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1. Thales, Pythagoras, Euklid Einf¨ uhrung Geometrische Beweise f¨ ur algebraische Tatsachen finden sich bereits im ber¨ uhm- testen Mathematikbuch aller Zeiten, den Elementen Euklids. Diese wurden von Euklid 1 aus Alexandria 2 um 300 v.Chr. zusammengestellt und dienten bis ins letzte Jahrhundert als Grundlage f¨ ur den Geometrieunterricht an Schulen. Es sei auch auf die Tatsache hingewiesen, dass Euklids Elemente nicht geschrie- ben worden w¨ aren, wenn Euklid alle Beweise selbst h¨ atte finden m¨ ussen. Er mag die gedanklichen Leistungen seiner Vorg¨ anger verbessert haben, aber man hat ihn nicht gezwungen, sie selbst¨ andig wiederzuentdecken. Dasselbe gilt auch f¨ ur die Lei- stungen anderer Riesen, auf deren Schultern wir stehen: alle großen Mathematiker haben von jemandem gelernt, der mehr wusste als sie, und zwar, wenn es anders nicht ging, aus B¨ uchern. In diesem Kapitel wird es um eine einfache, aber doch effektive Beweismethode gehen: das Berechnen von ein und demselben Fl¨ acheninhalt auf zwei verschieden Arten. Aus der Gleichheit der Ergebnisse werden wir allerlei mathematische S¨ atze erhalten, von denen viele mit Fl¨ achen wenig bis nichts zu tun haben. Dass es bei den behandelten Themen etwas durcheinander geht liegt daran, dass wir eine Beweistechnik vorstellen und nicht ein ganz bestimmtes Thema untersuchen. 1 ¨ Uber den Menschen Euklid wissen wir fast ¨ uberhaupt nichts. Unsere Kenntnisse sind in der Tat so d¨ urftig, dass wir nicht einmal sagen k¨ onnen, er w¨ are kein Afrikaner gewesen (sehr wahrscheinlich war er nat¨ urlich ein Grieche, und hat seine Ausbildung in Athen bekommen). Auch wann er wie lange gelebt hat, ist uns nicht bekannt; einigermaßen sicher ist nur, dass die Elemente um 300 v. Chr. geschrieben worden sind. Vom Standpunkt der Geschichte aus gesehen ist der ¨ uberragende Erfolg von Euklids Elementen h¨ ochst bedauerlich: da B¨ ucher damals nur durch Abschreiben vervielf¨ altigt wurden, sah man keinen Grund mehr darin, Vorg¨ anger von Euklids Elementen zu kopieren, sodass wir von der voreuklidischen Mathematik praktisch keinerlei fundierte Kenntnisse mehr haben. Auch hier zeigt sich einmal mehr, dass das Bessere der Feind des Guten ist. 2 Die Stadt Alexandria im heutigen ¨ Agypten wurde wenige Jahrzehnte vor Euklid von Alexander dem Großen gegr¨ undet. ¨ Uber viele Jahrhunderte hinweg war Alexandria wegen ihrer vorz¨ uglichen Bibliothek das Zentrum der wissenschaftlichen Welt der An- tike. Den ersten großen Brand erlebte die Bibliothek bei der Eroberung Alexandrias durch Caesar. Nach weiteren Br¨ anden und dem Niedergang der griechischen Kultur war 600 n.Chr. vom Weltruf Alexandrias (oder ihrer Bibliothek) nichts mehr ¨ ubrig.

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1. Thales, Pythagoras, Euklid

Einfuhrung

Geometrische Beweise fur algebraische Tatsachen finden sich bereits im beruhm-testen Mathematikbuch aller Zeiten, den Elementen Euklids. Diese wurden vonEuklid1 aus Alexandria2 um 300 v.Chr. zusammengestellt und dienten bis insletzte Jahrhundert als Grundlage fur den Geometrieunterricht an Schulen.

Es sei auch auf die Tatsache hingewiesen, dass Euklids Elemente nicht geschrie-ben worden waren, wenn Euklid alle Beweise selbst hatte finden mussen. Er magdie gedanklichen Leistungen seiner Vorganger verbessert haben, aber man hat ihnnicht gezwungen, sie selbstandig wiederzuentdecken. Dasselbe gilt auch fur die Lei-stungen anderer Riesen, auf deren Schultern wir stehen: alle großen Mathematikerhaben von jemandem gelernt, der mehr wusste als sie, und zwar, wenn es andersnicht ging, aus Buchern.

In diesem Kapitel wird es um eine einfache, aber doch effektive Beweismethodegehen: das Berechnen von ein und demselben Flacheninhalt auf zwei verschiedenArten. Aus der Gleichheit der Ergebnisse werden wir allerlei mathematische Satzeerhalten, von denen viele mit Flachen wenig bis nichts zu tun haben. Dass esbei den behandelten Themen etwas durcheinander geht liegt daran, dass wir eineBeweistechnik vorstellen und nicht ein ganz bestimmtes Thema untersuchen.

1 Uber den Menschen Euklid wissen wir fast uberhaupt nichts. Unsere Kenntnisse sindin der Tat so durftig, dass wir nicht einmal sagen konnen, er ware kein Afrikanergewesen (sehr wahrscheinlich war er naturlich ein Grieche, und hat seine Ausbildungin Athen bekommen). Auch wann er wie lange gelebt hat, ist uns nicht bekannt;einigermaßen sicher ist nur, dass die Elemente um 300 v. Chr. geschrieben worden sind.Vom Standpunkt der Geschichte aus gesehen ist der uberragende Erfolg von EuklidsElementen hochst bedauerlich: da Bucher damals nur durch Abschreiben vervielfaltigtwurden, sah man keinen Grund mehr darin, Vorganger von Euklids Elementen zukopieren, sodass wir von der voreuklidischen Mathematik praktisch keinerlei fundierteKenntnisse mehr haben. Auch hier zeigt sich einmal mehr, dass das Bessere der Feinddes Guten ist.

2 Die Stadt Alexandria im heutigen Agypten wurde wenige Jahrzehnte vor Euklid vonAlexander dem Großen gegrundet. Uber viele Jahrhunderte hinweg war Alexandriawegen ihrer vorzuglichen Bibliothek das Zentrum der wissenschaftlichen Welt der An-tike. Den ersten großen Brand erlebte die Bibliothek bei der Eroberung Alexandriasdurch Caesar. Nach weiteren Branden und dem Niedergang der griechischen Kulturwar 600 n.Chr. vom Weltruf Alexandrias (oder ihrer Bibliothek) nichts mehr ubrig.

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1.1 Distributivgesetz und Binomische Formeln 11

Wir werden spater noch genauer untersuchen, was ein Beweis eigentlich ist;bis dahin ist alles ein Beweis, was uns uberzeugt. Mit anderen Worten ist einBeweis eine Ansammlung von Argumenten, die eine Behauptung auf Aussagenzuruckfuhrt, die wir entweder schon bewiesen haben, oder die uns offensichtlicherscheinen.

Es sei gleich zu Anfang bemerkt, dass man keine Minderwertigkeitskomplexezu bekommen braucht, wenn man bei den meisten Beweisen das Gefuhl hat, manware auf diesen Beweis auch bei jahrelangem Nachdenken nicht selbst gekommen.Sinn und Zweck des Vertiefungskurses ist, unter anderem das Beweisen zu lernen.Dazu muss man erst eine ganze Reihe von Beweisen gesehen und verstanden ha-ben – das gleiche gilt in der Musik: bevor man beginnt, eigene Lieder zu schreiben,muss man in der Regel schon Hunderte von Lieder kennen, und selbst dann istnicht garantiert, dass eigene Versuche etwas Horbares hervorbringen. Zum Trostsei gesagt, dass man auch aus Fehlern lernt, und zwar oft mehr als durch di-daktisch perfekt vorgetragene Musterlosungen. Ebenfalls sei bemerkt, dass es oftdie einfachen Dinge sind, deren Beweis uns am meisten zu schaffen macht. MeinParadebeispiel dafur ist folgende

Aufgabe 1.1. Zeige, dass eine Gerade, die nicht durch die Ecken A, B, C einesDreiecks geht, das Dreieck in hochstens zwei Seiten schneidet.

Das ist eine sehr einfache Aussage, bei der wohl die allermeisten nach eini-gem Nachdenken aufgeben und “das ist doch offensichtlich” murmeln. Den wun-derschonen und einfachen Beweis geben wir am Ende dieses Kapitels.

1.1 Distributivgesetz und Binomische Formeln

Wir schauen uns daher eine der einfachsten Formeln an, die man sich denkenkann: das Distributivgesetz a(b+c) = ab+ac. Die Terme auf der rechten Seite sindFlachen von Rechtecken (genauer: sie lassen sich als Flacheninhalte von Rechteckeninterpretieren), ebenso wie der Term auf der linken Seite. Geometrisch haben wiralso folgende Situation:

Der Flacheninhalt des großen Rechtecksist a(b + c), die Summe der Flachenin-halte der beiden kleinen Rechtecke da-gegen ab + ac. Also muss a(b + c) =ab+ ac sein.

Die Richtigkeit des Distributivgesetzes ist etwas, das der Rechenerfahrung3

entspringt: man kann 2(3 + 4) eben auf zwei verschiedene Arten ausrechnen, und

3 Eine solche Erfahrung eignet man sich sicherlich nicht dadurch an, indem man schonals Grundschuler lastige Rechnung (welche Rechnung ist das nicht?) mit dem Ta-schenrechner erledigt, wie das manche Didaktiker ohne Unterrichtserfahrung glaubenpredigen zu mussen.

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sowohl 2 · 7, als auch 2 · 3 + 2 · 4 liefert dasselbe Ergebnis. Die geometrische In-terpretation verstarkt die Uberzeugung, dass es gar nicht ander sein kann, da eineGleichung wie a(b+c) = ab+c jetzt schon aus Dimensionsgrunden (auf der rechtenSeite wird eine Flache und eine Lange addiert) Unsinn sein muss.

Ganz ahnlich funktioniert der Fall mit mehreren Summanden:

Hier ist offensichtlich

(a+ b)(c+d) = ac+ bc+ad+ bd.

Ein Spezialfall davon ist die binomische Formel; diese steht in Euklids zweitemBuch als Proposition IV:

Wird eine Strecke beliebig in zwei Teile geteilt, so ist das Quadrat auf derganzen Strecke gleich den Quadraten auf den Teilen und dem doppeltenvon den beiden Segmenten gebildeten Rechteck.

Wird die Strecke AB in zwei Teile AF und FBgeteilt, so ist das Quadrat mit KantenlangeAB gleich den Quadraten mit KantenlangenAF und FB und dem doppelten Rechteck mitden beiden Kantenlangen AF und FB.

Symbolisch: AB2

= AF2

+ 2AF ·AB + FB2.

Mit AB = AF + FB also

(AF + FB)2 = AF2

+ 2AF ·AB + FB2.

Aufgabe 1.2. Veranschauliche die Formel (a − b)(c − d) = ac + bd − ad − bcgeometrisch.

Aufgabe 1.3. Veranschauliche die Formel a(b+c+d) = ab+ac+ad geometrisch.

Aufgabe 1.4. Veranschauliche die Formel (a+b+c)2 = a2+b2+c2+2ab+2ac+2bcgeometrisch.

Aufgabe 1.5. Veranschauliche die Formel (a+ b)3 = a3 + 3a2b+ 3ab2 + b3 geo-metrisch.

Die folgende Aufgabe wird spater (Aufg. 1.51) auf Parallelogramme verallge-meinert werden (und ist ebenfalls in Euklids Elementen zu finden):

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1.1 Distributivgesetz und Binomische Formeln 13

Aufgabe 1.6. In einem Rechteck ABCD (sh. Skizze) liegt der Punkt S auf derDiagonale AC. Zeige, dass die Rechtecke EBFS und GDHS den gleichen Flachen-inhalt besitzen. Zeige weiter, dass S genau dann auf der Diagonalen liegt, wenndie Steigungen der Geraden AS und SB gleich sind.

Zeige damit, dass die Flachengleichheit die folgende algebraische Identitat re-prasentiert:

ad = bc ⇐⇒ c

a=d

b. (1.1)

Noch einmal: der Sinn von Aufg. 1.6 ist nicht, die Identitat (1.1) zu beweisen.Vielmehr wollen wir damit zeigen, dass sich (1.1) geometrisch interpretieren lasst.

Aufgabe 1.7. Zeige, dass ein Rechteck durch seine Diagonalen in vier Dreieckemit dembselben Flacheninhalt zerlegt wird.

Anwendungen binomischer Formeln

Die binomischen Formeln lassen sich oft anwenden, um Rechnungen zu sparen. Soist z.B.

29 · 31 = (30− 1)(30 + 1) = 900− 1 = 899,

und die Gleichung

652 = (60 + 5)2 = 602 + 10 · 60 + 52 = 60(60 + 10) + 25 = 60 · 70 + 25

zeigt, dass man 652 = 4225 erhalt, wenn man an 6 · 7 = 42 eine 25 anhangt.

Aufgabe 1.8. Zeige, dass man das Quadrat der Zahl a5 = 10a + 5 (fur Ziffern1 ≤ a ≤ 9) dadurch erhalt, dass man an die Zahl a(a+ 1) ein 25 anhangt.

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Auch beim Losen quadratischer Gleichungen kann man hin und wieder bino-mische Formeln gewinnbringend anwenden: um 3x2 + 13x+ 12 = 0 zu losen, mussman b2 − 4ac = 132 − 4 · 3 · 12 ausrechnen:

132 − 4 · 3 · 12 = 132 − 122 = (13− 12)(13 + 12) = 25.

Derselbe Trick funktioniert, wenn in der Diskriminante4 b2−4ac der quadra-tischen Gleichung ax2 + bx + c = 0 das Produkt ac = m2 ein Quadrat ist. Dannist namlich b2 − 4ac = b2 − 4m2 = (b− 2m)(b+ 2m). Damit man die Wurzel (imKopf) ziehen kann, muss auch b2 − 4m2 = (b − 2m)(b + 2m) ein Quadrat sein.Setzt man z.B. b − 2m = 9 und b + 2m = 25 an, so findet man (durch Additionder beiden Gleichungen) b = 17, und dann nacheinander m = 4, also ac = 16 undz.B. a = 2 und c = 8. Damit haben wir die Gleichung 2x2 + 17x+ 8 = 0, die manmit obigem Trick einfach losen kann.

Aufgabe 1.9. Erfinde funf weitere quadratische Gleichungen, bei denen man diedritte binomische Formel wie eben einsetzen kann.

Das schriftliche Ziehen von Quadratwurzeln wurde im letzten Jahrhundert nochunterrichtet; der entsprechende Algorithmus ist auf den binomischen Formeln auf-gebaut. Wir begnugen uns hier mit einer Naherung, mit der man in der Praxismeist auskommt: aus der binomischen Formel (1 + 1

2a)2 = 1 + a+ 14a

2 kann manerkennen, dass wenn a klein ist, der Term 1

4a2 noch viel kleiner ist. Ist z.B. a = 1

10 ,so ist 1

4a2 = 1

400 . Das bedeutet, dass (1 + 120 )2 = 1 + 1

10 + 1400 ist und damit

1,052 ≈ 1,1. Dass a klein ist, ist dabei in genau diesem Sinne zu verstehen: jekleiner a gegenuber 1 ist, um so genauer ist die Naherung. Allgemein gilt:

Satz 1.1. Fur betragsmaßig kleine Werte von a gilt

√1 + a ≈ 1 +

a

2.

Damit findet man z.B.

√26 = 5

√26

25= 5

√1 +

1

25≈ 5(

1 +1

50

)= 5 +

1

10= 5, 1;

der Taschenrechner gibt√

26 ≈ 5.09902.

Aufgabe 1.10. Berechne eine Naherung fur√

27 und√

65.

Aufgabe 1.11. Finde eine Naherung fur√

1− a fur kleine Werte von a.

Aufgabe 1.12. Berechne Naherungen fur√

24 und√

63.

Aufgabe 1.13. Berechne eine Naherung fur√a2 + 1 und

√a2 − 1.

4 Die Diskriminante einer quadratischen Gleichung ax2 + bx + c = 0 ist der AusdruckD = b2 − 4ac unter der Wurzel, die in der Losungsformel auftaucht.

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1.1 Distributivgesetz und Binomische Formeln 15

Aufgabe 1.14. Berechne eine Naherung fur√a3 + 1 und

√a3 − 1, insbesondere

fur 3√

28 und 3√

28. Hinweis: benutze die binomische Formel aus Aufg. 1.5.

Aufgabe 1.15. Sind a und b reelle Zahlen mit 0 ≤ b ≤ 2a+ 1, dann ist

a ≤√a2 + b ≤ a+ 1.

Aufgabe 1.16. Die Ungleichungen in der vorhergehenden Aufgabe lassen sichdeutlich verscharfen (vgl. das Heron-Verfahren im nachsten Kapitel); zeige, dassfur a, b > 0 die Ungleichungen

a+b

2a+ 1<√a2 + b < a+

b

2a

gelten.

Auch die nachsten drei Aufgaben sind leicht, wenn man sich an die binomischenFormeln erinnert:

Aufgabe 1.17. Sei a+ b = 3 und ab = 1; berechne a2 + b2.

Aufgabe 1.18. Sei a− b = 2 und ab = 2; berechne a2 + b2.

Aufgabe 1.19. Sei x2 + y2 = 4 und x4 + y4 = 16. Berechne x und y.

In der Mathematik kommt es oft darauf an, etwas “zu sehen”; meistens ist eskein entdeckendes Sehen, sondern ein “wiedererkennendes”. Mit anderen Worten:wenn man bei einem Problem nicht weiter weiß, sollte man nach Hinweisen suchen,die einem bekannt vorkommen.

Aufgabe 1.20. Zeige, dass unter den Zahlen n4 + 4 nur n = 1 eine Primzahlliefert.

Unter den Zahlen n2 + 4 kommen viele Primzahlen vor (vermutlich unendlichviele, auch wenn das noch niemand beweisen kann), d.h. wir mussen die viertePotenz ausnutzen. Aber wie? Die Losung findet man erst, wenn man an die bi-nomischen Formeln denkt und versucht, n4 + 4 zu einem Quadrat zu erganzen:n4 + 4 = n4 + 4n2 + 4− 4n2 = (n2 + 2)2 − 4n2. Und bei Differenzen zweier Qua-drate5 muss man, ob man will oder nicht, an die dritte binomische Formel denken.Der Rest ist dann ein Kinderspiel.

Aufgabe 1.21. Zahlen der Form An = 24n+2 + 1 besitzen eine Zerlegung inzwei etwa gleich große Faktoren. Finde diese Zerlegung (diese ist nach Aurifeuillebenannt).

Benutze diese Zerlegung, um die Primfaktorzerlegung von 242 + 1 zu finden.

5 An dieser Stelle wird benutzt, dass n2 ein Quadrat ist; ersetzt man n4 durch n2, gehtes an dieser Stelle nicht weiter.

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Aufgabe 1.22. (Further Mathematikolympiade 2010) Zeige, dass die Summe ausdem Produkt vier aufeinanderfolgender ungerader Zahlen und 16 eine Quadratzahlist.

Hinweis: es ist vorteilhaft, die vier ungeraden Zahlen mit 2n−3, 2n−1, 2n+1und 2n+ 3 zu bezeichnen.

Wir haben oben ausfuhrlich die Formel F = ab furden Flacheninhalt eines Rechtecks mit Seitenlangena und b benutzt. Im folgenden werden wir auch dieFormel F = g · h fur den Flacheninhalt eines Paral-lelogramms mit Grundseite g und Hohe h brauchen.Die nebenstehende Skizze zeigt, wie sich dies auf denFall von Rechtecken zuruckfuhren lasst.

Die allermeisten werden von diesem Beweis uberzeugt sein; tatsachlich gibtes aber ein kleines Problem: ist die Grundseite zu kurz, funktioniert der Beweisnicht mehr! Die Losung: verlangert man das Parallelogramm um eines, bei dem derBeweis funktioniert, dann erhalt man den Inhalt des “zu kleinen” Parallelogrammsals Differenz von zweien, die “groß genug” sind.

Aufgabe 1.23. Fuhre den Beweis der Formel F = g · h im Falle “zu kleiner”Grundseiten im Detail aus.

Aufgabe 1.24. Beweise die Formel F = a+c2 ·h fur ein Trapez mit Hohe h, deren

parallele Seiten die Langen a und c haben.

Die nachste Aufgabe ist ganz einfach, wenn man AB = a, BC = b und CD = csetzt und einfach rechnet:

Aufgabe 1.25. Seien A, B, C, D vier aufeinanderfolgende Punkte auf einer Ge-raden. Zeige, dass

AB ·BD +BC ·AD = AC ·BD

gilt.

1.2 Der Satz des Pythagoras

Das Schone an dem geometrischen Beweis der binomischen Formel ist die Tatsa-che, dass dieselbe Idee auch den Satz des Pythagoras liefert. Pythagoras wurdezwischen 600 und 570 v. Chr. auf Samos (eine Insel vor der heutigen Turkei) gebo-ren, bereiste Agypten und Babylon (im heutigen Irak gelegen; damals hieß diesesLand noch Mesopotamien, das Land “zwischen den Flussen” Euphrat und Tigris)und grundete um 530 in Unteritalien den Orden der Pythagoreer. 20 Jahre spaterwurde er von dort vertrieben und ging nach Metapont. Pythagoras war junger

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1.2 Der Satz des Pythagoras 17

als der “erste” griechische Mathematiker, Thales6 von Milet. Thales werden einigeSatze zugeschrieben7: der Satz des Thales, wonach jeder Winkel im Halbkreis einrechter ist; in gleichschenkligen Dreiecken sind die Basiswinkel gleich; der Strah-lensatz; vor allen Dingen soll Thales aber den ersten “Beweis” gegeben haben: erhat also die Entdeckung gemacht, dass man mathematische Satze durch Uberle-gungen auf einfachere Tatsachen zuruckfuhren kann. Thales konnte seine Satzeauch anwenden: er hat den Strahlensatz benutzt, um die Hohe von Pyramidenoder die Entfernungen von Schiffen auf dem Meer zu messen.

Ist nun ein rechtwinkliges Dreieck mit den Katheten a und b und der Hypote-nuse c gegeben, so kann man sich, wie das nachste Diagramm zeigt, aus 4 solcherDreiecke ein Quadrat basteln.

Das Viereck in der Mitte ist ein Quadrat: zum einenhat es vier gleich lange Seiten, zum andern sind alleWinkel rechte. Das folgt daraus, dass die Winkel imDreieck wegen γ = 90◦ der Gleichung α + β = 90◦

genugen.Der Flacheninhalt des großen Quadrats ist einerseits(a + b)2 = a2 + 2ab + b2 (binomische Formel!), ande-rerseits gleich c2 + 4ab2 = c2 + 2ab. Gleichsetzen undWegheben von 2ab liefert a2 + b2 = c2, also den

Satz 1.2 (Satz des Pythagoras). In einem rechtwinkligen Dreieck mit den Kathe-ten a und b und der Hypotenuse c gilt

a2 + b2 = c2.

Der Satz des Pythagoras ist sicherlich der Klassiker unter den Satzen der Ma-thematik, und mit Abstand der bekannteste. Er durfte auch einer der altesten sein,und wurde schon von den Babyloniern benutzt. Auch den Agyptern wird nachge-sagt, dass deren “Seilspanner” (das waren Leute, die z.B. beim Bau der Pyramidenfur gerade Linien und rechte Winkel zu sorgen hatten) ein Seil benutzten, in wel-chem Knoten im Abstand von 3, 4 und 5 Einheiten angebracht waren, um mit

6 Thales (ca. 640 bis 550 v. Chr.) galt als einer der sieben Weisen Griechenlands. Erreiste nach Babylon und Agypten, und erlangte außer wegen seiner mathematischenLeistungen Weltruhm durch die Vorhersage einer Sonnenfinsternis, vermutlich derje-nigen von 585 v. Chr.

7 Die “Beweislage” ist allerdings mehr als durftig: die erste derartige Zuordnung findetsich erstmals einige Jahrhunderte nach Thales. Entsprechendes gilt fur viele ande-re derartige Behauptungen. Insbesondere ist unklar, ob Pythagoras selbst etwas mitseinem Satz zu tun hatte. Von Apollodoros (Mitte 4. Jhdt. v. Chr.) stammt ein Epi-gramm, wonach Pythagoras Stiere geopfert haben soll, nachdem er “die beruhmteZeichnung” gefunden habe. Auf der andern Seite glauben wir zu wissen, dass Pytha-goreer Tieropfer abgelehnt haben, und es ist auch unklar, auf welche Zeichnung sichdiese Verse beziehen.

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18 1. Thales, Pythagoras, Euklid

diesem rechtwinkligen Dreieck dann rechte Winkel abzustecken (Historiker hegendaran allerdings große Zweifel; in jedem Falle ist uns kein Dokument bekannt, indem diese Technik beschrieben ware.).

Eine Standardfrage, die man sich bei jedem Ergebnis, das wir beweisen werden,stellen sollte, ist die folgende: kann ich den Beweis des Satzes auf einem anderenWeg, vielleicht in einem Spezialfall nachvollziehen, oder sogar einen einfacherenfinden? Im vorliegenden Fall beispielsweise konnte man sich fragen, ob der Beweissich vereinfacht, wenn man annimmt, dass beide Katheten gleich groß sind:

Aufgabe 1.26. Betrachte den obigen Beweis des Satzes von Pythagoras im Fallea = b. Skizze! Kann man die Quadrate a2 und b2 “sehen”, z.B. indem man Dreieckegeeignet verschiebt?

Wahrend der Satz des Pythagoras heuteals Satz uber Langen von Dreiecksseitenaufgefasst wird, war er fruher eher ein Satzuber Flachen:

Satz des Pythagoras. In einem recht-winkligen Dreieck ist die Summe der Qua-drate uber den Katheten gleich dem Qua-drat uber der Hypotenuse.

Dabei war mit “Quadrat” dessen Flachen-inhalt gemeint.

Der Beweis des Satzes von Pythagoras kommt auch ohne binomische Formelnaus, wenn man deren geometrischen Beweis mit einbaut: die dunkel schraffierteFlache des Quadrats links hat Inhalt c2, wahrend die beiden dunklen Quadraterechts Flacheninhalt a2 + b2 besitzen. Beide Flacheninhalte mussen aber gleichsein, weil sie in beiden Fallen diejenige Flache geben, die das große Quadrat minusdie vier rechtwinkligen Dreiecke ergeben.

Aufgabe 1.27. Beweise den Satz des Pythagoras durch Berechnen des Flachenin-halts des großen Quadrates auf zwei Arten. Zu zeigen ist auch, dass die Innenwinkeldes großen Vierecks allesamt rechte Winkel sind.

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1.2 Der Satz des Pythagoras 19

Dieser Beweis geht auf den indischen Mathe-matiker Bhaskara aus dem 12. Jahrhundertzuruck, war aber bereits viel fruher chinesi-schen Mathematikern bekannt; er findet sichnamlich in dem Buch Chou Pei Suan Ching,das zwischen 300 v.Chr. und 200 n.Chr. er-schienen ist. Wie sieht der Beweis im Spezial-fall a = b aus?

Es gibt, wie schon gesagt, eine riesige Anzahl von Beweisen des Satzes vonPythagoras (es gibt eine Sammlung von Loomis [18] auf Englisch, und eine wenigerumfangreiche von Lietzmann [16]. Die drei folgenden Beweise stammen aus demSchulbuch [2], das zwar kaum 30 Jahre alt ist, sich aber liest wie ein Zeugnis auseinem vergangenen Jahrhundert, weil es – im Gegensatz zu Schulbuchern von heute– vollgestopft ist mit richtiger Mathematik und einer, fur heutige Verhaltnisse,Unmenge von Aufgaben.

Aufgabe 1.28. Erklare den Beweis von Nairizi8.

Sucht man im Internet nach den Stichworten Pythagoras und da Vinci, findetman eine Unmengen von Seiten, die den folgenden Beweis des Satzes von Pytha-goras Leonardo da Vinci9 zuschreiben. Keine einzige dieser Seiten gibt aber einenHinweis darauf, wo da Vinci diesen Beweis veroffentlicht haben soll – in der Regelist in solchen Situationen Vorsicht angebracht. zuschreiben.

Mit Sicherheit lasst sich sagen, dass dieser Beweis von Terquem [33, S. 103–104]veroffentlicht wurde, und zwar mit den Worten

8 Abu-l-Abbasal-Fadlibn Hatim an-Nairizi war ein arabischer Mathematiker und Astro-nom, der um 900 n.Chr. in Bagdad lebte.

9 Leonardo da Vinci, 1452–1519, geboren wurde er in Anchiano bei Vinci in der Toskana.

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20 1. Thales, Pythagoras, Euklid

Le theoreme de Pythagore etant tres-important, nous en donnons ici unenouvelle demonstration uniquement fondee sur la superposition des figu-res.

Aufgabe 1.29. Erklare den Beweis von da Vinci und Terquem. Als Hilfe ist untendas franzosische Original mit abgedruckt.

L’angle BAG etant droit, construisant lecarre ABCD et le carre AEFG, menant lesdeux hypothenuses BG, DE, la somme desdeux carres sera equivalente a l’hexagoneCDEFGB, moins les deux triangles rectanglesegaux ABG, ADE; construisant le carreBGLM, et sur LM le triangle LMN egal aABG at dans une position renversee, on au-ra un second hexagone BAGMNL equivalantau premier. En effet, menons AN et les dia-gonales CA, AF formant la droite CAF; lesquadrilateres CDEF, AGMN, sont egaux, carMN = CD; angle NMG = angle CDE; GM =DE; angle MGA = [angle] DEF; EF = AG.

On prouve de meme que les quadrilateres ABLN, CBGF, sont egaux, donc lesdeux hexagones sont equivalens;10 retranchant de chacun les triangles egaux, ilreste d’un cote la somme des deuc carres AC, AF, et de l’autre de carre GL; doncon a

BGLM = ABCD +AGEF,

ouBG2 = AB2 +AG2.

Aufgabe 1.30. Erklare den Beweis von Baravalle11. Dieser Beweis ist dem Eukli-dischen ganz ahnlich; der wesentliche Unterschied ist, dass das Kippen der Figurbei Euklid hier ersetzt wird durch ein Verschieben:

10 Ob die drei verschiedenen Schreibweisen von equivalent nahelegen, dass es damals(1809) eine kanonische Rechtschreibung nicht gab, oder ob nur dieses Buch schlampiggeschrieben wurde, weiß ich nicht.

11 Hermann von Baravalle, 1898 – 1973. Baravalle war ab 1920 Lehrer an Deutschlandserster Waldorfschule in Stuttgart, die 1919 von Rudolf Steiner gegrundet worden war.1937 emigrierte er in die USA und kehrte erst kurz vor seinem Tod wieder nachDeutschland zuruck. In seinen Biographien im Netz findet man gelegentlich Hinweisedarauf, dass er seine mathematischen Vortrage durch “Gestik und Tanz” untermalte;ich kann der Vorstellung einiges abgewinnen, dass man damals auf Waldorfschulennicht seinen Namen getanzt hat, sondern den Satz des Pythagoras.

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1.2 Der Satz des Pythagoras 21

Aufgabe 1.31. Beschreibe den Beweis des Satzes des Pythagoras, den die fol-genden vier Diagramme nahelegen. Dieser Beweis aus Indien stammt aus dem 10.Jahrhundert und hat den Namen “Der Brautstuhl”.

Zu zeigen ist, dass das Quadrat mit Kantenlange c den gleichen Flacheninhalthat wie die beiden Quadrate mit Kantenlangen a bzw. b zusammen.

Das Curry-Dreieck

Diese “Beweise durch Verschieben” sind etwas tuckisch, weil die Anschauung dafursorgt, dass manche Dinge als “offensichtlich” angesehen werden, die es nicht sind.Als schlagenden Beweis dafur sei hier das “Curry Triangle” genannt.

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22 1. Thales, Pythagoras, Euklid

Die Diagramme unten (Fig. 1.1) zeigen zwei “kongruente” Dreiecke, bei denenVerschiebungen zu einem Flachenzuwachs gefuhrt haben. Hier sind die Dreieckeschon so sauber gezeichnet, dass man sofort sieht, wo der Hase im Pfeffer liegt. ImInternet kann man Zeichnungen finden, die so “geschickt” gezeichnet sind, dassman auf den ersten Blick nicht erkennen kann, was passiert.

Fig. 1.1. Das Curry-Dreieck

Bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass das Dreieck gar keines ist, undauch keines sein kann: denn dazu musste nach dem Strahlensatz das Verhaltnisder Katheten in den beiden linken Dreiecken gleich sein: diese sind aber 12 : 5 imeinen und 7 : 3 im andern Dreieck.

Benannt ist das Curry-Dreieck ubrigens nach einem amerikanischen Amateur-mathematiker; der wesentliche Gehalt dieses Paradoxons wurde aber schon vonSchlomilch Ende des 19. Jahrhunderts erkannt (siehe [29]), dessen Beispiel aus ei-nem Quadrat der Seitenlange 8 und einem Rechteck mit den Seitenlangen 5 und13 bestand. Dasselbe Paradoxon hat der fur seine Puzzles beruhmte AmerikanerSam Loyd12 nach eigenen Angaben (aus dem Jahre 1914) im Jahr 1858 auf demersten amerikanischen Schachkongress entdeckt und vorgetragen.

12 Hier ist eine sehr hubsche Aufgabe von Sam Loyd:

“Diese beiden Truthahne wiegen zusammen 20 Pfund”, sagt der Metzger. “Derkleine kostet pro Pfund 2 cent mehr als der große”. Mrs. Smith kaufte denkleineren fur insgesamt 82 cent, Mrs. Brown zahlte fur den großen 2 Dollarund 96 cent. Wie viel haben die beiden Truthahne gewogen?

Man stellt schnell fest, dass diese beiden Gleichungen nicht ganz einfach zu losen sind– wir werden darauf noch zuruckkommen.

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1.2 Der Satz des Pythagoras 23

Bei diesem Puzzle wird ein Schachbrett mit 8 × 8 = 64 so zerschnitten, dassnach dem Zusammensetzen ein Rechteck mit 5 × 13 = 65 Feldern entsteht (sh.Fig. 1.2).

Fig. 1.2. Das Beispiel Schlomilchs

Des Ratsels Losung kommt man naher, wenn man die obige Zeichnung, bei deretwas “gemogelt” wurde, genauer zeichnet:

In der ersten Zeichnung wurde erst die Diagonale eingezeichnet, dann die Punk-te auf der Diagonale in die Nahe der jeweiligen Gitterpunkte gesetzt. In der zwei-ten Zeichnung wurden erst die Gitterpunkte gesetzt und dann die Punkte durchStrecken verbunden. Man sieht, dass diese keine Diagonale bilden, weil die ent-sprechenden “Steigungen” gleich − 2

5 , − 13 und wieder − 2

5 sind. Die Dreiecksteile,die man aus dem Quadrat ausgeschnitten hat, passen daher nicht zusammen, son-dern lassen etwas Zwischenraum frei, was dazu fuhrt, dass es vermeintlich einenFlachenzuwachs von einem Kastchen gegeben hat.

Die Zahlen 5, 8 und 13 ubrigens sind nicht aus Zufall Fibonacci-Zahlen, alsoZahlen aus der Reihe 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, . . . , in der jede Zahl die Summe der beidenvorhergehenden ist; vielmehr liegt das an der Identitat 5 · 13 = 82 + 1, die manauch in der Form 13

8 = 85 + 1

40 schreiben kann, welche erklart, warum der Betrugfast unsichtbar ist.

Aufgabe 1.32. Eine kleinere Variante desselben Paradoxons erhalt man aus denFibonacci-Zahlen 3, 5 und 8, bei denen 3 · 8 = 52 − 1 ist. Konstruiere ein solchesParadoxon. Warum ist diese Variante weniger zum Hereinlegen geeignet?

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24 1. Thales, Pythagoras, Euklid

Auch bei den einfachen Verschiebungsbeweisen oben haben wir das ein oderandere Detail “ubersehen”; allerdings lassen sich alle unsere Unterlassungssundenleicht beheben.

Euklids Beweis

Der erste Beweis fur den Satz des Pythagoras, den man in Euklids Elementen fin-det, ist aufwendiger13 als die obigen, hat aber einen ganz eigenen Charme. EuklidsBeweis benutzt lediglich die Tatsache, dass Dreiecke mit der gleichen Grundsei-te und der gleichen Hohe auch die gleiche Flache haben. Diese eigentlich trivialeBeobachtung wird so oft angewendet, bis am Ende etwas ganz und gar nicht Of-fensichtliches steht, namlich in unserem Falle Euklids Proposition 47 in Buch I,der

Satz des Pythagoras. In einem rechtwinkligen Dreieck ist das auf der Hypotenu-se errichtete Quadrat gleich der Summe der beiden Quadraten auf den Katheten.

In fruheren Zeiten hieß diese Proposition die Eselsbrucke14 (pons asinorum aufLatein, le pont aux anes auf Franzosisch, und the asses’ bridge auf Englisch). Diemeisten Quellen beziehen die “Eselsbrucke” aber auf Proposition V (im erstenBuch), wonach Basiswinkel eines gleichschenkligen Dreiecks gleich sind; dieses Re-sultat wurde Eselsbrucke genannt, weil es diejenige Proposition in Euklids Buchernwar, bis zu der es auch “Esel” schafften.

Wir werden mit Euklid zeigen, dass das Recht-eck ADEF den gleichen Flacheninhalt besitztwie das Quadrat auf AC. Entsprechend hatdas Rechteck BGEF demselben Flacheninhaltwie das Quadrat auf BC. Also ist der Flachen-inhalt des Quadrats auf AB (also der Sum-me der Flacheninhalte der beiden Rechtecke)gleich der Summe der Flacheninhalte der Qua-drate auf den Hypotenusen.Zum Beweis beachten wir, dass die Halfte desFlacheninhalts von ADEF gleich dem Flachen-inhalt des Dreiecks ADF ist.

13 A propos aufwendig: nach der Rechtschreibreform hat sich nun ja die Schreibwei-se aufwandig durchgesetzt, angeblich weil das Wort von Aufwand kommen soll.Tatsachlich stammt es vom Wort “aufwenden” (nicht aufwanden!) ab, und dieses hatmit dem Wortstamm Wand nichts, aber auch gar nichts zu tun. Vielmehr ist das alt-deutsche Wort wenden mit gehen verwandt, was man an der Vergangenheitsform von“to go” im Englischen (“went”, nicht “want”) noch sehen kann. Dagegen kommt dasWort muhselig eindeutig von Muhsal, wird aber trotzdem nicht muhsalig geschrieben.Ich warte auf den Tag, an dem Schuler den Wandepunkt eines Grafen bestimmenwerden.

14 Der Beweis von Garfield, den wir unten besprechen werden, wurde unter dem Titel“pons asinorum” veroffentlicht.

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1.2 Der Satz des Pythagoras 25

Dieses Dreieck ADF hat dieselbe Grundseite AD und die gleiche Hohe AF wiedas Dreieck ACD. Letzteres wiederum ist kongruent zum Dreieck ABH, wie mandurch Drehung um 90◦ feststellt. Das Dreieck ABH hat dieselbe Grundseite AHund die gleiche Hohe AC wie das Dreieck ACH. Dieses wiederum ist die Halfte desQuadrats auf der Kathete AC.

In der Tat ist

^CAD = ^CAB + ^BAD = α+ 90◦,

^HAB = ^HAC + ^CAB = 90◦ + α,

folglich stimmen die beiden Dreiecke HAB und CAD in den beiden Seiten HA =CA und AB = AD, sowie im eingeschlossenen Winkel uberein und sind damit wiebehauptet kongruent.

Eigentlich ist der Euklidische Beweis gar nicht sooo undurchsichtig. Wer sichdie Worter “Strecken, Kippen, Stauchen” merken kann, wird auch diesen Beweisbehalten konnen.

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26 1. Thales, Pythagoras, Euklid

Es sei auch bemerkt, dass der euklidische Beweis viel mehr zeigt als nur denSatz des Pythagoras: die Strecke AF von A bis zum Lotfußpunkt F von C nenntman traditionell p (vgl. Fig. 1.3); Euklids Beweis zeigt, dass das Rechteck mit denSeiten p und c denselben Flacheninhalt besitzt wie das Quadrat uber a. Dies istder Inhalt des Kathetensatzes:

Satz 1.3 (Kathetensatz). In einem rechtwinkligen Dreieck gilt a2 = pc und b2 =qc.

In Prop. 48 des ersten Buches von Euklid findet man ubrigens auch die Um-kehrung des Satzes von Pythagoras:

Satz 1.4 (Umkehrung des Satzes von Pythagoras). Ist das Quadrat, das auf ei-ner Seite eines Dreiecks errichtet ist, geich den Quadraten auf den beiden andernSeiten, dann ist der Winkel zwischen den beiden letzten Seiten ein rechter.

Sei namlich ABC ein Dreieck derart, dass das Quadrat auf der Seite BC gleichder Summe der Quadrate uber AB und AC ist. Dann, so sagt Euklid, ist der Winkel^BAC ein rechter. Dazu wahlen wir auf dem Lot zu AC durch A einen Punkt Dmit AD = AB und verbinden D mit C. Wegen AD = AB ist das Quadrat uber ADgleich demjenigen uber AB. Addieren wir dazu je das Quadrat uber AC, so folgt

DA2+AC

2= BA

2+AC

2. Nach dem Satz des Pythagoras ist DC

2= DA

2+AC

2,

und nach Voraussetzung ist BC2

= BA2

+AC2. Also ist DC

2= BC

2und damit

DC = BC.Die beiden Dreiecke ACD und ACB stimmen daher in allen drei Seiten uberein

und sind somit kongruent 15. Also stimmen auch die Winkel uberein, und es folgt^BAC = ^DAC, und der letzte Winkel ist ein rechter. Das war zu zeigen.

Der Beweis des Prasidenten

Fur den nachsten Beweis des Satzes von Pythagoras brauchen wir den Flachenin-halt eines Trapezes. Wir beginnen mit dem Fall, in dem ein Winkel im Trapez einrechter ist:

Offenbar ist der gesuch-te Flacheninhalt gleich derSumme der Flache desRechtecks und des recht-winkligen Dreiecks.

Wir finden so

15 Kongruent bedeutet “deckungsgleich”: kongruente Dreiecke lassen sich durch Verschie-ben, Drehen und Spiegeln ineinander uberfuhren, stimmen also in allen Seiten undWinkeln uberein.

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1.2 Der Satz des Pythagoras 27

A = ah+1

2(c− a)h = ah+

ch− ah2

=2ah+ ch− ah

2=ah+ ch

2=a+ c

2· h.

Aufgabe 1.33. Zeige, dass die Formel a+c2 · h fur

den Flacheninhalt eines Trapezes auch dann gilt,wenn das Trapez keinen rechten Winkel hat.

Aufgabe 1.34. Berechne den Flacheninhalt desTrapezes im rechten Diagramm auf zwei verschiedeneArten und folgere den Satz des Pythagoras.

Dieser Beweis geht im wesentlichen auf Saunderson(1740) zuruck und wurde 1876 von J.A. Garfield [7]wiederentdeckt; dieser wurde spater der 20. Prasi-dent der USA und gehort zu den fast 10% aller US-amerikanischen Prasidenten, die bei einem Attentatums Leben kamen.

Im Garfieldschen Beweis16 muss man naturlich zeigen, dass die beiden Seitender Lange c einen rechten Winkel bilden, wenn man a und b so hinlegt, dass sie aufeiner Geraden liegen. Oder man legt die Seiten c im rechten Winkel, muss dannaber nachweisen, dass a und b auf einer Geraden liegen.

Aufgabe 1.35. [4, S. 21] Sei ABC ein beliebiges Dreieck und D der Mittelpunkt

von AB. Zeige, dass AC2

+BC2

= 2AD2

+ 2CD2

gilt.

Aufgabe 1.36. [4, S. 22] Sei ABCD ein Parallelogramm. Zeige, dass

AC2

+BD2

= AB2

+BC2

+ CD2

+DA2

gilt.

Diese Aufgabe kann man auf zwei Arten losen: entweder man wendet das Er-gebnis von Aufg. 1.35 auf die durch eine Diagonale erzeugten beiden Teildreickedes Parallelogramms an, oder man zeichnet die Parallele durch C zu BD (die-se schneidet die Gerade AB in E) und wendet das Ergebnis der vorhergehendenAufgabe auf diese Situation an.

Das folgende Resultat hat Euler (und nach ihm viele andere) entdeckt:

Aufgabe 1.37. [4, S. 22] Sei ABCD ein Viereck, und seien E und F die Mittel-punkte der Diagonalen AC bzw. BD. Dann gilt

AB2

+ ovBC2 + CD2

+DA2

= AC2

+BD2

+ 4EF2.

Welchen Satz erhalt man hieraus im Falle eines Parallelogramms, welchen im Falleeines Rechtecks?

16 Oder, mit Deppenapostroph, in Garfield’s Bewei’s.

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28 1. Thales, Pythagoras, Euklid

Hinweise: Wendet man Aufg. 1.35 auf die Teildreiecke ABD und BCD an, soerhalt man

AB2

+ ovBC2 + CD2

+DA2

= 2AF2

+ 2CF2

+ 4BF2.

Der Trick besteht jetzt darin, Aufg. 1.35 auch auf das Dreieck AFC loszulassen;wenn man dann noch beachtet, dass AC = 2AE ist, sollte es nicht mehr schwersein.

Aufgabe 1.38. [4, S. 23] In einem beliebigen Dreieck ABC mit Seitenmittelpunk-ten D = MAB, E = MBC und F = MAC gilt

3(AB2

+BC2

+ CA2) = 4(AD

2+BE

2+ CF

2).

In ublichen Bezeichnungen (also mit AD = sa, der Lange der Seitenhalbieren-den, usw.) lautet diese Formel

3(a2 + b2 + c2) = 4(s2a + s2b + s2c).

Es ist klar, dass man Aufg. 1.35 auf die einzelnen Teildreiecke anwenden muss:

AB2

+AC2

= 2BE2

+ 2AE2,

BC2

+BA2

= 2CF2

+ 2BF2,

AC2

+BC2

= 2AD2

+ 2CD2.

Addition dieser Gleichungen liefert das Ergebnis, wenn man beachtet, dass auf derrechten Seite AD = 1

2AB etc. ist. Man kann Bruche vermeiden, wenn man dieGleichung erst mit 2 multipliziert.

1.3 Der Hohensatz

Aus der eben bewiesenen Tatsache, dass das Rechteck ADEF und das QuadratACIH den gleichen Flacheninhalt haben, folgt AF · c = a2 und FB · c = b2, mitp = AF und q = FB also

pq =a2b2

c2. (1.2)

Der Flacheninhalt des Dreiecks ist einerseits 12hc · c, andererseits 1

2ab, woraus ab =hcc folgt. Setzt man dies in (1.2) ein, folgt der

Satz 1.5 (Hohensatz). Im rechtwinkligen Dreieck gilt h2c = pq.

Aufgabe 1.39. Beweise den Hohensatz durch dreimaliges Anwenden des Satzesvon Pythagoras.

Hinweis: Wende Pythagoras auf die beiden Teildreiecke an, addiere die Glei-chungen, und benutze Pythagoras fur das große Dreieck.

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1.3 Der Hohensatz 29

Fig. 1.3. Hohensatz samt Zerlegungsbeweis

Einen hubschen Beweis des Hohensatzes findet man in [16, S. 45]; er geht aufK. Meitzner zuruck. Die beiden rechtwinkligen Teildreiecke mit den Seiten a, qund h bzw. b, p und h legen wir in ein großes Dreieck. Dabei ist zu beachten, dassdiese Dreiecke ahnlich sind, also die gleichen Winkel haben.

Offenbar sind die Teildreiecke in den nebenstehenden Dreiecken allesamt kon-gruent. Der Flacheninhalt des großen Dreiecks ist also einerseits h2 plus der Inhaltder beiden Teildreiecke, andererseits pq plus der Inhalt der beiden Teildreiecke.Also ist h2 = pq.

Aufgabe 1.40. Formuliere die Umkehrung des Hohensatzes.

Bei den nachsten beiden Aufgaben treten zwar trigonometrische Funktionenauf, spielen aber nicht wirklich eine Rolle, sondern dienen nur als Gedankenstutze.

Aufgabe 1.41. Zeige am Dreieck in Fig. 1.3

sinβ =h

q=p

h,

und leite daraus den Hohensatz her.

Aufgabe 1.42. Zeige am Dreieck in Fig. 1.3

cosα =p

b=h

aund cosβ =

q

a=h

b,

und leite aus den resultierenden Gleichungen ap = bh und bq = ah den Hohensatzher.

Aufgabe 1.43. Betrachte in Fig. 1.3 die beiden Dreiecke ACF und BCF. Druckedas Verhaltnis p

h und qh durch trigonometrische Funktionen aus. Mit γ1 = ^ACF

und γ2 = ^BCF findet man so

pq

h2= tan γ1 · tan γ2.

Wegen γ1 = α und γ2 = β (Begrundung!) kann man dies auch in der Form

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30 1. Thales, Pythagoras, Euklid

pq

h2= tanα · tanβ

schreiben. Welche Behauptung muss man zeigen, um den Hohensatz auf diesemWeg zu beweisen?

Unter Benutzung von tanα = sinαcosα , sowie von sin(90◦ − α) = cosα und

cos(90◦ − α) = sinα fuhre man den Beweis zu Ende.Wie hangen die Ungleichungen h2 < pq bzw. h2 > pq mit dem Winkel γ

zusammen?

Aufgabe 1.44. In einem rechtwinkligen Dreieck, dessen Thaleskreis Radius rhat, gilt immer h ≤ r. Zeige, dass r = p+q

2 ist, und leite daraus mit Hilfe desHohensatzes die Ungleichung

p+ q

2≥ √pq (1.3)

von arithmetischem und geometrischem Mittel (fur positive Zahlen p, q) her.

Aufgabe 1.45. Beweise die Ungleichung (1.3) von arithmetischem und geome-trischem Mittel durch Rechnung (quadrieren, vereinfachen, binomische Formel).

Die beiden folgenden Aufgaben findet man (mit trignometrischen Losungen)in [11, Aufg. 35, 36]:

Aufgabe 1.46. Zeige, dass in einem rechtwinkligen Dreieck mit Katheten a undb und der Hohe h = hc die Ungleichung

a+ b

2≥√

2 · h (1.4)

gilt. (Hinweis: benutze die Ungleichung von arithmetischem und geometrischemMittel und drucke den Flacheninhalt des Dreiecks auf zwei verschiedene Artenaus.) Fur welche Dreiecke gilt in dieser Ungleichung das Gleichheitszeichen?

Aufgabe 1.47. Zeige, dass in einem rechtwinkligen Dreieck mit Katheten a undb und Hypotenuse c die Ungleichung

a+ b ≤√

2 · c (1.5)

gilt. (Hinweis: Betrachte 2c2, verwende Pythagoras sowie die oft nutzliche Identitat2a2 + 2b2 = (a + b)2 + (a − b)2.) Fur welche Dreiecke gilt in dieser Ungleichungdas Gleichheitszeichen?

Aufgabe 1.48. Zeige, dass man durch Verbindung der Ungleichungen (1.4) und(1.5) die Ungleichung 2h ≤ c erhalt. Warum ist diese trivialerweise richtig?

Die Ungleichung (1.3) von arithmetischem und geometrischen Mittel ist Teildes folgenden scharferen Ergebnisses:

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1.4 Die Strahlensatze 31

Aufgabe 1.49. Zeige die Ungleichungen

√ab ≤ a+ b

2≤√a2 + b2

2

fur reelle Zahlen a, b ≥ 0.Welche dieser Ungleichungen erlauben einen geometrischen Beweis?

Aufgabe 1.50. Sei S ein Punkt im Innern eines Rechtecks ABCD. Zeige

AS2

+ SA2

= BS2

+ SD2.

Aufgabe 1.51. Beweise Euklids Prop. I.43: Sei S ein Punkt auf der DiagonaleAC des Parallelogrammgs ABCD. Die Parallelen der Seiten durch S schneiden dieSeiten in den Punkten E, F, G, H (sh. Skizze). Zeige, dass die ParallelogrammeEBFS und HSGD den gleichen Flacheninhalt besitzen.

Benutze Euklids Prop. I.43 zu einem Beweis des Hohensatzes!

1.4 Die Strahlensatze

Der Strahlensatz17 und seine Varianten beschaftigen sich mit ahnlichen Dreiecken,also Dreiecken, die dieselben Winkel haben, aber verschieden groß sind. In der Pra-xis tauchen solche Dreiecke auf, wenn zwei parallele Geraden ein sich schneidendesGeradenpaar schneiden.

Der Strahlensatz bei Euklid

Unser Strahlensatz findet sich bei Euklid in Buch VI, und zwar als Proposition II:

Wenn eine Gerade, die zu einer Dreiecksseite parallel ist, ein Dreieckschneidet, dann teilt sie die Seiten des Dreiecks proportional; teilt sieumgekehrt die Seiten proportional, dann ist die Gerade parallel zu einerDreiecksseite.

17 Im Franzosischen heißt der Strahlensatz “Theoreme de Thales” oder “Theoremed’intersection”, im Englischen “Intercept Theorem”.

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32 1. Thales, Pythagoras, Euklid

Zum Beweis benutzt Euklid Proposition I aus Buch VI, die wir im wesentlichenals die Formel A = 1

2gh fur den Flacheninhalt von Dreiecken kennen. Einmal habenDreiecke auf der gleichen Grundseite und mit der gleichen Hohe auch denselbenFlacheninhalt, zum andern ist der Flacheninhalt zweier Dreiecke mit der gleichenHohe h und den Grundseiten a1 bzw. a2 gleich A1 = 1

2a1h bzw. A2 = 12a2h, woraus

dann folgt, dass A1 : A2 = a1 : a2 ist, und das ist Euklids Proposition I:

Dreiecke und Parallelogramme mit der gleichen Hohe verhalten sich zu-einander wie ihre Grundseiten.

Jetzt schließt Euklid wie folgt.

Das Dreieck BDE hat denselben Flacheninhaltwie CDE, da es die gleiche Grundseite DE unddie gleiche Hohe hat. Also ist

FBDE : FADE = FCDE : FADE .

Da die Dreiecke BDE und ADE die gleicheHohe haben, verhalten sich ihre Flacheninhal-te wie die Grundseiten BD und DA, d.h. es istFBDE : FADE = BD : DA. Aus dem gleichenGrund ist FCDE : FADE = CE : EA, und wirerhalten

BD : DA = CE : EA.

Aufgabe 1.52. Formuliere den Umkehrsatz des Strahlensatzes. Beweis?

Aufgabe 1.53. Beweise den Strahlensatz fur rechtwinklige Dreiecke durch ge-eignete Flachenberechnungen. Leite daraus den Strahlensatz fur beliebige Dreieckeher, indem man dieses in zwei rechtwinklige zerlegt, oder durch Anfugen einesrechtwinkligen Dreiecks zu einem rechtwinkligen Dreieck macht.

Satz des Pythagoras

Sowohl der Satz des Pythagoras, als auch der Hohensatz folgen leicht aus denStrahlensatzen. Betrachten wir dazu dass Dreieck auf der linken Seite von Fig. 1.3.Die Dreiecke ABC, BCF und CAF sind ahnlich; nach dem Strahlensatz ist also

q

h=h

p.

Wegschaffen der Nenner ergibt den Hohensatz h2 = pq.Andererseits ist a

b = qh und b

a = ph . Addition ergibt

c

h=a

b+b

a=a2 + b2

ab.

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1.5 Thales & Co. 33

wegen ab = hc (Berechnung des Flacheninhalts auf zwei Arten) ist daher ch =

a2+b2

hc , also nach Wegschaffen des Nenners c2 = a2 + b2.Noch einfacher geht es so: es gilt

c

a=a

q,

c

b=b

p,

alsoqc = a2, pc = b2, somit a2 + b2 = pc+ qc = c(p+ q) = c2.

Der Beweis des Satzes von Pythagoras mit dem Strahlensatz kann definitiv Leonar-do von Pisa (Fibonacci) zugeschrieben werden: er steht in seiner Practica Geome-triae aus dem Jahre 1220. Der Beweis, den Einstein im Vorwort (S. 3) beschreibt,durfte derselbe gewesen sein.

1.5 Thales & Co.

Der Satz des Thales ist ein Spezialfall des Satzes vom Umfangswinkel und Zen-trumswinkel:

Hier ist α = ^DMA und β = ^DUA. Da das Dreieck UMA gleichschenkligist wegen UM = MA = r, wo r den Radius des Kreises bezeichnet, ist auch^UAM = β und damit ^UMA = 180◦− 2β. Andererseits ist ^UMA = 180◦−α,und gleichsetzen liefert

180◦ − 2β = 180◦ − α,

alsoα = 2β.

Das gleiche Argument funktioniert auch, wenn die Sache etwas weniger symme-trisch aussieht: die Aussage α = 2β (und das analoge α′ = 2β′) bleibt richtig,wenn man U auf dem Kreisumfang zwischen B und A umherwandern lasst:

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34 1. Thales, Pythagoras, Euklid

Satz 1.6 (Satz von Umfangs- und Zentrumswinkel). Der Umfangswinkel ^AUBist halb so groß wie der Zentrumswinkel ^AMB. Insbesondere sind alle Umfangs-winkel einer Sehne gleich.

Man beachte, dass wir diesen Satz bewiesen haben, indem wir den Winkel^UMA auf zwei verschiedene Arten ausgerechnet haben. Den Satz findet man imIII. Buch von Euklid als Proposition 20.

Im Speziafall α = 180◦ ist AMB der Durchmesser, und der Umfangswinkel einrechter. Das ist genau der

Satz 1.7 (Satz des Thales). Jeder Winkel im Halbkreis ist ein rechter.

Dies ist Proposition III.31 in Euklids Elementen.

Aufgabe 1.54. Beweise den Satz des Thales direkt.

Aufgabe 1.55. Formuliere und beweise die Umkehrung des Satzes von Thales.

Tatsachlich gibt es diverse Moglichkeiten, den Satz des Thales umzukehren.Die folgende (sh. [22, S. 4–5] ist vielleicht die uberraschendste:

Satz 1.8. Seien A und B verschiedene Punkte, und c eine Kurve von A nach B.Ist fur jeden Punkt P auf c der Winkel ^APB ein rechter, dann ist c der Halbkreisuber dem Durchmesser AB.

Zur Losung legen wir ein Koordinatensystem so fest, dass A und B auf derx-Achse liegen und der Ursprung mit dem Mittelpunkt M der Strecke AB zusam-menfallt. Die Koordinaten von A und B seien A(−a|0) und B(0|a). Sei P (x|y)irgendein Punkt auf c.

Aufgabe 1.56. Zeige, dass die Steigungen der Geraden PA und PB gleich m1 =y

x+a und m2 = yx−a sind. Zeige weiter, dass aus dem Kriterium m1m2 = −1 fur

das Senkrechtstehen der Geraden die Kreisgleichung x2 + y2 = a2 folgt.

Aufgabe 1.57. Formuliere und beweise die Umkehrung des Satzes vom Umfangs-und Zentrumswinkel.

Aufgabe 1.58. Zeige, dass in jedem einem Kreis einbeschriebenen Viereck ge-genuberliegende Winkel jeweils zusammen 180◦ ergeben. (Euklid III.22)

Aufgabe 1.59. Zeichne ein beliebiges Rechteck ABCD; sei S der Schnittpunktder Diagonalen. Benutze die Symmetrie des Rechtecks, um zu zeigen, dass S vonallen Eckpunkten den gleichen Abstand hat, also der Mittelpunkt des Umkreisesvon ABCD ist. Folgere, dass der Durchmesser eines Kreises den Kreis halbiert.

Wie kann man anhand dieser Skizze den Satz des Thales entdecken?

Aufgabe 1.60. Gegeben sei ein rechtwinkliges Dreieck ABC. Zeichne einen Kreismit Radius c und Mittelpunkt B wie in der Skizze.

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1.6 Sekanten und Tangenten 35

Zeige, dass ^BAD = ^CAE = α2 ist (das

geht direkt, aber auch mit Satz von Umfangs-und Zentrumswinkel sowie Thales). Folgere,dass die Dreiecke DCA und ACE ahnlich sind,und schließe aus dem Strahlensatz

b

c+ a=c− ab

.

Leite daraus den Satz des Pythagoras her18.

1.6 Sekanten und Tangenten

Es gibt eine Unmenge von Satzen aus der Kreisgeometrie, die heutzutage fast keinSchuler mehr kennt. Ohne dieses Wissen sind aber Wettbewerbsaufgaben aus derGeometrie schlichtweg nicht losbar. Um diese Standardsatze zu beweisen, mussenwir erst einige ganz einfache Tatsachen bereitstellen.

Der Kreis mit Mittelpunkt M und Radius r > 0 ist definiert als die Mengealler Punkte P , die von M denselben Abstand r haben.

Satz 1.9. Ein Kreis geht beim Spiegeln an seinem Durchmesser in sich selbst uber.

Sei P ′ der Punkt, den man durch Spiegelnvon P am Durchmesser erhalt, und sei S derSchnittpunkt von PP ′ mit diesem Durchmes-ser. Dann ist ^PSM = ^P ′SM = 90◦, al-so nach Pythagoras und weil beim SpiegelnLangen erhalten bleiben

r2 = PM2

= MS2+PS

2= MS

2+P ′S

2= MP ′

2,

und dies zeigt, dass P ′ auf dem Kreis liegt.

Im wesentlichen die gleiche Aussage ist die folgende:

Satz 1.10. Das vom Mittelpunkt eines Kreises auf seine Sehne AB gefallte Lothalbiert die Sehne.

In der Tat: da der Kreis beim Spiegeln am Durchmesser erhalten bleibt, musswie oben SA = SB sein.

18 Dieser Beweis stammt von Michael Hardy [21, S. 8].

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36 1. Thales, Pythagoras, Euklid

Als nachstes definieren wir die Tangente im Punkt P eines Kreises: dies isteine Gerade, die den Kreis in P so schneidet, dass der gesamte Kreis auf einerSeite der Tangente liegt. In anderen Worten: eine Gerade, die den Kreis in genaueinem Punkt, namlich P , schneidet.

Satz 1.11 (Euklid III.18). Beruhrt eine Tangente einen Kreis mit Mittelpunkt Min T, dann ist MT orthogonal zur Tangente.

Wir wollen erst einmal das Schulwissen auf diesen Satz loslassen, also die Be-hauptung mit den Mitteln der Koordinatengeometrie und Differentialrechnungherleiten. Der Kreis besteht aus allen Punkten P (x|y), die von einem Punkt (demMittelpunkt M , den wir in den Ursprung legen) ein und denselben Abstand r ha-ben. Der Abstand PM = r ist nach Pythagoras

√(x− 0)2 + (y − 0)2 = r, woraus

durch Quadrieren die Kreisgleichung

x2 + y2 = r2

folgt.Um die Tangente in einem Punkt P (a|b) des Kreises (es ist also a2 + b2 = r2)

zu bestimmen, betrachten wir alle Geraden durch P und bestimmen diejenige, dieden Kreis in einem Punkt (das muss dann naturlich P sein) und nicht in zweienschneidet. Die Geraden durch P haben die Form

y = m(x− a) + b

(denn wenn man hier x = a setzt, erhalt man y = b). Schneiden mit dem Kreisliefert

r2 = x2 + y2 = x2 + (m(x− a) + b)2.

Dies ist eine quadratische Gleichung in x, die man nach Ausmultiplizieren wieublich mit der abc-Formel losen kann. Wir kennen aber schon eine Losung, namlichx = a (in der Tat liefert Einsetzen von x = a die richtige Gleichung r2 = a2 + b2);also bringen wir alles auf eine Seite und klammern den Faktor x− a aus:

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1.6 Sekanten und Tangenten 37

0 = x2 + (m(x− a) + b)2 − r2

= x2 +m2(x− a)2 + 2m(x− a)b+ b2 − r2

= x2 +m2(x− a)2 + 2mb(x− a) + b2 − (a2 + b2)

= x2 − a2 +m2(x− a)2 + 2mb(x− a)

= (x− a)(x+ a) +m2(x− a)2 + 2mb(x− a)

= (x− a)(x+ a+m2(x− a) + 2mb).

Jetzt kann man die Losung x = a ablesen; setzt man den zweiten Faktor gleich 0,erhalt man die zweite Losung. Damit es aber nur einen Schnittpunkt gibt, mussdiese zweite Losung gleich der ersten sein. Mit anderen Worten: setzt man in diezweite Klammer x = a ein, muss 0 herauskommen:

a+ a+m2(a− a) + 2mb = 0, also 2a+ 2mb = 0.

Auflosen nach m ergibt

m = −ab.

Dies ist also die Steigung der Tangente. Und dass die Tangente senkrecht aufdie Gerade MP mit der Steigung m′ = b−0

a−0 = ba steht, ist gleichbedeutend mit

m ·m′ = −ab ·ba = −1.

Aufgabe 1.61. Dieser Beweis funktioniert fur vier Punkte auf dem Kreis nicht– welche sind das?

Die Steigung der Tangente bekommt man naturlich leichter durch die Anwen-dung der Differentialrechnung: Ableitung von f(x) =

√r2 − x2 liefert f ′(x) =

− x√r2−x2

, also f ′(a) = −ab wie oben.

Noch leichter erhalt man dieses Ergebnis, wenn man die Gleichung x2+y2 = r2

direkt nach x ableitet: es ist (x2)′ = 2x, wahrend die Ableitung von y2 als Funktionvon x gleich (y2)′ = 2yy′ ist. Also folgt 2x + 2yy′ = 0, d.h. y′ = −xy , und dies

liefert wieder das Ergebnis, dass die Tangentensteigung in (a|b) gleich −ab ist.Der Standardbeweis mit analytischer Geometrie ist alles andere als einfach.

Jetzt wollen wir uns der Sache geometrisch nahern.

Beweis von Satz 1.11. Sei F der Lotfußpunkt des Mittelpunkts M auf der Tangen-te t. Dieser Punkt F kann, da der Kreis auf einer Seite der Tangente liegt, nichtinnerhalb des Kreises liegen. Also ist MF ≥MT .

Andererseits ist nach Pythagoras

MT2

= MF2

+ FT2 ≥MT

2+ FT

2.

Diese Ungleichung kann nur dann gelten, wenn FT = 0, also F = T ist. Alsoist T der Lotfußpunkt von M , folglich steht der Radius MT senkrecht auf dieTangente.

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38 1. Thales, Pythagoras, Euklid

Satz 1.12. Werden von einem Punkt P außerhalb eines Kreises die beiden Tan-genten an den Kreis gezeichnet, und sind A bzw. B deren Beruhrpunkte, dann istPA = PB.

Beweis. Nach dem vorhergehenden Satz steht MA senkrecht auf die eine Tangente,

also ist nach Pythagoras MA2

+AP2

= PM2. Aus dem gleichen Grund gilt auch

MB2

+ BP2

= PM2. Also ist MA2

+ AP2

= MB2

+ BP2. Da MA = MB

der Radius des Kreises ist, folgt AP2

= BP2

und damit die Behauptung AP =BP .

Satz 1.13 (Sehnen-Tangenten-Winkel-Satz). Sei T der Schnittpunkt einer Tan-gente an einen Kreis von einem Punkt P aus, und seien A und B die Schnittpunkteeiner Sekante durch P . Dann ist der Tangentenwinkel α = ^BTP gleich dem Seh-nenwinkel α = ^BAT .

Beweis. Nach dem Satz uber den Umfangswinkel ist α = ^TAB = ^TA′B, woA′ so gewahlt ist, dass A′T durch den Mittelpunkt M des Kreises geht. Da B aufdem Thaleskreis uber A′T liegt, ist ^ABT = 90◦, und damit ^ATB = 90◦ − α.Da die Tangente in T senkrecht auf den Radius TM steht, ist ^ATP = 90◦ unddaher ^ATB = 90◦−^BTP . Da dieser Winkel aber auch gleich 90◦−α ist, muss^BTP = α sein.

Satz 1.14 (Sehnen-Tangenten-Satz). Sei T der Schnittpunkt einer Tangente aneinen Kreis von einem Punkt P aus, und seien A und B die Schnittpunkte einerSekante durch P . Dann ist

PA · PB = PT2.

Beweis. Nach dem Satz vom Sehnen- und Tangentenwinkel ist ^BTP = ^BAT ;weiter ist naturlich ^BPT = ^APT . Also stimmen die Dreiecke APT und BPTin zwei (und damit in allen drei) Winkeln uberein und sind somit ahnlich. Nachdem Strahlensatz ist daher

PT : PB = PA : PT ,

woraus sofort die Behauptung folgt.

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1.6 Sekanten und Tangenten 39

Ein falscher Beweis des Satzes von Pythagoras

Nicht alle “Beweise” des Satzes von Pythagoras, die in den letzten 2500 Jahrenveroffentlicht wurden, sind auch korrekt. Ein Beispiel fur einen solchen falschenBeweis ist der folgende von Loomis [17].

Sei nun ein rechtwinkliges Dreieck gegeben, und sei, wie ublich, a = BC, b =AC und c = AB. Der Inkreis des Dreiecks schneide dieses in den Punkten D, Eund F (vgl. Skizze). Dann ist das Viereck MECF ein Quadrat, denn der Winkelin C ist ein rechter nach Voraussetzung, und die Winkel in E und F sind rechteWinkel weil die Tangenten an einen Kreis senkrecht auf die Verbindungsgeradevon Mittelpunkt und Schnittpunkt stehen (Satz 1.11). Also sind (Winkelsumme360◦) alle Winkel rechte. Nach Satz 1.12 ist CE = CF , und die Behauptung folgt.Insbesondere ist CE = ME = r und CF = r, wo r den Radius des Inkreisesbezeichnet.

Jetzt giltc = AB = AD +DB = AF +BE

nach dem Hilfssatz, folglich

c+ 2r = AF +BE + FC + EC = a+ b. (1.6)

Quadrieren dieser Gleichung ergibt

c2 + 4cr + 4r2 = a2 + 2ab+ b2. (1.7)

Der Satz des Pythagoras ist gleichbedeutend mit der Aussage 4cr + 4r2 = 2ab.Ware 4cr + 4r2 > 2ab, also c2 + 4cr + r2 > a2 + 2ab+ b2, so folgt durch Wur-

zelziehen c+ r > a+ b, was (1.6) widerspricht. Ebenso fuhrt man die Moglichkeit4cr + 4r2 < 2ab zum Widerspruch. Also muss 4cr + 4r2 = 2ab gelten, und diesimpliziert den Satz des Pythagoras.

Der Beweis dieses Satzes ist auf eine Art und Weise aufgeschrieben, die esschwer macht, den Fehler zu finden (es ist uberhaupt eine nicht ganz leichte Sache,

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40 1. Thales, Pythagoras, Euklid

Beweise von richtigen Satzen als falsch nachzuweisen, weil es ja kein Gegenbeispielzum Satz geben kann).

Gehen wir also zuruck zu Gleichung (1.7) und betrachten den Fall 4cr+ 4r2 >2ab. Dann besagt (1.7) nicht mehr und nicht weniger als a2 +2ab+ b2 = c2 +4cr+4r2 > c2+2ab, also a2+b2 > c2. Wie kommt Loomis daraus auf einen Widerspruch?Das gelingt ihm wie folgt: er addiert im wesentlichen die Gleichung c2 = a2 +b2 zuseiner Annahme 4cr+4r2 > 2ab und erhalt daraus den Widerspruch c+2r > a+b.Mit andern Worten: er hat die zu beweisende Gleichung a2 + b2 = c2 in seinemBeweis benutzt. Ein solches Verfahren heißt in der Mathematik ein Zirkelschluss,und die Tatsache, dass dieser einen Namen hat, lasst schon vermuten, dass derZirkelschluss in der Mathematik doch hin und wieder vorkommt.

Der Ansatz von Loomis lasst sich, worauf u.A. Sawyer [28] hingewiesen hat,dennoch zu einem Beweis19 ausbauen: dazu berechnen wir den Flacheninhalt desDreiecks ABC auf zwei Arten. Zum einen ist der Flacheninhalt sicherlich gleich12ab. Zum andern haben die Teildreiecke ABM, BMC, CMA die Flacheninhalte rc

2 ,ar2 und br

2 . Also ist

ab

2=ar + br + cr

2und damit 2ab = 2r(a+ b+ c). (1.8)

Setzt man (1.6) in diese Gleichung ein, folgt

2ab = 2r(a+ b+ c) = 2r(2c+ 2r) = 4rc+ 4r2.

Wir hatten aber bereits oben gesehen, dass diese Aussage gleichbedeutend mitdem Satz des Pythagoras ist.

1.7 Verschiedenes

In diesem Kapitel haben wir die Geometrie, die fruher auf Gymnasien unterrichtetwurde, hochstens ansatzweise vorgestellt. Es gibt noch eine ganz Reihe weitererSatze der elementaren Geometrie, auf die wir hier nicht eingehen konnen – insbe-sondere gilt das fur die ausgedehnte Theorie der Kegelschnitte. Manche elemen-targeometrischen Satze sollte man aber zumindest einmal gesehen haben, und diehier zusammengestellten gehoren sicherlich dazu.

Satz 1.15. Die Mittelsenkrechten eines Dreiecks schneiden sich in einem Punkt,namlich dem Mittelpunkt des Umkreises.

Der Beweis dieses Satzes ist ziemlich einfach.

Satz 1.16. Die Seitenhalbierenden eines Dreiecks schneiden sich in einem Punkt.Dieser Punkt heißt Schwerpunkt des Dreiecks.

19 Dazu mussten wir allerdings Satz 1.11 ebenfalls ohne den Satz des Pythagoras be-weisen. Das geht, wenn man die Langenberechnung durch Pythagoras ersetzt durchEuklids Prop. I.19: in einem Dreieck liegt der großte Winkel gegenuber der langstenSeite.

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1.7 Verschiedenes 41

Satz 1.17. Die Winkelhalbierenden eines Dreiecks schneiden sich in einem Punkt,namlich dem Mittelpunkt des Inkreises.

Satz 1.18. Die Hohen eines Dreiecks schneiden sich in einem Punkt.

Diese Satze sind klassisch. Erst Euler hat aber gesehen, dass es hier sehr vielmehr zu entdecken gibt:

Satz 1.19. Der Schnittpunkt M der Mittelsenkrechten, der Schnittpunkt H derHohen und der Schnittpunkt S der Seitenhalbierenden liegen auf einer Geraden,der Eulerschen Gerade. Dabei ist SH = 2HM .

Landeswettbewerb Mathematik 2013

Die folgende Aufgabe stammt aus dem Landeswettbewerb Mathematik 2013.

Aufgabe 1.62. Ein Kreis beruhrt die Parallelen g und h in den Punkten A undB. Zwei Verbindungsstrecken AC und BD der Parallelen schneiden sich auf demKreis im Punkt P .

Zeige: die Kreistangente durch P halbiert die Strecken AD und BC.

Jetzt sei noch der Beweis von Aufg. 1.1 nachgetragen: Von den drei PunktenA, B, C liegen mindestens zwei auf einer Seite der Geraden. Die Dreiecksseitezwischen diesen beiden Punkten wird von der Geraden nicht geschnitten.