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3. Kapitel

Orientierung am eigenen Gewissen

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1. Stimme Gottes oder Produkt von Erziehung und Evolution – Unterschiedliche Einschätzungen des Gewissens

1.1 Das Gewissen als Stimme Gottes und letzte Instanz des Handelns

- Gewissen als Stimme Gottes kommt bereits in der Antike vor: Sophokles, Antigone; Sokrates: „Daimonion“.

- Bibel: Gewissen wird mit „Herz“ des Menschen umschrieben als dem Sitz der Gefühle, Gedanken, Erkenntnisse und Einsichten,aber auch dem Ursprungsort

des Willens.

Hier steht der Mensch mit seinen innersten Motiven und Gedanken vor Gott.

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- Paulus:

übernimmt den Begriff „Gewissen“ (syneidesis) aus der stoischen Popularphilosophie.

Gewissen konfrontiert mit dem ins Herz geschriebenen Gesetz (Röm 2,14f);

Gewissen beurteilt die inneren Motive und Absichten

(2 Kor 1,12);

die Gewissensentscheidung der anderen ist in Tolerenz zu achten und auf sie ist Rücksicht zu nehmen

(1 Kor 8-10).

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- Augustinus:

Gewissen als Ort der Selbst- und Gotteserkenntnis, an dem er sich selbst in aller Offenheit vor Gott sieht.

Gewissen ist der Träger des Gesetzes, das auch den Heiden ins Herz geschrieben ist.

Es fordert dazu auf, das Gesetz zu halten.

Gewissen ist Stimme Gottes in uns.

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- In der theologischen und philosophischen Tradition der Ethik:

Gewissen ist – gegen alle äußere Autorität – die Letztinstanz verantwortlichen Handelns.

Beispiel: Martin Luther.

- In der Neuzeit:

Immanuel Kant: Moralität besteht allein darin, sich vom

unbedingten Sollensanspruch der eigenen Vernunft leiten zu lassen.

Der Vernunft- und Gewissens-Autonomie ist unbedingte Achtung entgegenzubringen.

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- Führt zur Festschreibung der Gewissensfreiheit als Grundrecht in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte

der Vereinten Nationen“ (1948), Art. 18

und im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (Art. 4, Abs. 1).

- Schließlich Anerkennung der Gewissens- und Religionsfreiheit auch durch das Zweite Vatikanum, Gaudium et spes, Nr. 41.

Gewissen wird dabei als „Stimme Gottes“ im Menschen verstanden.

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„Im Inneren seines Gewissens entdeckt der Mensch ein Gesetz, das er sich nicht selbst gibt, sondern dem er gehorchen muss und dessen Stimme ihn immer zur Liebe und zum Tun des Guten und zur Unterlassung des Bösen aufruft und, wo nötig, in den Ohren des Herzens tönt: Tu dies, meide jenes. Denn der Mensch hat ein Gesetz, das von Gott seinem Herzen eingeschrieben ist, dem zu gehorchen eben seine Würde ist, und gemäß dem er gerichtet wird.

Das Gewissen ist die verborgenste Mitte und das Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme in diesem seinem Innersten zu hören ist. Im Gewissen erkennt man in wunderbarer Weise jenes Gesetz, das in der Liebe zu Gott und dem Nächsten seine Erfüllung hat. Durch die Treue zum Gewissen sind die Christen mit den übrigen Menschen verbunden im Suchen nach der Wahrheit und zur wahrheitsmäßigen Lösung all der vielen moralischen Probleme, die im Leben der Einzelnen wie im gesellschaftlichen Zusammenleben entstehen“. (Gaudium er spes, 16)

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1.2 Das Gewissen als Produkt von Erziehung und Evolution

- Unbedingte Bedeutung des Gewissens wird von humanwissenschaftlicher Seite immer wieder

bezweifelt.

- Friedrich Nietzsche: Gewissen ist nicht Stimme Gottes im Menschen,

sondern die Stimme einiger Menschen im Menschen.

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- Sigmund Freud: Gewissen als Über-Ich, das aus verinnerlichten

Verboten der Eltern gegen die Triebansprüche des Es entsteht.

Gewissen ist nicht angeborener, unbedingter Anspruch, sondern etwas Gewordenes und Relatives.

Dies gilt in inhaltlicher Hinsicht: Verbote und Gebote des Gewissens spiegeln die

Kultur.

Es gilt aber auch hinsichtlich des Anspruchs- und Verpflichtungscharakters überhaupt.

Konsequenz: Emanzipation vom Über-Ich-Gewissen und den

internalisierten Schuldvorwürfen.

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- Behaviorismus:

Erklärung im Schema von Reiz und Reaktion.

Moralisches Handeln erklärt sich aus der Verstärkung positiver Reize und Vermeidung negativer Reaktionen.

Gewissen beruht auf gesammelten Erfahrungen und Reaktionsmustern.

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- Soziobiologie:

Solche Verhaltensweisen werden in der Evolution gefördert, die der Verbreitung derjenigen Gene

dienen, die diese Verhaltensweisen hervorbringen.

Altruistisches Verhalten lässt sich durch den Grad der Verwandtschaftsbeziehung oder durch das Prinzip der Gegenseitigkeit erklären.

Konkrete ethische Normen steigern die Verbreitungschancen der entsprechenden Gene.

Aber auch das Phänomen des Sollens als solches und der objektiven Geltung der Moral hat einen Reproduktionsvorteil für das Individuum.

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2. Differenzierung im Gewissensbegriff

- Bereits in der mittelalterlichen Theologie kommt es zu einer Differenzierung im Gewissensbegriff, die die

unterschiedliche Einschätzung des Gewissens erklären kann:

konkreter Gewissensspruch (conscientia)

grundlegenden Gewissensanlage (synderesis)

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2.1 Die konkrete Gewissensentscheidung – ihre Bedingtheit und Irrtumsmöglichkeit

- Für Thomas von Aquin ist das Gewissen (conscientia) die Tätigkeit der Vernunft, durch die wir zu einem konkreten ethischen Urteil gelangen.

Dazu gehört zunächst das Bewusstsein (conscientia) des Handelnden, dass er handelt. Gewissen als Mit-Wissen (con-scientia) oder Zugleich-Wissen (quasi simul scire).

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- Die eigentliche Tätigkeit des Gewissens ist die Erwägung, ob die Handlung recht ist oder nicht.

- Im Vorhinein zum Handeln (Schlussfolgerung aus dem Wissen):

anspornendes und verpflichtendes Gewissen;

- im Nachhinein (Überprüfung der Handlung am Wissen):

entschuldigendes oder anklagendes Gewissen.

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- In das Gewissensurteil fließen verschiedene Arten des Wissens ein:

Prinzipienwissen, grundlegende Überzeugungen und

Weltanschauungen, konkretes Sachwissen.

Conscientia

Prinzipienwissen

Grundüberzeugungen Beurteilung der Handlung

Sachwissen

Handlung

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- Gewissensentscheidung ist keine göttliche Erleuchtung, sondern ein Urteil der Vernunft.

- Damit wird aber auch die Bedingtheit und Irrtumsmöglichkeit der konkreten Gewissensentscheidung verständlich.

- Die Grundüberzeugungen sind Ansatzpunkt für Erziehung und internalisierte Regeln, die aber auch

einengend sein können.

- Irrtümer können sich auch auf der Ebene des Sachwissens einschleichen.

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2.2 Die grundlegende Gewissensanlage – ihre Irrtumsfreiheit und Unableitbarkeit

- In die Urteilsfindung fließt das Wissen um die ersten Prinzipien der praktischen Vernunft (synderesis) ein.

- Vergleich mit ersten Prinzipien der theoretischen Vernunft: z.B. Nichtwiderspruchsprinzip. Dieses Prinzip ist nicht Resultat von

Schlussfolgerung, sondern wird immer schon vorausgesetzt und implizit angewandt.

- Für die praktische Vernunft lautet das Grundprinzip: Das Gute ist zu tun, das Böse zu meiden (bonum faciendum, malum vitandum).

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- Die Einsicht in dieses Grundprinzip ist irrtumsfrei. Wenn es in diesem Wissen Irrtum geben könnte,

wäre grundsätzlich keine sichere Erkenntnis möglich.

- Das Grundprinzip der praktischen Vernunft ist nicht erlernt, sondern angeboren. Es wird, sobald wir vor einer Entscheidung stehen,

immer schon angewendet. Es ermöglicht das grundlegende Verständnis von

Gut und Böse. Thomas spricht deshalb vom „Licht“.

- Die Einsicht in das Grundprinzip ist unverlierbar. Nur die Betätigung kann ausbleiben, etwa aufgrund

von Hirnverletzungen oder übergroßer Begierde etc.

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- Gegen die These der Humanwissenschaften, dass auch der grundlegende Sollensanspruch erworben und bedingt ist:

Auch wenn die Erfahrung dieses Anspruchs sozial vermittelt ist, bedeutet dies nicht, dass er nicht angeboren wäre; damit die Entwicklung des moralischen

Bewusstseins möglich ist, muss ein grundsätzliches Verständnis des Unterschieds von Gut und Böse vorausgesetzt werden.

- In theologischer Deutung kann dieser ursprünglich gegebene Anspruch auch als „Stimme Gottes“

gedeutet werden. (vgl. den Text in „Gaudium et spes“, nr. 16)

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2.3 Exkurs: Immanuel Kant und das Gewissen als sich selbst richtende moralische Urteilskraft

- Gewissen als „sich selbst richtende moralische Urteilskraft“.

Es geht nicht um das Urteil, ob die Entscheidung inhaltlich richtig oder falsch ist, sondern um die Beurteilung, ob der Handelnde formal allein aus Vernunft geurteilt und aus Pflicht gehandelt

hat oder ob er von anderen Beweggründen – den Neigungen – geleitet ist.

- Im Blick auf dieses Gewissensurteil betont Kant seine Irrtumsfreiheit. Man kann sich zwar irren, ob eine konkrete

Entscheidung richtig oder falsch ist, nicht aber, ob man sich dabei von Vernunft hat leiten lassen.

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- Das Gewissen bringt dem Menschen gegenüber die Pflicht überhaupt zur Geltung. Im Gewissen erfährt der Mensch ursprünglich den ethischen Anspruch.

- Ursprünglichkeit des ethischen Anspruchs: Er kann nicht erworben sein. Wenn es Pflicht wäre, sich ein Gewissen zu

erwerben, müsste ein anderes Gewissen vorausgesetzt werden, dass diese Pflicht zur Geltung bringt.

- Auch kann man das Gewissen nicht verlieren. Man kann sich aber um den Aufruf des Gewissens

nicht kümmern.

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- Gewissen als „innerer Gerichtshof“, innerer Richter. Dieser Richter ist ursprünglich eingegeben, wird als eine andere Person vorgestellt, ist ein „Herzenskundiger“ und „allverpflichtend“ =

Gott.

- Anfrage: Können wir im Gewissen tatsächlich Gewissheit

darüber erlangen, ob wir von der Vernunft oder von Neigungen geleitet sind?

- Für Martin Luther kann der Mensch eine solche Gewissheit des Gewissens aus sich selbst heraus nicht erlangen.

Erst im Glauben an das Evangelium kann das Gewissen getröstet werden.

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2.4 Der unbedingte Anspruch auch des irrenden Gewissens

- Der im Gewissen erfahrbare unbedingte Anspruch, das Gute zu tun und das Böse zu meiden, verpflichtet auf das, was man selbst als das konkrete Gute einsieht, auch wenn man sich darin täuscht.

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- Thomas von Aquin, Lehre vom irrenden Gewissen:

Wird etwas an sich Gutes subjektiv als etwas Schlechtes wahrgenommen, ist der Wille, der dieses als schlecht Wahrgenommene will, selbst schlecht.

Wird etwas an sich Schlechtes subjektiv als etwas Gutes wahrgenommen, ist zu unterscheiden:

- Bei durch Nachlässigkeit selbst verschuldeter Unwissenheit (ignorantia vincibilis): entschuldig der Gewissensirrtum nicht.

- Bei unfreiwilligem Irrtum (ignorantia invincibilis): entschuldigt, Wille nicht schlecht.

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- Konsequenzen:

Gewissen verweist uns nicht auf ein objektives Gesetz, sondern auf die eigene Einsicht.

Wer sich ohne eigene Einsicht auf eine Autorität verlässt, folgt nicht dem Anspruch seines Gewissens.

Anspruch des Gewissens bedeutet, sich um eine verantwortbare Entscheidung zu bemühen. Man muss sich mit aller Sorgfalt um eine

nachvollziehbare Begründung bemühen. Gewissensurteil verlangt:

Bereitschaft, sein Handeln zu begründen; Dialogbereitschaft;

Korrekturoffenheit; Bemühen um Unparteilichkeit.

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3. Konsequenzen aus dem differenzierten Gewissensbegriff

3.1 Notwendigkeit und Wege der Gewissensbildung

- Gewissensbildung besteht zunächst in inhaltlichen Prägungen des Verhaltens durch Erziehung,

Vorbild und Tradition.

- Sie muss aber auch eine ethische Urteilskompetenz hervorbringen.

- Freuds Kritik am Über-Ich-Gewissen ist zwar berechtigt, aber seine ausschließliche Identifizierung des Gewissens mit dem Über-Ich ist überzogen.

Es geht nicht um eine Emanzipation vom Gewissen, sondern des Gewissens.

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- Erich Fromm: Wichtig ist die lebenslange Entwicklung des

Gewissens zu einem persönlichen, humanistischen Gewissen, das uns zur Entfaltung unseres Selbst aufruft.

- Dieser Ansatz wurde empirisch untermauert durch die Untersuchungen von Lawrence Kohlberg.

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Entwicklungsstufen des moralischen Urteils nach Kohlberg:

I. Vormoralisches Niveau

1. Heteronome Moral

2. Naiver und instrumenteller Hedonismus

II. Konventionell-konformistisches Niveau

3. Übereinkunft

4. Autoritätsmoral

III. Postkonventionelles Niveau

5. Individuelle Rechte und Sozialkontrakt

6. Ethische Prinzipien

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- Ausgehend von der Klassifizierung unterschiedlicher Begründungsniveaus bei Handlungsentscheidungen besteht die moralpädagogische Pointe darin, dass man durch Bearbeitung von Dilemmafragen

das Niveau des moralischen Urteils steigern kann.

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3.2 Gewissensfreiheit und Grenzen der Toleranz

- Gefahr einer inflationären Berufung auf das Gewissen, in der man sich jeder Begründung und Kritik entzieht.

- Staat kann niemanden zwingen, etwas gegen sein Gewissen zu tun, was unmittelbar in seine Verantwortung fällt.

- Wenn jemand aus Gewissensgründen gegen die Rechtsordnung verstößt, die die Grundlage der Gewissensfreiheit aller bildet, so ist die Rechtsordnung gegen das Gewissen des einzelnen zu schützen.

Würden Verstöße gegen demokratisch beschlossene Gesetze nicht geahndet, auch wenn sie auf einer Gewissensentscheidung beruhen, würde die Sicherung der Gewissensfreiheit untergraben.

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3.3 Gewissen und Lehramt der Kirche

- Ausgehend von der Letztinstanzlichkeit des eigenen Gewissens, kommt das Lehramt als Hilfe, nicht als Ersatz für die eigene Entscheidungsfindung in den

Blick.

- Aber: Kommt dem Lehramt nicht „in Sachen des Glaubens

und der Sitten“ Unfehlbarkeit zu?

- Unfehlbarkeit bezieht sich aber nicht auf beliebige Inhalte, sondern allein auf das Wort Gottes, das sich allein im Glauben in seiner Wahrheit erweist.

Unfehlbare Glaubensaussagen können daher nur solche Aussagen sein, deren Wahrheit allein im Glauben

zugänglich ist.

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- „In Sachen der Sitten“ kann sich die Unfehlbarkeit nicht auf konkrete ethische Normen beziehen.

Sie sind aufgrund von Erfahrung und Vernunft und sachbezogen zu begründen

Unfehlbarkeit kann sich nur auf solche Aussagen des Glaubens beziehen, die einen Bezug zum ethischen

Handeln haben:

Z.B.: Erbsündliche Verfasstheit des Menschen;

Gutes Handeln nur aufgrund der Gnade möglich…

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- Lehramtliche Moralverkündigung ist in konkreten Normen irrtumsfähig und hat sich auch immer wieder gewandelt.

Beispiele: Zinsverbot, Bewertung der Organspende, der Todesstrafe, des Suizids und des gerechten Krieges.

- Allerdings kommt dem Lehramt ein Erfahrungsvorsprung auch im Bezug auf ethische Weisungen für ein gelingendes Leben zu.

(Argumentationsvorteil / Beweislast beim Einzelnen)

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„In der Bemühung um die sittliche Wahrheit und um die Begründung konkreter Normen ist die Kirche nicht immer frei von Irrtum und Mängeln gewesen. Es wäre jedoch falsch, daraus den Schluss zu ziehen, das Lehramt würde sich bei seinen Aussagen gewöhnlich täuschen. Deshalb dürfen Urteile über sittliche Fragen, die in den Kompetenzbereich des Lehramts fallen, bis zum Beweis des Gegenteils die Vermutung für sich beanspruchen, dass sie zutreffen. Dennoch können Christen trotz aufrichtiger Bemühungen, bestimmte Lehraussagen anzunehmen, ernsthafte Schwierigkeiten haben, ihre Zweifel auszuräumen ... Wo Schwierigkeiten bestehen, sollten sie, wo immer dies möglich erscheint, nicht nur der persönlichen Gewissensentscheidung überlassen bleiben, sondern ihre Lösung sollte in einem ehrlichen Dialog angestrebt werden, der vom Geist brüderlicher Liebe geprägt ist.“

(DEK II, 117f)

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- Lehramt müsste im Dialog mit den Gläubigen prüfen, welche Erfahrungen sie in der Welt von heute mit den bisherigen Normen machen.

- Chance der Moralverkündigung des Lehramts, in der Gesellschaft auf Verletzungen der Humanität