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1 Schuldfrage mein persönliches LEID-Bild »Das, was ein Mensch in seinem Leben erreicht, wird ihm zugute gehalten und für das, was ihm versagt bleibt, muss er die Verantwortung übernehmen. Scheitern wird zum individuellen Konikt.« Stefan Zahlmann Ende 2011 stand ich da. Kein Unternehmen mehr, keine Mitar- beiter, keine Kunden, keine Zukunft, nichts. Was war passiert? Irgendwie konnte ich es noch nicht wirklich fassen. Vor vier Jahren noch erfolgreich, heute ohne Unternehmen? Wir haben doch eigentlich alles richtig gemacht: tolle Mitarbeiter, gute Kunden, eine kostengünstige Produktion und das Vertrauen der Banken. Die Voraussetzungen waren gut gewesen und dennoch hat es nicht geklappt. 1.1 Erklärungsnot Was war passiert? Und warum ausgerechnet mir? Unzählige Stunden habe ich mit diesen Fragen verbracht, um zu verstehen, was gerade passiert war. Die objektiven Fakten waren klar: Umsatzeinbruch, Gewinneinbruch, angespannte Liquiditätslage, Entlassungen, Kurzarbeit, intensives Liquiditätsmanagement, positiver Turnaround, kein zusätzlicher Liquiditätsbedarf, Kre- ditkündigung. Und danach eine erfolglose Vergleichsverhandlung mit der entscheidenden Bank, Insolvenz, Verkauf, Ende. Soweit so gut. Aber was ist wirklich passiert? Worin lag der Sinn dieser Erfahrung? Ich wollte verstehen, warum so etwas pas- siert war, wie es dazu kommen konnte und welchen Zweck es hatte. 27

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1 Schuldfrage – mein persönlichesLEID-Bild

»Das, was ein Mensch in seinem Leben erreicht, wird ihm zugutegehalten – und für das, was ihm versagt bleibt, muss er dieVerantwortung übernehmen. Scheitern wird zum individuellenKonflikt.«

Stefan Zahlmann

Ende 2011 stand ich da. Kein Unternehmen mehr, keine Mitar-beiter, keine Kunden, keine Zukunft, nichts. Was war passiert?Irgendwie konnte ich es noch nicht wirklich fassen. Vor vierJahren noch erfolgreich, heute ohne Unternehmen? Wir habendoch eigentlich alles richtig gemacht: tolle Mitarbeiter, guteKunden, eine kostengünstige Produktion und das Vertrauen derBanken. Die Voraussetzungen waren gut gewesen und dennochhat es nicht geklappt.

1.1 Erklärungsnot

Was war passiert? Und warum ausgerechnet mir? UnzähligeStunden habe ich mit diesen Fragen verbracht, um zu verstehen,was gerade passiert war. Die objektiven Fakten waren klar:Umsatzeinbruch, Gewinneinbruch, angespannte Liquiditätslage,Entlassungen, Kurzarbeit, intensives Liquiditätsmanagement,positiver Turnaround, kein zusätzlicher Liquiditätsbedarf, Kre-ditkündigung. Und danach eine erfolglose Vergleichsverhandlungmit der entscheidenden Bank, Insolvenz, Verkauf, Ende.

Soweit so gut. Aber was ist wirklich passiert? Worin lag der Sinndieser Erfahrung? Ich wollte verstehen, warum so etwas pas-siert war, wie es dazu kommen konnte und welchen Zweck eshatte.

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Und so kreisten meine Gedanken um die Frage, was tatsächlichgeschehen war und was ich falsch gemacht habe? Wie konnte esüberhaupt zu dieser Gesamtlage kommen? Inmitten höchsteremotionaler Anforderungen und Belastungen waren dies sehrschwierige Fragen. Ein klares Denken war oft nicht möglich undso nahmen meine Gedanken auf der Suche nach Antworten,Gründen und Schuld ihren unkontrollierten Lauf.

Als uns der Umsatzeinbruch im Januar 2009 traf, war die Fi-nanzkrise schon seit gut 1,5 Jahren akut, nur dass die Auswir-kungen auf unsere Branche bis dahin noch nicht so richtig zuspüren waren. Glaubte ich damals. Ein kritischer Blick hätte mirbereits 2008 gezeigt, dass einige Frühindikatoren zumindest aufmögliche Risiken hingewiesen hatten und eine Vorbereitung aufeine mögliche Krise angesagt gewesen wäre. Stattdessen waren wirmit internen Qualitätsthemen beschäftigt, die uns Mehrarbeitund damit die Illusion der Vollbeschäftigung gegeben hatten. Wiekonnte ich das übersehen? Wie konnte ich im Taumel des Re-kordjahres 2007 und der Euphorie des Strategieprozesses im Jahr2008 die Warnsignale übersehen und überhören? Den Umsatz-rückgang von 3 Prozent im Jahr 2008 erklärten wir uns als Kor-rektur auf den starken Umsatzanstieg im Jahr 2007 und fandennatürlich auch gute Gründe, warum diese Korrektur jetzt ganznormal sei. In der Aufbruchstimmung einer neuen Strategie undinteressanter Kooperations- und Kaufgespräche mit Marktbe-gleitern wollte ich die Krisenanzeichen nicht erkennen und habeKritiker als Pessimisten abgetan.

Der Erfolg 2007 hat uns auch dazu verleitet, »alte« Probleme zuvernachlässigen, wie zum Beispiel zu hohe Lagerbestände, man-gelnde Erfolge auf bestimmten Zielmärkten, eine teure Abhän-gigkeit von Agenten und Handelsvertretern, die wir uns trotzeiner zahlenmäßig ausreichenden eigenen Verkäuferzahl »leiste-ten«. Wir hatten ja Erfolg. Warum sollten wir etwas ändern? Einguter Freund kam als Geschäftsführer zurück und ich war froh,dass ich eine Entlastung für den Vertrieb gefunden hatte.

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Allerdings beließ ich wesentliche Entscheidungen und damit dieVerantwortung weiterhin bei mir.

Die Konzentration der Aufgaben auf der obersten Führungsebenewar für die Größe des Unternehmens zu hoch und schon langenicht mehr angemessen. Dem Ausscheiden meines Vaters Ende2003 und der Entlassung unseres langjährigen Controllers im Jahr2006 folgte keine angemessene Neuausrichtung der Führung.Versuche, die Führungsebene über mich hinaus zu erweitern,scheiterten. Vielleicht wurden sie auch nie ernsthaft betrieben.

Das Thema Liquidität beschäftigte uns schon seit Jahren. Demstarken Umsatzwachstum seit 1999 war keine wesentliche Aus-weitung der liquiden Mittel gefolgt. Hinzu kamen die Akquisi-tionen und Investitionen in der Ukraine und Tschechien sowie einsteigender Rohstoffbedarf, der in unserer Branche oft mit Vor-auskasse zu bezahlen war. Die Maßnahmen zum Abbau vonLagerbeständen, zur Erhöhung des Umschlags und zur Verkür-zung unserer Zahlungsziele gegenüber Kunden zeigten etwas,aber keine durchschlagende Wirkung.

Und trotzdem entwickelten wir uns weiter, konnten unsere Um-sätze steigern, haben in der Ukraine eine Produktionmit über 200Mitarbeitern erfolgreich in Betrieb genommen und unser Sorti-ment um Halbfertigprodukte aus der Produktion in Tschechienergänzt. Wir hatten 70 Prozent Exportquote, Kunden in 43Ländern der Welt, haben mit unseren Furnieren wichtige inter-nationale Prestigeprojekte wie den Innenausbau des Bundes-kanzleramts, des Außen- und Justizministerium oder des Ritz-Carltons in Berlin beliefert. Wir waren, so unsere damaligeÜberzeugung, erfolgreich. Unser Ende der 90er Jahre gebautes,hochmodernes Hochregallager war unser Aushängeschild als in-novatives und zukunftsgerichtetes Unternehmen in einer ehertraditionellen Branche.

2006 und 2007 rannten uns die Banken buchstäblich die Budeein. Jeder wollte sein Geld loswerden. Die Aufnahme eines

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Schuldscheindarlehens, mit dem ich eine langfristige Finanzierungder Unternehmensgruppe sicherstellen wollte, ist zwar innerhalbder Familie heftig diskutiert worden, bot allerdings auch eine Reihevon Vorteilen, die uns damals sehr geholfen haben. Noch heute binich erstaunt darüber, wie relativ leicht es damals war, dieses Dar-lehen zu erhalten. Es war in dieser Zeit sehr einfach neue Kredite zubekommen. Jede Bank war an dem interessanten Auslandsgeschäftund an den damit verbundenen Provisionseinnahmen interessiert.Versuchungen, denen ich, trotz Warnungen, nicht widerstand. Esgab ja auch gute und nachvollziehbare Gründe. Mit Hilfe desSchuldscheindarlehens haben wir unsere bis dahin kurz- undmittelfristig finanzierten Investitionen auf langfristige Beine gestelltund unsere Passivseite in der Bilanz konsolidiert. Außerdem hattenwir einen weiteren wichtigen Finanzierungspartner an Bord. Diezusätzlichen Mittel sollten auch unser weiteres Wachstum ermög-lichen. Eine von vielen Entscheidungen.

Hinter jedem Ereignis stehen Entscheidungen. Ich begab mich aufdie verzweifelte Suche nach den Ursachen und den vermeintlichenFehlern, nach einem Sinn und nach einer Antwort auf die Frage,warum ich so und nicht anders entschieden habe, warum ichProbleme und Themen nicht zielstrebig verfolgt und zu Ende ge-bracht habe, warum ich nicht konsequent aufmeine Interessen unddie meines Unternehmens, meiner Mitarbeiter und Geschäfts-partner geachtet habe. Kurz: Warum ich Fehler gemacht habe?

Die Suche nach dieser Antwort dauerte lange. Warum habe ichnicht dieses, wieso habe ich nicht jenes getan…? Ich stellte für michfest, dass es nicht die klaren und bewussten Entscheidungen waren,die später zu einem Problem wurden. Oft waren es diejenigenEntscheidungen, die halbherzig, mit Kompromissen und Ausredengetroffen, oder mit einem »Das wird schon wieder« nicht getroffenwurden, die sich als die problematischen herausstellen sollten.

Ich wusste genau, welche dies waren und, wenn ich ehrlich bin,wusste ich auch genau, warum ich diese Entscheidungen nur

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halbherzig getroffen habe: Weil ich einen Teil der Wahrheit, derFakten oder der Konsequenzen nicht wahrhaben wollte. Weil ichmich mit etwas hätte konfrontieren müssen, das mich selbst, meinSelbstbild oder mein Bild meines Unternehmens in Frage hättestellen müssen, was unbequeme Veränderungen im Unternehmenund bei mir selbst gefordert hätte. Es sind die Entscheidungen, mitdenen ich Konflikte hätte eingehen sollen, mit meiner Familie,meinen Mitarbeitern oder Geschäftspartnern; mit denen ich ei-gene Fehler hätte zugeben müssen oder ein persönliches Lieb-lingsprojekt hätte loslassen sollen.

Wir alle haben unsere eigenen Bilder von unserem Leben, un-seren Aufgaben, Projekten oder Unternehmen.Wir streben nacheiner für uns stimmigen Vergangenheit und Zukunft, die mög-lichst unser Bild von uns, unsere Wünsche und Ziele in gutemLicht wiedererkennen lassen. Unser Gehirn strebt danach, einkohärentes Bild von uns selbst zu erzeugen, so dass unser Bild imRückblick auf die Vergangenheit ebenso stimmig ist wie im Blickauf die Zukunft. Dabei geht es unserem Gehirn nicht um eineobjektive Wirklichkeit, sondern um eine stimmige Wirklichkeit,die unserem Selbstbild entspricht und für uns einen Sinn ergibt.Dies erklärt zum Beispiel, warum wir manchmal verzerrte Er-innerungen haben, Details vergessen oder uns ein Bild von derVergangenheit zurechtlegen. Und so konstruieren wir uns eineWahrheit mit dem Ziel, dass unser Leben, unsere Entscheidun-gen und unsere Erfahrungen ein stimmiges und widerspruchs-freies Bild ergeben. Aber was passiert, wenn sich diese Wahrheitnicht einstellen möchte, wenn kein Bild entsteht, Fragen unbe-antwortet bleiben, Erklärungen nicht gefunden werden und alleskeinen Sinn ergibt?

1.2 Die anderen sind schuld

Wir kennen das alle. Uns passiert etwas Unangenehmes undzuerst suchen wir die Schuld bei den anderen. Dem Autofahrer,

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der uns angeblich geschnitten hat, als er einfach von rechts aufdie linke Spur gezogen ist, den Kunden, die nur auf den Preisschauen und Qualität nicht mehr schätzen und bezahlen, oderdem Chef, der keine klaren Anweisungen gibt und nicht moti-vieren kann.

Und so erging es mir natürlich auch. Zuerst waren erst einmaldie anderen schuld. Irgendjemand musste ja dafür verantwort-lich sein, dass ich mein Unternehmen verloren hatte.

Die Banken, weil sie bereit waren mehr als 95 Prozent ihrerForderungen trotz eines positiven Restrukturierungsgutachtensabzuschreiben, die mir zwei Jahre zuvor noch die Bude einge-rannt haben und uns jetzt dafür verantwortlich machten, dasswir unter eine Krise litten, die sie selbst mit zu verantwortenhatten. Die, anstatt uns zu unterstützen und den Rücken frei-zuhalten, damit wir einfach gut und in Ruhe arbeiten und aus derKrise kommen können, Stress mit wertlosen und irrelevantenForderungen nach privaten Bürgschaften und zusätzlichen Si-cherheiten verursacht haben.

Die Finanzindustrie, die es mit ihrer Gier überhaupt erst zurSubprime-Krise und der Weltfinanzkrise hat kommen lassen.

Berater, die zwar gut mit Zahlen, Daten und Fakten umgehenkönnen, aber den Faktor Mensch nicht sehen und damit nurhalbseitig beraten können.

Die Politik, die zwar großen Unternehmen hilft, die kleinen aberim Stich lässt.

Der ukrainische Staat, der uns über 200 000 Euro Mehrwert-steuer Rückerstattung schuldete.

Berater, zu denen ich von den Banken genötigt wurde und dieviel Geld für ein Sanierungsgutachten verlangt haben, das ichihnen mehr oder weniger selbst diktiert habe, da sie keine Ah-nung hatten.

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Die Liste war unendlich: Jeder, der mir irgendwie in den Sinnkam, wurde irgendwann mit irgendeiner Schuld belegt. Bis esniemanden mehr gab und keine noch so absurde Schuldzuwei-sung zu irgendetwas geführt hätte. Und am Ende … blieb nurnoch ich selbst: Wenn sonst keiner Schuld haben konnte, dannmusste ich zwangsläufig schuld sein.

Aber was ist das überhaupt – Schuld? Woher kommt diesesGefühl und wozu dient es uns?

Auf Wikipedia wird Schuld als ein normalerweise negativwahrgenommenes Gefühl, eine soziale Emotion in Reaktion aufein bewusstes oder unbewusstes Fehlverhalten, eine Pflichtver-letzung oder Überschreitung sozialer Normen beschrieben.

Negative Emotionen weisen uns darauf hin, unsere Einstellung,unsere Haltung oder unser Verhalten in Bezug auf eine Person,Sache oder Situation zu ändern. Sie sind eine Bewertung äu-ßerer oder innerer Wahrnehmungen, die uns nicht guttun undunserem Wohlbefinden schaden. Sie lenken unsere Aufmerk-samkeit auf Umstände oder Handlungen, die geändert werdensollen, um eine negative Situation zu beenden oder abzuwen-den. Im Fall von Schuld führt die negative Komponente dazu,dass wir kurz innehalten und unser Verhalten besser an denjeweiligen Kontext anpassen, um soziale Beziehungen zu er-halten oder zu festigen. Schuldgefühle sollen verhindern, dasswir aus überlebenswichtigen sozialen Gemeinschaften ausge-schlossen werden.

Durch ein Schuldeingeständnis, die Rückzahlung unserer»Schulden« oder eine ehrlich gemeinte Entschuldigung stellenwir wieder ein harmonisches Verhältnis her und entlasten diezuvor belastete Beziehung. Wie ist das aber, wenn wir uns ge-genüber uns selbst schuldig gemacht haben?Wie können wirmituns selbst wieder eine innere Harmonie herstellen und unserVerhältnis zu uns selbst entlasten?

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Schuldgefühle sind sehr persönlich. Während sich Scham, dieAngst vor der Verurteilung durch andere und einen möglichenGesichtsverlust vor anderen nach außen richtet, beziehen sichSchuldgefühle nach innen, auf unsere moralischen und ethi-schen Maßstäbe und den möglichen Gesichtsverlust vor unsselbst. Diese Maßstäbe richtigen und moralischen Handelnsentscheiden darüber, ob wir glauben, richtig oder falsch zuhandeln. Schuldgefühle entstehen, wenn wir auf Basis dieserMaßstäbe zum Schluss kommen, schlecht oder falsch gehandeltzu haben. Sie beziehen sich auf Handlungen oder Ereignisse, vondenen andere Menschen betroffen sind. Welche Maßstäbe zurBewertung herangezogen werden, hängt von unseren familiärenund gesellschaftlichen Prägungen, unseren Erfahrungen undunserem aktuellen Umfeld, unserer sozialen Umgebung ab.Schuldgefühle basieren auf kulturell, religiös und gesellschaftlichgelerntenWerten und beziehen sich auf soziale Handlungen undkönnen drei Ursprünge haben:

1. eine materielle Schuld gegenüber anderen,2. eine normative, moralische Pflichtverletzung,3. eine Selbstverfehlung, das heißt eine Verletzung der eigenen

Ideale.

Aber was hätte ich jetzt mit meinem Schuldgefühl tun sollen? Ab-haken und weitermachen? Das wäre wahrscheinlich der einfachsteWeg gewesen. Aber musste ich nicht irgendwo einen großen Fehlergemacht haben, für den ich Verantwortung übernehmen hättemüssen, für den ich schuldig war? Wie sonst hatte ich mein Un-ternehmen und mich in diese Konstellation bringen können?

Meine materielle Schuld gegenüber anderen spielte keine Rollemehr. Die Banken hatten sich selbst in diese Position gebracht, sodass ich ihnen gegenüber kein Schuldempfinden hatte. Außerdemdienen die Zinsmargen ja auch als Risikoaufschläge, so dass wirüber viele Jahre das Risiko fürstlich bezahlt hatten. Die beteiligtenBanken hätten diese Insolvenz sehr leicht verhindern können,

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wollten dies aber ganz offensichtlich nicht. Hatten wir nicht auchimmer wieder klar kommuniziert, dass es unser Anspruch war,dass niemand in dieser Situation Geld verlieren sollte? Wir woll-ten uns nicht auf Kosten von irgendeiner Gruppe sanieren. Wirwaren überzeugt, dass wir das mit unseren Stärken und der stra-tegischen Positionierung und einem starken Team schon schaffenwürden. Dass wir die Chance dazu nicht bekamen, war eindeutigvon den Banken mit zu verantworten.

Habe ich mit der Insolvenz eine gesellschaftliche oder sozialeNorm verletzt? Bis zuletzt hatten wir unsere Sozialversicherungs-und Krankenversicherungsbeiträge immer pünktlich überwiesen.Auch rechtlich haben wir sehr genau darauf geachtet, dass wirGesetze und Vorschriften einhalten.Wenn es eine Gruppe gab, dergegenüber ich ein Schuldgefühl hatte, dann gegenüber meinendamaligen Mitarbeitern. Über zweieinhalb Jahre haben sie sichgemeinsam mit mir für das Unternehmen und die Bewältigungder Krise engagiert. Ich war stolz und dankbar für dieses Team.Dass esmir nicht gelungen ist, diese Gemeinschaft zu erhalten unddas Vertrauen in einer sehr schwierigen Lage zu bestätigen, dasmir in dieser Zeit geschenkt wurde, bedauere ich sehr.

Bleibt die Verfehlung meines eigenen Anspruchs. Natürlich habeich mit der Insolvenz meine eigenen Ansprüche und Ideale ver-letzt. Nicht aus bösem Willen oder bewusster Absicht, aber imErgebnis. Ich war doch der erfolgreiche Unternehmer mit dengroßen Erfolgen, zufriedenen Kunden, loyalen Mitarbeitern undüberall angesehen. Ich war auf der Unternehmerseite der FAZund Senator des Bundesverbands mittelständischer Wirtschaft.Und ich hatte den Anspruch, erfolgreich zu sein, meinen Mitar-beitern eine Perspektive und Entwicklungsmöglichkeit zu bieten.Aber ich habe es nicht geschafft. Ich wurde meinen eigenen An-sprüchen nicht gerecht.

Mein Selbstbewusstsein und mein Selbstbild des erfolgreichenUnternehmers waren dahin. Ich konnte das Gefühl, in einer

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entscheidenden Phasemeines Lebens zwar alles gegeben zu haben,aber trotzdem nicht alles erreicht zu haben, das Gefühl, dochhinter meinenMöglichkeiten und Fähigkeiten zurückgeblieben zusein, nicht loswerden. »Wir werden schuldig ›wegen des unge-nutzten Lebens, des ungelebten Lebens in uns. Die unerhörteDiskrepanz zwischen den gegebenen und den verwirklichtenMöglichkeiten erleben viele – bewusst oder unbewusst – als Ver-sagen, als Selbstenttäuschung, als Schuld.« (Jürgen Ziemer:Schuld und Schuldgefühle – psychologische Sichtweisen)

Dieses Gefühl, an entscheidender Stelle nicht richtig gehandelt zuhaben, eine Sachlage falsch eingeschätzt zu haben, Möglichkeitenverpasst zu haben, Maßnahmen, die in der Retroperspektive soklar scheinen, nicht ergriffen zu haben, hat mich lange sehr be-lastet.

1.3 Warum habe ich …?

Auf der Suche nach einem Sinn und nach einer Antwort auf dieSchuldfrage stellten sich mir bald Fragen nach dem »Warum«:Warum habe ich dieses und jenes getan und andere Dinge nicht?Warum habe ich so entschieden, und warum an anderer StelleEntscheidungen verschoben? Warum habe ich auf diesen undjenen gehört und andere gar nicht zu Wort kommen lassen?Schritt für Schritt ging ich meine Lebensgeschichte zurück, aufder Suche nach dem entscheidenden Moment, der mir eineAntwort hätte geben können. Warum …?

l Warum haben wir kein Insolvenzplanverfahren eröffnet oderEigenverwaltung beantragt?

l Warum habe ich mehr auf Entwicklung denn auf Konsolidie-rung gesetzt und bin dabei erhebliche Risiken eingegangen?

l Warum habe ich nicht schon 2005 alles auf die osteuropäi-schen Standorte gesetzt? Wofür haben wir Deutschland ge-braucht?

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l Warum haben wir im Nachfolgeprozess vergessen, welchesTeam das Unternehmen leiten soll?

l Warum habe ich mich auf das Schuldscheindarlehen einge-lassen?

l Warum habe ich so sehr auf das Team geschaut undmöglichstwenig verändert, anstatt Veränderungen und Verantwortun-gen einzufordern? Warum habe ich überhöhte Lagerbeständetoleriert?

Warum habe ich …? Wie oft habe ich mir diese Frage gestellt?Und noch besser: »Warum habe ich nicht?« Es sind oft nicht dieDinge, die wir getan haben, die wir bereuen, sondern die Dinge,die wir nicht getan haben, wider besseren Wissens, wider gutenRats, wider menschlicher Vernunft – aus Angst, Bequemlichkeitoder Zeitmangel! Wie konnte ausgerechnet mir das passieren?

Über Jahre habe ich mich mit dieser Frage gequält. MeinSelbstbild und mein Selbstwert waren angekratzt, vielmehrzerstört. Ich konnte und wollte nicht wahrhaben, dass ganz amEnde nur einer die Schuld trägt: ICH. Die Schuld, Risiken ein-gegangen zu sein, zu große Augen gehabt zu haben, eine zugroße Vision gehabt zu haben, den Blick nur auf den Umsatzund das Wachstum gerichtet zu haben.

Vielleicht war es Hochmut vor dem Fall? Vielleicht aber auchnicht. Hatten wir nicht in den letzten Jahren viel Geld, Zeit undpersönliche Energie in die Entwicklung des Unternehmens in-vestiert?

Der Markteinbruch 2009 war das eine, eine nicht nachvoll-ziehbare Entscheidung einer Bank das andere. Bis ins Frühjahr2011 war ich davon überzeugt, dass wir es schaffen werden, dasssich eine Art Vernunft durchsetzen würde. Eine Bank, bzw. sechsBanken, konnten nicht wirklich wollen, einen Großteil ihrerKredite an uns durch eine Insolvenz abschreiben zu müssen. Siewollten es doch.

1.3 Warum habe ich …? 37

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Wir waren ernsthaft und – im Nachhinein vielleicht naiv – in dieVerhandlungen mit den Banken gegangen. Unser Ziel war es,dass niemand in dieser Krise Geld verlieren sollte. Wir nicht,aber auch die Banken und andere Gläubiger nicht. Dass dieseAbsicht keine Rolle spielte, war eine große Enttäuschung. Dasswir Optionen wie Eigenverwaltung oder Insolvenzplanverfahrennicht ernsthaft verfolgt haben, war eine Enttäuschung. Dass ichdieses Spiel verloren habe, war eine Enttäuschung. Und dass wirunser strategisches Ziel 2015 nicht mehr umsetzen und errei-chen konnten, dass wir nicht alle Kredite zurückzahlen konnten,dass wir es trotz aller intensiven Bemühungen, Anstrengungenund Entbehrungen nicht geschafft haben, dass es am Endescheinbar umsonst war. Alles war eine Enttäuschung. Auch ichwar damals von mir selbst enttäuscht.

Ich war Unternehmer. Seit unserem Umzug nach Rastatt als ich12 Jahre alt war, wurde ich als Unternehmersohn wahrgenommenund mich irgendwann auch so gefühlt. Dieses Bild habe ich zukeiner Zeit in Frage gestellt und somit war – auch im Rückblick –klar, dass ich gar nichts anderes als Unternehmer hätte werdenkönnen. All mein Handeln und Denken hat sich – oft unbewusst –an diesem Ziel orientiert. Und dann die Insolvenz. Mein Selbst-wert undmein Vertrauen in mich und dieWelt waren erschüttert.

Wie kann das ausgerechnet mir passieren? Warum brachen dieUmsätze um 50 Prozent ein und ich war nicht vorgewarnt? Wiekonnte es sein, dass ich wichtige Indikatoren übersehen habe, dassich Risiken nicht auf dem Schirm hatte und gänzlich unvorbe-reitet war? Die berühmten drei Affen ließen grüßen: Augen zu,Mund zu, Ohren zu.

Ich musste schuld daran sein, dass mein Unternehmen Insolvenzanmelden musste. Ich musste schuld daran sein, dass meineMitarbeiter neue Jobs suchen mussten und meine Kunden neueLieferanten. Und ich musste schuld daran sein, dass ich 2012dastand, ohne jegliche Idee, was ich mit dem Rest meines Lebens

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machen wollte. Ich spürte die vermeintlichen Blicke und Gedan-ken anderer Menschen, bevorzugt diejenigen, die ich nicht gutkenne: »Pleite – schau mal an.«

Und so wiederholt sich das Mantra des Selbst-Bashings und derSelbst-Schuld-Zuweisung: Ich war schuld, ich hätte besser seinmüssen, ich hätte irgendetwas anders machen können undmüssen. Immer wieder die gleichen Vorwürfe, die gleichen Ar-gumente, die gleichen Urteile (über mich selbst). Hätte, hätte,Fahrradkette.

Jeder Mensch hat, bewusst oder unbewusst, eine Vorstellung vonsich selbst, von seinen Zielen, von seinem Leben und seinem Le-bensstil. Doch wenn Projekte scheitern oder Unternehmen Insol-venz anmelden müssen, lösen sich Pläne, Ziele und Träumeplötzlich in Schall und Rauch auf. Als Unternehmer und als Ge-schäftsführer hätte ich auch mit einer ernsten Markt- undWirtschaftskrise umgehen können müssen. Auch wenn ich dasvorher nie gelernt habe. Ich hätte es schaffen müssen, das Un-ternehmen und die mit ihm verbunden Menschen vor dieser Er-fahrung bewahren zu können. Ist das nicht ein Teil des Jobs, derVerantwortung?

Enttäuschung – der Begriff drückt es aus – ist eine Befreiung voneiner Täuschung. Eine Täuschung wird aufgedeckt und wir kön-nen den Tatsachen ins Auge sehen. Vielleicht waren die Vorhabenund Ziele zu groß, vielleicht waren sie zu ambitioniert, vielleichthaben wir vor lauter Begeisterung und guter Stimmung wichtigeSignale übersehen, vielleicht war ich einfach nicht gut genug?

Was hatten wir falsch gemacht? Was hatte ich falsch gemacht?

1.4 Wendepunkt verpasst – von der Krise zum Scheitern

Am Anfang einer Krise steht immer ein Fehler, eine oder meh-rere falsche oder nicht getroffene Entscheidungen, deren

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Konsequenzen uns oft noch nicht einmal bewusst sein müssen.Meistens werden diese anfangs unterschätzt und stellen sich erstspäter als Fehler heraus. Entscheidungen treffen zu können setztallerdings voraus, dass wir eine Konstellation als solche richtigerfasst haben. Die eigentliche Entscheidung ist oft nur die logi-sche Folge einer zuvor verzerrten Wahrnehmung, einer falschenEinschätzung der Lage oder fehlender Erfahrung. Der Fehlerpassiert also vor der Entscheidung, vor dem Wendepunkt.

Zu scheitern bedeutet, dass ein bestimmtes Ziel oder Vorhabenendgültig nicht mehr erreicht werden kann. Oft gibt es Vorbo-ten, Hinweise, Schwierigkeiten, die darauf hinweisen, dass etwasnicht in Ordnung ist. Diese zu übersehen hat nicht nur wirt-schaftliche, sondern auch zeitliche, persönliche und emotionaleKonsequenzen. In sich schnell verändernden und dynamischenMärkten kann verlorene Zeit oft überhaupt nicht mehr oder nurmit einem sehr hohen Investitionsaufwand aufgeholt werden.

Insolvenzen haben zwei mögliche formale Ursachen: Zahlungs-unfähigkeit oder Überschuldung. Zahlungsunfähigkeit bedeutet,dass das Unternehmen nicht mehr über genügend finanzielleMittel verfügt, um seine Verbindlichkeiten fristgerecht zu be-zahlen. Bei einer Überschuldung ist das Eigenkapital des Unter-nehmens vollständig aufgebraucht und es wird nur noch durchKreditgeber finanziert.

Auf den Begriff des Scheiterns übertragen, bedeutet dies, dasskeine ausreichenden Ressourcen mehr in Form von Zeit, Geldusw. zur Verfügung stehen oder kein Vertrauen mehr in dasProjekt besteht. Ein Projekt scheitert, wenn die Verantwortli-chen kein Budget mehr bekommen, anderen Aufgaben mithöheren Prioritäten nachgehen müssen oder das Projekt ein-gestellt werden muss. Ohne Ressourcen und ohne Vertrauenlässt sich auch die beste Idee nicht umsetzen. Aber wie kommt esüberhaupt zu Zahlungsunfähigkeit, Überschuldung, Ressour-cenmangel und Vertrauensverlust?

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Abb. 1: Phasenmodell der Unternehmenskrisen und Stressentwicklung

Die Entwicklung kann gut anhand eines Phasenmodells (Abbil-dung 1) für die Entstehung und Entwicklung von Unterneh-menskrisen beschrieben werden. Dabei werden den Eskalations-stufen einer Krise die Handlungsspielräume des Managementsgegenübergestellt. Die Handlungsspielräume ergeben sich aus denEntscheidungsmöglichkeiten der Geschäftsführung und den fi-nanziellen Liquiditätsspielräumen. Mit zunehmender Eskalationnimmt die Handlungsfähigkeit ab. Die Handlungsfähigkeit be-schreibt dabei die Möglichkeiten des Managements, Entschei-dungen selbstständig zu treffen und auch die finanziellen Res-sourcen für deren Umsetzung verfügbar zu haben. Je weiter eineKrise eskaliert, desto knapper werden in der Regel die finanziellenMöglichkeiten und damit auch die Handlungsmöglichkeiten desManagements.

Je früher ein Fehler erkannt und gegengesteuert wird, destoleichter lässt er sich beheben. Je länger wir damit warten, einenFehler, ein Problem mitzuteilen, desto mehr Zeit, Geld und

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persönliche Energie werden investiert, um diesen Fehler zuverdecken, und desto größer ist in der Regel der entstehendeSchaden. Auf Unternehmen übertragen bedeutet dies, je frühererkennbaren Problemen gegengesteuert wird, desto leichter,schneller und günstiger lassen sich diese lösen.

Das Modell unterscheidet 5 Entwicklungsstufen. Es beginnt mitzunächst mit einer strategischen Krise, aus der sich dann eineMarkt-, Rentabilitäts- und Ertragskrise entwickeln kann. In derKonsequenz können sich diese bis zu einer Liquiditätskrise undInsolvenz entwickeln.

Eine strategische Krise ist von typischerweise guten Geschäfts-verläufen, guten Umsätzen und Gewinnen gekennzeichnet. Aufden ersten Blick sieht ein solches Unternehmen auch recht gutaus. Die Zahlen stimmen und alle Beteiligten sind zufrieden undfühlen sich in einer komfortablen Lage. Das operative Geschäftläuft gut. Entscheidungen werden häufig nach kurzfristigen undoperativen Gesichtspunkten oder nur nach den finanziellenMöglichkeiten getroffen. Der Unternehmer oder die Geschäfts-führung hat in vielen Fällen keine oder zumindest keine for-mulierte Vision und Strategie für ihr Unternehmen. Es gibtkeinen roten Faden, der als Richtlinie und Orientierung fürmittel- und langfristige Entscheidungen dient. Dem Unterneh-mer bzw. der Geschäftsführung fehlt aufgrund einer fehlendenZukunftsvorstellung für das Unternehmen eine klare Richtung,in die es sich entwickeln möchte. Es ist kein Bild über die Zu-kunft seiner Kunden und seiner Märkte vorhanden und es gibtkeine Prognosen über die zukünftigen Bedürfnisse des Marktesund mit welchen Produkten und Dienstleistungen diese befrie-digt werden können. Solche Unternehmen leben von den Er-folgen der Vergangenheit. Es besteht die große Gefahr, dassEntscheidungen ausschließlich auf der Grundlage kurzfristigerGelegenheiten getroffen werden, dasManagement sich verzetteltund Ressourcen nicht zielorientiert investiert werden. Jedes

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Unternehmen hat eine Strategie. Auch keine Strategie haben zuwollen ist eine strategische Entscheidung.

Die Konsequenzen werden meistens erst später, manchmal erstJahre später, erkannt, wenn es aufgrund von Marktverände-rungen oder sich verändernden Kundenanforderungen zu erstenMarktanteilsverlusten und Umsatzrückgängen kommt. In dersogenannten Markt- oder Umsatzkrise leiden die Unternehmenan einer veralteten Produkt-Vertriebs- undMarketingpolitik. ImVergleich zum strategisch orientierten Wettbewerb haben dieseUnternehmen wertvolle Zeit verloren und müssen nun nebendem Kampf um Marktanteile und Umsätze zusätzliche An-strengungen für eine strategischeNeuausrichtung unternehmen.Die Gefahr besteht, dass Unternehmen in dieser Phase nur zuPreisnachlässen und Sonderaktionen neigen, um Marktanteileund Umsätze zu retten, anstatt auch in eine gründliche Strate-gieklausur und gegebenenfalls Neuausrichtung zu investieren.Da die Unternehmen in dieser Phase immer noch über gute undausreichende finanzielle Ressourcen verfügen, ist der Leidens-druck allerdings noch gering.

Preisnachlässe, Verkaufsaktionen und zusätzliche Marketing-aufwendungen gehen zulasten der Gewinnmarge, beziehungs-weise erhöhen die Kosten. Dies führt zu einer sinkenden Ren-tabilität des Unternehmens. In der folgenden Rentabilitätskrisekönnen die gewünschten oder kalkulatorisch notwendigenPreise am Markt nicht mehr realisiert werden und die Produkteund Dienstleistungen müssen über noch höhere Preiszuge-ständnisse verkauft werden. In dieser Entwicklungsphase wer-den Entscheidungen immer öfter aus rein operativen Gesichts-punkten getroffen.

Können jetzt die Kosten nicht schnell genug angepasst werdenbzw. das Produktangebot nicht durch attraktive und profitableProdukte ergänzt werden, so sind sinkende Unternehmensge-winne die zwingende Konsequenz. Es kommt zu ersten

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kurzfristigen Liquiditätsengpässen und nach Vorlage des Jah-resabschlusses zu ersten kritischen Bankengesprächen. Spätes-tens in der Ertragskrise wird deutlich, dass das Unternehmen einProblem hat. Mittlerweile sind allerdings auch die finanziellenRessourcen soweit aufgebraucht, dass die Möglichkeiten fürInvestitionen in neue Produkte bzw. eine strategische Neuaus-richtung begrenzt sind.

Anhaltend niedrige Gewinne oder sogar Verluste führen überkurz oder lang zu einer sinkenden Liquidität, längerfristigenLiquiditätsengpässen, Zahlungsverzögerungen und dem Ver-zicht auf Skontoerträge bei Lieferanten. Das Unternehmen be-findet sich jetzt in einer Liquiditätskrise. Gelingt es jetzt derGeschäftsführung nicht, durch Verkäufe von Anlagen, Beteili-gungen, Forderungen oder Lagerbeständen bzw. durch harteund konsequente Sanierungsmaßnahmen die Kosten zu senkenund zusätzliche Liquidität zu generieren, dann wird eine Insol-venz wahrscheinlich unvermeidlich. Sämtliche Entscheidungendienen an diesem Punkt zur Sicherstellung der überlebensnot-wendigen Liquidität, analog zur Sauerstoffmaske im Flugzeug.An langfristige Maßnahmen ist zu diesem Zeitpunkt eher nichtzu denken, bis das Unternehmen wieder aus den gröbstenSchwierigkeiten hinaus ist und einen positiven Cashflow si-chergestellt hat.

Gelingt dies nicht, so kommt es zwangsläufig zu einer Illiqui-dität, die mit Eintritt der rechtlichen Voraussetzungen dazuführt, dass ein Antrag auf Eröffnung eines vorläufigen Insol-venzverfahrens gestellt werden muss. Mit Berufung eines In-solvenzverwalters ist der Unternehmer oder die Geschäftsfüh-rung faktisch entmachtet und darf keine Entscheidungen mehrselbstständig treffen.

Dieses klassische Modell für die Entwicklung von Unterneh-menskrisen greift ausmeiner Sicht allerdings zu kurz. PotenzielleKrisen entstehen nicht erst durch eine fehlende Strategie oder

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Markt- und Vertriebsprobleme. Ihre Ursachen liegen häufig inder Unternehmens- und Führungskultur oder auf einer syste-mischen Ebene, zum Beispiel in der Unternehmensgeschichte,der Unternehmerfamilie oder den Gesellschaftern. Das Modellmuss daher um zwei weitere Stufen ergänzt werden, die einerstrategischen Krise vorausgehen: die Kultur- oder Führungskriseund eine von mir so genannte systemische Krise. Die Analysevon Unternehmenskrisen kann sich nicht nur auf finanzielleGesichtspunkte beschränken, sondern muss um weiche Fakto-ren, wie Führung, Kultur und systemische Zusammenhänge,ergänzt werden.

Systemische Krisen zeichnen sich dadurch aus, dass sie in vielenFällen nicht direkt und offensichtlich als Ursache für Schwie-rigkeiten des Unternehmens erkannt werden. Dies können zumBeispiel Streitigkeiten innerhalb der Unternehmerfamilie oderdem Gesellschafterkreis sein. Auch ein designierter Nachfolger,der sich eigentlich gerne für einen anderen Beruf entschiedenhätte, unfair entlassene Mitarbeiter, die Beteiligung an Kriegs-verbrechen oder unethischen Geschäften können sich auf einerindirekten, unterschwelligen und energetischen Ebene auf dasUnternehmen, seine Unternehmens- und Führungskultur sowieseine strategischen und operativen Entscheidungen auswirken.Die Art und Weise, wie Mitarbeiter bei betriebsbedingtenKündigungen behandelt werden, kann sich auf die Motivationder verbleibenden Mitarbeiter auswirken, besonders wenn dieseals ungerecht bzw. unfair betrachtet werden. Im Rahmen von so-genannten Organisationsaufstellungen können solche systemi-schen Wirkungszusammenhänge aufgezeigt werden.

Die zweite zu ergänzende Phase ist für mich die Kultur- undFührungskrise. Prof. Edgar Schein, emeritierter Professor derSloan School of Business am MIT bringt dies mit seinem Zitat»Culture eats strategy for breakfast« auf den Punkt. Jedes Un-ternehmen hat eine Kultur. Die Frage ist, ob diese anhand vongewünschten Zielen und Ergebnissen, zum Beispiel aus der

1.4 Wendepunkt verpasst – von der Krise zum Scheitern 45

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Strategie, explizit erarbeitet und kommuniziert wurde und ver-bindlich gelebt wird, oder ob sich diese aus dem betrieblichenAlltag, den Gewohnheiten, dem Verhalten der Führungskräfteergibt. Unternehmenskulturen sind wertvolle Wettbewerbsvor-teile, die über Jahre entwickelt werden müssen und aus diesemGrund nicht schnell kopiert werden können. ZumThemaKulturzählen Themen wie Unternehmenswerte, Führungsgrundsätzeund ganz allgemein die Haltung, mit der ein Unternehmen, seineFührungskräfte und Mitarbeiter nach innen und außen auftre-ten und handeln. Im Zuge der demographischen Entwicklungund des Fachkräftemangels in Deutschland kommt diesemThema eine zunehmend große Bedeutung zu. Bewerber achtennicht mehr nur auf das Gehalt, die Aufgabe und die beruflichenPerspektiven, sondern immer häufiger auch auf die Kultur imUnternehmen, soziale Verantwortung und den gelebten Um-gang miteinander.

Die Möglichkeiten der aktiven Beeinflussung der Handlungsfelderin den verschiedenen Entwicklungsstadien durch die Unterneh-mensführung sind sehr unterschiedlich. Kultur-, Strategie- undMarktkrisen lassen sich durch die Führung noch gut gestalten,wenn sie als solche rechtzeitig erkannt werden. Sie kann sich anlangfristigen Zielen orientieren und hat in der Regel ausreichendeMittel und Zeit, um entsprechende Maßnahmen einzuleiten undumzusetzen. Der Handlungsspielraum nimmt allerdings mit demweiteren Verlauf zunehmend ab, bis zum vollständigen Verlust derHandlungsfähigkeit bei Eintritt der Insolvenz.

1.5 Verzerrte Wahrnehmung

VieleMenschen neigen dazu, die Zukunft als lineare Fortsetzungder Vergangenheit zu sehen. Es fällt ihnen schwer, sich chaoti-sche oder exponentielle Entwicklungen vorzustellen. Dies würdemehr kognitive Aufmerksamkeit beanspruchen und ist damit fürunser Gehirn anstrengender als eine einfache lineare Projektion

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in die Vergangenheit oder in die Zukunft. Das kann dazu führen,dass wir Konsequenzen von Veränderungen falsch einschätzenund die hieraus notwendigen Maßnahmen unterschätzen. VieleKrisen, ob Unternehmenskrisen, Projektkrisen oder Partner-schaftskrisen erscheinen am Anfang ihrer Entwicklung un-scheinbar und unbedeutend. Dies ändert sich mit zunehmen-dem Krisenverlauf: Der Handlungsspielraum wird kleiner, dieHandlungsoptionen gehen zurück, der Bewältigungsaufwandnimmt dynamisch zu, bis es am Ende keinen Ausweg mehr gibt.

Krisen fallen nicht vom Himmel. Sie haben Ursachen und sieberuhen auf Entscheidungen, die häufig schon viele Jahre zu-rückliegen. Und eine Krise ist selbst wieder ein Punkt, an demwichtige und weitgreifende Entscheidungen getroffen werdenmüssen. Je nachdem, wie intensiv wir uns mit der betreffendenSituation auseinandersetzen, die Gesamtlage analysieren unduns Zeit hierfür nehmen, können wir an diesen Wendepunktendie Grundlagen für neue Erfolg gelegt werden. Oder auch nicht.

Das Leben ist Schwingung. Gute Zeiten lösen sich mit schlech-teren Zeiten ab und umgekehrt. Diese Polarität drückt sich invielen Gegensätzen aus und oft bewegen wir uns irgendwozwischen beiden Polen hin und her, zwischen gesund und krank,glücklich und traurig, erfolgreich und scheiternd. Pole sindWendepunkte, an denen das Leben, ein Projekt, eine Entwick-lung die Richtung ändert. Oft sind diese Punkte im echten Lebennicht eindeutig bestimmbar bzw. erstrecken sich diffus über ei-nen längeren Zeitraum. Erst im Rückblick kann man sagen,wann oder in welchem Zeitraum sich die Richtung geändert hat.So sind die Übergänge von einem Krisenstadium zum nächstenoft schleichend und werden zunächst kaum wahrgenommen.Oft braucht es ein konkretes Ereignis, dass wir uns der Eskala-tion bewusstwerden. Entsprechend werden leicht falsche Pro-gnosen für die zukünftige Entwicklung erstellt, besonders wennwir uns nicht ausreichend Zeit für die Situationsanalyse undverschiedene Szenarien nehmen.

1.5 Verzerrte Wahrnehmung 47

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Wie kommt es zu falschen Prognosen? Welche psychologischenund neuronalen Gründe kennen wir, die zu Fehlprognosenführen?

Nach Daniel Gilbert, Professor für Psychologie an der Harvard-Universität, können zwei Varianten unterschieden werden, nachdenen unser Gehirn Prognosen oder Modelle der Zukunft ent-wickelt. Die erste Variante ist eine einfache Verknüpfung vonWahrnehmungen mit vergangenheitsbezogenen Erfahrungen.Dieses Muster ist in der Tierwelt weit verbreitet. Die Reaktionauf eine Wahrnehmung wird sehr stark durch Erfahrungen ge-prägt: Wenn dieses und jenes passiert, dann muss ich dieses oderjenes tun, damit es mir gut geht. Dies entspricht dem linearenPrognosemodell.

Die zweite Variante betrifft die Fähigkeit desMenschen, Modellevon der Zukunft und neben linearen auch exponentielle oderchaotische Varianten zu entwickeln. Unsere kognitiven Fähig-keiten erlauben es uns, »Zeitreisen« zu unternehmen – in dieVergangenheit in Form von Erinnerungen und in die Zukunft inForm von Vorhaben, Visionen undModellen. Diese »Zeitreisen«sind allerdings in der Regel nicht frei von sogenannten Denk-fehlern, Verzerrungen oder Biases. Das ist nicht weiter schlimm.Wir arbeiten tagtäglich vollkommen automatisch und unbe-wusst mit solchen Verzerrungen, weil sie uns erlauben dieKomplexität der Welt zu reduzieren und zu einfacheren Ent-scheidungsmodellen zu kommen.

Zu diesen Denkfehlern zählen unter anderem unsere Neigung,unsere Emotionen, die wir in der Gegenwart erleben undwahrnehmen, in die Zukunft zu übertragen. Sind wir glücklich,weil wir als Verkäufer gute Umsätze tätigen, neigen wir schnellzur Euphorie und glauben, dass dieses Gefühl ewig anhaltenwird. Sind wir in einer Phase, in der Schwierigkeiten überwiegen,sehen wir nur Schwierigkeiten und können uns nur schwervorstellen, wie ein Leben ohne Schwierigkeiten aussehen kann.

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Diese Verzerrungen führen auch dazu, dass unsere Wahrneh-mung stark an sinnliche Eindrücke gebunden ist und wir dazuneigen können, nicht-sichtbare Ereignisse, oder Ereignisse, diewir uns nicht vorstellen können oder wollen, zu ignorieren, nichtwahrzunehmen und damit in unsere Entscheidungen und Zu-kunftsmodelle nicht einzubeziehen. »Wir haben die besorgnis-erregende Tendenz, zukünftige Ereignisse, die wir uns nichtvorstellen, so zu behandeln, als würden sie nicht eintreten.« (DanGilbert, Ins Glück stolpern, S. 175).

Der Blogger Buster Benson hat eine Liste von 175 Denkfehlernoder -mustern unter dem Titel »The Cognitive Bias Codex«zusammengestellt. Hierzu zählt zum Beispiel, dass wir dazuneigen, Ereignisse wahrzunehmen, die wir schon kennen, undUnbekanntes zu übersehen. Auch neigen wir dazu, Ungewöhn-lichemmehr Aufmerksamkeit zu schenken als »Normalem«. Diegilt auch Veränderungen und Einzelheiten, die unsere Über-zeugungen und Glaubenssätze bestätigen.

Er kommt zu dem Ergebnis, dass diese Denkmuster vier Funk-tionen dienen.

l Um aus unserer Umwelt und unseren begrenzten Wahrneh-mungen einen Sinn zu schaffen, neigt unser Gehirn dazu,Lücken in unserer Wahrnehmung durch eigene Informatio-nen, Generalisierungen, Glaubenssätzen und Erfahrungen zuergänzen.

l Wir neigen dazu, Objekte und Menschen, die wir kennen unddie wir mögen, als besser anzusehen, als uns unbekanntePersonen und Gegenstände.

l Wir denken, dass wir glauben zu wissen, was andere denkenbzw. glauben, dass andere wissen, was wir wissen und setzendies dann als selbstverständlich voraus.

l Und wir neigen dazu, unser aktuelles Weltbild und unsereGefühle in die Vergangenheit und in die Zukunft zu proji-zieren.

1.5 Verzerrte Wahrnehmung 49

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Diese Denkfehler helfen uns, die Komplexität unserer Umweltso zu reduzieren, dass sie für unser Gehirn leichter zu verar-beiten ist. Viele dieser »Fehler« beziehen sich auf vergangeneErfahrungen und Beobachtungen, die unser Gehirn, für unsvöllig unbewusst, zur Bewertung von Situationen und Ereig-nissen heranzieht, ungeachtet, ob dies in der aktuellen Situationangebracht und richtig ist oder nicht. Diese Strategie hat sich imLaufe der Evolution als sinnvoll erweisen, da wir uns mit mög-lichst wenig Energieaufwand in unserer Umwelt sicher bewegenkönnen. In Zeiten dynamischer Veränderungen, wie wir sie zumBeispiel durch technologische oder gesellschaftliche Umbrüchebzw. in Krisenzeiten erleben, können diese vereinfachendenDenkfehler auch zu einem Problem werden.

Zu den Denk- oder Prognosefehlern zählen auch unsere Nei-gung, die Entwicklung in die Zukunft als linear zu betrachten.Dabei neigen wir dazu, von unserer Vergangenheit und Ge-genwart in die Zukunft zu projizieren, die Gegenwart sozusagen»nach vorn zu verlängern«. Die häufigste und einfachste Vari-ante ist dabei die einer einfachen linearen Prognose. Die ZukunftC ergibt sich aus einer linearen Verlängerung der Erfahrung Anach B. Die Neigung zu Linearität haben wir dabei aus Gründender Einfachheit. Die Einbeziehung von zusätzlichen Gesichts-punkten, zum Beispiel sozialen, wirtschaftlichen, technologi-schen Veränderungen und möglichen Reaktionsmustern würdedie Komplexität um ein Vielfaches erhöhen und damit dieEntscheidungsfindung erschweren und den Bedarf an Energie-ressourcen für die neuronale Verarbeitung in unserem Gehirnsteigern. Da unser Gehirn dazu neigt, mit möglichst wenigRessourcen auskommen zu wollen, neigt es automatisch dazu,den einfachsten Weg zu nehmen. Evolutionär gesehen ist diesdurchaus sinnvoll gewesen, da eine Energieversorgung in Formvon Glukose nicht so im Überfluss gesichert war, wie dies heuteder Fall ist und anderseits die Umwelt auch nicht eine solcheKomplexität aufwies, wie wir sie heute kennen.

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Wenn wir Menschen dazu neigen, die Welt linear wahrzuneh-men, das heißt, dass wir unser Leben und Erfahrungen mehroder weniger linear in die Zukunft projizieren, hat das für dieQualität unserer Vorhaben und Erwartungen bestimmte Kon-sequenzen. Wir neigen dazu, eine erfolgreiche Entwicklungs-phase weiter in die Zukunft zu projizieren und Risiken, diediesen Erfolg bedrohen könnten, auszublenden.Wir neigen auchdazu, in Krisenphasen positive Sichtweisen und Chancen zuignorieren und diese auszublenden. Dieses unter dem BegriffScheinlinearität bekannte Phänomen ist nicht nur eine Erklä-rung, warum wir in Wachstumsphasen zu einer überzogenenWachstumsfantasie neigen und in Krisenzeiten zu übertriebenenWeltuntergangsstimmungen. Anhand des Phasenmodells kannsehr gut gezeigt werden, warum wir dazu neigen, die zeitlicheWirkung der einzelnen Stadien zu unterschätzen. Wir sind unsden exponentiellen Kurvenverläufen von Krisen häufig nichtbewusst und vergegenwärtigen bzw. berücksichtigen diesennicht.

Legen wir in der Phase einer strategischen Krise eine Tangente(A) an die Kurve, was einer scheinlinearen Projektion in dieZukunft entspricht, dann sind die negativen Auswirkungen sehrweit in der Zukunft und wir sind möglicherweise dazu geneigt,diese als nicht dringlich anzusehen. Aus einer strategischenPerspektive sind noch keine Anzeichen für eine bedrohlicheEntwicklung zu erkennen, da ja alles so weit entfernt in derZukunft scheint und wir glauben, es noch viel Zeit zu haben, umreagieren zu können.

Die Tangente und damit die Erwartungslinie in einer Markt-oder Umsatzkrise (B) ist schon etwas steiler, trotzdem scheint es,dass die Auswirkungen dieser Krise in weiter Ferne liegen,ebenso in den folgenden Stufen der Rentabilitäts- und Ertrags-krise (C). Spätestens ab der Liquiditätskrise (D) ist die Erwar-tungskurve sehr steil und die Konsequenzen der Krise sinddeutlich erkennbar, wenn jetzt nicht konkrete und schnelle

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Abb. 2: Scheinlinearität in unterschiedlichen Phasen der Unternehmenskrise

Schritte zur Lösung eingeleitet werden. Leider ist es aber häufigso, dass zu diesem Zeitpunkt die Ressourcen schon aufgebrauchtsind und nur kurzfristige inkrementelle Maßnahmen eingeleitetwerden können. Je nach Situation kann durch einen Verkauf vonBeteiligungen, Lagerbeständen oder Forderungen ein Befrei-ungsschlag erlangt werden, der dem Unternehmen etwas Luftschafft, um sich strategisch neu aufzustellen.

Dies ist einer der Gründe, warum die Auswirkungen von stra-tegischen, aber besonders auch systemischen Krisen und vonKultur- und Führungskrisen oft lange nicht erkannt werden underst in der Phase der Markt und Ertragskrise offensichtlichwerden. Die Unternehmensführung realisiert dann hoffentlich,dass die Sachlage dringlicher ist als erwartet, dass verschobeneEntscheidungen Konsequenzen zeigen und dass es dringendenHandlungsbedarf gibt. Allerdings besteht das Risiko, dass derAufwand zur Lösung der Krise unterschätzt wird und durchMarketing- oder Kostensenkungsprogramme das Markt- und

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Ertragsproblem gelöst wird und die Symptome der Krise besei-tigt werden, ohne dass die eigentlichen Ursachen in Angriffgenommen werden.

Da die Ursachen für die Krise nicht auf der Ertrags- oder Markt-ebene liegen, können sie auf dieser Ebene auch nicht wirklichgelöst werden. Für eine wirkliche Ursachenanalyse ist es erfor-derlich, dass nicht nur an den Symptomen gearbeitet wird. DieUrsachen müssen auf den vorgelagerten Ebenen bzw. in denvorgelagerten Entwicklungsstadien analysiert und durch entspre-chende Veränderungen, zum Beispiel eine Markt-, Produkt- undPreispolitik, eine neue Strategie oder eine Leitbildentwicklung und-umsetzung angepackt werden. Findet auf diesen Ebenen keineLösung durch eine andereMarkt-, Produkt- oder Preispolitik, eineneue strategische Ausrichtung oder eine Veränderung der Füh-rungs- und Unternehmenskultur statt, sind die Ursachen nichtgelöst. Es ist ziemlich sicher, dass die Probleme wieder auftreten,vielleicht an anderer Stelle oder mit anderen Symptomen.

Ein Problem entsteht, weil auf einer höheren Ebene Entschei-dungen nicht oder falsch getroffen wurden. Nur dort können sieauch gelöst werden. »Probleme kann man niemals auf derselbenEbene lösen, auf der sie entstanden sind.« (Albert Einstein)

Warum habe ich nicht …? Das war die Ausgangsfrage. ImNachhinein ist es einfach zu analysieren und zu beschreiben, wodie Probleme lagen. Vieles scheint so offensichtlich, dass ichmich ernsthaft gefragt habe, warum ich diese Phänomene nichterkannt bzw. nichts dagegen getan hatte. Vielleicht weil meinUnternehmen viel komplexer war, als dass es durch dieses ein-fache Modell hätte beschrieben werden können. Was diesesModell leistet, ist, uns die wesentlichen Einflussfaktoren undderen Wirkung aufzuzeigen, die zu einer Unternehmenskriseund letztendlich zu einer Insolvenz beitragen:

l Systemische Gesichtspunkte: das Familiensystem der In-haberfamilie(n), das Unternehmenssystem mit den aktuellen,

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aber auch ehemaligen Eigentümern, Führungskräften undMitarbeitern.

l Führung und Kultur: Viele Führungskräfte unterschätzenweiterhin die Bedeutung der Unternehmenskultur auf Moti-vation und Erfolg. Ein Unternehmen hat immer eine Kultur.Die Frage ist, ob es die Kultur hat, die es für seine Strategie undMarktpositionierung braucht.

l Markt: Ohne die richtigen Produkte und Dienstleistungen,die aktuelle Kundenbedürfnisse erfüllen und einen über-durchschnittlichen Nutzen bieten, gibt es keine langfristigeExistenzberechtigung für Unternehmen.

l Rentabilität und Ertrag: Ohne ausreichende Gewinne kannein Unternehmen nicht in die Zukunft investieren und neueProdukte, Prozesse oder Dienstleistungen entwickeln.

l Liquidität: Ohne Liquidität können Rechnungen nichtvereinbarungsgemäß beglichen werden, was auf Dauer zurInsolvenz führt.

Ganz offensichtlich habe ich an entscheidenden Stellen Fehlergemacht, habe Hinweise übersehen, Situationen falsch einge-schätzt und ich war mir meiner eigenen Denkfehler nicht be-wusst. Die Konsequenz war die Insolvenz.

1.6 Von der Schuld zur Verantwortung – der Ausweg

Das persönliche Schuldgefühl vermittelte mir das gute Gefühl, aufder richtigenmoralischen Seite zu stehen. Meine Fehler warenmirnicht egal und ich zeigte Betroffenheit. Diese Schuldgefühle habenmir unbewusst geholfen, so absurd es klingt, eine Art gutes Ge-wissen und Verhaltensstolz zu bewahren. Wenn schon etwasSchlimmes oder Negatives passiert ist, dann gaben sie mir we-nigstens das Gefühl einer moralischen Integrität. Nach demMotto: Schaut! Das alles geht nicht so einfach an mir vorbei. DasGefühl von Schuld führte zu einer Form innerer Kohärenz, mitder ich mein inneres psychisches Gleichgewicht erhalten konnte.

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Es gab mir eine Möglichkeit Verantwortung zu übernehmen. DerKapitän geht als Letztes von Bord.

Das Problem mit der Schuld ist allerdings auch, dass wir Gefahrlaufen aus diesem Gefühl nicht mehr herauszukommen, zumBeispiel wenn wir die befreiende Funktion von Schuld uns selbstgegenüber nicht anerkennen, andere uns schon längst vergebenhaben bzw. die betreffenden Umstände schon vergessen haben.Bleiben wir dabei, uns schuldig zu fühlen, weil wir eine Ent-schuldigung gegenüber uns selbst als nicht angemessen sehen,ziehen wir uns immer weiter nach unten bzw. halten uns dortdurch die Schuld fest. Schuldgefühle beziehen sich zwar auf uns.Wofür wir uns schuldig fühlen sollen oder müssen, wird uns inaller Regel von unserer Umgebung und der Gesellschaft vorgeben.Sie entstehen durch Bewertungen in brav und böse, in gut undschlecht, in positiv und negativ oder schuldig und unschuldig.Die Werte und Normen unserer Familie, unserer Religion bzw.Konfession und unserer Gesellschaft prägen und beeinflussen,wofür wir uns schuldig fühlen sollen und wofür nicht. Schuld undUnschuld sind Konstrukte, die sich im Laufe der sozialen Ent-wicklung des Menschen und des menschlichen Zusammenlebensentwickelt haben. Sie signalisieren uns selbst, dass wir bereit sind,uns nach denVorstellungen einerGruppe bzw. derGesellschaft zuverhalten. Sie entstehen in unserem Kopf und sind das Ergebnisunseres Annäherungs- und Vermeidungsverhaltens. Wir suchenUnschuld und vermeiden Schuld, weil sich dies für den sozialenUmgang mit anderen als vorteilhaft herausgestellt hat. Wennbeides jedoch nurmentale Konstrukte unseresGeistes sind, gibt esdann überhaupt die Schuld?

Die Suche nach Schuld und dem Warum war für mich wie eineSpirale, mit deren Hilfe ich mich immer in die Tiefen meinerPsyche hineinbohrte, immer auf der Suche nach demWarum, denUrsachen und dem Sinn. Und je mehr und je länger ich auf derSuche war, desto stärker wurde ich von diesen Emotionen undGefühlen übernommen.

1.6 Von der Schuld zur Verantwortung – der Ausweg 55

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Auch wenn ich glücklicherweise nicht in einer Privatinsolvenzwar und damit wirtschaftlich nicht so betroffen war, zehrte dieInsolvenz natürlich anmeinem Selbstbild undmeinem Selbstwert.Nur wenige Menschen würden eine Insolvenz als etwas Positivesbezeichnen oder können ihr etwas Positives abgewinnen. Selbstwenn mir irgendwie klar war, dass diese Erfahrung zu irgendet-was gut sein sollte, so hätte es niemand verstanden – ich auchnicht –, wenn ich öffentlich und auch vor mir selbst ihr etwasPositives hätte abgewinnen können. Wenn es aber nichts Positivesgeben durfte, dann konnte diese Erfahrung ja nur negativ sein.Und wenn das Ergebnis negativ ist, dann muss doch alles davorauch nur negativ gewesen sein, alle Entscheidungen, Projekte undMaßnahmen. Alles musste doch irgendwie dazu beigetragen ha-ben und konnte doch nur negativ sein.Wenn das Ergebnis negativist, meine Handlungen wesentlich zum negativen Ergebnis bei-getragen haben und damit auch negativ sein müssen, dann mussich wohl auch negativ, also schlecht gewesen sein. Und damit warmein Selbstwert im Keller und, zumindest vorübergehend, wur-den wichtige Quellen für ein positives Selbstbild und einen posi-tiven Selbstwert beiseitegeschoben.

Und mit meinem Selbst mussten zwangsläufig auch meine Stär-ken, Fähigkeiten und Kompetenzen wertlos sein. Offensichtlichhaben sie mir nicht viel gebracht, um erfolgreich zu sein bzw. dasScheitern abzuwenden. All die Merkmale, über die ich viele Jahrefroh, zufrieden und teilweise auch stolz war, hatten plötzlichkeinen Sinn mehr. Wie denn auch. Denn wären sie tatsächlich sowertvoll und gut gewesen, wie ich dachte, dann hätten sie mirhelfen müssen, diese Erfahrung zu verhindern.

Und was mache ich mit meinen Zielen, Wünschen und Träumen?Wo sollte ich mit diesen hin? Wie soll ich diese jemals erreichen?Wenn ich diese vorher schon nicht erreicht habe, wie soll ich siejetzt erreichen? Und überhaupt, was wird mit mir passieren undwohin geht die Reise? Und was wird von all den Visionen übrig-bleiben?Was soll ich wollen, wohin soll ich wollen, was soll ich tun

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wollen, wer soll ich sein wollen, wenn ich mein »Wollen« in derVergangenheit schon nicht erreicht habe und alles an die Wandgefahren wurde und in Trümmern daliegt?

Wie sollte ich aus einem Gefühl der Schuld Sicherheit, Selbstwertund Sinn finden? Von sozialer Anerkennung und Selbstverwirk-lichung ganz zu schweigen. Die Realität sah doch erst einmal ganzanders aus. Ich wusste nicht, wie es weitergehen soll, konntekeinen Sinn in allem Erlebten erkennen und die vermeintlichgewonnen Freiheit war ja auch bestenfalls eine zeitliche. Ja, ichhatte Zeit. Aber sonst? Ich hatte einen wichtigen Teil meiner so-zialen Umgebung verloren, Mitarbeiter, Kunden, Geschäftspart-ner. Ich hatte ein finanzielles Polster, das aber auch nicht endlosreichen würde, ich hatte eine Familie mit zwei Kindern, die ichschützen musste, und wer würde mir schon Anerkennung für eineInsolvenz schenken. Freie Fahrt in den Fall.

Stundenlang, tagelang, wochenlang saß ich da und zermartertemir das Gehirn auf der Suche nach einem Sinn. Und die einzigeAntwort, die ich fand, war die nach der Schuld. Schuldig im Sinneder Anklage! Wer ist hier der Kläger und wer der Richter? Was,wenn Kläger und Richter ein und dieselbe Person sind. Der An-geklagte, Bert Overlack, spricht sich hiermit selbst für schuldig, inder Führung seines Unternehmens versagt zu haben.

Bis ich erkennen durfte, dass es überhaupt nicht um Schuld geht!Natürlich sprechen Richter Angeklagte für schuldig, die gegengeltende Gesetze verstoßen haben. Schuldig im Sinne der An-klage, und nur hierfür. Wir können die Strafe akzeptieren undsind dann von der Schuld befreit. Darüber hinaus gibt es keineSchuld. Wo keine Anklage, da sind auch kein Richter und keinSchuldspruch.

Mit meinen Schuldgefühlen habe ich die fehlenden Antworten aufdie vielen offenen Warum-Fragen ersetzt. Die moralische Inte-grität, das gute Gewissen und das gute Gefühl dabei haben dieseLücke gefüllt. Die Antworten haben sie nicht geliefert. Das Thema

1.6 Von der Schuld zur Verantwortung – der Ausweg 57

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war nicht Schuld oder Unschuld. Es ging nicht darum, dass ichmich irgendjemandem gegenüber schuldig fühlen müsste, dass esirgendeine Instanz geben würde, der gegenüber ich mich recht-fertigen müsste. Auch mir selbst gegenüber nicht.

Es ging umAntworten, umVer-Antwort-Ung. Ummein Bedürfnis,mein Erleben und meine Erfahrungen zu verstehen. Ich konntediese Antworten zu dem damaligen Zeitpunkt nicht finden.

Es ging um unser inneres Bedürfnis, unsere Welt und unsereErfahrungen erklären zu können, neue Perspektiven einnehmenund annehmen zu können, unsere Erfahrungen anhand dieserneuen Perspektiven reflektieren zu können und diese Reflexionin neue Erkenntnisse übertragen zu können – Antworten zufinden.

Verantwortung fühlt sich viel besser an als Schuld.

1.7 Denkanstöße

l Warum habe ich ...? Gibt es Warum-Fragen, die Sie sichimmer wieder stellen? Wenn ja, welche?

l Warum stellen Sie sich diese Fragen? Wofür fühlen Sie sichschuldig oder verantwortlich?

l Gibt es etwas, für das Sie sich schuldig fühlen? Was ist esgenau, das dieses Schuldgefühl auslöst? Welche Ethik oderMoral ist die Grundlage für diese Bewertung?

l Wie fühlt es sich für Sie an, wenn Sie nicht mehr von Schuldsprechen, sondern nur noch von Verantwortung? WelcheAntwort können Sie sich und anderen geben? Wenn Sie anIhr Unternehmen denken? Wie geht es Ihnen? Läuft beiIhnen alles perfekt? Oder in welcher Phase befindet sich IhrUnternehmen gerade?

l Was tun Sie operativ, um den Symptomen der entspre-chenden Phase zu begegnen?

l Was tun Sie strategisch, um die Ursachen für die Krise zuüberwinden?

58 1 Schuldfrage – mein persönliches LEID-Bild

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l Was müssten Sie tun, um diese Ursachen zu beseitigen?l Was werden Sie tun?l Lesen Sie den Blog von Buster Beson »Cognitive Bias Cheat

Sheet« auf www.betterhumans.coach.me. Was lernen Siedaraus?

1.7 Denkanstöße 59

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