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PSYCHOLOGIE HEUTE August 2008

Achtsamkeit – das Mittel gegen den AlltagsstressZunehmend entdecken Mediziner und Psycho-therapeuten die Methode der Achtsamkeit. DurchKonzentrations-, Atem- und Meditationstechnikensoll dem Stress des Alltags entgegengewirkt undseelischen wie körperlichen Erkrankungen vorgebeugt werden

■ Ulfried Geuter

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Wir rennen zum Bahnsteig undstoßen an den Papierkorb.Wir telefonieren, während

wir essen, im Hintergrund läuft derFernseher. Wir übergehen die leichteAnspannung im Nacken, bis die Mus-keln hart geworden sind. Wir verzehrenuns in Klagen über die Vergangenheitund in Sorgen über die Zukunft, stattuns dem zu widmen,was wir gerade tun.Wer so achtlos lebt, verliert sein Leben,bevor er stirbt.

Der Verhaltensmediziner Jon Kabat-Zinn, der die Methode der achtsam-keitsbasierten Stressminderung begrün-dete, spricht davon, dass Menschen oftin einer Alltagstrance leben.Sie seien wievon einem Autopiloten gesteuert undsteuerten nicht selbst, wie ein guter Pi-lot, der alle Facetten der Realität auf-merksam registriert und dann handelt.Gefördert wird dieses entfremdete Le-ben von einer Kultur,die durch ihr Reiz-bombardement Menschen aus dem Lotbringt und diejenigen als tüchtig an-sieht, die tausend Dinge gleichzeitig tunkönnen.

Achtsamkeit heißt das Gegengift ge-gen die Zerstreuung,meint Kabat-Zinn.Unter Achtsamkeit versteht er, die Auf-merksamkeit bewusst und mit Absichtauf das aktuelle Erleben zu richten, vonMoment zu Moment, und das, was manwahrnimmt, nicht zu bewerten. Dasheißt, alles, was den Geist erreicht, ersteinmal anzunehmen und nichts zu ver-meiden. „Augen auf und dabei“ statt„Augen zu und durch“. Wer das jahre-lang übt, dessen Geist kann in den Zu-stand des absoluten Gewahrseins kom-men. Ein alter Zenmeister antworteteeinmal auf die Frage eines Schülers, wo-ran man einen Erleuchteten erkenne:„Er isst, wenn er isst, er geht, wenn ergeht, und er schläft, wenn er schläft.“

In der jahrtausendealten buddhisti-schen Lehre gilt die Schulung der Acht-samkeit als Schlüssel, um den Geist zubefreien und die Wirklichkeit zu erken-nen. Der Buddhismus nutzt dabei einenmethodischen Weg,um achtsam zu wer-den und sukha zu erreichen, einen Zu-

stand gleichmütigen Glücksgefühls: dieMeditation. Das macht diese Lehre seitrund 100 Jahren auch im Westen attrak-tiv, dessen Psychologie einen solchenWeg nicht kennt.

Zwei Arten der Meditation sind imBuddhismus verbreitet. In der konzen-trativen Meditation wird die Aufmerk-samkeit auf ein Objekt fokussiert, denSchein einer Kerze, ein Mantra oder einBild, wie die Thangkas oder Mandalasim tibetischen Buddhismus. Der Psy-chologe Christopher Germer vergleichtdiese Form der Aufmerksamkeit miteinem Laserlicht. Wie ein Suchschein-werfer funktioniere hingegen die Auf-merksamkeit bei der Achtsamkeitsme-ditation. Bei dieser Meditation soll allesbeachtet und bewusst registriert werden,was den Geist beschäftigt, seien es Kör-perempfindungen, Gefühle, Gedankenoder die Objekte der Gedanken. ZumBeispiel soll der Meditierende aufmerk-sam beobachten und innerlich benen-nen, wodurch sein Geist gerade abge-lenkt wird. Diese Technik der Vipassa-nameditation aus dem Theravada-buddhismus Südasiens hat Kabat-Zinnin sein Achtsamkeitstraining übernom-men.Seit er an der Medizinischen Hoch-schule der Universität Massachusetts inden USA seine Klinik für Stressmin-derung gründete und die Wirkung der Meditation bei Schmerzen, Herz-erkrankungen, Hautleiden oder Ängs-ten empirisch untersuchte, wurde ihrWert in der Schulmedizin mehr undmehr anerkannt.

In den letzten Jahren hat die Acht-samkeitsmeditation wie eine Flutwelleauch die Psychotherapie erfasst. Kaumeine Fachzeitschrift, die nicht einen programmatischen Artikel zu diesemThema veröffentlichte. So ist in der Ver-haltenstherapie schon von einer „drittenWelle“ die Rede. Nach der lerntheore-tischen und der kognitiven Phase derVerhaltenstherapie gilt Achtsamkeit alsneues mögliches Leitkonzept. Das hatdamit zu tun, sagt der Mannheimer Psychiatrieprofessor Martin Bohus,dassPsychotherapeuten heute Menschen

helfen müssen, die an unheilba-ren Krankheiten wie fortgeschrittenemKrebs leiden. In einer zunehmend sä-kularisierten Welt suchen solche Pa-tienten nach weltlicher Hilfe. Psycho-therapeutische Methoden, die auf Ver-änderung zielen, sind dafür nicht ge-eignet. Wohl aber Wege, die zu einerHaltung des Annehmens,der Akzeptanzhinführen.

Ein anderer Grund für das neue In-teresse an Achtsamkeit in der Psycho-therapie ist der Umgang mit Stress ineiner Gesellschaft, die sich immer ra-scher verändert und immer mehr aus-einanderfällt. Eine solche Gesellschaftmacht Menschen anfällig für psychischeErkrankungen. Denn jeder Einzelnemuss für sich herausfinden, wo er stehtund wie er leben will.Das,so Bohus, lässtMenschen nach einem Gegengewichtsuchen. Während die Gesellschaft nachEffizienz in jedem Moment verlangt,sehnen sie sich nach einem zweckfreienKontakt mit dem Hier und Jetzt undnach Ruhe in sich selbst.

In der Psychotherapie lassen sich zweiFormen der Arbeit mit der Achtsamkeitunterscheiden. Die eine nutzt Achtsam-keit als Übung, um ein distanzierendesBetrachten und einen gelassenen Zu-stand des Geistes herzustellen. Die an-dere versucht mit ihrer Hilfe zu erfor-schen,was im Unbewussten versteckt ist,und die verborgenen Muster des Den-kens und Fühlens zu erkunden, die das Erleben und Verhalten bestimmen.In der modernen verhaltenstherapeuti-schen Achtsamkeitstherapie geht es vorallem um das Üben, wie die folgendenBeispiele zeigen:

In der achtsamkeitsbasierten Stress-minderung (mindfulness based stressreduction, MBSR) lässt Jon Kabat-Zinndie Patienten auf vier Arten Achtsamkeiteinüben: Im Liegen durchwandern sieaufmerksam ihren ganzen Körper, vonden Zehenspitzen bis zum Scheitel, umalles wahrzunehmen, was sie spürenkönnen.Diese in der Körpertherapie seitlangem praktizierte Methode nennt Ka-bat-Zinn body-scan.Das zweite Element

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seines Programms sind Übungen ausdem Hatha-Yoga.Das dritte ist die Acht-samkeitsmeditation, in der die Patien-ten ihre Empfindungen, Gefühle undGedanken aufmerksam betrachten sol-len – wie einen vorbeiströmenden Fluss,an dessen Ufer man sitzt und den mangenau beobachtet. Schließlich bekom-men sie die Aufgabe, in ihrem Alltag ein-zelne Handlungen langsam und acht-sam auszuführen, zum Beispiel etwasgenau zu ertasten oder zu kauen.

Durch das Achtsamkeitstraining ver-ändert sich vor allem die gedanklicheEinstellung zur Krankheit und dadurchmittelbar das Krankheitserleben oderdie Krankheit selbst. Die PsychologenJürgen Stepien und Johannes Lerch me-ditieren zum Beispiel in einer Rehabili-tationsklinik im bayerischen Scheideggmit Krebspatienten. Nach ihrer Erfah-rung wird durch die Meditation der„Widerstand zum Leid“ verringert undes den Patienten leichter gemacht, vondem Abschied zu nehmen, was war, um

mehr im Hier und Jetzt zu leben. DiePatienten erfahren so etwas, das schonBuddha lehrte: die Flüchtigkeit allesSeienden, auch des Leides.

Ein weiterer größerer Anwendungs-bereich des Achtsamkeitstrainings ist die Rückfallprophylaxe bei Patienten,die mehrere depressive Episoden hintersich haben. Sie neigen dazu, wieder ineine Depression zu fallen, wenn sie be-stimmte Gedanken oder Gefühle wieautomatisch als Warnsignale einer neu-en Krise werten. Kanadische und engli-sche Psychologen entwickelten daher einProgramm, das sie achtsamkeitsbasiertekognitive Therapie nannten. In einemachtwöchigen Kurs lernen die Patien-ten eine Atemmeditation oder die auf-merksame Reise durch den Körper, da-neben werden sie über die Mechanismendes Rückfalls aufgeklärt. Zu Hause sol-len sie jeden Tag Achtsamkeitsübungenmachen.

Im Unterschied zum klassischen An-satz der kognitiven Verhaltenstherapie

wird nicht versucht, die Gedanken derPatienten zu ändern, sondern vielmehrihre Einstellung zu ihren Gedanken: Siesollen lernen,sie als flüchtige geistige Er-eignisse zu betrachten und sich nicht mitihnen zu identifizieren.An die Stelle derVeränderung tritt auch hier die Akzep-tanz.

In der sogenannten acceptance andcommitment therapy, einer weiterenRichtung der Achtsamkeitstherapien,heißt es, dass psychische Probleme erstdann entstehen, wenn Menschen ver-suchen, ihre Gefühle zu kontrollieren,nicht aber durch die Gefühle selbst. DieTherapie zielt daher darauf ab, Kon-trollversuche zu unterbinden.

Ohnehin scheint die Wirkung derachtsamkeitsbasierten Übungsansätzedarauf zu beruhen, dass automatischeGedanken- und Gefühlsabläufe unter-brochen werden. Das unterbricht auchdas eingeschliffene Reagieren auf äuße-re Reize oder innere Gefühle. Oft glau-ben Menschen aufgrund eines Gedan-

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kens, die Wirklichkeit sei wie der Ge-danke, und aufgrund eines schwierigenGefühls, die Wirklichkeit sei so schwie-rig wie dieses, um dann gleich etwas ge-gen das Gefühl zu unternehmen. Statt-dessen sollen die Patienten erst einmalbewusst wahrnehmen, welcher Gedan-ke und welches Gefühl gerade da ist.Durch diese De-Automatisierung tretensie innerlich von ihren Gedanken undGefühlen zurück. Sie identifizieren sichnicht mehr mit ihnen. So kommt es zueiner Auftrennung des Ich in denjenigenTeil, der denkt und fühlt, und denje-nigen, der sich dessen gewahr ist, dass da gerade Gedanken und Gefühle sind.Achtsamkeit bedeutet, immer diese Po-sition des Beobachtens zu wahren.

Das heißt aber nicht, etwas auszu-blenden. Im Gegenteil. In der Achtsam-keit bleibt der innere Beobachter eng mitdem verbunden,was er beobachtet,auchwenn er sich nicht damit identifiziert.

Martin Bohus spricht von einem „me-takognitiven Gewahrsein“, das durchAchtsamkeitsmeditation erzeugt werde.Nehme man den „umherstreifendenGeist“ selbst in die Beobachtung, kön-ne man „gelassen dem eitlen Treiben derje eigenen Emotionen, Nöte und Lüstezusehen“.

Wie die australischen Forscher Be-linda Ivanovski und Gin Malhi berich-ten, zeigen psychologische Untersu-chungen, dass Achtsamkeit zu mehrFeingefühl, Konzentration und Offen-heit für Erfahrungen führt. Auch werdeman weniger leicht ablenkbar. Bei Ju-gendlichen mit einer Aufmerksamkeits-störung mindern sechs Wochen Medi-tation deutlich deren Symptome.

In einem empirischen Vergleich vonMenschen mit und ohne Meditations-erfahrung konnte der Berliner Psycho-loge Willy Zeidler bestätigen, dass Acht-samkeitsgeschulte anders mit emotio-

nalen Erfahrungen umgehen.Er gab denStudienteilnehmern Bilder, die Gefühleauslösen, und maß ihre emotionalenund psychophysiologischen Reaktionen.Meditationserfahrene erwiesen sich alsweniger schreckhaft. Zwar nahmen sieihre Gefühle intensiver wahr als die Ver-gleichsgruppe, aber sie fühlten sich vonihnen weniger bedroht.

In der körperbezogenen und huma-nistischen Tradition der Psychotherapiewird Achtsamkeit als eine Haltung ver-standen, in der der Therapeut zusam-men mit dem Patienten dessen Innen-leben erforscht. Die KörpertherapeutinThea Rytz, die vor allem mit Essgestör-ten arbeitet,bezeichnet sie als einen zen-tralen Bestandteil einer klinischen Kör-pertherapie. Achtsamkeit sei ein Weg,„um etwas zu entdecken, nicht um eszu beruhigen“.Das geschieht, indem sichdie Patienten den Empfindungen ihresKörpers zuwenden. Denn im Körperzeige sich, „was sich zeigen will“.

Programmatisch vertritt diesen An-satz seit den 1970er Jahren Ron Kurtz,der Begründer der Hakomi-Psychothe-rapie. Für ihn bedeutet die Haltung derinneren Achtsamkeit, die Sensibilität für Erfahrungen zu fördern. Dazu sollder Therapeut den Patienten einladen,„langsam, einfach und direkt mit ge-sammelter Konzentration und ohne An-spannung oder Urteile“ sich selbst zubeobachten und die augenblicklichenErfahrungen wahrzunehmen.Zum Bei-spiel kann der Therapeut den Patientenauffordern,genau zu beobachten,was inihm geschieht, wenn er den Satz hört:„Es ist schön,dass es dich gibt.“ Oft wei-sen dann körperliche Empfindungenoder spontane Bilder den Weg zu dem,was eine solche Aussage für den Patien-ten bedeutet.So spannt sich vielleicht imKörper etwas an,eine Erinnerung tauchtauf oder ein Gefühl wie Sehnsucht,Trauer oder Angst.

Achtsamkeit heißt für Kurtz, in einemsolchen Prozess innezuhalten und beider jeweiligen Erfahrung des Augen-blicks zu verweilen, ohne zu werten,emotional zu reagieren oder zu handeln.

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Übung in Achtsamkeit

„Nimm eine angenehme Stellung ein im Liegen oder Sitzen, halte die Wirbel-säule gerade, lass die Schultern fallen.

Schließe deine Augen, wenn es angenehm ist.

Gehe mit deiner Aufmerksamkeit zu deinem Bauch, spüre, wie er sich mitdem Einatmen hebt oder leicht ausdehnt, mit dem Ausatmen senkt oder zu-rückzieht.

Bleib bei deiner Atmung, sei bei jedem Einatmer für seine ganze Dauer undbei jedem Ausatmer für seine ganze Dauer, als würdest du von den Wellen dei-nes Atems getragen.

Jedes Mal, wenn du bemerkst, wie sich dein Geist von deinem Atem entfernt,bemerke, was dich weggebracht hat, und dann bringe deine Aufmerksamkeitfreundlich zu deinem Bauch und dem Gefühl des ein- und ausströmendenAtems zurück.

Wenn sich dein Geist tausendmal von deinem Atem entfernt, ist deine Aufga-be nur, ihn jedesmal zu deinem Atem zurückzubringen, womit er auch be-schäftigt ist.

Mache diese Übung jeden Tag 15 Minuten zu einer geeigneten Zeit, ob dir da-nach ist oder nicht, für eine Woche, und schaue, wie es ist, eine disziplinierteMeditationspraxis in dein Leben einzubauen. Sei bewusst, wie es sich anfühlt,jeden Tag eine Zeit zu verbringen, in der du nur bei deinem Atem bist, ohneirgendetwas tun zu müssen.“

Achtsamkeitsübung von Jon Kabat-Zinn

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Indem der Patient seine Erfahrungenbeobachtet, öffnen sich die Pforten desimpliziten Gedächtnisses, des unbe-wussten Wissens um seine Gewohnhei-ten des Denkens, Erlebens und Verhal-tens. Kurtz sieht im Prinzip der innerenAchtsamkeit also eher den Geist, in dem die psychotherapeutische Arbeitbetrieben wird, und nicht eine Technik.Diesen Geist muss der Therapeut ver-innerlicht haben,damit er entsprechendarbeiten kann. Das heißt, er muss in derLage sein, selbst achtsam mit sich um-zugehen.

Meditation ist auch für Therapeutenein möglicher Weg, diese Achtsamkeitzu lernen. Psychologen aus Bayern undÖsterreich teilten in einem ExperimentPsychotherapeuten, die sich in Ausbil-dung befanden, in zwei Gruppen auf:Die eine begann regelmäßig zu medi-tieren, die andere tat es nicht. Anschlie-ßend wurde untersucht, wie zufriedendie Patienten dieser Psychotherapeutenmit den Behandlungen waren.Wenn diePsychotherapeuten meditierten, ging esden Patienten besser.

Martin Bohus meint, dass in demalten buddhistischen Konzept der Acht-samkeit vielleicht ein grundlegendesPrinzip verborgen ist, wie Prozesse derHeilung in einer Psychotherapie zu-stande kommen.Im Englischen benutztman dafür den Begriff self-monitoring:sich selbst zuschauen und prüfen. Werdas, was an Gedanken, Gefühlen oderHandlungsimpulsen in sich selbst akti-viert ist,gleichzeitig beobachten und re-flektieren kann, hat bessere Chancen,sich davon zu lösen. Ganz im SinneBuddhas, der schon vor 2500 Jahrenwusste: Achtsamkeit ist der Weg zurÜberwindung von Kummer und Klage,von Trübsal und Schmerz.

Literatur

U. Anderssen-Reuster: Achtsamkeit in Psychothera-pie und Psychosomatik. Haltung und Methode.Schattauer, Stuttgart 2007

M. Bohus, M. Huppertz: Wirkmechanismen acht-samkeitsbasierter Psychotherapie. Zeitschrift für Psy-chiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 54, 2006,265–276

C. Germer u.a. (Hg.): Mindfulness and Psychothe-rapy. The Guilford Press, New York 2005

U. Geuter: Wege zum Körper. Zur Geschichte undTheorie des körperbezogenen Ansatzes in der Psy-chotherapie. Krankengymnastik, Zeitschrift für Phy-siotherapeuten, 52, 2000, 1175–1183 und 1346–1351

L. J. Grepmaier, M. K. Nickel: Achtsamkeit des Psy-chotherapeuten. Springer, Heidelberg 2007

T. Heidenreich, J. Michalak (Hg.): Achtsamkeit undAkzeptanz in der Psychotherapie. dgvt-Verlag, Tü-bingen 2006

B. Ivanovski, G. S. Malhi: The psychological and neu-rophysiological concomitants of mindfulness formsof meditation. Acta Neuropsychiatrica, 19, 2007,76–91

J. Kabat-Zinn: Zur Besinnung kommen. Arbor, Frei-burg 2005

R. Kurtz: Hakomi – Eine körperorientierte Psycho-therapie. Kösel, München 1994

J. Michalak, T. Heidenreich: Neue Wege der Rückfall-prophylaxe bei Depressionen. Die achtsamkeitsba-sierte kognitive Therapie. Psychotherapeut, 50,2005, 415–422

J. Michalak, T. Heidenreich, M. Bohus: Achtsamkeitund Akzeptanz in der Psychotherapie. Gegenwärti-ger Forschungsstand und Forschungsentwicklung.Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psycho-therapie, 54, 2006, 241–253

T. Rytz: Bei sich und in Kontakt. Körpertherapeuti-sche Übungen zur Achtsamkeit im Alltag. Huber,Bern 2006

J. Stepien, J. Lerch: Achtsamkeit in der Onkologie.Psychotherapie im Dialog, 7, 2006, 286–291

W. Zeidler: Achtsamkeit und ihr Einfluss auf die Emo-tionsverarbeitung. Eine experimentelle Untersu-chung der Wirkmechanismen. Verlag Dr. Müller,Saarbrücken 2007

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Achtsamkeit unterbricht automatischeGedanken- und Gefühlsabläufe. Das führt zu mehr

Feingefühl, Konzentration und Offenheit für Neues

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Wach werden für das Hier und JetztAchtsamkeit macht uns lebendiger, spontaner und freier. Und zudem bleiben wir gesünder

■ Holger Fuß

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Wenn Ulrich Ott am Abendeines Arbeitstages in seinemGießener Universitätsbüro

seinen heimischen Vorort von Wiesba-den erreicht,steckt er mitten in einer spi-rituellen Übung. „Achtsames Autofah-ren“ nennt der 42-jährige Diplompsy-chologe sein Konzentrationstraining. Ermacht seine jeweils rund einstündigenArbeitswege auf der Autobahn zu mo-bilen Meditationssitzungen. „Das be-ginnt schon damit, wie ich im Auto sit-ze“, beschreibt Ott. Wenn er sich heutemal wieder besonders verspannt „amLenkrad festkrallt und nach vorne stiert“,vergegenwärtigt er sich seine Verkramp-fungen im Schulterbereich, um sie dannloszulassen. Er atmet sie geradezu aus.„Schon das macht für die gesamte Fahr-qualität einen enormen Unterschied.“ Esist sogar objektiv messbar. Je ruhiger, ge-lassener und innerlich freundlich ge-stimmter Ulrich Ott über die Autobahnbraust, umso weniger Treibstoff ver-braucht er. „Wenn ich absolut achtsamfahre, verbraucht mein Diesel fünf Literauf 100 Kilometer. Wenn ich verbissenrase, komme ich auf 6,5 Liter.“

Am Eingang seines Heimatortes, indem er aufgewachsen ist und heute mitEhefrau und zwei Kindern wohnt, setzter zu einer Reframing-Übung an. Einsimpler Perspektivwechsel: „Ich stellemir jedes Mal vor, dass ich zum erstenMal in dieses Dorf fahre. Ich sage mir:Ich kenne dieses Dorf gar nicht.Mit die-sem Anfängergeist schaue ich mich um,als ob ich in einer fremden Stadt wäre.“Dieses Gedankenspiel macht schon des-halb Spaß,weil es die graue Routine,dastägliche Einerlei vertreibt. Es machtwach und innerlich frei, es schult dieAufmerksamkeit und Konzentration.

Tagsüber erforscht Ulrich Ott amBender Institute of Neuroimaging(B.I.O.N.) der Universität Gießen, wasbei der Meditation im Gehirn stattfin-det. Er will wissen, warum Meditationbei Angstzuständen, Stresssymptomen,Schmerzen und sogar Depressionen hei-lende Wirkungen entfaltet. Vor allemaber interessiert ihn, welche Gehirnre-

gionen aktiv werden, wenn ein Menschmystische Erfahrungen macht. Japani-sche Zenbuddhisten nennen diesen Zu-stand satori, Erleuchtung.

Mystik und Wissenschaft stellen fürOtt längst keinen Widerspruch mehrdar. „Mystiker sind anwendende Neu-rowissenschaftler“, sagt er.„Nur dass dieTheorie noch nicht sauber aufgeschrie-ben ist.“

Dass Menschen durch spirituelleTechniken ihren Bewusstseinszustandverändern können, ist seit altersher be-kannt. Aber erst seit den 1970er Jahreninteressieren sich auch Naturwissen-schaftler aus Medizin, Hirnforschungund Psychologie für diese Phänomene.Eine Bestandsaufnahme der Universi-tät Gießen zur „Aktuellen Meditations-forschung in Deutschland“ vom No-vember 2007 führt insgesamt 21 For-schungsprojekte auf, davon 15 im Uni-versitäts- und Klinikbereich, sechs inprivater Initiative. Vor allem die Acht-samkeitsmeditation wird für ihren Einsatz in der Psychotherapie erkundet– etwa zur Behandlung von Suchter-krankungen, Verhaltensstörungen undStresszuständen.

Mit dem Mind and Life Institute inLouisville, Colorado (USA), dessenGründung der Dalai-Lama 1990 inspi-rierte, bekam die internationale Medi-tationsforschung gehörigen Auftrieb.Ei-ne wichtige Studie erschien 2005: EinTeam um die Harvardforscherin undPionierin auf diesem Gebiet, Sara La-zar, untersuchte 20 erfahrene Meditie-rende und entdeckte bei ihnen eine biszu fünf Prozent dickere Gehirnrinde als bei Vergleichspersonen. In ihren Ge-hirnregionen für Aufmerksamkeit undSinneswahrnehmungen fanden die For-scher zudem deutlich mehr neuronaleVerschaltungen.Am auffälligsten warendiese Befunde bei den älteren Versuchs-personen. Womöglich wirkt „regelmä-ßiges Meditieren einer Ausdünnung derHirnrinde im Alter entgegen“, wie Ottmeint.

Im Grunde geht es bei der Meditationum etwas denkbar Simples,nämlich um

die Konzentration auf die unmittelbareGegenwart. Was zunächst unspektaku-lär anmutet, scheint erstaunliche Folge-wirkungen zu haben: Eine regelmäßigeBündelung der Aufmerksamkeit auf dasHier und Jetzt verändert offenbar die Ar-chitektur des Gehirns. Grundsätzlichaktiviert jede ausgeübte Tätigkeit unserGehirn. Je öfter wir diese Tätigkeitwiederholen, umso nachhaltiger verän-dern wir die entsprechenden Hirnstruk-turen.Warum sollte dies bei Meditationanders sein?

Wie genau diese Veränderungen aus-sehen, wollte Ulrich Ott bereits in sei-ner Doktorarbeit (2000) erkunden.„Da-mals bin ich gescheitert“, bekennt Ott.Anders als bei der US-Studie standenOtt keine hinreichend erfahrenen Me-ditationsprobanden zur Verfügung. Diemeisten von ihnen meditierten zur Ent-spannung,nicht zur Erleuchtung.Trotz-dem hält Klaus Engel, Professor fürPsychosomatik an der Universität Bo-chum und Herausgeber von Otts Dis-sertation,diese Arbeit für „die wichtigsteUntersuchung der letzten Jahre“. Ottpromovierte über die im EEG ablesbareelektrische Gehirnaktivität, insbeson-dere die Gammawellen um die 40 Hertz,während tiefer Meditation.

Seine Hypothese: „Könnte es nichtsein, dass durch Meditationstechnikendas Gehirn in einen Zustand versetztwird, der eine Art Randbereich vonAktivierung darstellt?“ Unsere gewöhn-liche Weltwahrnehmung vollzieht sichdurch Kohärenz, durch das Zusam-menspiel verschiedener Gehirnregio-nen. Wenn wir ein einzelnes Objekt se-hen, beispielsweise einen blauen Ball,der durch die Luft fliegt, dann verbin-den sich die Repräsentationen in denHirnarealen von Bewegungsanalyse,Farbanalyse und Formanalyse mitein-ander, indem sie kohärent feuern. „Dasheißt, die Gammaschwingungen dereinzelnen Hirnregionen verhalten sichphasengleich zueinander. Sie marschie-ren wie eine Armee in diesen Regionenkurzzeitig synchron“, beschreibt Ott.Mehrere Objekte erleben wir hingegen

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als voneinander getrennt,weil die Gam-mawellen sich durch Phasenunterschie-de voneinander abgrenzen.

In seiner Dissertation geht Ott davonaus,dass während einer mystischen Me-ditationserfahrung im Gehirn eine Art„globale Synchronisation“ stattfindet.Der Zustand, in dem sich das Ich-Be-wusstsein aufzulösen scheint, in demsich Zeit und Raum in einer Wahrneh-mung des All-Einen verlieren, fändedemnach seine neurologische Entspre-chung in einer „Resonanzkatastrophe“im Gehirn, wie Ott es nennt. Erleuch-tung bedeutet somit eine geradezu ex-plosionsartige synchrone Aktivierungsämtlicher Hirnbereiche.

Vor allem aber ist dieses mystischeEinheitserleben eine ultimative Border-lineerfahrung,„deshalb empfehle ich je-dem,der in diese Grenzbereiche der Me-ditation vordringen will, dies nicht oh-ne kompetente Führung zu unterneh-men“, warnt Ott.

Aber nicht nur zur mystischen Er-leuchtung scheint die Meditation zu tau-gen. Schon im Vorfeld solcher Grenz-erfahrungen dient ein solches geistigesTraining offenbar der seelischen Ge-sundheit.

Der Radiologe und Religionswissen-schaftler Andrew Newberg von der Uni-versität Pennsylvania zitiert in seinemBuch Der gedachte Gott Studien,wonach„Menschen, die echte mystische Zu-stände erfahren,ein viel höheres Maß anpsychischer Gesundheit aufweisen alsdie Bevölkerung insgesamt, gemessen an psychologischen Standardskalen“.Mehr noch:„Selbst schwache mystischeund spirituelle Erfahrungen“ gingen „imAllgemeinen mit einem überdurch-schnittlichen Maß an psychischer Ge-sundheit einher“. Dies zeige sich in bes-seren zwischenmenschlichen Beziehun-gen, höherer Selbstachtung, geringererAngst und Sorge,einem klareren Selbst-bild, einem stärkeren Engagement fürandere und einer insgesamt positiverenLebenseinstellung.

Demnach werden in der Meditationdie wesentlichen Aspekte des Mensch-

seins eingeübt. Newberg resümiert:„Menschen sind eigentlich von Naturaus Mystiker, Wesen mit einer angebo-renen Gabe zur mühelosen Selbsttrans-zendenz.“ Selbsttranszendenz wird inder Meditationsforschung auch Ab-sorption genannt. Gemeint ist die Fä-higkeit, eine vertiefte Aufmerksamkeitzu erleben.Beim Anschauen eines Spiel-films oder beim aufmerksamen Höreneines Musikstücks sind solche Momen-te der Versunkenheit ganz alltäglich er-fahrbar.Menschen mit ausgeprägter Ab-sorptionsfähigkeit sind beispielsweise ineiner Kinovorstellung kaum ansprech-bar und identifizieren sich mitunter der-art mit den Darstellern auf der Lein-wand, dass sich deren Befindlichkeitenin ihrem Mienenspiel widerspiegeln.

Durch Meditationsübungen könnenim Gehirn verschiedene Aufmerksam-keitsnetze trainiert werden – das hat die Psychologin Amishi Jha an der Uni-versität Pennsylvania herausgefunden.Erfahrene Meditierende weisen im Ver-gleich zu ungeübten Probanden einebessere Leistung beim Ausblenden ab-lenkender Reize auf. Eine wesentlicheHirnregion ist hierbei der sogenannteanteriore cinguläre Kortex im Frontal-lappen. Wiederholtes Üben scheint ge-

rade diese Region zu trainieren. Unter-suchungen mit dem Kernspintomogra-fen an der Universität Gießen bestätig-ten, dass meditierende Probanden indiesem Hirnareal eine stärkere Aktivie-rung zeigen als ungeübte Kontrollper-sonen.

Unter Leitung der Psychologin SaraLazar finden am Massachussetts Gene-ral Hospital in Boston derzeit Studienzur Wirksamkeit von Meditation für dasalternde Gehirn statt. Zwischenergeb-nisse weisen darauf hin, dass die regel-mäßige Anwendung traditioneller Me-ditationstechniken eine Verschlechte-rung kognitiver Fähigkeiten im Alteraufhalten könnte. Künftig soll unter-sucht werden, welche spezifischen Ef-fekte Übungen wie Tai-Chi, Gehmedi-tation, Zen- oder Vipassanameditationerzielen.

Aus anderen Untersuchungen weißman bereits, dass Achtsamkeitsmedita-tion erfolgreich bei der Behandlung vonAngstsymptomen, chronischem Stressund Schmerzen eingesetzt werden kann.Bei Depressionen „wurde die Rückfall-quote durch Achtsamkeitstraining umbis zu 50 Prozent reduziert“, so Ott.Meditation scheint sogar unser Im-munsystem zu stärken: „Es wird ver-

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mutet, dass dies über eine positiveGrundeinstellung erreicht wird. Bei po-sitiven Emotionen wird die Aktivität derlinken Hirnhälfte verbessert. Im EEGzeigt sich ein auffälliger Zusammenhangzwischen linksseitiger Hirnaktivität undverbesserter Immunreaktion.“

Doch warum ist Achtsamkeit einderart wirksames Heilmittel? Otts Er-klärung: „Zwischen dem Stimulus, derdurch die Situation auf uns einwirkt,und unserer Reaktion darauf, die nor-malerweise automatisch erfolgt, wirddurch die Achtsamkeit eine Lücke ge-schaltet. In dieser Lücke zwischen Reizund Reaktion werden uns Freiheitsgra-de eröffnet. Eingefahrene Reaktions-muster werden aufgelockert,wir werdenregelrecht dekonditioniert. Wir sinddann nicht mehr jene Reiz-Reaktions-Roboter,die willfährigen Geschehnissenausgeliefert sind.Stattdessen können wirals bewusste Wesen mit einem großenSpektrum an Erfahrungen und Mög-lichkeiten auf jeweilige Situationen an-gemessen reagieren. Wir erfahren dengegenwärtigen Moment lebendig. Wirsind ganz da.“

Links

Das Bender Institute of Neuroimaging (B.I.O.N.) ander Justus-Liebig-Universität Gießen: www.bion.de

Internetseiten des Mind and Life Institute:www.mindandlife.org

Literatur

Dieter Vaitl, Franz Petermann (Hg.): Entspannungs-verfahren. Das Praxishandbuch. Beltz, Weinheim2004

Ulrich Ott: Merkmale der 40-Hz-Aktivität im EEGwährend Ruhe, Kopfrechnen und Meditation. PeterLang, Frankfurt/M. 2000

Harald Walach u.a. (Hg.): Bewusstseinstransforma-tion als individuelles und gesellschaftliches Ziel. An-sätze in Meditation, Psychotherapie und empirischerForschung. LIT, Münster 2005

Andrew Newberg, Eugene D’Aquili, Vince Rause: Dergedachte Gott. Wie Glaube im Gehirn entsteht. Pi-per, München 2003

Jeremy W. Hayward, Francisco J. Varela (Hg.): Ge-wagte Denkwege. Wissenschaftler im Gespräch mitdem Dalai-Lama. Piper, München 2007

Wolf Singer, Matthieu Ricard: Hirnforschung undMeditation. Ein Dialog. Suhrkamp, Frankfurt/M.2008

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Viele Menschen behandeln sichschlecht. Sie haben kein Gespürdafür,was sie sich zumuten und

abverlangen können und wo sie das ge-sunde Maß aus den Augen verlieren. Siearbeiten im Tagesgeschäft bis zum Geht-nichtmehr und vergessen dabei häufigsich selbst. Die Auswirkung: Einer eu-ropäischen Studie zufolge ist Stress in-zwischen die zweithäufigste Ursache fürErkrankungen, und bis zu 60 Prozentaller versäumten Arbeitstage ist aufStress zurückzuführen, so die Europäi-sche Beobachtungsstelle für berufsbe-dingte Risiken. Das Warenangebot derDrogeriemärkte zeugt davon – meter-lange Regale mit Produkten gegenStresssymptome, von Mitteln gegenReizmagen und Schlafstörungen bis

stressbedingten Haarausfall.Galten frü-her Ärzte, Lehrer, Lokführer und Ma-nager um die vierzig zu den typischenKandidaten für ein Burn-out-Syndrom,so hat sich der Kreis der Betroffenenlängst ausgeweitet. Heute sind zuneh-mend auch immer jüngere Frauen be-troffen, die keine Balance mehr habenzwischen dem Sollen, Wollen und Kön-nen. Ob Chefin oder Hausfrau mit Kin-dern – viele fühlen sich ausgebrannt undweisen physische und psychische Reak-tionen auf, die auf Überforderung be-ziehungsweise unzureichende Stress-bewältigung zurückgehen. Denn in derHektik des Alltags vergisst man schnell,dass man sich selbst auch etwas gebenmuss. Eine Leitung, die immer brennt,brennt irgendwann durch.

Warum sind wir so? Die Hintergrün-de sind vielschichtig! Zuerst ist unseredeutsche Mentalität zu nennen.Diese istvom Leistungsgedanken geprägt. Nichtohne Grund sind Deutsche in der gan-zen Welt begehrte Arbeitskräfte, ob alsArzt, Mechaniker oder Ingenieur. Wirgelten als pünktlich, fleißig und zuver-lässig.Wir sind das Land,das den Begriff„Wirtschaftswunder“ prägte. In vorhernie dagewesenem Tempo wurde mitFleiß und Selbstdisziplin wieder aufge-baut, was der Zweite Weltkrieg zerstörthatte.Es steckt uns also im Blut,die Din-ge mit Einsatz voranzutreiben und zurPerfektion zu neigen. Gute Eigenschaf-ten, mag man meinen. Doch bergen sieauch einen Nachteil: Wir bewerten dieLeistung oft höher als uns selbst.

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Passen Sie gut auf sich auf!Maßnahmen für den achtsamen Umgang mit sich selbst

■ Horst Conen

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Der zweite Grund ist die heutige Viel-falt. Die Flut an Informationen, moder-ne Kommunikationsmittel, die auch inder Freizeit noch nach uns verlangen,neue Materialien oder Arbeitsprozesseschaffen viele Komplikationen. „DieLeute arbeiten an immer mehr Baustel-len“ sagt DGB-Vorstandsmitglied Rein-hard Dombre,„kombiniert mit der Mas-se an Informationen, die sie verarbei-ten müssen, werden sie schnell zumHamster im Rad: Wie schnell sie auchrennen, sie kommen nie an.“ Einer Stu-die des Kölner Marktforschungsinstituts„psychonomics“ zur Arbeitsqualität zu-folge ist für über 60 Prozent der Arbeit-nehmer der „erlebte Arbeitsstress“ in den vergangenen Jahren gestiegen.Aberauch im Privaten zeigt sich das. Ob mansich beim Kauf eines neuen Handyszuerst mit diversen Gerätetypen, Tari-fen und dicken Funktionshandbüchernauseinandersetzen muss. Ob man zu ei-

nem billigeren Stromanbieter wechseltund nun für eine Auskunft Stunden inder Warteschleife verbringt. Oder obman sich genötigt fühlt, den Geburts-tag seiner Kinder zum Event zu machen,damit man mit den Nachbarn mithaltenkann – so manch einer empfindet dieheutige Komplexität und den daraus re-sultierenden Druck und Stress als an-strengend.

Ein weiterer nicht unwesentlicherGrund ist Angst. Zwar leben wir immernoch in einer Wohlstandsgesellschaft.Doch geht die Angst um, das Erreichtezu verlieren. Die Angst vor dem Verlustdes Arbeitsplatzes,vor dem sozialen Ab-stieg, vor der Zukunft zieht sich durchfast alle Schichten. Diese wird oft nochverstärkt durch den Druck, der heute inFirmen vorherrscht, in denen gespartwerden muss und Mitarbeiterabbau be-trieben wird. Eine aktuelle McKinsey-Studie zeigt auf, dass die Mittelschicht

in den nächsten Jahren immer weiterunter Druck geraten wird und somitMillionen Menschen der soziale Abstiegdroht.

Doch der Hauptfaktor dafür,dass wiroft nicht achtsam mit uns umgehen,sindnegative Glaubenssätze. Dies könnenÄußerungen sein wie „Das schaffst dunicht“,„Dafür bist du nicht clever genug,zu umständlich,zu schwach“ oder Ähn-liches.Derartige Botschaften werden oftschon in der Kindheit gepflanzt – in derRegel durch Eltern oder Lehrer. So wiepositive Glaubenssätze das Selbstwert-gefühl stärken, so führen negative oftdazu, dass wir uns nichts zutrauen unduns kleiner machen, als wir sind. Odersie führen dazu, dass wir dagegen an-kämpfen und uns und der Welt bewei-sen wollen, dass wir doch „groß“ sindund es schaffen.Letzteres ist ein Antrieb,der nicht selten große Leistungen nachsich zieht. Doch wer stets um Anerken-nung kämpft, der legt sich die Latteimmer höher und lebt bald in einemZustand ständiger Überforderung,kannErfolge nicht genießen und setzt seinePotenziale nicht klug ein.

So kommt für viele Menschen heu-te alles zusammen: der Stress im Berufund schwierige Arbeitsverhältnisse, derDruck, den man sich selbst macht, so-wie der Anspruch, alles perfekt machenzu wollen,die Erwartungen anderer,dasdeutsche Leistungsdenken, die vielenkleinen Kompliziertheiten des Alltags,die diffusen Ängste, die persönlichennegativen Glaubenssätze … Und wer inseinem Leben zu wenig positive Gegen-gewichte hat, auf den lauern Gefahren.

Durch häufige Überforderung undfalschen Umgang mit sich selbst – vor al-lem durch das Überhören der körper-lichen Signale – kann eine Vielzahl von

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PSYCHOLOGIE HEUTE August 2008

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Krankheiten entstehen.Magengeschwü-re, Bluthochdruck, Herzerkrankungen,chronische Schmerzen, Hörsturz, Tin-nitus oder ungewollte Gewichtsabnah-me,um nur einige zu nennen.Auch vor-zeitige Alterung ist möglich: Bei einerLangzeituntersuchung mit Frauen zwi-schen 20 und 50 Jahren stellten US-Wis-senschaftler fest, dass diejenigen, die sich am stärksten belastet fühlten, imVergleich zu weniger gestressten Frau-en eine biologische „Vor-Alterung“ vonetwa einem Jahrzehnt aufwiesen.

Wer nicht erkennt, dass er in Denk-und Verhaltensmuster verstrickt ist, dieihm schon lange nicht mehr guttun, derkann außer körperlichen Symptomenvon psychischen Erkrankungen heim-gesucht werden. Meist beginnt es mitSchlafstörungen und Überreaktionenwie etwa Wutausbrüchen. Dann folgenoft Depressionen, Angststörungen undder daraus resultierende Medikamen-tenkonsum. Irgendwann steht dann dasGefühl der Sinnlosigkeit des eigenen Le-bens übermächtig im Raum.

„Wer andere erkennt, ist klug,wer sichselbst erkennt, ist weise“, hat der chine-sische Philosoph Laotse gesagt. Genauhier müssen wir ansetzen. Nur durchSelbsterkennung können wir aus demHamsterrad des negativen Umgangs mituns selbst aussteigen. Jeder Einzelne von

uns sollte hin und wieder eine Inspek-tion der Mittel durchführen, mit denener an die Dinge des täglichen Lebens herangeht. Er sollte wie ein Detektiv da-nach Ausschau halten und herausfin-den, welche Plagegeister ihn dazu trei-ben, sich selbst zu schaden.

Jeder entwickelt im Laufe der JahreMechanismen, wodurch er sich selbstschlecht behandelt und sabotiert. Wergelernt hat, negative Denkmuster undVerhaltensweisen an sich zu erkennenund auf positive umzuschalten, der ge-rät in die machtvolle Position,selbst ent-scheiden zu können, ob ab sofort mehrBedacht beim Umgang mit sich selbstangezeigt ist. Es geht also um das Erler-nen von mehr Selbstbestimmung stattblindem Getriebensein – im Sinne desErreichens einer inneren Reife und wei-sen Lebensführung.

„Take care“ sagt man im englischenSprachraum häufig zu Menschen,denenman Gutes wünscht. Gemeint ist: „Passauf dich auf.“ Wer das im Alltag trotzaller Widrigkeiten immer mal wieder zusich selbst sagt und es mit Maßnahmenverbindet, der kann die Erfahrung ma-chen: Wer häufiger gut zu sich selbst ist,der erlebt auch sein Leben viel häufigerals gut. Dazu braucht es zuweilen nichtmehr als das Einüben kleiner Denk- undVerhaltensänderungen:

Sich weniger unter Druck setzen Die Frage, was alles unbedingt noch ge-schafft werden „muss“, fördert allzu oftdie Antwort zutage:„Am liebsten alles.“Doch wer zu viel von sich erwartet, er-hält früher oder später die Quittung.Wenn Sie spüren,dass Sie sich oft Druckmachen und zum Perfektionismus nei-gen, sollten Sie üben, Ihre Ansprüchean sich selbst auf ein gesundes Maß zu-rückzuschrauben. Versuchen Sie, schonmit kleinen Erledigungen zufrieden zusein. Trauen Sie sich, Arbeiten im Büroabends unfertig zu lassen,und schließenSie sie erst am Tag darauf ab. Oder über-winden Sie sich zu Hause dazu,zwei Wo-chen lang die Hausarbeit ruhen zu las-sen, Chaos zu- und dafür einfach malunverplante Zeit vergehen zu lassen.

„Nein“ sagen lernenDieser Aspekt ist wichtig für alle, die ein Helfersyndrom haben. Wenn Siemerken,dass Sie Ihre eigenen Interessenund Vorhaben meist zurückstecken, umanderen einen Gefallen zu tun, solltenSie aufpassen, dass etwas für Sie übrig-bleibt. Lernen Sie, sich selbst einmal inden Mittelpunkt zu stellen: Sagen Siezum Beispiel eine Einladung ab, zu derSie keine Lust haben.Oder lassen Sie den„hilflosen“ Kollegen einmal seinen Joballein machen, anstatt sich wie sonst

Wer gut zu sich selbst ist, erlebt auch sein Leben als gut.Dazu braucht es nur kleine Denk- und Verhaltensänderungen

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bereitzuerklären,zu helfen und dadurchnachher mit den eigenen Arbeiten inZeitdruck zu geraten.

Sich Freiräume schaffen„Nur wenn ich es selbst mache, wird esgut.“ Wer das glaubt, ist nicht nur un-effektiv, sondern auch hochgradig burn-out-gefährdet. Lösen Sie sich von demDenken,unersetzlich zu sein.Lernen Sie,mit Ihren Kräften hauszuhalten. Dele-gieren Sie Arbeiten,die nicht Ihrer Kern-kompetenz bedürfen. Geben Sie Tätig-keiten wie Putzen, Bügeln, Steuererklä-rungmachen, Wohnungstreichen, Ra-senmähen und so weiter an Helfer abund schaffen Sie sich so Freiräume.Ver-meiden Sie, immer erreichbar zu sein:Koppeln Sie sich ab und zu bewusst vom Kommunikationsfluss ab – lesenSie E-Mails nur einmal täglich oder las-sen Sie das Handy zeitweise ausgeschal-tet. Entspannen Sie in dieser Zeit undsteigen Sie gezielt in eine positive Gegen-welt.Gönnen Sie sich auch einmal einengrößeren Freiraum,etwa ein Sabbatjahroder einen längeren unbezahlten Ur-laub, um Ihr Leben näher beleuchtenund prüfen zu können, was Sie ändernmöchten.

Rituale praktizierenWer viel tut und überall gefordert wird,fühlt sich am Ende des Tages oft leer.Und auch der Partner, die Familie oderFreunde können dieses Defizit nicht

immer auffüllen. Jeder braucht dahereine Schutzzone, die ihm als Kraftquel-le dient. Haben Sie keine, so sollten Siesich jeden Tag zweimal eine halbe Stun-de Zeit abzweigen, die ganz allein Ihnengehört – am besten frühmorgens, bevorSie sich dem Tag stellen, und abendsnach erledigter Arbeit. Verabreden Siemit den Menschen in Ihrer Umgebung,dass diese Zeit nur Ihnen gehört. Ob Siein dieser Zeit meditieren oder sich in dieBadewanne legen, mit einem Eis in derHand durch die City stromern oder inIhrem Lieblingssessel Löcher in die Luftschauen – egal was,nutzen Sie diese Zeit,um sich innerlich zu besinnen und überden Tag nachzudenken, um loszulassenund die emotionalen Ressourcen wiederaufzuladen.

Den persönlichen Antrieb klärenWer mit viel Engagement tätig ist undtäglich viel von sich gibt, ohne dass erannähernd so viel zurückbekommt,soll-te sich auch einmal der Frage stellen:„Wofür tue ich das alles?“ Denn sonst be-steht die Gefahr, im Zusammenbruch zuenden und sich selbst fremd zu werden.Überlegen Sie daher: Was tun Sie nur,weil Sie sich dadurch Lob und Aner-kennung anderer erhoffen oder weil an-dere es von Ihnen erwarten? Prüfen Sie,ob Sie nur arbeiten, um vor einem un-harmonischen Privatleben zu flüchten,oder ob Sie außer dem Geld, das Sie da-mit verdienen, keinen Sinn mehr darin

sehen.Unterscheiden Sie Antriebsmoti-ve, die Sie darin unterstützen, gut mitsich umzugehen, von denen, die Sieantreiben, sich auszulaugen und krankzu werden. Versuchen Sie den Sinn undUnsinn des täglichen Tuns zu erkennenund zu erreichen,dass Sie nur noch Din-ge tun, hinter denen Sie stehen und dieIhnen etwas geben.

Sich positiv beeinflussen Jeder Tag hat viele Seiten. Wer sich be-lastet fühlt und unter Zeitdruck steht,hat jedoch meist nur ein Auge für die un-guten Ereignisse. Trainieren Sie daher,auch die erfreulichen Seiten des Tageswahrzunehmen. Stecken Sie sich dazujeden Morgen eine Handvoll Bohnen indie Jackentasche. Lassen Sie dann für je-de positive Kleinigkeit (Ihren Lieblings-song im Radio, ein leckeres Sandwich,ein gutes Gespräch) eine Bohne von der rechten in die linke Jackentaschewandern. Zählen Sie abends, wie vieleschöne Momente Sie auf diese Weisegesammelt haben, und lassen Sie sie vordem inneren Auge noch einmal vor-beiziehen. Das hilft, sich vom stressbe-dingten Tunnelblick zu lösen. PH

Horst Conen gilt als einer der renommiertestenCoaches im Bereich Selbst- und Lebensmanagement.Er schrieb zahlreiche Bestseller. Das Buch zum The-ma ist unter dem Titel Sei gut zu dir, wir brauchendich. Vom besseren Umgang mit sich selbst 2005im Campus Verlag, Frankfurt/New York erschienen.Kontakt: www.horstconen.com

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