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Epochenübergreifend 131 1. Epochenübergreifend BERND ULRICH HUCKER (Hg.): Landesgeschichte und regionale Geschichtskultur. Hannover: Hahnsche Buchhandlung 2013, 258 S., (ISBN 978-3-7752-5937-8), 32,00 EUR. Der sorgfältig redigierte und mit hilfreichen Literaturverzeichnissen versehene Sammelband dokumentiert die Vorträge einer Ringvorlesung an der Universität Vechta, die um vier Beiträge einer Tagung zum Thema „Regionale Geschichtskul- turen“ ergänzt wurden. Der Herausgeber intendiert damit, die gewachsene „Be- deutung der landeshistorischen Methode für die allgemeine Geschichte“ sowie die „regionalen Geschichtskultur(en)“ (7) zu dokumentieren und miteinander zu ver- knüpfen. Gelungen ist dabei eine eindrucksvolle Zusammenstellung von insge- samt neun Studien, die die Vorzüge verschiedenster methodischer Zugriffsformen, Erkenntnisperspektiven und Arbeitsweisen der Landesgeschichte offen legen und damit einen breiten Einblick in die Forschungsfelder des Faches geben. Dabei lässt sich freilich nicht jeder der hier versammelten Autoren dieser Fachdisziplin zurechnen – gleichwohl arbeiten alle mit räumlich-regionalen Paradigmen. Eingeleitet werden die Beiträge durch eine Einführung des Herausgebers so- wie einen methodisch-theoretisch angelegten Beitrag von Eugen Kotte. Dieser gibt einen instruktiven Überblick über die Historiographie und Methodenge- schichte der Landesgeschichte und verknüpft darin geschichtskulturelle Konzepti- onen, wie sie in der Geschichtsdidaktik entwickelt wurden, mit aktuellen kon- struktivistischen Ansätzen einer Regionalgeschichte, die vom spatial turn der Kulturwissenschaften beeinflusst sind. Leider wird dieser weiterführende Ansatz in den einzelnen Beiträgen dann kaum mehr aufgegriffen, so dass der theoretische Teil und die empirisch ausgerichteten Fallstudien etwas unverbunden nebeneinan- der stehen. Bei den Einzelbeiträgen, die in einem epochenübergreifenden Zugriff ver- schiedene historische Landschaften Deutschlands thematisieren, handelt es sich durchweg um lesenswerte Studien von ausgewiesenen Expertinnen und Experten, die einen Einblick in ihre aktuellen landesgeschichtlichen Arbeiten geben. Ste- phan Freund beleuchtet das spannungsreiche Verhältnis zwischen dem Franken- reich und dem Herzogtum Bayern im 8. Jahrhundert und fokussiert dabei die Aus- einandersetzung zwischen Karl dem Großen und Tassilo III., wobei er auch nicht- fränkische Quellen mit heranzieht. Neben der hier im Mittelpunkt stehenden frühmittelalterlichen Herrschaftsgeschichte greift Christoph Lang mit der Stadtge- schichte ein ebenfalls klassisches Themenfeld der Landesgeschichte auf. Ausge- hend von der bayerischen Landstadt Aichach entfaltet er die Besonderheiten der altbayerischen Städtelandschaft, deren zentralörtliche Funktionen insbesondere herrschaftlich-territorial begründet waren und die in ihrer Entwicklung ab dem 16. Jahrhundert zugunsten des bayerischen Fürstenstaates stagnierten. Wie sehr die räumlich-örtliche Verankerung eines Mythos spezifische regionale Zuschreibun-

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1. Epochenübergreifend

BERND ULRICH HUCKER (Hg.): Landesgeschichte und regionale Geschichtskultur. Hannover: Hahnsche Buchhandlung 2013, 258 S., (ISBN 978-3-7752-5937-8), 32,00 EUR. Der sorgfältig redigierte und mit hilfreichen Literaturverzeichnissen versehene Sammelband dokumentiert die Vorträge einer Ringvorlesung an der Universität Vechta, die um vier Beiträge einer Tagung zum Thema „Regionale Geschichtskul-turen“ ergänzt wurden. Der Herausgeber intendiert damit, die gewachsene „Be-deutung der landeshistorischen Methode für die allgemeine Geschichte“ sowie die „regionalen Geschichtskultur(en)“ (7) zu dokumentieren und miteinander zu ver-knüpfen. Gelungen ist dabei eine eindrucksvolle Zusammenstellung von insge-samt neun Studien, die die Vorzüge verschiedenster methodischer Zugriffsformen, Erkenntnisperspektiven und Arbeitsweisen der Landesgeschichte offen legen und damit einen breiten Einblick in die Forschungsfelder des Faches geben. Dabei lässt sich freilich nicht jeder der hier versammelten Autoren dieser Fachdisziplin zurechnen – gleichwohl arbeiten alle mit räumlich-regionalen Paradigmen.

Eingeleitet werden die Beiträge durch eine Einführung des Herausgebers so-wie einen methodisch-theoretisch angelegten Beitrag von Eugen Kotte. Dieser gibt einen instruktiven Überblick über die Historiographie und Methodenge-schichte der Landesgeschichte und verknüpft darin geschichtskulturelle Konzepti-onen, wie sie in der Geschichtsdidaktik entwickelt wurden, mit aktuellen kon-struktivistischen Ansätzen einer Regionalgeschichte, die vom spatial turn der Kulturwissenschaften beeinflusst sind. Leider wird dieser weiterführende Ansatz in den einzelnen Beiträgen dann kaum mehr aufgegriffen, so dass der theoretische Teil und die empirisch ausgerichteten Fallstudien etwas unverbunden nebeneinan-der stehen.

Bei den Einzelbeiträgen, die in einem epochenübergreifenden Zugriff ver-schiedene historische Landschaften Deutschlands thematisieren, handelt es sich durchweg um lesenswerte Studien von ausgewiesenen Expertinnen und Experten, die einen Einblick in ihre aktuellen landesgeschichtlichen Arbeiten geben. Ste-phan Freund beleuchtet das spannungsreiche Verhältnis zwischen dem Franken-reich und dem Herzogtum Bayern im 8. Jahrhundert und fokussiert dabei die Aus-einandersetzung zwischen Karl dem Großen und Tassilo III., wobei er auch nicht-fränkische Quellen mit heranzieht. Neben der hier im Mittelpunkt stehenden frühmittelalterlichen Herrschaftsgeschichte greift Christoph Lang mit der Stadtge-schichte ein ebenfalls klassisches Themenfeld der Landesgeschichte auf. Ausge-hend von der bayerischen Landstadt Aichach entfaltet er die Besonderheiten der altbayerischen Städtelandschaft, deren zentralörtliche Funktionen insbesondere herrschaftlich-territorial begründet waren und die in ihrer Entwicklung ab dem 16. Jahrhundert zugunsten des bayerischen Fürstenstaates stagnierten. Wie sehr die räumlich-örtliche Verankerung eines Mythos spezifische regionale Zuschreibun-

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gen und Bewusstseinsstrukturen ausformen kann, demonstriert Bernd Ulrich Hu-cker an der Erzählung von Till Eulenspiegel aus der Region Braunschweig. In akribischer Rekonstruktion werden dabei die narrativen Entwicklungen und Adap-tionen der Hofnarrenfigur vom 14. Jahrhundert bis zur DDR-Zeit offen gelegt.

Die Entwicklungsgeschichte territorialer Staatlichkeit gehört zweifelsohne zu den traditionsreichsten Forschungsgebieten der Landesgeschichte. Christine Rein-le führt am Beispiel der Einbindung des Niederadels in die entstehende hessische Landesherrschaft vor, wie erkenntnisperspektivisch spannend dieses Thema sein kann, wenn man es auf gesicherter empirischer Basis mit neuen Fragestellungen, hier zum Verhältnis von Fehderecht und Landfriede, bearbeitet. Jens E. Olesen fokussiert mit Schwedisch-Pommern (1630–1815) eine Region, die in der Frühen Neuzeit durch ihre staatsrechtliche Zwitterstellung als Reichsterritorium und schwedische Provinz hervorsticht. Nachgezeichnet werden die daraus erwachse-nen strukturellen Prägungen der Landschaft in verfassungsrechtlicher, militäri-scher, sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht. Ebenfalls unter einem strukturge-schichtlichen Ansatz stellt Georg Seiderer die politischen Auswirkungen der Bi-konfessionalität Frankens bis ins 20. Jahrhundert hinein vor, wobei er in überzeu-gender Weise die Rolle der konfessionellen Struktur für die Ausprägung einer spezifisch regionalen politischen Kultur nachzeichnet sowie umgekehrt die „Re-gionalisierung des Konfessionellen im 19. Jahrhundert“ (161) betont. Nicht kon-fessionelle, sondern die Wirkungsmacht ethnisch-religiöser Unterschiede stehen im Zentrum des Beitrags von Joachim Tautz, der das Schicksal jüdische Einwan-derer aus den Niederlanden sowie aus Osteuropa in die Regionen Oldenburg und Ostfriesland untersucht. Dabei handelt es sich zwar um singuläre Phänomene, die aber gleichwohl, insbesondere anhand der restriktiven Aufnahmepolitik der Ge-meinden wie des Staates, den Anstieg antisemitischer Tendenzen im 19. Jahrhun-dert aufzeigen.

Die beiden letzten Aufsätze des Bandes beleuchten nochmals aus unterschied-lichen Perspektiven die ideologische Besetzung und Nutzung von Räumen bzw. Orten. Jürgen Joachimsthaler zeigt, wie zwischen den 1890er Jahren und 1930 in Oberschlesien, wo sich deutsche und polnische Einflüsse seit Jahrhunderten über-lagert hatten, Nationalismen die Region neu besetzten und überformten. Anhand einer Bildanalyse zu Schulbüchern werden die Zeichen- und Bedeutungssysteme rekonstruiert, über die nun eine deutsche Kulturraumdeutung der Region erfolgte. Die Böttcherstraße in Bremen steht als städtischer Raum im Mittelpunkt des Auf-satzes von Lukas Aufgebauer. Über einen biographischen Ansatz wird die in der Stadtgeschichte offensichtlich wenig präsente national-regionale Narration der Architektur offen gelegt. Ludwig Roselius, der Gründer der Kaffee HAG, schuf hier, beeinflusst von der völkischen Ideenwelt der Heimatschutzbewegung, ein Architekturprojekt, das durch die Verbindung von Bautraditionen und reformar-chitektonischen Elementen den kulturellen Führungsanspruch der germanisch-nordischen Kultur untermauern sollte.

Sabine Ullmann Eichstätt

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ENNO BÜNZ (Hg.): Geschichte der Stadt Leipzig. Band 1: Von den Anfängen bis zur Reformation, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2015, 1055 S., 288 Abb., 31 Ktn., (ISBN 978-3-86583-801-8), 49,00 EUR. In den letzten Jahren haben sich mehrere mitteldeutsche Städte in mitunter mehr-bändigen Darstellungen ihrer jeweiligen Vergangenheit erinnert. Dresden (2005) und Halle (2006) seien beispielhaft genannt; Zwickau wird demnächst folgen. Diese Abhandlungen stellen einesteils weit ausgreifende Zusammenfassungen einer beträchtlichen Flut von Spezialarbeiten in Buch- oder Zeitschriftenform dar, anderenteils sind sie (momentane) Endpunkte langer historiographischer Traditi-onen, die oft bis ins Spätmittelalter zurückreichen. Bei diesen großen Synthesen handelt es sich nahezu immer um die Ergebnisse kollektiven Wirkens, d. h. es tritt zu Fragen des Inhalts, der Komposition und der Ausstattung dieser Bücher die mehr oder weniger ausgeprägte Kunst der Vereinheitlichung der konzeptionellen und schreib-gestalterischen Arbeit der Einzelautoren hinzu. Anlässe für das Er-scheinen solcher Werke bilden in erster Linie Jubiläen. Aus all diesen Gründen fungieren sie in mehrfachem Sinne als Formen der menschlichen „Selbstbesin-nung“.

Im Leipziger Fall handelte es sich um die 1 000. Wiederkehr der namentli-chen Ersterwähnung des Ortes in der Chronik Bischof Thietmars von Merseburg, d. h. die tatsächliche Gründung der Siedlung lag vor diesem Datum. An Attribu-ten, alten und neuen, mangelt es im Falle der Stadt an der Pleiße nicht: Universi-täts-, Messe-, Musik-, Literatur-/Verlags-/Buch- und Sportstadt. Zu einem be-trächtlichen Teil treffen diese Markenzeichen bereits für den anzuzeigenden ersten Band der auf vier Bände veranschlagten „Gesamtgeschichte“ zu, womit zugleich die Mühen und Sachzwänge der Herausgeber und der 28 Autoren angemerkt sei-en, die Masse der Menschen, ihrer Leistungen, der Prozesse und Entwicklungen, der Konflikte und Variablen gedanklich-konzeptionell und sprachlich zu fassen. Dieses Problem betrifft auch den Rezensenten. Wenn vom Oberbürgermeister im Geleitwort allerdings betont wird: „In Leipzig begann am 9. Oktober 1989 das Ende der bipolaren Welt“, so wäre angesichts einer mehrtausendjährigen Ge-schichte der Welt etwas mehr Zurückhaltung angebracht gewesen.

Wie viele große „Stadtgeschichten“ sind die frühen Jahrhunderte in die Berei-che Vor- und Frühzeit (samt Naturraum, Klima, [Be]Siedlung und Leipzigs Na-me, 33–76), Stadtentstehung und Entwicklungsphasen vom 10. bis zum 13. Jahr-hundert (79–176), Spätmittelalter (177–643), Reformationszeit (641–682) und Dörfer in Leipzigs Umfeld (samt einem historischen Ortsverzeichnis, 683) geglie-dert. Die Einzelkapitel werden, sofern spezielle Sachfragen nicht schlüssig in den Text des jeweiligen Abschnitts einzubinden waren, durch „Schlaglichter“ vertieft. Das hat sich auch anderswo bewährt.

Am Beginn des Bandes steht ein historiographiegeschichtlicher Abriss des Herausgebers Enno Bünz (15–30), der von Erasmus Sarcerius über David Peiffer und Johann Jacob Vogel bis zu Gustav Wustmann, Ernst Kroker, Ernst Müller, Karl Czok und Bünz selbst sowie seinem Mitarbeiter- und Schülerkreis reicht und damit den gesamten Zeitraum des vierbändigen Werks abdeckt. Angesichts dieser vorrangig lokalgeschichtlichen Orientierung wirken Rudolf Kötzschke (Sied-

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lungs- und Landesgeschichte) und seine Schüler Walter Schlesinger (Verfassungs- und Landesgeschichte; Studien zu Schönburg, Glauchau und Chemnitz) und Her-bert Helbig (Landes- und Wirtschaftsgeschichte; Studien zur Universität Leipzig) nur bedingt passgerecht (23 f.). Eine Besprechung kann auf viele wichtige Aspek-te bedauerlicherweise nicht eingehen; sie möchte aber drei Themenbereiche etwas näher in den Blick nehmen.

Erstens: Der von Enno Bünz äußerst skeptisch gesehene „Feudalismus“-Begriff, der „einseitige Sichtweisen auf die politische Ordnung“ einschließe, wird durch den Begriff der „Vormoderne“ ersetzt, die von „zwei konträren Rechtsprin-zipien“ geprägt gewesen sei – „Herrschaft und Genossenschaft“. Die mittelalterli-che Stadt „verkörpere“ das genossenschaftliche Prinzip mit „Selbstorganisation und Selbstverwaltung“ (27–30). In den Abschnitten über Stadtverfassung und -verwaltung (183–213) schreibt zwar Henning Steinführer detailliert über die Wurzeln von „Genossenschafts- und Kaufmannsrecht“, unter anderem über die zentralen Positionen der Bürger in der Stadtverfassung, lässt aber auch wesent-liche Faktoren wie Bürgerrechtserwerb, Eid, Bürgergeld, Inanspruchnahme von Rechten und Pflichten sowie Gehorsam aufscheinen, womit ein wichtiger Aspekt der innerstädtischen Machtausübung angesprochen wird. Im Laufe des Spätmit-telalters wird der Einfluss von Handwerkern – also eines großen Teils der Bewoh-nerschaft – auf den Rat und damit seine Teilhabe an der tatsächlichen Macht im-mer geringer, derjenige der schwerreichen Fernhändler, Kuxspekulanten sowie der Gelehrten immer ausgeprägter. Schließlich demonstriert Bünz mit vielen Steuerdaten, wie reich die Leipziger Oberschicht trotz „heimlicher Besteuerung“ war und wie deutlich das Sozialgefälle in der Stadt ausfiel (274–322). Der Fern-handel, speziell die Messen mit ihren markanten Etappen 1497, 1507 und 1514 (Markus A. Denzel, 322–340), und die Beteiligung an Bergbaugeschäften führten zur Akkumulation großer Vermögen wie Heinrich Scherls 100 000 Gulden (307). Bünz stellt fest: „Die reichsten Bürger saßen entweder im Rat oder waren mit Ratsfamilien verwandt“ (305) – ein Umstand, der mit dem Genossenschaftsprin-zip doch ein wenig kollidiert.

Zweitens: Für jede mittelalterliche und frühneuzeitliche Stadt ist das Verhält-nis zwischen Kommune und Kirche von zentraler Bedeutung; mit ihm befassen sich Markus Cottin, Enno Bünz, Armin Kohnle, Christoph Volkmar und Sabine Zinsmeyer sowie Henning Steinführer (435–533 und 634–682). Auch das Kapitel „Kulturelles Leben“ weist zu diesem Teil des Bandes eine Fülle von Bezügen auf (534–640). Konfliktfrei war dieses Verhältnis keineswegs. Die sog. „Laikalge-meinschaft“ erwies sich eher als Etikett. Generell wird das gesamte Spektrum kirchen- und glaubensbezogener Gegenstände abgearbeitet: die Merseburger Bi-schöfe, Stadtkirchen und Kapellen, Klöster und Stifte, Friedhöfe und Begräbnis-wesen. Schließlich wird der „lange Weg zur Reformation“ nachgezeichnet, der maßgeblich vom Landesherrn Herzog Georg bestimmt worden ist, aber auch die Disputation zwischen Luther und Eck 1519, das „Auslaufen“ der Bürger zur lu-therischen Predigt und die Gegenbewegung einschließt. Die „evangelische Zu-kunft“ habe in Leipzig nicht vor Georgs Tod im Jahre 1539 begonnen (667).

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Eine solche Feststellung wirft natürlich auch die Frage nach den vorherigen Verhältnissen auf und verweist auf die sog. Laienfrömmigkeit (498–520). Enno Bünz unterscheidet hierbei die Frömmigkeit der Geistlichen und die „ständisch und sozial geprägten Frömmigkeitsformen“ (498 f.) der Laien. Vom Terminus „Volksfrömmigkeit“ sieht er ab. Das ist sinnvoll, denn dieses methodische Vorge-hen vermischt nicht ein allgemeines Frömmigkeits- und Glaubensbild, das hohe intellektuelle oder künstlerische Fähigkeiten und soziales Vermögen aufweist, mit individuellen Glaubensanliegen armer Leute, die in der Regel nicht fassbar sind.

Drittens: Markus Cottin geht hinaus vor die Tore der Stadt und schaut sich in den Vororten um. Er beschreibt Mühlen, Fischerei und Teiche, die Gewässer im Umland und die Grundbesitzungen der Bürger, das Landhandwerk, aber auch Ausgleich und Konflikt zwischen Stadt und Land (683–714). Und er richtet den Blick darüber hinaus auf die Dörfer des Umlands (715–752), wo der Rat mit Klos-terverwaltungen und Grundherren „gemeinsam“ die Oberherrschaft führte. Es gab viel „Städtisches“ in diesen Dörfern (Gasthöfe, Spielhäuser, Bäder, Hirten etc.), und sie behielten dennoch zunächst ihre dörflichen Strukturen. Diese Abschnitte sind zu einem erklecklichen Teil aus den Quellen geschöpft; dennoch klaffen noch manche Lücken. Ein Historisches Ortsverzeichnis (723–787) listet auf dem Stand vom September 2015 „alle Dörfer, Nachbarschaften, Vorstädte, Wüstungen und Einzelgüter“ auf, die zum mittelalterlichen Siedlungsbestand gehörten. Das Verzeichnis der 123 Ortsteile reicht von Abtnaundorf bis zu Zweinaundorf. Rund 140 Seiten Anmerkungen, ein von Jürgen John gefertigtes Quellen- und Literatur-verzeichnis (941–1011) sowie ein Orts- und Personenregister schließen den Band ab. Zum tausendjährigen Jubiläum der Stadt liegt somit ein großes, opulent il-lustriertes Werk vor – zugleich eine vorzügliche Historikerleistung und ein verle-gerisches Stück Arbeit, das mit Stolz präsentiert werden kann.

Helmut Bräuer Leipzig CHRISTINA SCHMID, GABRIELE SCHICHTA, THOMAS KÜHTREIBER, KORNELIA

HOLZNER-TOBISCH (Hg.): Raumstrukturen und Raumausstattung auf Burgen in Mittelalter und Früher Neuzeit (= Interdisziplinäre Beiträge zu Mittelalter und Früher Neuzeit 2), Heidelberg: Winter 2015, 541 S., (ISBN 978-3-8253-6324-6), 68,00 EUR. Ausgangspunkt für den hier zu besprechenden Band bildete ein internationaler und interdisziplinärer Kongress, der vom 22. bis 24. März 2010 in Krems an der Donau stattfand und vom Institut für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit (IMAREAL) organisiert wurde. Das Thema ist Teil des bereits seit länge-rer Zeit am IMAREAL etablierten Forschungsschwerpunktes „Der domestizierte Raum in Mittelalter und früher Neuzeit: Raumstruktur – Raumkonstitution – Raumkonstruktion“. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, inwieweit durch die Schaffung und Wahrnehmung von Innen- und Außenräumen soziale Identität im Mittelalter und der Frühen Neuzeit gebildet und ausgedrückt wurde und wie diese künstlich oder natürlich beschaffenen Raumstrukturen wiederum Einfluss auf die

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damaligen Menschen genommen haben könnten. Ein Teilprojekt, das unter der Leitung von Thomas Kühtreiber (Krems) zwischen 2007 und 2010 durchgeführt und im Rahmen eines von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) geförderten interdisziplinären Dissertationsstipendiums finanziert wurde, beschäftigt sich speziell mit dem adeligen Wohnen auf Burgen und Schlössern im Spätmittelalter im süddeutsch-österreichischen Raum und deren möglichen sozia-len Implikationen.

Dass der Tagungsband nach längerer Wartezeit doch noch erscheinen konnte, ist erfreulich und leider nicht selbstverständlich, da sich das IMAREAL aufgrund der heftigen Budgetkürzungen der Jahre 2011/12 bereits der Schließung gegen-übersah. Nachdem es Anfang November 2012 aus der ÖAW ausgegliedert wurde, hat es am Interdisziplinären Zentrum für Mittelalterstudien (IZMS) an der Univer-sität Salzburg allerdings eine neue Heimat gefunden, wo auch der 18 Beiträge umfassende Tagungsband fertiggestellt werden konnte.

Eröffnet wird der Band durch die drei StipendiatInnen Josef Handzel, Gabrie-le Schichta und Christina Schmid, die das gemeinsame Dissertationsprojekt vor-stellen. Am Beispiel „RaumOrdnungen – Raumfunktionen und Ausstattungsmus-ter auf Adelssitzen im 14. bis 16. Jahrhundert“ wird verdeutlicht, wie wichtig der interdisziplinäre Forschungsansatz – in diesem Falle der Geschichtswissenschaft, der Archäologie und der Germanistik – für das Projekt ist. Dabei ist weniger das harmonische Abgleichen der unterschiedlichen Quellengattungen von Interesse. Im Gegenteil – gerade die Fälle, in denen es keine Entsprechungen oder gar Kon-traste zwischen den Quellen gibt, sind für eine umfassende, kritisch-reflektierte Betrachtung vergangener Lebenswelten weitaus produktiver. Darauf folgt der posthum veröffentlichte Vortrag von Kari Jormakka (Wien), in dem die mittelal-terliche Rezeption antiker Architekturtheorien und deren Aussagemöglichkeiten zum Innenraum, vornehmlich von Kirchengebäuden, im Vordergrund stehen. Während das Hochmittelalter noch ganz der sinnbildlichen Zahlensymbolik ver-fallen war, setze sich mit der Gotik der Trend zu geometrischen Formen durch. Ebenfalls zu berücksichtigen ist der Symbolgehalt kirchlicher Bauformen.

Carolina Cupane-Kislinger (Wien) verdeutlicht in ihrem Beitrag „Die Wirk-lichkeit der Fiktion. Palastbeschreibungen in der byzantinischen Literatur“, dass fiktionale Literatur oft die einzige Möglichkeit darstellt, an Informationen über Struktur und Ausgestaltung profaner Bauwerke zu gelangen, da von den byzanti-nischen Kaiserpalästen nur noch Ruinen vorhanden sind und auch die historischen Quellen nur selten genügend Informationen über die Innenräume der Anlagen preisgeben.

Ähnlich ist der Beitrag von Kai Lorenz (Bamberg) gelagert. Er konstatiert, dass Räume in der mittelalterlichen höfischen Literatur in ihrer Funktionalisierung drei Kategorien zuzuordnen seien: Transit-, Schwellen- und Gesellschaftsräume. Sie dienen als Ordnungsprinzip menschlicher Raumkonstruktion und -wahrneh-mung. Transiträume zeigen den Helden in Bewegung und stehen für den erzähle-rischen Freiraum gegenüber gesellschaftlichen Normen. Schwellenräume bilden einen Übergangszustand, sowohl für die Raumsituation selbst als auch auf figura-ler Ebene. Gesellschaftsräume dienen der Interaktion des Protagonisten mit einem

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Sozialsystem. Der Beitrag von Anja Grebe (Krems) „Wahr-Scheinliche Räume. Überlegungen zur Semiotik des Interieurs in der spätmittelalterlichen Buch- und Tafelmalerei“ ist ebenfalls stark interdisziplinär geprägt. Ihre Bildbeispiele weisen deutlich auf die Multifunktionalität bzw. die Offenheit der Wohnfunktion von Räumen hin. Für neue Erkenntnisse müssen kunstgeschichtliche, bauhistorische, literaturwissenschaftliche und historische Quellen von Räumen und Möbeln, aber auch deren zeichenhafte Funktion auf bildlichen Darstellungen miteinbezogen werden.

Um die symbolische Ausstattung und Ausschmückung böhmischer Renais-sanceschlösser drehen sich die Überlegungen von Vaclav Bužek (České Budějo-vice). Die Ausstattung repräsentativer Räume wie z. B. der Wappenstuben diente neben der Zurschaustellung der Altehrwürdigkeit der eigenen Familie auch zur Stilisierung als Hüter des Gemeinwohls und der ständischen Landesfreiheiten. Mit Minnesang und Räumlichkeit beschäftigt sich Ursula Schulze (Berlin). Dabei kommt sie zunächst zu dem vermeintlich überraschenden Befund, dass die Minne im Raum nur selten vorkommt. Dies könne aber dadurch erklärt werden, dass die Burg den Raum der höfisch anerkannten Liebe repräsentiert, während es sich bei der Minne ja um die gerade entgegengesetzte, verbotene Liebe handele. Andere zwischenmenschliche (Liebes-)Beziehungen, die erlaubt und somit in einem öf-fentlichen Raum wie einer Burg demonstriert werden dürfen, werden durch Archi-tekturelemente wie Zinnen, z. B. im berühmten Codex Manesse, durchaus zur Schau gestellt.

Volker Ohlenschläger (Bad Soden im Taunus) untersucht die deutschen Hof-ordnungen des 15. Jahrhunderts auf deren Raumstrukturen. Auch wenn diese nicht immer wörtlich zu nehmen sind, finden sich dort wichtige Aussagen zur sozialen Differenzierung von Räumen oder sogar ganzen Raumkomplexen, wie er am Bei-spiel des Frauenzimmers ausführt. Michael Rykl (Prag) stellt die Frage nach der „Raumanordnung im Wohnbereich der Feste in Böhmen (14.–16. Jh.)“. Nach Ausführungen zur „minimalen Wohnung“ – bestehend aus Diele, Stube und Kammer – führt sein Beitrag über die Nutzung der unterschiedlichen Räume hin zu deren späterer Ausdifferenzierung und Anordnung. Um „Raum und Repräsen-tation in der Gozzoburg“ geht es im Beitrag von Paul Mitchell. Die zwischen 2005 und 2007 getätigten Sanierungsarbeiten der Burganlage in Krems verdeutli-chen die massiven Umbauarbeiten, die in der Mitte des 13. Jahrhunderts durchge-führt wurden. Zwei von Mitchell erarbeitete access diagrams zeigen auf beein-druckende Weise, wie ausgeklügelt die Raumanordnung angelegt und für reprä-sentative Zwecke genutzt wurde.

Sabine Felgenhauer-Schmidt (Wien) versucht am Beispiel des Herrenhofes im Dorf Hardt zu überprüfen, ob sich die These der Raumsoziologie, dass Herrschaft im Mittelalter immer auch symbolisch konstituiert wird, im tatsächlichen archäo-logischen Befund nachweisen lässt. Für die Burg Mali Grad in Slowenien rekon-struiert Benjamin Štular (Ljubljana) nicht nur ältere Areale und deren Nutzungs-zwecke der im 13. Jahrhundert teilweise zerstörten Anlage, sondern untersucht auch durch Sichtbarkeitsanalysen die Rolle der Burg in der sie umgebenden Land-schaft. Über die Aussagemöglichkeiten archäologischer Funde von Burgen in Be-

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zug auf adelige Repräsentation geht es bei Norbert Gossler (Berlin), der auf das schwierige Verhältnis zwischen ökonomischer Situation und Macht- bzw. Presti-geanspruch verweist. Diese stünden nicht unbedingt im Einklang. Außerdem macht Gossler auf die Möglichkeiten, aber auch die methodischen Grenzen beim Zusammenspiel von archäologischen, archäobotanischen, archäozoologischen sowie schriftlichen und bildlichen Quellen aufmerksam, mit deren Hilfe Aussagen über niederadelige Lebensumstände getroffen werden können. Anhand der spät-mittelalterlichen Rechnungsbücher der Herren von Thun verdeutlicht Claudia Fel-ler (Wien) beispielhaft, welche Aussagemöglichkeiten zu Burgenbau, Wohn- und Raumgestaltung und somit zur adeligen Wohnkultur möglich sind.

Ulrich Stevens (Pulheim) beschäftigt sich mit Zugängen und Emporen von Burgkapellen und der Frage, wie man von diesen auf die sie nutzenden Personen-kreise schließen kann. Er postuliert Kapellen mit „öffentlichem Charakter“ und solche, die lediglich dem Herrscher und dessen Gefolge zugeordnet werden kön-nen. Dies trifft auch für die Emporen zu. Diese dienten meist der herrschaftlichen Repräsentation, wobei auch andere Nutzungsmöglichkeiten nicht ausgeschlossen werden können. Mit einigen bauarchäologischen Thesen zum Wohnturm in der Schweiz setzt sich Lukas Högl (Wien) auseinander. Dort lassen sich sowohl Win-ter- als auch Sommerräume identifizieren. Bei dem Raum auf der Höhe des Burg-einstieges mit Feuerstelle handelt es sich nicht nur um die Küche, sondern um das Zentrum des Wohnturmes. Zu guter Letzt besitzt der Wohnturm auch Elemente der Wehrhaftigkeit. „Zwischen Burgkapelle und Kammer – Formen persönlicher Andacht auf Burgen“ ist das Thema von Gabriele Schichta (Krems) und Christina Schmid (Linz). Gelebte Frömmigkeit auf Burgen soll dabei anhand der Konfron-tation von literarischen und archäologischen Quellen untersucht werden. Dies sei jedoch nur unter Einbezug von Visualität, Körperlichkeit und politisch-sozialen Verflechtungen möglich. Diese drei Aspekte lassen sich in beiden Quellengattun-gen fassen und in Bezug auf ihre Aussagemöglichkeiten vergleichen.

Zum Abschluss widmen sich Josef Handzel und Thomas Kühtreiber (Krems) den sozial konnotierten Lebensräumen Herrenstube und Frauenzimmer am Bei-spiel der Burg Pürnstein, für die ein detailliertes Nachlassinventar aus der Mitte des 16. Jahrhunderts erhalten geblieben ist. Der Vergleich des Inventars mit dem überlieferten Baubestand und weiteren normativen Quellen der Haushaltsliteratur sowie mehrere access diagrams haben gezeigt, dass zwischen dem 15. und dem 16. Jahrhundert eine Separierung zwischen weiblichen und herrschaftlichen Wohnräumen vorgenommen wurde. Christian Kübler Tübingen MARK SPOHR: Auf Tuchfühlung. 1000 Jahre Textilgeschichte in Ravensburg und am Bodensee (= Historische Stadt Ravensburg 6), Konstanz: UVK 2013, 160 S., (ISBN 978-3-86764-442-6), 4,99 EUR. Der vorliegende Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung soll an die textile Vergangenheit der Stadt Ravensburg und Oberschwabens erinnern. Ravensburg

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war vom 13. bis zum 16. Jahrhundert einer der großen Standorte der Produktion von Leinen und Barchent in einem der wichtigsten Textilreviere Europas. Nicht zuletzt die Große Ravensburger Handelsgesellschaft besorgte seit dem späten 14. Jahrhundert deren internationalen Absatz. Nach dem schon im 16. Jahrhundert einsetzenden Rückgang, der sich nach dem Dreißigjährigen Krieg verstärkt be-merkbar machte, konnte die Stadt im 19. Jahrhundert wieder an ihre textile Tradi-tion anknüpfen. In den 1960er Jahren vollzog sich dann allerdings der Untergang der Ravensburger Textilindustrie.

Der vorliegende Band stellt die Entwicklung Ravensburgs in den Kontext des oberdeutschen Leinwand- und Barchentgebiets. Eingangs werden die textilen Rohstoffe und der Flachsanbau in der Region behandelt, mit der Weiterverarbei-tung von Flachs zu Garn verschiedene Techniken bis hin zum Tretspinnrad vorge-stellt und die Probleme der Garnbeschaffung durch die oberschwäbischen Garn-bünde und den Garnmarkt erläutert. Dass sich mit John Kays Schnellschützen die Produktivität der Webstühle verdoppelt habe und der Garnhunger ausgelöst wor-den sei, ist allerdings überholt. Weitere Kapitel geben Einblick in die Werkstatt, in Arbeitstechniken (Bindung), in die Zunft sowie die Land- bzw. Gäuweber und die Textilveredelung (Mangen und Färben). Raumgreifende Aktivitäten wie das Bleichen werden z. B. durch einen schönen Ausschnitt aus dem Stadtprospect von 1625 dargestellt. Es ist bemerkenswert, dass bei der Schau der Leinwand Stadt-zeichen vergeben, für den Barchent jedoch überregional verbindliche Güteklassen (Ochse, Löwe, Traube, Brief) eingeführt wurden. Der weit ausgreifende Handel der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft (seit 1380), die Leinen zunächst nach Italien, Südfrankreich und Spanien, dann besonders über Barcelona und Va-lencia vermittelte, unterstreicht die Bedeutung des Textilzentrums. Barchent, ein Mischgewebe aus Leinen und Baumwolle, wurde 1379 erstmals in Ravensburg erwähnt. Die dazu notwendige Baumwolle kam aus dem östlichen Mittelmeer-raum und bot einen Ansatzpunkt für Verlagsbeziehungen. Räumlich ergab sich eine Spezialisierung, denn der südliche Teil Schwabens blieb eher bei der Lein-wand, Städte wie Augsburg, Ulm, Memmingen und Biberach produzierten hinge-gen Barchent. Der Sprung zur amerikanischen Baumwolle erfolgt in der Darstel-lung etwas abrupt, und die Phase des Umbruchs und des Wandels erfährt (abgese-hen von der Zulieferfunktion für St. Gallen) nur knappe Berücksichtigung. Das liegt natürlich auch daran, dass kaum Forschungen zum 17. und 18. Jahrhundert vorliegen, weshalb auf ältere Deutungsmuster zurückgegriffen wird. Dies zeigt sich mitunter auch an allgemeinen Einschätzungen, dass die „Zunftpolitik“ durch starre Beharrung den technischen Fortschritt gehemmt habe und das Handwerk in Württemberg Anfang des 19. Jahrhunderts „mit seinen verkrusteten Ordnungen“ ein „Hemmnis der wirtschaftlichen Entwicklung“ gewesen sei (119). Insgesamt liegt mit dem vorliegenden Band jedoch ein instruktiver und gut bebilderter Über-blick zur Textilgeschichte Ravensburgs und der oberdeutschen Textilregion vor. Reinhold Reith Salzburg

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PETER RAUSCHER, ANDREA SERLES (Hg.): Wiegen – Zählen – Registrieren. Han-delsgeschichtliche Massenquellen und die Erforschung mitteleuropäischer Märkte (13.–18. Jahrhundert) (= Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas 25), Innsbruck/Wien/Bozen: StudienVerlag 2015, 542 S. (ISBN 978-3-7065-5420-6), 49,90 EUR. Der vorliegende Band versammelt die Akten einer 2013 in Krems veranstalteten Tagung der am ‚Institut für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeitʻ und am ‚Institut für Österreichische Geschichtsforschungʻ angesiedelten For-schungsprojekte zum Donauhandel. Peter Rauscher und Andrea Serles, die jene Vorhaben zu den Waag- und Niederlagsbüchern der niederösterreichischen Han-delsstadt Krems bzw. zu den Rechnungen der Donaumaut im oberösterreichischen Aschach wissenschaftlich zu verantworten haben, versuchen in ihrem Vorwort zu-nächst, den Stellenwert der Arbeit mit Massenquellen in der zeitgenössischen His-toriographie zu verorten. Gewiss – mit der schier herkulischen Erschließungsar-beit der ca. 100 000 Quellenseiten der pipe rolls für die englische Monarchie al-lein des 13. Jahrhunderts ist in den akademischen Aufstiegskarussellen weniger Staat zu machen als mit der Erfindung von Paradigmenwechseln und neuen turns, die über exklusive peer-groups und exklusives Sprechen durchgesetzt werden. Doch turns laufen in immer schnelleren Rhythmen innovativ ins Leere, und die in ‚antiquarischerʻ Quellenarbeit verharrende Wirtschafts- und Sozialgeschichte ver-sammelt neue Wissensbestände in bleibenden Editionen oder Datenbanken, die nur wenige in der innovativen Hektik der Szene zur Kenntnis nehmen. Es ist Rau-scher und Serles Recht zu geben, wenn sie angesichts dieses Paradoxons zeitge-nössischer Geschichtswissenschaft „längerfristig konzipierte, auf kritischer Quel-lenarbeit basierende Forschungsprojekte oft [für] die einzigen wenigen Felsen in der Brandung historiografischer Beliebigkeiten“ halten (20). Doch diese Felsen sind nicht gerade einfach zu erklimmen, sie setzen ‚Verrückteʻ voraus – ich weiß, wovon ich rede –, die bereit sind, sich durch Quellenmassen des schier Im-mergleichen zu arbeiten, um jenem „Reiz von englischen Telefonbüchern“ (N. Vincent) neues Wissen, gelegentlich auch Kurioses abzutrotzen. Der königliche Befehl – um in meinem Beispiel zu bleiben – an alle männlichen Mitglieder des englischen Hofes, sich ihre Haare kurz schneiden zu lassen, findet sich jedenfalls nur in den genannten pipe rolls. Und so mag eine weitere Feststellung von Rau-scher und Serles ihre Berechtigung haben, dass es in der aktuellen Forschung nicht mehr darum geht, mit der Erschließung von Massenquellen „die Grundlage für strukturgeschichtliche Untersuchungen einer entseelten Wirtschaftsgeschichte“ der 1970er und 80er Jahre zu schaffen, „sondern Material für (gruppen-)bio-grafische Studien ebenso wie für stadt- oder regionalgeschichtliche Forschungen“ zu sammeln (21). Freilich scheint mir dieser Gegensatz zu apodiktisch: Denn me-thodisch müssen die individuellen oder milieubedingten Befindlichkeiten einer sozialen (Klein-)Gruppe einem Allgemeinen – sei es einer Theorie oder einem größeren historiographischen Zusammenhang (Hof und Staat, Recht, Urbanisie-rung, Märkte, Verkehr, ökonomische oder soziale Entwicklungsprozesse, Kon-sumtionsbedingungen etc.) – zugeordnet und damit eingeordnet werden, wollen sie nicht in die Beliebigkeit historischer Narrationen abgleiten. Unbestreitbar da-

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gegen ist der bedenkliche Zustand der vormodernen Wirtschaftsgeschichte in den deutschsprachigen Ländern – Teil einer sich zunehmend geschichtsblind geben-den Wirtschaftsgeschichte des Industriezeitalters als selbst stark gefährdetes fünf-tes Rad der in ihren Paradigmen völlig anders ausgerichteten Volkswirtschaftsleh-re.

Der Band geht in der faszinierenden Fülle seiner 17 Einzelbeispiele, gebün-delt in vier Kapiteln, tatsächlich ‚Ad Fontesʻ. Reizvoll und informativ zugleich ist der Umstand, dass in vielen der Beiträge die vorzustellende Quellengruppe genau beschrieben und eingeordnet wird und endlich Möglichkeiten der Auswertung ausgelotet werden. Das erste Kapitel, überschrieben mit „Städte und Handel“, eröffnet Elisabeth Gruber: Sie zeigt anhand von Maut- und Zollordnungen, Maut-verzeichnissen, Stapel- und Niederlagsrechten etc. vornehmlich österreichischer Provenienz die rechtlichen Grundlagen der Stadt als Ort von Gewerbe und Handel auf, in denen sich Handelspolitik wie Handelspraktiken widerspiegeln. Städtische Willkürrechte und herrschaftliche Privilegien sagen freilich noch wenig über die Möglichkeiten aus, die sich dadurch ergebenden Chancen auch nutzen zu können. Eine derartige Fragestellung untersucht Davina Benkert anhand der Basler Mess-bücher und Messrechnungen bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts. Andrea Serles kann in ihrem Beitrag anhand der Kremser Waag- und Niederlagsbücher des 17. und frühen 18. Jahrhunderts über 900 fremde Kaufleute in diesem Marktort nach-weisen. Dass sich aber aus derartigen Befunden solch schöne, am Schreibtisch ersonnene Begriffe wie ‚Fernhandelsdrehscheibeʻ in der Realität des Einzelhan-dels jener derart bezeichneten Städte anders darboten, zeigen beileibe nicht nur die von Davina Benkert dargestellten Maßnahmen Basels, den häufig fremd be-stimmten Großhandel als erdrückenden Konkurrenten vom internen Markt fern-zuhalten. Die Streitkultur von Kaufleuten ist auch in den Prozessakten des 1635 gegründeten Bozener Merkantilmagistrats überliefert. Andrea Bonoldi analysiert in quantitativer Methodik Konfliktfelder, die sich durch den Wandel von den Wa-ren- zu Muster- und Wechselmessen beträchtlich vermehrten. Und wie stets: In der Auseinandersetzung werden Funktionsweisen (hier der Bozener Messen) sichtbar, die sonst verborgen geblieben wären. Zollregister bieten, dort, wo sie wie in Krakau vom Ende des 16. Jahrhunderts an überliefert sind – Jacek Wi-jaczka weist darauf hin –, solide Einblicke in den Handelsverkehr und in die viel-fältige Welt der Waren.

Die Zollregister leiten schon zum zweiten Kapitel über, in dem sich sechs Beiträge den Massenquellen zu „Warenströme[n] und Wasserwege[n]“ widmen: Die vielfältige Überlieferung zum vormodernen Warentransport auf der Donau wird durch Erich Landsteiner (verschiedene Mautregister des 16. und frühen 17. Jahrhunderts), Peter Rauscher (Aschacher Mautregister seit den 1670er Jahren mit einer wichtigen Diskussion der Möglichkeiten und Probleme von Online-Editionsprojekten) und Attila Tózsa-Rigó (die erhaltenen westungarischen Drei-ßigstzollregister und das Verbotbuch der Stadt Pressburg) dargestellt. Die Ver-kehrsströme auf Elbe und Rhein sind durch die von der Mitte des 15. Jahrhunderts an erhaltenen Elbzollrechnungen von Torgau und Wittenberg (Uwe Schirmer) und durch die geldrischen Zollrechnungen des 16. und frühen 17. Jahrhunderts (Job

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Weststrate) zu erschließen. Die Flussschifffahrt war zwar gerade beim Transport von Massengütern wesentlich effektiver als der Landtransport, dennoch waren Wege und Straßen für die Verteilung der Güter wichtig und hätten durchaus auch einen Beitrag verdient. Immerhin stellt Jan Willem Veluwenkamp die für den in-ternationalen Austausch von Waren und Wissen entscheidende Hochseeschifffahrt mit seinem Projekt einer Online-Datenbank zur Dokumentation der dänischen Sundzollregister (‚STROʻ) vor.

Das dritte Kapitel macht deutlich darauf aufmerksam, dass für die Geschichte vieler vormoderner Handelshäuser ‚Massenquellen‘ allenfalls punktuell überlie-fert sind. Heinrich Lang zeigt dies anhand der kleinen Serie zum Seidenzoll an der Rhône (1532–1540) auf, den Welser und Salviati gepachtet hatten. Mark Häber-lein verwendet die kürzlich von ihm zusammen mit Peter Geffcken edierten Fragmente der Welser-Buchhaltung für die Untersuchung des Donauhandels des Handelshauses; er folgt dabei einem klugen akteurszentrierten Ansatz. Auf Aus-nahmen der schwierigen Quellenlage macht Christof Jeggle aufmerksam: die Ge-schäftskorrespondenz der Florentiner Firma Ascanio di Baccio Saminiati des 17. Jahrhunderts mit ihren ca. 300 000 Schriftstücken.

Methodische Fragen der Auswertung von Massenquellen bilden das letzte Kapitel des aufschlussreichen, anregenden Bandes: Werner Scheltjens trägt am Beispiel der dänischen Sundzollregister mit der Konvertierung frühmoderner Ma-ße und Gewichte in das metrische System, der Standardisierung von Produktbe-zeichnungen und der Geo-Referenzierung historischer Ortsnamen eine Lösungs-möglichkeit für vergleichende Auswertungen von Massenquellen vor. Am Bei-spiel der Merkantiltabellen Galiziens um 1800 weist Klemens Kaps auf das be-kannte Phänomen hin, dass die Ratio zeitgenössischer Verwaltungen ihren eigenen Funktionalitäten folgte und sich von daher wissenschaftlicher Quantifi-zierbarkeit entziehen mag. Und Jürgen Jablinski bietet mit Softwarelösungen für die Automatisation der Erfassung von Massenquellen virtuelle Zukunftsträume für diesseitig geplagte Historikerinnen und Historiker, die sich Seite um Seite durch vormoderne Rechnungen arbeiten und sich dabei fragen, ob ihre Lebenszeit über-haupt dazu ausreichen wird, buchstäblich Licht am Ende jenes Tunnels zu sehen.

Gerhard Fouquet Kiel

PHILIPP GASSERT, GÜNTHER KRONENBITTER, STEFAN PAULUS, WOLFGANG E. J. WEBER (Hg.): Augsburg und Amerika. Aneignungen und globale Verflechtungen in einer Stadt (= Documenta Augustana 24), Augsburg: Wißner 2013, 310 S., 38 Abb., (ISBN 978-3-89639-967-0), 24,90 EUR. Die vierzehn Beiträge dieses gelungenen Bandes thematisieren Aspekte der Be-ziehungs- und Verflechtungsgeschichte zwischen Augsburg und Amerika von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart. Der thematische Schwerpunkt liegt auf der Zeitgeschichte seit 1945, doch gewinnen auch die Entwicklungen der Frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts Kontur. Ausgehend von der Überlegung, dass Globalisierungs- und Verflechtungsprozesse stets in lokalen Kontexten stattfinden

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und sich dort auch niederschlagen, wollen die Herausgeber Phänomene globaler Interaktion „vor Ort“ in Augsburg studieren. Amerika heißt dabei Nord- und Süd-amerika, denn mit beiden Teilen des Doppelkontinents war Augsburg im Laufe seiner Geschichte verflochten.

Die ersten vier Beiträge beschäftigen sich mit der Frühen Neuzeit. Mark Hä-berlein gibt einen Überblick über die vielfältigen Aktivitäten Augsburger Han-delshäuser in der Neuen Welt vom 16. bis zum 18. Jahrhundert und macht dabei deutlich, in welchem Maße Augsburg als frühneuzeitliche Handels- und Finanz-metropole in die transatlantischen Handelszusammenhänge eingebunden war, nicht zuletzt auch durch den Sklavenhandel. Anschließend analysieren Christine R. Johnson und Rainald Becker die Rolle Augsburgs als Drehscheibe für die Pro-duktion und Zirkulation von Amerikawissen. Johnson untersucht das Ameri-kaschrifttum in der Bibliothek des Augsburger Humanisten Konrad Peutinger und schreitet das Spektrum der in ihm zirkulierenden Amerikabilder ab, das neben kühl kalkulierender wirtschaftlicher Rationalität und christlichen Missionshoff-nungen auch jede Menge an Wunderbarem und Fabelhaftem widerspiegelt. Weil Augsburg zwar allgemein ein Nachrichtenzentrum, aber kein Umschlagplatz für Nachrichten aus der Neuen Welt gewesen sei, so Johnson, habe Peutinger sich seine Amerikaliteratur woanders besorgen müssen.

Dieser These widerspricht Rainald Becker in gewisser Hinsicht, billigt er der Reichsstadt doch eine wichtige Rolle bei der Formierung von Amerikabildern im Expansionszeitalter zu. Zwar habe Augsburg als Vermittlerin von Amerikawissen im Reich nicht die gleiche Bedeutung gehabt wie Nürnberg, doch habe die Reichsstadt in der Frühen Neuzeit durchaus eine wichtige Position bei Produktion und Vertrieb amerikakundlicher Nachrichten eingenommen, wobei er vor allem die Jesuiten und die Pietisten als wesentliche Träger der süddeutschen Übersee-publizistik identifiziert.

Um die Pietisten, genauer gesagt um die Beziehungen zwischen Samuel Urls-perger, seit 1723 Erster Senior der lutherischen Stadtgemeinde in Augsburg, und der Exklave der Salzburger Protestanten in Ebenezer, Georgia, geht es im Beitrag von Rudolf Freudenberger. Dicht beschreibend und quellengesättigt beleuchtet er die Rolle Urlspergers als Organisator der Auswanderung einer Gruppe Salzburger Protestanten nach Amerika im Jahre 1733. Diese pietistische Connection Augs-burgs war lange Zeit vergessen; Freudenberger ruft sie anschaulich ins Gedächtnis zurück.

Zwei Beiträge erörtern Entwicklungen des 19. Jahrhunderts. Marita Krauss gibt einen so gerafften wie soliden Überblick über Entwicklungsprozesse, Dimen-sionen und Grundprobleme der Auswanderung aus Bayerisch-Schwaben nach Nordamerika. Karl Borromäus Murr analysiert das Agieren Augsburger Textilun-ternehmer auf dem internationalen Baumwollmarkt. Er liefert im Kern eine Mi-krostudie des Großbetriebs Mechanische Baumwollspinnerei und Weberei Augs-burg (SWA) von den 1830er Jahren bis zum Ersten Weltkrieg. Dessen Verflech-tung mit dem internationalen Baumwollmarkt reflektiert Murr einerseits im Kon-text der institutionellen Vernetzung der Baumwollwirtschaft im regionalen, nationalen und internationalen Rahmen. Andererseits schreibt er diese Geschichte

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auch als Geschichte eines sich formierenden weltwirtschaftlichen Bewusstseins auf Seiten der Augsburger Unternehmer, die sich im Prozess der ökonomischen Expansion zunehmend als global players begreifen lernten.

In sieben Aufsätzen thematisiert der Band die Entwicklungen des 20. Jahr-hunderts. Egbert Klautke untersucht die Amerikanismusdebatte in der Augsburger Publizistik der 1920er Jahre im Hinblick auf die in ihr präsenten Amerikanisie-rungsängste. Deutlich wird, dass die USA hier als Chiffre der Moderne zu einem Vehikel für die deutsche Auseinandersetzung mit eben dieser durch die USA re-präsentierten Moderne wurden, wobei es stets um die Frage ging, ob diese Mo-derne für Deutschland gewollt war oder nicht.

Die übrigen sechs Beiträge erörtern die Zeit seit 1945. Edith Raim liefert eine dicht beschreibende, überaus informative Rekonstruktion der Besatzungszeit in Augsburg, die sie aus ethnologischer Perspektive und unter steter Berücksichti-gung der Erfahrungen von Besatzern und Besetzten als Aufeinandertreffen zweier Kulturen begreift. Dabei sind vor allem die durchgehend aus den Quellen gearbei-teten Ausführungen zur Perspektive der US-Soldaten auf die Deutschen sehr inte-ressant. Nahtlos daran an schließt das Kapitel von Reinhild Kreis, das das Ver-hältnis zwischen der Augsburger Bevölkerung und den amerikanischen Soldaten für die Jahre von 1945 bis 1970 untersucht. Dabei stellt sie für die deutsche Sicht auf die Amerikaner eine komplexe Gemengelage von Faszination und Abgren-zung fest: Einerseits erkannte die Augsburger Bevölkerung die technische Fort-schrittlichkeit der USA an, andererseits war ihre Haltung auch durch ein Gefühl der kulturellen Restüberlegenheit geprägt, das auf der vermeintlichen Kultur- und Geschmacklosigkeit der Amerikaner basierte. Einige Bereiche und Formen deutsch-amerikanischer Interaktion in Augsburg auslotend, zeigt Kreis, wie die räumliche und soziale Trennung zwischen Deutschen und Amerikanern ungeach-tet aller offiziellen und offiziösen Bemühungen um Partnerschaft im Kern beste-hen blieb.

Tobias Brenner untersucht die wirtschaftlichen und städtebaulichen Konse-quenzen der US-Militärpräsenz in Augsburg. In seinem Beitrag geht es einerseits um die Rolle der in Augsburg stationierten US-Soldaten als Wirtschaftsfaktoren im Auf und Ab der europäisch-amerikanischen Wechselkursentwicklung, anderer-seits um die städtebauliche Bedeutung der für die amerikanischen Truppen errich-teten Wohnsiedlungen in der Nähe der US-Kasernen. Diese Bauten symbolisierten die städtebauliche Moderne Amerikas in Augsburg – und wurden von der Bevöl-kerung mit einer Mischung aus Bewunderung und Ablehnung zunächst auch so gesehen. Peter Bommas erörtert anschließend das Problem der Amerikanisierung von Jugend- und Populärkultur in Deutschland nach 1945. Allerdings handelt es sich hier eher um einen Beitrag zur höchst widersprüchlichen Aneignung der ame-rikanischen Populärkultur in Westdeutschland allgemein, der, den aktuellen For-schungsstand solide zusammenfassend, zwar durchaus informativ ist, aber bezo-gen auf Augsburg eher vage bleibt.

Konkret wird es dafür wieder im Beitrag von Stefan Paulus, der anhand dreier Fallbeispiele aus den Jahren 1950 bis 1972 die Adaption amerikanischer Architek-turformen in Augsburg als Manifestation von Amerikanisierungs- und Moderni-

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sierungsprozessen untersucht. Die als amerikanisch wahrgenommenen Gebäude wurden von den Zeitgenossen einerseits als sichtbare Belege für die Überwindung von NS-Architekturauffassungen gesehen; andererseits erschienen sie in den 1950er Jahren auch als Fremdkörper in der Fuggerstadt mit ihren bis ins Mittel-alter zurückreichenden städtebaulichen Traditionen. Dies änderte sich erst um 1970.

Im letzten Beitrag des Bandes nimmt Gundula Bavendamm das geplante Augsburger Museums- und Erinnerungsprojekt „Lernort Frieden“ zum Anlass, die Entstehung von Erinnerungslandschaften zur Geschichte des Kalten Krieges in Deutschland Revue passieren zu lassen. Bei dem geplanten Augsburger Projekt handelt es sich um Halle 116 der ehemaligen Luftnachrichtenkaserne, in der wäh-rend der nationalsozialistischen Herrschaft eine Außenstelle des KZ Dachau un-tergebracht war und die dann nach 1945 von den Amerikanern in der Sheridan-Kaserne als Fahrzeughalle weitergenutzt wurde. Auf dieses Projekt geht Baven-damm in ihrem Beitrag jedoch gar nicht ein, sondern liefert stattdessen eine de-skriptive Inventur der musealen Erinnerung an die Alliierten in Berlin und dem gesamten Bundesgebiet.

Insgesamt umreißt der Band plausible Themen, Kontexte und Dimensionen der über fünfhundertjährigen Beziehungs-, Verflechtungs- und Interaktionsge-schichte von Augsburg und Amerika. Ungeachtet der starken Konzentration auf die Zeigeschichte nach 1945 beeindruckt der Band durch die langen zeitlichen Schneisen durch das Geschehen. Immer da, wo die Beiträge sich auf die Gescheh-nisse, Entwicklungen und Verhältnisse in Augsburg konzentrieren, wird das Vor-haben, Globalisierung im lokalen Rahmen zu studieren, eindrucksvoll eingelöst. Allerdings ist nicht jeder Beitrag primär mit Augsburg beschäftigt. Einige Beiträ-ge widmen sich eher allgemeinen historischen Phänomenen, so dass die Augs-burg-Spezifik des jeweiligen Verflechtungs- und Transferzusammenhangs nicht so richtig greifbar wird. Gleichwohl handelt es sich um einen Band, der zum Wei-terdenken und -forschen einlädt – und vor allem auch dazu, diesen Ansatz auf andere deutsche Städte zu übertragen.

Volker Depkat Regensburg

DIRK BRIETZKE, FRANKLIN KOPITZSCH, RAINER NICOLAYSEN (Hg.): Das Akade-mische Gymnasium. Bildung und Wissenschaft in Hamburg 1613–1883 (= Ham-burger Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte 23), Berlin/Hamburg: Reimer 2013, 245 S., (ISBN 978-3-496-02865-9), 39,95 EUR. Das „Akademische Gymnasium“, auch als Gymnasium Illustre bezeichnet, hatte als Institution zwischen Lateinschule und Universität im deutschen Bildungssys-tem, zumal im protestantischen Deutschland, seit dem frühen 16. Jahrhundert eine eigene Karriere und Funktion. Mit der Neuordnung der Universitäten, dem Funk-tionswandel der Artisten- zur Philosophischen Fakultät und der Einrichtung des gymnasialen Weges bis zum Abitur endete diese Geschichte. Das Akademische Gymnasium in Hamburg, dessen Geschichte hier in insgesamt elf Beiträgen prä-

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sentiert wird, hatte als letzte Einrichtung dieser Art bis 1883 Bestand, bis es man-gels Nachfrage – am Ende unterrichteten fünf Professoren einen Studenten – ein-ging. Gibt es heute aber mehr Gründe als eine Ringvorlesung (der die Texte ent-stammen), Nostalgie, lokalhistorisches Interesse und die Neugier der Spezialisten, erneut auf diese Einrichtung zu schauen? Die Herausgeber verorten den Band in ihrer Einleitung natürlich lokalhistorisch, aber auch in der langen Dauer der Ham-burger „Wissenschaftskultur“ insgesamt, und sie diskutieren das Akademische Gymnasium systematisch in einem zweifachen Sinne als „Voruniversität“ (mit einem Begriff Werner von Melles): sachlich wegen der propädeutischen Funktion vor der Universität und zeitlich, weil es zur Vorgeschichte der Gründung der Hamburger Universität gehört. Gleichzeitig betonen sie aber – zu Recht, wie die Lektüre nachdrücklich und sogar mit Unterhaltungswert bestätigt – die nicht nur für Hamburg signifikante Rolle dieser Institution in der Geschichte der vormoder-nen europäischen „Gelehrsamkeit“.

Franklin Kopitzsch einleitend und Rainer Nicolaysen abschließend behandeln, hier wie durchgehend in der Forschung reichhaltig abgestützt und höchst lesbar dargestellt, Anfang und Ende der Institution, die seit 1613 unter dem Dach des renommierten Johanneums und in enger Kooperation mit ihm existierte, aber in eigener Lehre (seit 1615) und in öffentlichen Vorlesungen sichtbar war. Sie stel-len diese Geschichte sowohl in den Hamburger Kontext als auch in die deutsch-sprachige Tradition dieser Gymnasien. Für Einzelfragen, z. B. die Studierenden (die Matrikel endet mit der Nummer 3 708 und ist seit 1891 ediert), wird man bei beiden Autoren eher neugierig als schon in allen Details hinreichend bedient. Fra-gen der Rekrutierung von Studierenden und Professoren, auch quantifizierend, oder die Finanzierung der Institution könnten intensiver behandelt werden, und ein catalogus professorum (möglichst im Netz) wäre wünschenswert. Kurz, wer Neugier stimuliert, sieht sich unbescheidenen weiteren Fragen ausgesetzt.

Die größte Gruppe der Abhandlungen gilt Gelehrten, die auch über Hamburg hinaus bekannt waren und sind. Sie werden in der Regel von den Spezialisten für ihr Thema vorgestellt; die entsprechenden Beiträge sind belehrend, reichhaltig und anregend für weitere Forschungen und andere Kontexte. Christoph Meinel beginnt – natürlich – mit Joachim Jungius (1587–1657). Seine Forschungen, unter anderem seine „diakritische Methode“, werden als Exempel späthumanistischer Gelehrsamkeit vorgestellt. Inspiriert durch den Pädagogen Ratke und zugleich geleitet und irregeführt von dessen ebenso utopisch-enzyklopädischer wie empiri-zistischer Ambition, dass „Seinsordnung, Erkenntnisordnung und Lehrordnung […] in eins fallen“ (35) sollen, entwickelte er eine eigene Forschungspraxis, und zwar als „Aufschreibepraxis“, für die Exzerpierkunst und die Erfindung des Zet-telkastens signifikant sind – bei ihm selbst eher noch chaotisch, weil noch ohne stringentes Ordnungssystem. Man versteht aber sehr gut, was der „Primat des Di-daktischen“ bedeutet und was der „Übergang“ zur Moderne in der Forschung ein-trägt. Forschung, durchaus in einem modernen Sinne, kann dagegen Holger Fi-scher an Jungiusʼ Schüler Martinus Fogelius (1634–1675) dokumentieren. Fogeli-usʼ sprachwissenschaftliche und -historische Studien über die finnougrische Sprachverwandtschaft (erst spät im 20. Jahrhundert wurde er als Vorläufer aner-

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kannt) belegen das sehr nachdrücklich. Fischer ist gleichzeitig einer der zahlrei-chen Autoren in diesem Band, der in den Bibliotheken der Gelehrten die materiel-le Basis solcher Entdeckungen diskutiert und Hamburg als literarischen „Um-schlagplatz“. Nebenbei wird man über die Vergesslichkeit von Leibniz informiert, der ausgeliehene Manuskripte nicht zurückgab. Ingrid Schröders exemplarischer Gelehrter ist Michael Richey (1678–1761), sein zentrales Opus das „Idioticon Hamburgense“, ein prominentes Beispiel der zeitgenössischen Lexikographie und frühes und bis heute bedeutendes Denkmal lokal orientierter Sprachforschung – und auch hier ist es eine Bibliothek mit 26 019 Titeln, die ahnen lässt, wie Ri-cheys Gelehrsamkeit fundiert war.

Johann Anselm Steiger widmet sich Hermann Samuel Reimarus (1694–1768), dessen Ruhm in Hamburg und dessen Platz in der Geschichte der Theologie spä-testens mit Lessings Editionen des „Unbekannten“ und den nachfolgenden Kont-roversen unstrittig sind. Steiger stellt ihn in den Kontext der Deismus-Debatte, allerdings nicht nur der deutschen, sondern auch der englischen, und bekräftigt damit noch einmal, dass Beziehungen in diesen Kultur- und Sprachraum zu dieser Zeit durchaus als Hamburger Besonderheit gesehen werden können. Jürgen Over-hoff schreibt über Reimarus und seinen Schüler, den Theologen und Pädagogen Johann Bernhard Basedow (1724–1790), und diskutiert die biografische und sys-tematische Inspiration, die Basedow und damit die philanthropische Pädagogik aus Reimarusʼ Lehrart bezogen haben. Overhoff zeigt aber auch, wie wenig tole-rant Hamburg in Religionsfragen war; denn erst Basedow wagte es, das Thema der religiösen Toleranz und der Erziehung dazu aktiv aufzunehmen. Auch er konnte aber erst in Dessau praktizieren, was er in Hamburg gelernt hatte.

Frank Haje stellt den Mathematiker Johann Georg Büsch (1728–1800) vor, der vor allem als Ökonom – für die Probleme seiner Zeit „besser“ als Adam Smith (113) und von Marx rezipiert – als Mentor der Handlungsakademie und in der Bildung der Kaufleute Meriten erwarb. Dirk Brietzke widmet sich dem Liberalen Christian Friedrich Wurm (1803–1859). Der „Historiker, Pädagoge, Publizist und Politiker“ (140) ist ein Beleg dafür, dass die Professoren des Gymnasiums im Vormärz und danach nicht nur an den Debatten über die Neuordnung der Ham-burger Verfassung aktiv teilnahmen, sondern auch in der Phase der „Agonie“ des Gymnasiums neue, universitätsnahe Reformpläne entwarfen – in beidem erfolg-los.

Eher im Längsschnitt von der Gründung des Gymnasiums bis zur Frühphase der Universität argumentieren schließlich zwei disziplinhistorische Beiträge: Ka-rin Reich stellt die Mathematiker in Hamburg im Übergang von der Lehrbuchkon-struktion zur Forschung vor, womit auch die Differenz der Institutionen vom Pri-mat der Propädeutik zum Forschungsimperativ bewusst wird. Achim Rohde dis-kutiert 400 Jahre Orientalistik und Hebraistik, quasi von Reimarus zu C. H. Be-cker und dem Kolonialinstitut sowie in kritischer Auseinandersetzung mit der These Edward Saids, dass „Orientalismus“ und Anti-Judaismus bzw. -semitismus kontinuierlich verbunden seien.

Insgesamt liest man den Band mit großem Gewinn, wissenschaftsgeschicht-lich wie lokalhistorisch. Er ist aufschlussreich für den Wandel der Gelehrsamkeit

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zur Moderne und auch für die Hamburger Wissenschaftskultur, die ja erst gegen erhebliche lokale Widerstände in der Universität ihre dauerhafte Form fand. Zu deren Centenarfeier 2019 werden wir sicherlich genauso informativ über die Fol-gezeit unterrichtet. Heinz-Elmar Tenorth Berlin MARGARETH LANZINGER: Verwaltete Verwandtschaft. Eheverbote, kirchliche und staatliche Dispenspraxis im 18. und 19. Jahrhundert. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2015, 405 S., 9 Abb., 4 Tab., (ISBN 978-3-205-78752-5), 54,90 EUR. Bereits seit über zwei Jahrzehnten bewegt sich Margareth Lanzinger auf dem sich sukzessive konturierenden und ausdifferenzierenden Feld der Historischen Ver-wandtschaftsforschung. Als Erträge dieser Arbeit sind sowohl ihre Dissertation (2003) als auch zahlreiche Herausgeberschaften und Aufsätze zum Thema u. a. in deutscher, italienischer, englischer und französischer Sprache zu nennen. Die vor-liegende Habilitationsschrift stellt nun einen beeindruckenden Höhepunkt Lan-zingers langjähriger Forschungen zu Ehe und Familie dar.

Die Studie, die quantitative Befunde mit qualitativen verknüpft und sie poli-tisch-rechtlich-administrativ kontextualisiert, ist im österreichisch-italienisch-schweizerischen Grenzraum der katholischen Diözesen Brixen, Chur, Trient und Salzburg des späten 18. und 19. Jahrhunderts angesiedelt. In ihrem Zentrum steht der kirchliche und staatliche Umgang mit speziellen Paarkonfigurationen und den aus ihnen resultierenden Ehehindernissen sowie deren mögliche Dispensierung. Lanzinger konzentriert sich mit Blutsverwandten und Verschwägerten auf zwei der zahlreichen dispensablen Konstellationen.

Diese Heiratsprojekte untersucht Lanzinger aus der Perspektive sich wan-delnder Dispenspolitiken und verknüpft dabei die aufwändigen kirchlichen und staatlichen Verwaltungs- und Verfahrenswege mit Logiken der häuslichen und familialen Organisation. Die unterschiedlichen Profile der Nachbardiözesen er-möglichen einen Einblick in das synchrone Spektrum der Dispenspraxis und da-mit verbundene strukturierte Handlungsrepertoires, aber auch diachrone Entwick-lungen werden greifbar: Die Geschichte des Verbots von Ehen in der Verwandt-schaft nahm keinen linearen Verlauf in Richtung einer sukzessive liberaleren Handhabung, sondern war bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein von Wechselfällen und beträchtlichen konfessionellen und regionalen Unterschieden gekennzeichnet.

Konsanguine und affine Partnerschaften waren seit dem IV. Laterankonzil (1215) durch die katholische Kirche mit bis zum Jahr 1917 wirksamen Eheverbo-ten belegt. Nur eine erteilte Dispens schützte in den betroffenen Schwägerschafts- und Verwandtschaftsgraden vor dem Straftatbestand des Inzest und konnte (v. a. in familien- und erbpolitisch heiklen Situationen und Konstellationen) die rechtli-che Position aller Betroffenen auf lange Sicht absichern, denn Annullierungen nicht rechtmäßig geschlossener Ehen mit all ihren unter Umständen verheerenden Konsequenzen waren grundsätzlich auch nach Jahrzehnten noch möglich. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts verzeichnet die Forschung in unterschiedlichen europä-

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ischen Kontexten einen signifikanten Anstieg von Verwandtenheiraten – ein Trend, der bis ins 20. Jahrhundert hinein anhalten sollte. Die steigende Zahl erteil-ter Dispense im katholischen Bereich in nahen Graden verweist auf eine veränder-te Praxis innerhalb des starren normativen Rahmens des kanonischen Rechts. Der gesellschaftliche Wandel am Übergang von der Frühen Neuzeit in die Moderne mag die skizzierte Entwicklung losgetreten haben. Er wurde begleitet von neuen Liebes- und Ehekonzepten, die auf Nähe und Vertrautheit setzten und eine „Hori-zontalisierung von Verwandtschaft“ (284) mit sich brachten, aber auch Vermö-gensfragen und sachliche Kriterien spielten eine Rolle: Lanzinger spricht sich konsequenterweise für „[e]in systematisches Zusammendenken von Verwandt-schafts- und Ehegüterlogiken“ (273) aus. Vor allem im bürgerlichen Milieu ging verwandtschaftliche Endogamie mit sozialer Homogamie einher. So schloss sich der Kreis, in dem Erbe, Kapital und andere Ressourcen zirkulierten: „Die Pflege der verwandtschaftlichen Kontakte schuf das entsprechende soziale Umfeld und damit zugleich den Pool für die Wahl von geeigneten Ehepartnern und Ehepartne-rinnen. Soziale Nähe und Vertrautheit galten als ideale Grundlage einer Ehe“ (284). Ehen zwischen Cousins und Cousinen wurden zur klassischen Paarkonstel-lation der Zeit. Während Verwandtenehen zuvor eher Adelssache gewesen seien, konstatiert Lanzinger für den Untersuchungszeitraum eine „‚Demokratisierung‘ von Verwandtenheiraten“ (25).

Ab den 1770er Jahren und spätestens mit dem josephinischen Ehepatent von 1783 versuchte das österreichische Staatsrecht, die Vorherrschaft der katholischen Kirche im Bereich der Dispensvergabe zu durchbrechen. Dennoch blieb diese durch das gesamte 19. Jahrhundert hindurch in unterschiedlichem Ausmaß invol-viert, in Diözesen wie Brixen sogar als „Hauptakteurin“ (13). Kirche und Staat konkurrierten über die ‚Verwaltung von Verwandtschaft‘, während in Preußen, Frankreich und Großbritannien bereits liberalere Regelungen von Verwandtenhei-raten zum Tragen gekommen waren. In einem größeren Kontext gesehen, ging es in diesem nicht mit letzter Konsequenz ausgefochtenen Machtkampf freilich um „das Ausschalten von Rom als einer ‚fremden‘ Jurisdiktion auf staatlichem Terri-torium einschließlich der Nuntiatur in Wien und deren Vertretung“ (34). Es han-delte sich somit um einen von mehreren Schauplätzen in dem zwischen Papst und Kaiser in der josephinischen Ära ausgetragenen Konflikt.

Neben nahen konsanguinen Konstellationen bilden die affinen, durch Schwä-gerschaft ‚vorbelasteten‘ Beziehungen den zweiten Schwerpunkt in Lanzingers Studie. Die Schwagerehe sei im Gegensatz zu blutsverwandten Ehepaaren „vor 1770 nahezu inexistent“ (224) gewesen. Die biblische Vorstellung von ‚einem Fleisch‘ (Mk 10,8) machte aus den Verwandten des einen Teils auch Verwandte des anderen Teils; so wurde die Schwägerschaft „gewissermaßen biologisiert“ (90). In der Stigmatisierung der Schwägerehe sieht Lanzinger eine Gegenposition zur jüdischen Leviratsehe (345). Da Heiratsprojekte aber situativen Logiken folg-ten, stieg die Nachfrage: Während auf internationaler Ebene im 19. Jahrhundert eine Diskussion um das Thema entbrannte, war die Kirche darum bemüht, die Schwägerschaft angesichts der zunehmenden Präsenz der auf die Blutsverwandt-

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schaft bezogenen physiologisch-medizinischen Vererbungs- und Gefährdungsleh-re nicht aus dem Relevanzspektrum herausfallen zu lassen.

Der Diskurs über Eheverbote führte über die biologische Aufladung der ‚Blutsbande‘ letztlich zur „Rassifizierung des Arguments“ (94 f.) und mündete im 20. Jahrhundert in den nationalsozialistischen Rassenbegriff: „Verwandtes Blut fungierte in der Abgrenzung von dem über ‚Rasse‘ definierten ‚fremden‘ Blut gewissermaßen als höchste Steigerungsform des ‚eigenen‘“. (345) Lanzinger stellt diesbezügliche Parallelen zur „limpieza de sangre“ in der iberischen Welt des 15. Jahrhunderts sowie zum „branqueamento racial“ in Brasilien her.

In der Zusammenschau entsteht ein differenziertes Bild von Verwandtschafts-strategien. Die Autorin bewegt sich dabei auf einem zugleich von gesellschaftli-chen, theologischen, juristischen, medizinischen und naturwissenschaftlichen Po-sitionen geprägten Diskursfeld. Letztlich konstatiert sie „regionale Disparität“ (336): Verfahrenswege und Erfolgschancen variierten, was nicht ohne Auswir-kungen blieb, und zwar nicht nur in Hinblick auf die Zahl der erteilten Dispense, sondern auch auf die Zahl der gestellten Ansuchen. Abgeschlagene Dispensansu-chen zogen spätestens seit dem Erlass des Konkubinatsparagraphen in Österreich 1807 eine zwangsweise Trennung unverheiratet zusammenlebender Partner und die Auflösung des gemeinsamen Haushalts mit bisweilen existentiellen Folgen nach sich. Antragsteller hatten grundsätzlich keinen Anspruch auf Dispens: Sie stellte einen kirchlichen Gnadenerweis dar, bezüglich dessen Lanzinger allerdings „[g]ewisse Spielräume des Auslegens und Manövrierens“ (349) der Geistlichen auf den verschiedenen Ebenen sowie eine „soziale Hierarchisierung von Dispens-bewerbern“ (207) ausmacht. Das wirkungsvollste Instrument der Antragsteller, die in konfessionellen Grenzgebieten lebten und mitunter Jahrzehnte auf Dispens warten mussten, war neben der „Macht der Beharrlichkeit“ (349) nur die Andro-hung der Konversion, ein Argument, das unter Gregor XVI. sogar zum einzig an-erkannten Dispensgrund für die deutschsprachigen Diözesen wurde.

Die präzise Beleuchtung der katholischen Verhältnisse macht neugierig auf den Vergleich mit protestantischen Gebieten, der in Lanzingers Studie freilich nur punktuell angerissen werden kann. An mancher Stelle, etwa bei der Betrachtung von zu erbringenden Eides- und Abbittleistungen (218), wäre der Verweis auf Parallelen und Begrifflichkeiten im nichtkatholischen Bereich (Kirchenbuße) wünschenswert. Die Einschätzung, dass Regelungen in protestantischen Gebieten tendenziell liberaler, aber gleichzeitig auch strikter gehandhabt worden seien, in-dem sie mancherorts als absolut gesetzt galten und „keine Möglichkeit einer Dis-pensierung vorsahen“ (26), bildet die vielfältige und bisweilen äußerst kleinteilige kirchliche Verfasstheit protestantischer Territorien und deren Ehe-, Buß- bzw. Dispenspraktiken jedenfalls nur ungenügend ab.

Da im Mittelpunkt der Studie mit den Heiratsvorhaben und Dispensgesuchen kommunikative Prozesse stehen, die sich vom örtlichen Pfarrhaus und Gemeinde-amt über Dekanate und Bistümer bis in die römische Kurie und in die Wiener Hofkanzlei erstrecken konnten, also mithin die gesamte kirchliche und teilweise die weltliche Hierarchie durchlaufen konnten, legt die Autorin gleichzeitig ein gelungenes Beispiel der Verknüpfung von Mikro- und Makrohistorie vor. Ebenso

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finden sich starke Anklänge an den mikropolitischen Ansatz, wenngleich die Au-torin ihre Studie selbst nicht explizit innerhalb dieser Forschungskonzepte veror-tet.

Anhand der Dispensakten und vor allem der Protokolle der Matrimonialexa-men als deren „Kernstück“ (192) stellt Margareth Lanzinger einerseits die (teils freilich im Sinne strategischer Kommunikation verfremdeten) Motive und Per-spektiven der Antragsteller dar und erläutert diese an Beispielen, andererseits zeichnet sie die kirchlichen Dispensmöglichkeiten und -verfahren nach. Vor allem aber besticht die in dieser Form erstmalige systematische, bistumsübergreifende und dabei immer noch zeitlich wie räumlich differenzierende Darstellung, Analy-se und Interpretation des Sachverhaltes, den Lanzinger auf beeindruckender Quel-lenbasis erarbeitet. Stellenweise werden gar interdisziplinäre, etwa kultur- und literaturwissenschaftliche Impulse gesetzt (262 f.). Der Autorin gelingt es auf die-se innovative Art nachzuweisen, dass das so oft totgeglaubte Konzept von Ver-wandtschaft auch in der europäischen Moderne als horizontal und vertikal wir-kende Ordnungs- und Orientierungsstruktur weiterhin eine zentrale Kategorie mit vieldimensionaler Bedeutung darstellt.

Andreas Flurschütz da Cruz Bamberg GUNHILD BERG, BORBÁLA ZSUZSANNA TÖRÖK, MARCUS TWELLMANN (Hg.): Be-rechnen / Beschreiben. Praktiken statistischen (Nicht-)Wissens 1750–1850 (= Historische Forschungen 104), Berlin: Duncker & Humblot 2015, 233 S., 3 Abb., (ISBN 978-3-428-14500-3), 69,90 EUR. Der Sammelband vereint zehn Beiträge von Kulturwissenschaftlern, Historikern, Germanisten und Soziologen, die sich mit den Praktiken der Statistik, vor allem im deutschsprachigen Raum, von 1750 bis 1850 auseinandersetzen. Der Band fokussiert neben dem Wissen gerade auch die Grenzen eines mittels Statistiken generierten (Nicht-)Wissens. Damit wird an jene Forschungen zur Wissenssozio-logie sowie zur Wissens- und Wissenschaftsgeschichte angeknüpft, die den Opti-mismus der modernen ‚Wissensgesellschaft’ kritisch hinterfragen. Neben Wis-sen/Nichtwissen ist es die titelgebende Leitdifferenz Beschreiben/Berechnen, für die sich die Autoren interessieren. Mit diesem Zugriff wird jener Entwicklung Rechnung getragen, die dazu führte, dass sich im behandelten Jahrhundert das Reden über die Statistik „zunehmend an einer Unterscheidung zwischen Operati-onen des Zählens und Rechnens einerseits und solchen des Beschreibens anderer-seits“ orientierte (10).

Martin Gierl betont dementsprechend, dass es vor 1800 eine statistisch operie-rende Geschichtsschreibung gab, die sich statistischer Verfahrensweisen bediente, um sich nicht zuletzt von einer narrativen, philosophisch wertenden Geschichts-schreibung abzusetzen. Dies wird am Beispiel Johann Christoph Gatterers aufge-zeigt, der versuchte, mittels der tabellarischen Erhebung von Fakten den Zustand der damaligen Staatenwelt zu beschreiben und dergestalt praktisch aufklärerisch zu wirken, indem er „die Fortführung der Statistik von der Verfassungsbeschrei-

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bung hin zu einem Beschreibungs-, Mess- und Kontrollinstrument der gesell-schaftlichen Produktion“ (25) intendierte.

Die Zahlenstatistik trat jedoch allmählich in Konkurrenz zu der – ihrer institu-tionellen Verankerung wegen – als Universitätsstatistik bezeichneten Staatenkun-de, welche, aufgrund der untergeordneten Bedeutung von numerischen Angaben, ‚Statistik ohne Zählen‘ (Harm Klueting) betrieb. Justus Nipperdey differenziert hier gleichfalls, indem er aufzeigt, dass mit einem Werk des Pastors Johann Peter Süßmilch von 1741 über Mortalität, Natalität und Nuptialität die Bevölkerungs-dichte nunmehr zunehmend berechnet und verglichen wurde. Die zahlenbasierte Argumentation befand sich somit in einem Versuchsstadium, welches geprägt war von „Hypostasierung, Akzeptanz, Verwendung und Missbilligung der Zahl“, be-vor nach 1800 „der Konflikt zwischen Zahl und Wort offen ausbrach“ (59).

Johannes Scheu behandelt, ausgehend von Friedrich Engelsʼ Werk „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ von 1845, die Anfänge der Soziologie, die sich keineswegs nur der Zahlenstatistik bediente, um ‚authentisch‘ die Armuts-problematik des 19. Jahrhunderts zu beschreiben. Vielmehr war es die direkte Beobachtung vor Ort und damit eine ethnographische Perspektive, die teils in Vergessenheit geratene Soziologen wie Frédéric Le Play als eine geeignete Me-thode verstanden, um in Abgrenzung zur sozialwissenschaftlichen Tatsachenem-pirie soziale Gesetzmäßigkeiten zu analysieren. An diese Befunde knüpft Justin Stagl an, der die frühneuzeitliche ‚Protostatistik‘ und deren krisenbedingten Über-gang zu den ‚Ethnosdisziplinen‘ Völker- und Volkskunde beschreibt. ‚Protostatis-tik‘ bezeichnet hierbei jene frühneuzeitliche Staatenkunde, die Wissen mittels der eigenen Erfahrung unter Einbezug quantifizierbarer Daten generierte. Die sprach-liche Beschreibung überwog jedoch stets und stieß der Fülle wegen an Grenzen, die die zahlenbasierte Statistik scheinbar überwand. Thematisch und methodisch vermochte es auch die Ethnographie, sich im Rahmen von amtlichen Landesbe-schreibungen des 19. Jahrhunderts zu behaupten, wie Lioba Keller-Drescher am Beispiel Württembergs zeigt.

Martin Knoll betont, dass auch bei dem kurbayerischen Verwaltungsangestell-ten Joseph Hazzi um 1800, neben dem Studium von Akten, die lokale Autopsie dazu diente, (statistisches) Wissen zu generieren. Statistik wurde aber auch und gerade außerhalb von Staat und Universität populär, wie Mária Hidvégi und Borbála Zsuzsanna Török ausführen. Ihr gemeinsamer Beitrag befasst sich mit primär akademischen Lehrbüchern, die einen Wandel des Verständnisses von Sta-tistik dokumentieren: „von der schnellstmöglichen Bereitstellung staatsrelevanter Daten (Schwartner) bis hin zur Verzweigung der Statistik in Richtung eines sei-nen Platz suchenden akademischen Faches zwischen Politik-, Wirtschafts- und Geschichtswissenschaften (Michnay) einerseits und der modernen Statistik und den Datenerhebungen der Statistikämter (Fényes) andererseits“ (119). Dieser Wandel vollzog sich ungeachtet von „Wissenslücken, Ungenauigkeiten und Feh-lern“ (119).

Statistiken ermöglichten aber nicht nur den Austausch, etwa zwischen Wien und Ungarn, sondern sie markierten auch gesellschaftspolitische Grenzen. Denn Statistiken waren, wie Patrick Eiden-Offen zeigt, im Vormärz sowohl ein Instru-

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ment der Revolutionsverhinderung als auch der Revolutionsförderung. Gefordert wurde mitunter eine ‚oppositionelle Statistik‘, um den Ungenauigkeiten und Ein-seitigkeiten der ‚offiziellen Statistiken‘ zu begegnen.

Neben dem statistisch erhobenen ‚Falschwissen‘ gab es auch ein mit Zahlen nicht zu erfassendes Wissen. Über dieses Nichtwissen reflektierten Texte der Spätaufklärung, der Romantik und des Realismus, wie Gunhild Berg deutlich macht. Universitäts- und Verwaltungsstatistik wurden so „narrativ flankiert und kritisch reflektiert“ (139). In Reaktion auf die mit Zahlen arbeitende Bürokratie stieg gerade mit der Romantik, wie Marcus Twellmann darlegt, die literarische Beschreibungskunst auf. Die verbale Deskription vermochte es nämlich, sich vom „zweckbezogenen, hoch selektiven und gleichförmigen“ (145) Wissen, welches die großräumigen Verwaltungseinheiten im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts hervorbrachten, abzugrenzen. Das „absichtsvolle Nichtwissen der Statistik“ hat so die „romantische Hinwendung zu […] vernachlässigten, mitunter bewusst igno-rierten Gegebenheiten provoziert“ (145).

Sätze wie dieser verdeutlichen, dass es dem Sammelband keineswegs an gro-ßen Deutungen mangelt. Wer sich also für das numerische, aber auch nichtnume-rische Wissen in der Sattelzeit interessiert, findet ein reichhaltiges, Disziplinen übergreifendes Deutungsangebot sowie viele empirische Fallstudien, die hier eine geeignete Klammer finden. Alexander Denzler Eichstätt

2. Mittelalter

ANNEKATHRIN MIEGEL: Kooperation, Vernetzung, Erneuerung. Das benediktini-sche Verbrüderungs- und Memorialwesen vom 12. bis 15. Jahrhundert (= Schrif-ten zur südwestdeutschen Landeskunde 74), Ostfildern: Thorbecke 2014, 272 S., (ISBN 978-3-7995-5274-5), 39,00 EUR. In ihrer Tübinger Dissertation untersucht Annekathrin Miegel Wandel und Kon-stanz im Verbrüderungswesen süddeutscher Klöster zwischen der Zeit der Hirsau-er Reform im 12. Jahrhundert und dem Ende des 15. Jahrhunderts. Die mittelalter-lichen fraternitates hatten eine Urform in den frühmittelalterlichen Gebetsverbrü-derungen, also in einer Zeit, in der sich die Ungewissheit über das Heil der Ver-storbenen verbreitet hatte und der Gebetsbund mit einer klösterlichen Gemeinschaft als der beste Garant erschien, dass fehlende Bußwerke stellvertre-tend ins Jenseits nachgeliefert würden (vgl. die angelsächsische Mission, den Ge-betsbund von Attigny und die im 8. Jahrhundert einsetzende Überlieferung von Verbrüderungsbüchern). Angestrebt wird eine synthetische Zusammenschau, die sich explizit auch auf das bislang noch wenig untersuchte Spätmittelalter er-streckt; eine Forschungsmeinung, nach der die Gebetsverbrüderungen im späten Mittelalter nur noch wenig Bedeutung besaßen, soll so korrigiert werden. Unter-