeit für mich vorbei! (V. 1699–1706)

    Diese »Attacke auf den schönen Augenblick« ist so berühmt wie ironisch, dennGoethes letzte Antwort auf die Frage nach dem Kairos ist sie nicht.78 Der »Un-glücksmann« (V. 4620) Faust veranschaulicht paradigmatisch diejenige Struk-tur, auf die Schlegel und Leopardi diametral entgegengesetzte Antworten geben:Die Existenz ist Verzweiflung, die Sorge bestimmt durch die Relativierung der

    75 Im Folgenden werden zuweilen Indizes verwendet, um den Zeitindex anzuzeigen (Augen-blickjetzt).

    76 Kolberg 2007, S. 95.77 Vgl. Hillebrand 2001, S. 61.78 Schings 1998, S. 121. Schings betont die »objektive Ironie des Textes« in dieser berühmten

    Problematisierung des erfüllten Augenblicks, da sich Fausts »Unruhe damit erneut gegen diePrinzipien klassischer Lebenskunst« richtet (ebd.).

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    Gegenstände möglicher Lust das nihilistische Kontingenzbewusstsein.79 Faust isteiner jener »[s]ehnsuchtsvolle[n] Hungerleider / Nach dem Unerreichlichen«(V. 8204f.). Am Ende seines Lebens spiegelt sich die Augenlust und Augengier inder »fortschreitenden Verdunklung der Szene« als Kehrseite der »modernenWeltschöpfung durch die Innerlichkeit des Subjekts«80 bis hinein in die SzeneMitternacht, in der Faust seinen Begierdentaumel gegenüber der allegorischenSorge resümiert – »Ich bin nur durch die Welt gerannt. / Ein jed’ Gelüst ergriff ichbei den Haaren, / Was nicht genügte ließ ich fahren, / Was mir entwischte lies ichziehn.« (V. 11433–11436) – und als Antwort durch die Sorge geblendet wird:»Die Menschen sind im ganzen Leben blind, / Nun Fauste! werde dus am Ende.Sie haucht ihn an.« (V. 11497f.). Die grenzüberschreitende Hoffnung und Be-gierde werden als falsche cura sui entlarvt, die nicht vermag, den Augenblick amSchopfe zu packen. Hier wird anschaulich, dass die »Augengier« des Faustsseiner Erblindung entspricht.

    Mephisto scheint die Einklammerung – möcht ich, dürft’ ich – zu überhören,wenn er antwortet: »Ihn sättigt keine Lust, ihm gnügt kein Glück, / So buhlt erfort nach wechselnden Gestalten; / Den letzten, schlechten, leeren Augenblick /Der Arme wünscht ihn fest zu halten.« (V. 11587–11590). Lässt sich der Au-genblick nicht mehr festhalten, ist der kairotische Bedeutungswert des Augen-blicks verloren, und faustische Subjekte, die auf das Ganze aus sind, geraten ineine Krise. Es gibt neben dieser Nicht-Augenblicklichkeit aber auch die zweiteSeite des Augenblicks im Faust, der die »Kritik des dilettantischen Subjekti-vismus«81 ausführt anhand von epikureischen, stoischen und weiteren diäteti-schen, antiken Selbsttechniken.82 Vor diesem Hintergrund steht der Helena-Aktals monolithisches Fragment da und zählt aus Schlegels Perspektive zu denWerken der Alten, die Fragmente wurden, insofern Faust II erst 1832 postumveröffentlicht und 1849 zuerst als Fragment unter dem Titel Der Raub der Helenaaufgeführt wurde.83

    Hier wird ein letzter Versuch unternommen, den Augenblick als Gottheit»Kairos«, als lebenserfüllende Möglichkeit zu restituieren, als der »glücklich[e]

    79 Vgl. ebd., S. 106.80 Schneider 2001, S. 103, 113 (vgl. V. 9594f.).81 Jaeger 2002, S. 415.82 Hadot 2002 hat diese Tradition als europäisches Erbe aufgearbeitet und nennt Goethe als

    einen ihrer prominenten modernen Vertreter ; vgl. »C’est le fameux ›laetus in praesens‹d’Horace, cette ›jouissance du pr�sent pur‹, pour reprendre la belle expression d’Andr�Chastel � propos de Marsile Ficin qui, pr�cis�ment, avait fait sa devise de cette formuled’Horace. L� encore l’histoire de ce th�me dans pens�e occidentale est fascinante. Commentr�sister au plaisir d’�voquer le dialogue de Faust d’H�l�ne, le sommet du second Faust deGoethe« (ebd., S. 286). Der Verweis auf die deutsche Übersetzung findet sich auch bei Jaeger2