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144 Anke Kaloudis Sokratische Gespräche im Religionsunterricht führen 1 Mit Jugendlichen zu kommunizieren ist für Erwachsene ein abenteuerliches Un- terfangen. Die Sprachcodes der Peers gleichen fremdartigen Verständigungs- spielen, deren Sinn sich einem erst mit einer gewissen Verzögerung erschließt. Nicht selten endet man in der Sprach- losigkeit. Ohne Worte. Auf der anderen Seite wirken erwachsene Sprachmuster in der Welt der Jugendlichen ebenso befremdlich. »Was willst du?« »Was re- dest Du?« Fragende Blicke. »Ich verstehe nicht, was Du meinst.« Zurück bleibt Un- verständnis bei den Jugendlichen. Was sich hier im Alltäglichen zeigt, gilt für den Bereich der Religion und Theologie in verstärktem Maß, beson- ders dann, wenn erwachsene Lehrkräfte in der Schule Jugendlichen gegenüber stehen, die mit Religion »gar nichts am Hut haben« aber im Fach Religion unter- richtet werden müssen. In religiösen An- gelegenheiten eine gemeinsame Sprache zu finden, scheint mühsam. Das Reden über Religion, den eige- nen Glauben und die christlichen Inhalte und das religiöse Reden, das Bekenntnis zu Gott, das Beten, die Frömmigkeit und der Glauben – beides scheint in der Welt der Jugendlichen immer weniger behei- matet zu sein. Wenn die Religionslehr- kraft beginnt von Rechtfertigung und Gottes Gnade zu reden, wenn der Be- griff des Reiches Gottes und der Escha- tologie die Unterrichtsstunden »füllt«, wenn in Schulgottesdiensten gemeinsam gebetet und gesungen werden soll, dann zeigt sich ebendieser »Graben« zwischen Welt und Sprache der Jugendlichen und Welt und Sprache der Religionslehrer und Religionslehrerinnen. Wie kann vor diesem Hintergrund Kommunikation im Religionsunterricht gelingen? Wie kön- nen Unterrichtsgespräche gestaltet und strukturiert werden? Im Kontext einer Theologie mit Ju- gendlichen 2 soll hier ein Schwerpunkt darauf gelegt werden, wie mit Jugendli- chen im Religionsunterricht Gespräche geführt werden können. Dabei wird in der Sokratik eine für den Religionsun- terricht adäquate Methode vorgestellt, 1 Die folgenden Aussagen orientieren sich an meinen Ausführungen in meiner Dissertati- onsschrift: Anke Kaloudis, »Auf der Grenze« – Religionsdidaktik in religionsphilosophischer Perspektive, Unterrichtspraktische Überle- gungen zur Anthropologie in der gymnasia- len Oberstufe mit Paul Tillich, Kassel 2012, 257–290. 2 Vgl. hier Friedrich Schweitzers Rede von einer Theologie für, mit und der Kinder bzw. Jugend- lichen, in: Friedrich Schweitzer, Kindertheo- logie und Elementarisierung, Wie religiöses Lernen mit Kindern gelingen kann, Gütersloh 2011, 9–18 und Thomas Schlag / Friedrich Schweitzer, Brauchen Jugendliche Theologie, Jugendtheologie als Herausforderung und didaktische Perspektive, Neukirchen-Vluyn 2011, 60, sowie Thomas Schlag / Friedrich Schweitzer u.a., Jugendtheologie, Grundlagen – Beispiele – kritische Diskussion, Neukir- chen-Vluyn 2012, 9ff. aus: Jahrbuch für Jugendtheologie, Band 2. © Calwer Verlag, Stuttgart

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Anke KaloudisSokratische Gespräche im Religionsunterricht führen1

Mit Jugendlichen zu kommunizieren ist für Erwachsene ein abenteuerliches Un-terfangen. Die Sprachcodes der Peers gleichen fremdartigen Verständigungs-spielen, deren Sinn sich einem erst mit einer gewissen Verzögerung erschließt. Nicht selten endet man in der Sprach-losigkeit. Ohne Worte. Auf der anderen Seite wirken erwachsene Sprachmuster in der Welt der Jugendlichen ebenso befremdlich. »Was willst du?« »Was re-dest Du?« Fragende Blicke. »Ich verstehe nicht, was Du meinst.« Zurück bleibt Un-verständnis bei den Jugendlichen.

Was sich hier im Alltäglichen zeigt, gilt für den Bereich der Religion und Theologie in verstärktem Maß, beson-ders dann, wenn erwachsene Lehrkräfte in der Schule Jugendlichen gegenüber stehen, die mit Religion »gar nichts am Hut haben« aber im Fach Religion unter-richtet werden müssen. In religiösen An-gelegenheiten eine gemeinsame Sprache zu finden, scheint mühsam.

Das Reden über Religion, den eige-nen Glauben und die christlichen Inhalte und das religiöse Reden, das Bekenntnis zu Gott, das Beten, die Frömmigkeit und der Glauben – beides scheint in der Welt der Jugendlichen immer weniger behei-matet zu sein. Wenn die Religionslehr-kraft beginnt von Rechtfertigung und Gottes Gnade zu reden, wenn der Be-griff des Reiches Gottes und der Escha-tologie die Unterrichtsstunden »füllt«,

wenn in Schulgottesdiensten gemeinsam gebetet und gesungen werden soll, dann zeigt sich ebendieser »Graben« zwischen Welt und Sprache der Jugendlichen und Welt und Sprache der Religionslehrer und Religionslehrerinnen. Wie kann vor diesem Hintergrund Kommunikation im Religionsunterricht gelingen? Wie kön-nen Unterrichtsgespräche gestaltet und strukturiert werden?

Im Kontext einer Theologie mit Ju-gendlichen2 soll hier ein Schwerpunkt darauf gelegt werden, wie mit Jugendli-chen im Religionsunterricht Gespräche geführt werden können. Dabei wird in der Sokratik eine für den Religionsun-terricht adäquate Methode vorgestellt,

1 Die folgenden Aussagen orientieren sich an meinen Ausführungen in meiner Dissertati-onsschrift: Anke Kaloudis, »Auf der Grenze« – Religionsdidaktik in religionsphilosophischer Perspektive, Unterrichtspraktische Überle-gungen zur Anthropologie in der gymnasia-len Oberstufe mit Paul Tillich, Kassel 2012, 257–290.

2 Vgl. hier Friedrich Schweitzers Rede von einer Theologie für, mit und der Kinder bzw. Jugend-lichen, in: Friedrich Schweitzer, Kindertheo-logie und Elementarisierung, Wie religiöses Lernen mit Kindern gelingen kann, Gütersloh 2011, 9–18 und Thomas Schlag / Friedrich Schweitzer, Brauchen Jugendliche Theologie, Jugendtheologie als Herausforderung und didaktische Perspektive, Neukirchen-Vluyn 2011, 60, sowie Thomas Schlag / Friedrich Schweitzer u.a., Jugendtheologie, Grundlagen – Beispiele – kritische Diskussion, Neukir-chen-Vluyn 2012, 9ff.

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die im Sinne von Schweitzers Rede der Elementarisierung eine elementare Lernform darstellt.3 Gegenüber anderen Veröffentlichungen zur Jugendtheolo-gie wie etwa Petra Freudenberger-Lötz’ »Theologische Gespräche mit Jugendli-chen«, in denen unterschiedliche Metho-denbeispiele reflektiert werden, legen die folgenden Ausführungen den Fokus auf den Aspekt der Gesprächsführung.4 Es wird zentral herausgearbeitet werden, wie theologische Gespräche mit Hilfe der Sokratik strukturiert geführt werden können.

Das mag einen erst einmal verwun-dern, wird doch die Sokratik gemeinhin mit der Philosophie in Verbindung ge-bracht. Sokratische Gesprächsführung wird im Kontext der Schule im Ethik- oder Philosophieunterricht praktiziert. Und in der Lehrerausbildung findet sie sich in ebendiesen Fächerkonstellatio-nen. Im Religionsunterricht führt sie dagegen eher ein Schattendasein. Wie es trotzdem funktionieren und welche Anregungen der Religionsunterricht von dem Sokratischen Gespräch in sich auf-nehmen kann, das versuchen die folgen-den Ausführungen zu verdeutlichen.

Sokrates im Gespräch5

Wer in Platons Schriften stöbert, begeg-net einem Sokrates, der auf der Agora in Athen Menschen und Leute aufsucht und sie über Alltagsfragen in Gespräche verwickelt. Die platonischen Dialoge, die der Nachwelt die Person des Sokrates bewahrt und überliefert haben, zeigen einen Meister der Gesprächsführung, der bei genauem Hinsehen allerdings in didaktischer und bildungstheoreti-

scher Hinsicht gar nicht so meisterhaft vorgeht. Von der Eigenständigkeit des Lernenden im Bildungsprozess, wie ihn schon die klassischen Bildungstheoreti-ker wie Wolfgang Klafki betont haben, ist in den Gesprächen nichts zu spüren, geschweige denn von den eigenen Kon-struktionsleistungen des Schülers und der Schülerin, wie sie der pädagogische Konstruktivismus von Horst Siebert für den allgemeindidaktischen Bereich oder Hans Mendl für die Religionspädagogik

3 Vgl. hier Friedrich Schweitzer, Elementarisie-rung und Kompetenz. Wie Schülerinnen und Schüler von »gutem Religionsunterricht« pro-fitieren, Neukirchen-Vluyn 2008, 29f.

4 Vgl. hier: Petra Freudenberger-Lötz, Theo-logische Gespräche mit Jugendlichen, Erfah-rungen – Beispiele – Anleitungen, München, Stuttgart 2012, 83ff. Petra Freudenberger-Lötz stellt unterschiedliche Methoden dar, mit Ju-gendlichen über theologische Fragen ins Ge-spräch zu kommen: z.B. das Schreibgespräch; die Fünf-Schritt-Lesemethode; das Placemat-Verfahren, die strukturierte theologische Kontroverse usw.

5 Für die folgenden Ausführungen sind we-sentlich: Klaus Draken, Sokrates als moderner Lehrer, Eine sokratisch reflektierte Methodik und ein methodisch reflektierter Sokrates für den Philosophie- und Ethikunterricht, in: Dieter Krohn / Barbara Neißer / Nora Walter (Hg.), Sokratisches Philosophieren. Schrif-tenreihe der Philosophisch-Politischen Aka-demie und der Gesellschaft für Sokratisches Philosophieren, Band XIII, Berlin 2011. Gisela Raupach-Strey, Grundregeln des Sokratischen Gesprächs, in: Sokratisches Philosophieren. Schriftenreihe der Philosophisch-Politischen Akademie, Band IV, Frankfurt a.M. 1997, 145–162. Sowie Gisela Raupach-Strey, Das Paradigma der Sokratischen Methode in der Tradition von Leonhard Nelson (1882–1927) und Gustav Heckmann (1898–1996), in: Sok-ratisches Philosophieren. Schriftenreihe der Philosophisch-Politischen Akademie, Band VI, Frankfurt a.M. 1999, 36–68. Und Volker Steenblock, Sokrates & Co. Ein Treffen mit den Denkern der Antike, Darmstadt 2005.

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in der jüngsten Vergangenheit betonen6. Vielmehr erweist sich Sokrates im Ge-spräch als dominanter Gesprächsführer, der die Fäden klar in der Hand hat und genau weiß, wohin er seinen Gesprächs-partner lenken will. In nicht wenigen Dialogen versichert das Gegenüber von Sokrates im Anschluss an dessen ge-schwungene Fragetechniken dem Meis-ter der Gesprächsführung, wie Recht er doch hat. Von eigenen Gedanken, Ein-fällen und Ideen, die Sokrates aus der Bahn werfen könnten, findet man eigent-lich im Munde seiner Zöglinge nichts. Volker Steenblock kommt deshalb zu der Ansicht: »Ein Gespräch mit Sokrates ist also eine – bis heute – vieldiskutierte und schwierige Angelegenheit. Man hat den Eindruck karikiert, den viele plato-nischen Dialoge auf uns machen: Unter starker Führung eines Lehrenden wird ein ›Opfer‹ dazu gebracht, falsche Lö-sungen zu produzieren, die dann von So-krates Stück für Stück destruiert werden. Der Lernende muss erkennen, dass er die Denkaufgaben mit den Bildungsmitteln, die er zunächst nur mobilisieren kann, nicht zu bewältigen vermag. Die Regie des Lehrenden ist übermächtig, der Ler-nende verbleibt in der Rolle dessen, der den jeweils erreichten Stand mit ›Ja‹ und ›Amen‹ bestätigen muss. In einem zwei-ten, ›anamnetischen‹ Akt gibt der Leh-rende nach der Destruktion aller ›natur-wüchsigen‹ Antworten des Delinquenten dann gezielte Fragen so vor, dass er aus dem Lernenden die (diesem nach einer Perspektive jedenfalls Platons in letzter Instanz aus der Präexistenz der Seele bekannte, jedoch verschüttete) objektive Lösung sozusagen ›herausholt‹ [...].«7

Auch wenn die pädagogische Leis-tung des historischen Sokrates durchaus

kritisch befragt werden darf, so hat sich doch in seinem Gefolge vor allen Dingen durch den Göttinger Philosophieprofes-sor Leonard Nelsen und seiner Schule im letzten Jahrhundert das Sokratische Ge-spräch in der Universität und auch in der Schule als Methode des Philosophierens etabliert.8 Es ist nicht zuletzt die Hebam-menkunst des antiken Philosophen, die ihm den Ruhm eingebracht hat. Sokra-tes’ Gesprächsführung steht dafür, dass jeder Mensch dazu in der Lage ist, durch gewisse Anreize von außen, das in einem selbst schlummernde Wissen zu heben. Dieser Vorgang rückt dann wiederum –

6 Vgl. hier Hans Mendl, Konstruktivismus, päd-agogischer Konstruktivismus, konstruktivisti-sche Religionspädagogik. Eine Einführung, in: Hans Mendl (Hg.), Konstruktivistische Religi-onspädagogik. Ein Arbeitsbuch. Religionsdi-daktik konkret, Band 1, Münster 2005, 1–27.

7 Volker Steenblock (wie Anm. 5), 47.8 Vgl. hier Anke Kaloudis (wie Anm. 1), 267. Ka-

loudis hält fest: »Die sokratische Gesprächs-methode wurde zur Anregung für die Bildung und den Unterricht. Der Göttinger Philoso-phieprofessor Leonard Nelson verhalf ihr zum Durchbruch. Er gründete 1922 die Philoso-phisch-Politische Akademie mit dem Ziel die Breitenwirkung der philosophischen Bildung im Sinne der Sokratik voranzutreiben. 1946, nach dem Zweiten Weltkrieg, reaktivierte sein ehemaliger Schüler Gustav Heckmann den Bildungsbetrieb und führte die sokratische Gesprächsmethode in Niedersachsen in die Ausbildung der Lehrer ein. Dessen Schüler, Detlef Horster, wiederum pflanzte den Ge-danken in die Volkshochschulen und grün-dete gemeinsam mit anderen Schülern und Schülerinnen Heckmanns die Gesellschaft für sokratisches Philosophieren. Sie ist heute gemeinsam mit der Philosophisch-Politischen Akademie Nelsons verantwortlich für eine Reihe von Publikationen zur Sokratik und So-krates. Der Philosophiedidaktiker Ekkehard Martens etablierte die sokratische Gesprächs-methodik endgültig im Bereich des Schulun-terrichtes.«

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ganz im Gegensatz zum Auftritt des do-minanten Gesprächsleiters Sokrates – den Gesprächspartner in den Mittelpunkt des Geschehens. Denn nur in ihm schlum-mert ein Wissen, das auch nur durch ihn hindurch ans Tageslicht gefördert werden kann. In eigentümlicher Weise wird hier der Subjektgedanke im Bildungsprozess wieder eingeholt.

Merkmale des Sokratischen Gespräches

Eine der wohl wichtigsten Veröffent-lichungen zu Sokrates und der auf ihn zurückgehenden Sokratischen Ge-sprächsmethode in der Gegenwart geht auf die Philosophin Gisela Raupach-Strey zurück.9 Sie definiert ein Sokrati-sches Gespräch folgendermaßen: »Ein Sokratisches Gespräch ist eine von der Erfahrung ausgehende, personenbezo-gene und argumentierende Suche einer Gesprächsgemeinschaft nach der Er-kenntnis der Wahrheit über ein philoso-phisches Problem mit der Absicht, diese Wahrheitserkenntnis schließlich in einem konsensfähigen Urteil zu fassen.«10 Als Merkmale eines Sokratischen Gesprä-ches in der Tradition von Leonhard Nel-son führt Raupach-Strey u.a. folgende Kriterien an11:– Jeder kann sich am Gespräch beteili-

gen, unabhängig von Bildungsstand, Herkommen, sozialer Zugehörigkeit. Die Gesprächsteilnehmer befinden sich bildlich gesprochen auf der Ago-ra, dem Marktplatz.

– Die zu verhandelnden Themen wer-den der Lebenswelt der Akteure entnommen. Dadurch entsteht auto-matisch Interesse am Dialog und eine

eindeutige »Anforderungssituation«. Es gilt Dinge zu klären, mit denen man immer schon beschäftigt ist. An dieser Stelle wird der Erfahrungsbe-zug der Diskussionsbeiträge offen-sichtlich.

– Es gibt im Gespräch keinen Dog-matismus. Beiträge sind nicht auto-matisch richtig oder falsch, weil sie richtig oder falsch zu sein haben. »So-kratisches Philosophieren ist nicht auf eine Lehre bezogen, weder als Sach-autorität und somit Berufungsinstanz noch als anzustrebendes Erkenntnis-ziel. In diesem Sinn ist das Sokratische Philosophieren weder dogmatisch noch doktrinal.«12 Antworten stehen nicht schon von vornherein fest. Der Gesprächsleiter hat folgerichtig die Aufgabe, sich mit seiner Meinung zurückzuhalten, um den Verlauf des Diskurses nicht zu beeinflussen. Er fungiert in der Rolle des Moderators.

– Es gibt in der Sokratik keinen Dog-matismus, weil jeder herausgefordert wird, vernünftig zu argumentieren und zu urteilen. Der Vernunft je-des einzelnen Gesprächsteilnehmers wird höchste Priorität zugebilligt.

9 Klaus Draken erläutert in seiner kürzlich er-schienenen Dissertation »Sokrates als moder-ner Lehrer« (wie Anm. 5): »Jede neuere Arbeit zur Sokratik muss neben Rückgriffen auf den platonischen Sokrates vor allem auf die Arbeit von Gisela Raupach-Strey zurückgreifen, die in ihrer umfangreichen Dissertation ›Sokrati-sche Didaktik‹ im Jahr 2002 das der Tradition von Leonard Nelson und Gustav Heckmann als lebendiger Gesprächspraxis zugrunde lie-gende Sokratesbild ausgeführt und didaktisch weiterentwickelt hat.« (Klaus Draken [wie Anm. 5], 53).

10 Gisela Raupach-Strey (wie Anm. 5), 42.11 Vgl. ebd., 43–68. 12 Ebd., 47.

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Vernünftiges Urteilen schließt einen unreflektierten Dogmatismus aus.

– Sokrates selbst hat sich mit einer Hebamme verglichen, die dem geis-tigen Kind auf die Welt verhilft.13 Im Sokratischen Gespräch geht es ganz grundlegend erst einmal darum, das in einem selbst schlummernde Er-fahrungswissen in das Gespräch einzubringen. Das erleichtert die Teilnahme am Dialog, weil sich die Gesprächsteilnehmer nicht unbe-dingt im Vorfeld Wissen angelesen haben müssen.

– Die Erfahrungsurteile, die in das Ge-spräch eingebracht werden, werden auf ihre theoretische Grundierung hin überprüft. Gedanken werden von der konkreten Erfahrung aus ins Allgemeine abstrahiert. D.h.: aus den Gesprächsbeiträgen werden abstrakte Aussagen herausdestilliert. Was steckt dahinter? Worum geht es eigentlich? Leonhard Nelson nannte diesen Vor-gang »regressive Abstraktion«. »Von den Erfahrungs-Urteilen, die sich zum untersuchten Beispiel einstellen, ausgehend, wird Schritt für Schritt zurückgegangen auf die zugrundelie-genden Voraussetzungen, so daß man allmählich abstraktere Aussagen von allgemeinerer Bedeutung gewinnt.«14

– Das Sokratische Gespräch zielt auf einen Konsens bei der Wahrheitsfin-dung, bei der das bessere Argument zählt. Die Überzeugungskraft der Ar-gumente lässt einen Konsens wach-sen. Solange es noch Einwände im Gesprächsverlauf gibt, sind Zweifel hinsichtlich der zu suchenden Ant-wort anzumelden. Der Konsens dient als Regulativ einer subjektiven Belie-bigkeit.

– Sokratisches Philosophieren vollzieht sich in einer Gemeinschaft und ist in-tersubjektiv. Im Fokus steht nicht der über sich selbst räsonierende Eremit, sondern der je einzelne Mensch als ein Gemeinschaftswesen, der im Aus-tausch mit Anderen lernt.

Der Ablauf eines Sokratischen Gespräches15

Hat Gisela Raupach-Strey unmissver-ständlich klar gemacht, woran ein So-kratisches Gespräch gemessen werden muss, so lassen sich nach Klaus Draken Stufen eines Gesprächsverlaufes rekon-struieren. Nach Draken, der selbst aus-gebildeter sokratischer Gesprächsleiter und sowohl im Schulunterricht als auch in der Ausbildung von Lehramtskandi-daten und -kandidatinnen tätig ist, kann ein Sokratisches Gespräch in sechs Etap-pen erfolgen: – Themenstellung: Das Gespräch wird

mit einer Frage eröffnet, die Interesse wecken und an den Erfahrungsschatz der Beteiligten anknüpfen soll.16 Sie muss so formuliert sein, dass die Ge-sprächsteilnehmer sie anhand ihres »Alltagswissens« bearbeiten können.

13 Vgl. ebd., 53.14 Ebd., 55.15 Vgl. hier Klaus Draken (wie Anm. 5), 32–51.16 Klaus Draken formuliert z.B.: Dürfen wir

streiten? Oder: Brauchen wir Ideale? Vgl. hier Klaus Draken, Das Sokratische Gespräch im Unterricht. Bericht aus dem Arbeitskreis von Mechthild Goldstein und Klaus Draken, in: Fachverband Philosophie NRW (Hg.), Philoso-phieunterricht in Nordrhein-Westfalen. Neue Arbeitsformen im Philosophieunterricht (Bei-träge und Informationen Nr. 36, Selbstverlag, Kevelaer 2001), 15f.

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– Beispielsuche: In Phase zwei erfolgt die Suche nach einem geeigneten Bei-spiel, das die angesprochene Frage gut veranschaulicht. Die Gesprächsteil-nehmer nennen Themen, Ereignisse, Fälle aus ihrem Alltag, von denen sie meinen, dass mit ihrer Hilfe die Frage gut bearbeitet werden kann. Aus der Fülle von »Fällen« wird einer gewählt, der daraufhin von der entsprechen-den Person noch einmal ausführlich vorgestellt wird. Das Beispiel kann schriftlich auf Flipchart oder Tafel festgehalten werden.

– Beispielanalyse: Darauf folgt die Ana-lyse des Beispiels durch Befragung und Einbringen von Ideen und Ge-danken zur Klärung. Ziel ist es, Fra-gen im Hinblick auf das Beispiel und die übergeordnete Themenstellung zu formulieren. Der Wahrheit soll ein Stück näher gekommen werden. Was veranschaulicht das Beispiel im Hin-blick auf die Ausgangsfragestellung? Nimmt das Beispiel alle Facetten des Problems in den Blick?

– Diskursive Suche wahrer Aussagen: Im vierten Schritt geht es darum, Ant-worten auf die Ausgangsfrage zu finden. Hinter den eingebrachten Äußerungen werden verallgemein-erbare Sätze und Prinzipien gesucht. Leonhard Nelson hat diesen Vorgang »regressive Abstraktion« genannt.17 Es bezeichnet das Suchen und Finden von abstrakten Wahrheiten, indem Schritt für Schritt hinter den von den Teilnehmern eingebrachten Äußerun-gen Allgemeingültiges benannt wird. Am Ende dieses Prozesses steht ein von der Gesprächsgemeinschaft ge-tragener Konsens als Antwort auf die Ausgangsfrage.

– Gesprächsabschluss: Klaus Draken hebt am Ende eines Gesprächsganges die Notwendigkeit hervor, dass im konkreten Setting auch immer ein Gesprächsabschluss fest eingeplant werden sollte: »Man muss ein Ende aus zeitlichen Gründen im laufen-den Prozess finden. Hierzu hat sich bewährt, die gefundenen Konsense noch einmal abschießend in den Blick zu nehmen und in ihrem Gehalt zu würdigen.«18

– Zwischenphasen als Metagespräche: Wäh-rend des Gesprächsprozesses und auch am Ende erfolgt die Phase der Metakognition. Die Gesprächsteil-nehmer haben die Möglichkeit den gemeinsamen Diskurs zu reflektieren, ihr Gesprächsverhalten »unter die Lupe zu nehmen«, die Übertragbar-keit der Methode in andere Kontexte zu überprüfen usw.

Klaus Draken selbst räumt ein, dass die Übertragung des sokratischen Paradig-mas aus dem Bereich der Erwachsenen-bildung in den Schulunterricht nicht ohne Brüche geht. Der Kontext der Schule, das Verhaftetsein der Schüler und Schülerinnen und der Lehrkraft in ihren jeweiligen Rollen, der 45 Mi-nuten Takt einer Stunde, das abzuar-beitende Pflichtprogramm durch den Lehrplan – all das macht es nicht leicht, dem Ideal des Sokratischen Gespräches nahe zu kommen: einem auf zwischen Lernenden und Lehrkraft auf gleicher Augenhöhe stattfindenden Dialog, der

17 Vgl. die oben ausgeführten Merkmale eines Sokratischen Gespräches nach Gisela Rau-pach-Strey.

18 Klaus Draken (wie Anm. 5), 38.

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unvoreingenommen und undogmatisch das Erfahrungswissen der Protagonis-ten in einen konstruktiven Diskurs zu überführen vermag, um der Wahrheit argumentativ ein Stück näher zu kom-men.19 Gleichwohl kann er in abgemil-derter Form und ohne die Ansprüche zu hoch zu schrauben, eine sinnvolle Möglichkeit darstellen, mit Schülern und Schülerinnen ein professionelles Gesprächsverhalten einzuüben.

Die Übertragung der Sokratik in den Religionsunterricht

Im Eingang wurde schon auf die Frag-lichkeit des Unterfangens hingewiesen, die Sokratik in den Religionsunterricht zu transferieren. Geht das überhaupt und kann man das guten Gewissens tun, bedenkt man die von Raupach-Strey for-mulierten Merkmale eines Sokratischen Gespräches, hier vor allen Dingen der Gedanke, dass erstens kein Dogmatis-mus zählt und zweitens das Sokratische Gespräch streng argumentativ vorgeht. Im Folgenden werden beide Gedanken ins Visier der Untersuchung genommen, um zu überlegen, wie den Argumenten begegnet werden könnte.

(a) Die Frage nach dem Dogmatismus: Reli-gionsunterricht wird in Deutschland in der Regel konfessionell verantwortet und unterrichtet, sieht man z.B. von Berlin, Bremen oder Brandenburg ab.20 D.h. der zu erteilende Unterricht und auch die Lehrkräfte sind angehalten, sich inhalt-lich im Rahmen der jeweiligen Konfes-sion zu bewegen. Fraglich ist also hier, ob der Unterricht genügend Freiräume bietet, dass auch erlaubt sein darf, was im

konfessionellen Sinn nicht erlaubt sein kann. Denn im Sokratischen Gespräch geht es ja um »Wahrheitsfindung«. Und die macht an keiner vorgegebenen insti-tutionell-inhaltlichen Grenze Halt.

Deutlich wird das Problem, wenn man gegenüber dem herkömmlichen Re-ligionsunterricht ein Modell denkt, das eher religionsphilosophisch ausgerichtet ist.21 Ein religionsphilosophisch poin-tierter Unterricht bringt eine hermeneu-tische Grunddifferenz ins Spiel. Mit den Worten des Philosophen Herbert Schnä-delbach gesprochen: »Die Religionsphi-losophie [...] setzt nicht wie die Theolo-gie den Glauben voraus, und sie versucht auch nicht, ihn erst zu begründen, son-dern sie wechselt von der Perspektive des am Religiösen Teilnehmenden zu der des neutralen Beobachters [...].«22 Ähnlich argumentiert der in Innsbruck lehrende Philosoph Winfried Löffler: »Religions-philosophie sollte von ihren Begründun-gen und Geltungsansprüchen her aber logisch unabhängig von bestimmten reli-giösen Überzeugungen sein. Was als Prä-misse in religionsphilosophische Überle-gungen eingeht, sollte idealer Weise für

19 Vgl. hier auch die Begriffsbestimmung eines Sokratischen Gespräches durch Gisela Rau-pach-Strey im Vorfeld sowie Klaus Draken (wie Anm. 5), 43.

20 Einen Überblick über die unterschiedlichen Modelle von Religionsunterricht liefert Birgit Hoppe, Konfessionell-kooperativer Religions-unterricht. Geschichtlicher Kontext, Organi-sationsformen, Zukunftsperspektiven, Saar-brücken 2008, 42–78.

21 Vgl. hier Anke Kaloudis (wie Anm. 1).22 Herbert Schnädelbach, Mit oder ohne Gott.

Religion im Streit der Meinungen, in: Herbert Schnädelbach, / Heiner Hastedt / Geert Keil (Hg.), Was können wir wissen, was sollen wir tun? Zwölf philosophische Antworten, Ham-burg 22011, 230.

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Menschen beliebiger weltanschaulicher Prägung akzeptabel sein, unabhängig insbesondere von der Anerkennung be-stimmter religiöser Schriften, Traditio-nen, Äußerungen von Autoritäten etc. als Erkenntnisquelle. Es darf also nicht nur aus diesen Erkenntnisquellen begründ-bar sein. So etwa dürfen Aussagen der Bibel, des Koran etc. nicht unbesehen als Begründung religionsphilosophischer Behauptungen herangezogen werden.«23 Und weiter hält Löffler fest: »Einen Son-derfall stellt die Theologie dar, die das Glaubensverständnis bestimmter Reli-gionen darzustellen versucht; sie ist also eine normative Wissenschaft und einer bestimmten Religion verpflichtet. Religi-onsphilosophie [...] soll dagegen logisch unabhängig von der Glaubenszustim-mung zu einer bestimmten Religion vor-gehen.«24

Bedenkt man diese Voten aus dem Bereich der Philosophie, so wird deut-lich, dass ein an der Religionsphiloso-phie orientierter Religionsunterricht sich schneller und leichter an die Sokratik an-schmiegen könnte, als ein an der jeweili-gen Theologie der Konfessionen gebun-denes Lernen, das sich im normativen Sinn der eigenen Tradition verpflichtet weiß. Trotzdem kann meines Erachtens vor dem Hintergrund – gerade der pro-testantischen Tradition – die Tragfähig-keit der Sokratik, zumindest im evangeli-schen Religionsunterricht, herausgestellt werden.

Auf der einen Seite ist an das histo-rische Erbe des Protestantismus zu er-innern und auf Luthers Leistung, den Menschen in seinem Glauben von äuße-ren Zwängen befreit und ihn stattdessen an sein eigenes Gewissen gebunden zu haben, zu verweisen. Der Theologe Paul

Tillich redet in diesem Zusammenhang vom »protestantischen Prinzip«: »Das protestantische Prinzip ist der Wächter gegen die Versuche des Endlichen und Bedingten, sowohl im Denken als auch im Handeln, sich zur Würde des Unbe-dingten zu erheben. Es ist das prophe-tische Gericht über religiösen Stolz, kirchliche Arroganz und die diesseitige Selbstgenügsamkeit mit ihren zerstöre-rischen Konsequenzen.«25 »Protestantis-mus ist, wo in der Vollmacht des neuen Seins die menschliche Grenzsituation in ihrem Nein und Ja verkündigt wird. [...] Das kann in der organisierten Kir-che sein, aber es muß nicht in ihr sein [...]. Das protestantische Prinzip kann verkündigt werden von Bewegungen, die weder kirchlich noch profan sind, sondern beiden Sphären angehören, von Gruppen und Individuen, die mit oder ohne christliche und protestantische Symbole die wahre menschliche Situa-tion ausdrücken angesichts des Letzten und Unbedingten. Tun sie dies besser und mit größerer Autorität als die offi-ziellen Kirchen, dann repräsentieren sie und nicht die Kirchen den Protestantis-mus der Gegenwart.«26 Soweit Paul Til-lich. Deutlich wird hier: Der Protestan-tismus ist ein Wächter seiner selbst. Ihm ist ein selbstkritisches Moment inhärent. Protestantismus meint, sich selbst und der eigenen christlichen Tradition und

23 Winfried Löffler, Einführung in die Religions-philosophie, Darmstadt 2006, 34.

24 Winfried Löffler (wie Anm. 23), 43.25 Paul Tillich, Protestantisches Prinzip und pro-

letarische Situation, in: Gesammelte Werke Band VII, Stuttgart 1962, 86.

26 Paul Tillich, Die protestantische Verkündi-gung und der Mensch der Gegenwart, in: Auf der Grenze. Aus dem Lebenswerk Paul Til-lichs, Stuttgart 1962, 126.

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Konfession immer kritisch gegenüber zu sein.

Mit der Fähigkeit zur Selbstkritik des Protestantismus gelingt dann der Brü-ckenschlag zur Sokratik. Ein sokratischer Diskurs in der Schule mit Schülern und Schülerinnen weiß sich im selbstkri-tischen Sinn der Wahrheitssuche ver-pflichtet. Ziel des Religionsunterrichtes kann es demnach nicht sein, den Jugend-lichen den konfessionell-geprägten Glau-ben beizubringen und ihnen »einzutrich-tern«, sondern Schüler und Schülerinnen sollen in die Lage versetzt werden, im religiösen Sinn nach der Wahrheit zu fragen und einen eigenen begründeten Standpunkt zu theologischen und kon-fessionellen Themen einzunehmen.

Zu beachten ist dabei allerdings, dass es – so formuliert Petra Freudenberger-Lötz – in ihrer »Jugendtheologie« im Re-ligionsunterricht »Glaubensfragen« und »Wissensfragen« gibt, zwischen denen es zu unterscheiden gilt.27 »Wissensfragen« zielen auf den Erwerb von Lerngegen-ständen, die im eigentlichen Sinn nicht verhandelbar sind. Sie können mit »Ja« und »Nein« oder »falsch« und »richtig« beantwortet werden. Die Frage nach den Prinzipien der Textkritik und der ex-egetischen Arbeit z.B. sind unter diese Kategorie zu subsumieren. Anders ver-hält es sich mit den »Glaubensfragen«. Hier ist die eigene Meinung des Schülers und der Schülerin gemeint. Sie sollen sich einen Standpunkt erarbeiten. Petra Freudenberger-Lötz stellt unterschiedli-che Fragen und Diskussionsprozesse aus ihrer Kasseler Forschungswerkstatt vor: »Glauben Sie an Gott?«; »Wie würde Je-sus heute auftreten?«, »Hat Jesus Wunder vollbracht?«.28 Recht verstanden würden also im sokratisch geführten Dialog keine

»Wissensfragen« behandelt, sondern eher »Glaubensfragen«. »Braucht der Mensch Religion?« oder »Kommt ein Schwer-verbrecher in den Himmel?« oder »War Jesus eigentlich ein gläubiger Mensch?« – Fragen in dieser Richtung erwarten keine eindeutige Antwort, sondern eine diskursive Auseinandersetzung, an deren Ende sich der Lernende sein »Urteil« ge-bildet haben soll.

(b) Die Frage nach der argumentativen Stren-ge: Was hat der Glaube mit der Vernunft zu tun? Will man den Religionsunter-richt auf seine Sokratik-Tauglichkeit überprüfen, muss man sich diese Frage stellen. Gisela Raupach-Strey hat als ein wesentliches Merkmal des sokratischen Paradigmas die Argumentationsfähig-keit der Gesprächsteilnehmer herausge-stellt. Damit soll unterbunden werden, dass ein Dialog auf der Ebene des bloßen »Meinens« stehen bleibt. Nur das bessere Argument erzielt den Erkenntnisgewinn und den Fortschritt im Diskurs. Kann das in gleicher Weise für Gespräche im Religionsunterricht geltend gemacht werden?

Die Frage macht zweierlei deutlich bzw. weist auf zwei Dinge hin: Tatsächlich kann es erstens im sokratisch geführten Dialog nicht um ein Gespräch nach dem Motto gehen: »Ich glaube, dass ...«. Und: »Aber ich glaube nicht, dass ...«. Einge-fordert werden muss bei Fragen wie den oben genannten – »Braucht der Mensch Religion?« oder »Kommt ein Schwer-verbrecher in den Himmel?« oder »War

27 Vgl. Petra Freudenberger-Lötz (wie Anm. 4), 14.

28 Petra Freudenberger-Lötz (wie Anm. 4), 49ff.

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Jesus eigentlich ein gläubiger Mensch?« – die Orientierung an vernünftigen Ar-gumenten und eine logische Gedanken-führung. Hier geht es also weniger um den eigenen Glauben, sondern um die Klärung gewisser, im Bereich der Religi-on ansässiger und zum Diskurs sich eig-nender Fragen.

Zweitens muss hier festgehalten wer-den, dass Glaube und Vernunft eine jahr-hundertealte gemeinsame Tradition ha-ben. Sie stehen sich keineswegs feindlich gegenüber und schließen sich nicht aus, sondern können einander durchdringen und befruchten. Herbert Schnädelbach macht auf die Geschichte von Philoso-phie und Theologie aufmerksam, auf ihr Ineinander-Verwobensein: »Es dauerte bis ins Hochmittelalter, bis Theologie und Philosophie überhaupt als verschie-dene Disziplinen unterscheidbar wur-den, während zuvor alles Philosophische, das durch die Kirchenväter in die scien-tia christiana [Kursivdruck im Original] eingewandert war, durchweg theologisch war. Die selbständig gewordene Philo-sophie wird freilich im Katholizismus bis heute als »Magd der Theologie [...]« oder als propädeutisches Fach im Theo-logiestudium betrieben, während die protestantische Tradition immer dazu tendierte, das theologische möglichst unabhängig von philosophischen Vor-aussetzungen zu erhalten [...].«29

Theologie und Philosophie oder Glaube und Vernunft sind miteinander kommunizierbar. Das zeigt der Blick in die Vergangenheit und Gegenwart. Ohne die Grundlage der Vernunft kommt die Theologie nicht aus, gilt sie doch als die Reflexionsform des Glaubens. Oder mit den Worten von Wilfried Härle gespro-chen: »Christliche Theologie dient dem

christlichen Glauben, indem sie ihn je-weils in ihrer Zeit zu verstehen versucht und auf seinen Wahrheitsgehalt hin über-prüft. Das ist ihr Erkenntnisinteresse.«30 Deshalb kann auch gesagt werden, dass das von Gisela Raupach-Strey konstatier-te Kriterium der Argumentationskraft im sokratischen Gespräch auch für den Diskurs im Religionsunterricht anwend-bar ist. Theologische Gespräche führen bedingt den Gebrauch der Vernunft.

Gute Gründe für das Sokratische Gespräch im Religionsunterricht

Blickt man auf die zusammen getrage-nen Ausführungen zurück, so lässt sich trotz der eingangs genannten Bedenken für die Übertragung der Sokratik in den Religionsunterricht plädieren. Vor allen Dingen der Rekurs auf die Situation des Marktplatzes und der Gedanke der Mä-eutik zur Hebung des Erfahrungswissens in den Lernenden lassen sich gut mit den gegenwärtigen Bedingungen, denen der Religionsunterricht unterliegt, verknüp-fen.

Die Heterogenität der Schülerschaft und die unterschiedlichen Modi der Re-ligiosität31 der Lernenden implizieren, dass nicht jeder Schüler und jede Schü-lerin in demselben Maß religiös geschult und aufgeschlossen ist. Der Unterricht

29 Herbert Schnädelbach (wie Anm. 22 ), 230.30 Wilfried Härle, Dogmatik, Berlin / New York

1995, 10.31 Freudenberger-Lötz spricht von vier Typen

des Glaubens: »ruhender Glaube«, »reflek-tierter Glaube«, »kritisch-suchende Haltung«, »kritisch ablehnende bis indifferente Haltung« (Petra Freudenberger-Lötz [wie Anm. 4], 36–42).

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benötigt Formen und Methoden, die die-sen religiösen Abbruchprozessen konst-ruktiv begegnen und die Lernenden dort abholen, wo sie stehen. Durch die He-bung ihres Erfahrungswissens kann das geleistet werden. Die Beteiligung am Re-ligionsunterricht erfordert kein Credo, das zu Beginn abgeprüft wird. Jeder und jede kann sich aufgrund der eigenen Ge-schichte, Fragen und Haltung einbrin-gen. Auf der anderen Seite lässt sich das Bild des Marktplatzes sehr gut auf den Religionsunterricht übertragen: Nicht selten sitzen Schüler und Schülerinnen unterschiedlicher Herkunft und Kultur zusammen. Die Marktplatzsituation ist die des Unterrichts, die die Lehrkraft zu bewältigen hat.

Der Gedanke des Anti-Dogmatismus nimmt die Lernenden in ihrer Eigen-ständigkeit ernst und lässt sich mit dem Anliegen der Jugendtheologie32 sehr gut verbinden. Petra Freudenberger-Lötz hat unlängst als Ziel der Jugendtheologie herausgestellt: »Jugendliche erwerben in theologischen Gesprächen einen ei-genen Standpunkt, der sie in Glaubens-fragen diskursfähig werden lässt. Diesen Standpunkt können sie im Wissen, dass unsere Standpunkte immer vorläufige Standpunkte im Lebenslauf sind, glaub-würdig und selbstbewusst vertreten.«33 Jugendliche suchen ihre eigene Ant-wort in Fragen des Glaubens und der Religion. Das ist als große Chance des Religionsunterrichtes anzusehen. Denn die eigenständige Positionierung auf dem Weg der Wahrheitssuche nimmt die Schüler und Schülerinnen ernst. Das geschieht ebenfalls im sokratischen Dialog. Er kann deshalb als eine Form des Theologisierens mit Jugendlichen angesehen werden. Seine Stärke liegt in

seiner klaren Struktur, seiner Offenheit für eine heterogene Schülerschaft, sei-nem deutlichen Erfahrungsbezug und seinem »Ringen« nach Wahrheit – im religiösen Sinn.

Ein kleiner Ausblick

Der Bereich der Jugendtheologie ist im Kommen. Das zeigen einschlägige Veröf-fentlichungen aus den letzten beiden Jah-ren von Petra Freudenberger-Lötz und auch Friedrich Schweitzer und Thomas Schlag.34 Dabei geht es einerseits um the-oretische Grundlagendiskussionen und andererseits wird der Blick in die Praxis gesucht und beschrieben. Neben dem Einblick in konkrete Unterrichtssequen-zen werden auch in methodischer Hin-sicht Türen geöffnet, wie Theologisieren mit Jugendlichen aussehen kann. Die hier entfalteten Gedanken möchten sich in diesen Diskussionsprozess einreihen. Das sokratische Paradigma als struktu-riertes Gespräch, wie es Klaus Draken

32 Der Pädagogische Konstruktivismus nach Hans Mendl ist ebenfalls gut mit der Sokratik kommunizierbar. Vgl. hier bei Hans Mendl: »Lernen ist ein aktiver Prozess des lernenden Subjektes. Wissen kann also nicht einfach von »außen« nach »innen« transportiert werden, sondern setzt ein Mindestmaß an geistiger Tä-tigkeit voraus.« (Hans Mendl [wie Anm. 6], 16).

33 Petra Freudenberger-Lötz (wie Anm. 4), 13.34 Verwiesen sei hier auf: Petra Freudenberger-

Lötz (wie Anm. 4); Petra Freudenberger-Lötz / Ulrich Riegel (Hg.), »Mir würde das auch gefallen, wenn er mir helfen würde« Baustelle Gottesbild im Kindes- und Jugend-alter, Jahrbuch für Kindertheologie / Sonder-band, Stuttgart 2011; sowie Thomas Schlag / Friedrich Schweitzer, Brauchen Jugendliche Theologie? (wie Anm. 2); Thomas Schlag / Friedrich Schweitzer u.a., Jugendtheologie (wie Anm. 2).

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beschreibt, stellt eine Methodenform da, wie Jugendliche über theologische Fragen ins Gespräch kommen können. Dass dabei die Sokratik einen gewissen Anspruch an Lehrkräfte und Lernende stellt, ist deutlich geworden. Damit das hier beschriebene »Experiment« gelingt, bedarf es einer guten Gesprächsleitung durch die Lehrkraft als auch der Ein-übung einer gewissen Gesprächskultur durch die Schüler und Schülerinnen. Vor allen Dingen der Prozess der »regressi-ven Abstraktion«, das Setting einer Ge-sprächsgemeinschaft, deren Teilnehmer sich gegenseitig achten und mit Respekt begegnen, benötigt Zeit und Geduld, aber auch Experimentierfreude, die letzt-endlich zum Kompetenzgewinn aller bei-tragen kann.

Die Gesellschaft für Sokratisches Philosophieren der Philosophisch-Poli-tischen Akademie in Bonn bietet reich-haltiges Material zum Thema und zur Schulung in der Methodik an. Der Blick über den Tellerrand hinaus in den Phi-losophie- oder Ethikunterricht mag an-regend wirken und den Blick für einen selbst schärfen, was zu tun ist, wenn man sich für den Einsatz der Sokratik im Un-terricht entscheidet. Es ist auf alle Fälle eine lohnende Angelegenheit, »Sokrates als modernen Lehrer«35 in den Unterricht einzuladen.

35 Vgl. hier der Titel von Klaus Drakens Disserta-tion: Sokrates als moderner Lehrer (wie Anm. 5).

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