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MITTWOCH, 2. MÄRZ 2011 Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in: Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Rossijskaja Gaseta, Moskau, verantwortlich Umgestellt Ende März werden die Uhren auf die Sommerzeit umgestellt – für immer. Das Für und Wider einer Zeitreform. S. 10 Mischa Most, Graffiti-Künstler aus Moskau, sprüht gegen Gleichgültigkeit, Willkür und Großkapital. S. 12 Angesprüht MISCHA MOST ITAR-TASS Flammender Abschied DAS THEMA DES MONATS WEITER AUF DEN SEITEN 6 UND 7 Rubel gegen Terror Auf den Terroranschlag am Moskauer Flughafen im Januar folgten mehrere kleine Anschläge im Süden Russlands. Das Land blickt wieder mit Sorge in Richtung Nordkaukasus. Es sucht nach Rezepten, mit dem das Gebiet, in dem sich soziale Probleme, Kor- ruption und Islamismus zu einem ge- fährlichen Cocktail vermischt haben, befriedet werden kann. „Wir müssen die Aufständischen aus den Wäldern herauslocken“, sagt der Politologe Or- chan Dschemal. Der Kreml hat ein mil- liardenschweres Wirtschaftsprogramm für die Region aufgelegt. Russland reformiert den Freund und Helfer POINTIERT Zeit, Doktoren und Diktatoren K arl-Theodor zu Gutten- berg hat sich‘s mit seinem Doktortitel leichter ma- chen wollen und wurde durch den medialen Fleischwolf gedreht. Hunderttausende deut- sche Facebook-Nutzer hielten dies für eine Hetzjagd und forderten ihr Ende. Internet-Usern aus Tu- nesien und Ägypten wären solche Aktionen zu unbedeutend: Sie haben dank Facebook binnen zwei Wochen dreißigjährige Diktatu- ren gestürzt. Wenn diese Russland HEUTE erscheint, wird vielleicht auch der libysche Staatschef Gad- dafi abgedankt haben. Und be- stimmt wird das vielen Facebook- Nutzern weltweit „gefallen“. Für eine differenziertere Meinungs- äußerung wird den meisten die Zeit fehlen - so, wie zu Gutten- berg und Putin bei ihrer Doktor- arbeit. Ja, auch dem russischen Premier wurde vor Jahren Plagi- at vorgeworfen. Damals war Fa- cebook zwar nicht weit verbreitet, hat aber in Russland auch kaum jemanden interessiert. Denn in der Politik – denken Russen – gibt es wichtigeres als Doktorentitel. Alexej Knelz CHEFREDAKTEUR Die Babuschka wandert aus RENTNER IN RUSSLAND WEITER AUF SEITE 9 „Ich habe meine Datscha für eine kleine Wohnung an der türkischen Riviera verkauft“, sagt Jelena Degtje- wa. Mit 63 Jahren hat sie in ihrem Leben noch einmal alles verändert. Eine neue Generation Rentner wan- dert auf die Sonnenseite der Erde aus oder überwintert trickreich im Süden. Viele russische Rentner je- doch können von ihrer kleinen Pensi- on nur schwer existieren. Eine Patrouille in der dagestanischen Hauptstadt Machatschkala „Unfähig“ und „kriminell“? Die Polizisten selbst denken anders. Die Milizionäre auf dem Revier im Südwesten Moskaus können es nicht mehr hören: Bestechlich seien sie, unfähig und kriminell. „Aber was erwarten Sie bei die- sem Gehalt?“, entgegnet der junge Polizist Sergej, wenn er solche Äußerungen über die russische Polizei hört. Ab dem 1. März soll sich das nun ändern: Dann tritt ein neues Po- lizeigesetz in Kraft. Es wurde im vergangenen Jahr monatelang öf- fentlich diskutiert, im Netz konn- te man dazu seine Meinung ab- geben. Die Miliz soll einen neuen Namen bekommen und deutlich mehr Gehalt. Auch den Bürgern werden mehr Rechte eingeräumt. Kritiker vermuten allerdings einen Etikettenschwindel. Russland HEUTE besuchte ein Moskauer Polizeirevier, um zu er- fahren, was die Betroffenen sich von der Reform erwarten. WEITER AUF SEITE 3 Während in Deutschland die Narren los sind, beginnt in Russland dieser Tage die „Masle- niza“, übersetzt die „Butterwoche“. Die Fei- er, mit der das Ende der kalten Jahreszeit begangen wird, stammt aus vorchristlicher Zeit, wurde jedoch später in den orthodoxen Kalender integriert. Zur Masleniza verzehren die Russen Berge von gefüllten Pfannkuchen, „Bliny“ genannt. Alkohol gehört – im Unter- schied zum deutschen Karneval – traditionell nicht dazu. Als Höhepunkt der Feierlichkeiten wird eine Strohpuppe verbrannt. Zu Sowjetzeiten wurde die Masleniza nur auf dem Land gefeiert, heute ist sie ein beliebtes Volksfest, wie hier in der Stadt Nowgorod. Nach der Völlerei zur Masleniza fasten die Russen, allerdings etwas länger als in Deutschland: vom 7. März bis zum 23. April. RUSLAN SUCHUSCHIN ITAR-TASS REUTERS/VOSTOCK-PHOTO RIA NOVOSTI

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Ende März werden die Uhren auf die Sommerzeit umgestellt – für immer. Das Für und Wider einer Zeitreform. Mischa Most, Graffiti-Künstler aus Moskau, sprüht gegen Gleichgültigkeit, Willkür und Großkapital. mischa mostitar-tass eine patrouille in der dagestanischen hauptstadt machatschkala Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in: Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Rossijskaja Gaseta, Moskau, verantwortlich mittwoch, 2. märz 2011

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mittwoch, 2. märz 2011 Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in: Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Rossijskaja Gaseta, Moskau, verantwortlich

UmgestelltEnde März werden die Uhren auf die Sommerzeit umgestellt – für immer. Das Für und Wider einer Zeitreform.S. 10

Mischa Most, Graffiti-Künstler aus Moskau, sprüht gegen Gleichgültigkeit, Willkür und Großkapital. S. 12

Angesprüht

mischa mostitar-tass

Flammender Abschied

dAS themA deS monAtS weiter AUF den Seiten 6 Und 7

Rubel gegen Terror

Auf den Terroranschlag am Moskauer Flughafen im Januar folgten mehrere kleine Anschläge im Süden Russlands. Das Land blickt wieder mit Sorge in Richtung Nordkaukasus. Es sucht nach Rezepten, mit dem das Gebiet, in dem sich soziale Probleme, Kor-ruption und Islamismus zu einem ge-fährlichen Cocktail vermischt haben,

befriedet werden kann. „Wir müssen die Aufständischen aus den Wäldern herauslocken“, sagt der Politologe Or-chan Dschemal. Der Kreml hat ein mil-liardenschweres Wirtschaftsprogramm für die Region aufgelegt.

Russland reformiert den Freund und Helfer

pointiert

Zeit, Doktoren und Diktatoren

Karl-Theodor zu Gutten-berg hat sich‘s mit seinem Doktortitel leichter ma-chen wollen und wurde

durch den medialen Fleischwolf gedreht. Hunderttausende deut-sche Facebook-Nutzer hielten dies für eine Hetzjagd und forderten ihr Ende. Internet-Usern aus Tu-nesien und Ägypten wären solche Aktionen zu unbedeutend: Sie haben dank Facebook binnen zwei Wochen dreißigjährige Diktatu-ren gestürzt. Wenn diese Russland HEUTE erscheint, wird vielleicht auch der libysche Staatschef Gad-dafi abgedankt haben. Und be-stimmt wird das vielen Facebook-Nutzern weltweit „gefallen“. Für eine differenziertere Meinungs-äußerung wird den meisten die Zeit fehlen - so, wie zu Gutten-berg und Putin bei ihrer Doktor-arbeit. Ja, auch dem russischen Premier wurde vor Jahren Plagi-at vorgeworfen. Damals war Fa-cebook zwar nicht weit verbreitet, hat aber in Russland auch kaum jemanden interessiert. Denn in der Politik – denken Russen – gibt es wichtigeres als Doktorentitel.

Alexej Knelz

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die Babuschka wandert aus

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„Ich habe meine Datscha für eine kleine Wohnung an der türkischen Riviera verkauft“, sagt Jelena Degtje-wa. Mit 63 Jahren hat sie in ihrem Leben noch einmal alles verändert. Eine neue Generation Rentner wan-dert auf die Sonnenseite der Erde aus oder überwintert trickreich im Süden. Viele russische Rentner je-doch können von ihrer kleinen Pensi-on nur schwer existieren.

eine patrouille in der dagestanischen hauptstadt machatschkala

„Unfähig“ und „kriminell“? die polizisten selbst denken anders.

Die Milizionäre auf dem Revier im Südwesten Moskaus können es nicht mehr hören: Bestechlich seien sie, unfähig und kriminell. „Aber was erwarten Sie bei die-sem Gehalt?“, entgegnet der junge Polizist Sergej, wenn er solche Äußerungen über die russische Polizei hört.Ab dem 1. März soll sich das nun ändern: Dann tritt ein neues Po-lizeigesetz in Kraft. Es wurde im vergangenen Jahr monatelang öf-fentlich diskutiert, im Netz konn-te man dazu seine Meinung ab-geben. Die Miliz soll einen neuen Namen bekommen und deutlich mehr Gehalt. Auch den Bürgern werden mehr Rechte eingeräumt. Kritiker vermuten allerdings einen Etikettenschwindel. Russland HEUTE besuchte ein Moskauer Polizeirevier, um zu er-fahren, was die Betroffenen sich von der Reform erwarten.

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Während in Deutschland die Narren los sind, beginnt in Russland dieser Tage die „Masle-niza“, übersetzt die „Butterwoche“. Die Fei-er, mit der das Ende der kalten Jahreszeit begangen wird, stammt aus vorchristlicher Zeit, wurde jedoch später in den orthodoxen

Kalender integriert. Zur Masleniza verzehren die Russen Berge von gefüllten Pfannkuchen, „Bliny“ genannt. Alkohol gehört – im Unter-schied zum deutschen Karneval – traditionell nicht dazu. Als Höhepunkt der Feierlichkeiten wird eine Strohpuppe verbrannt.

Zu Sowjetzeiten wurde die Masleniza nur auf dem Land gefeiert, heute ist sie ein beliebtes Volksfest, wie hier in der Stadt Nowgorod. Nach der Völlerei zur Masleniza fasten die Russen, allerdings etwas länger als in Deutschland: vom 7. März bis zum 23. April.

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Politik2 www.russland-heute.de Russland Heute

eine Beilage der russischen tageszeitung rossijskaja gaseta, Moskau

Für eine ungelenkte demokratie

opposition Mit Protestaktionen und einer neuen Partei startet die Opposition in die Wahljahre 2011 und 2012

oppositionelle demonstrieren am 31. dezember in st.Petersburg - und werden permanent überwacht.

veronika dorManrussland heute

angesichts hoher umfrage-werte des tandems Medwedjew/Putin und unter staatlichem druck hat sich die opposition zusammengeschlossen.

Es ist Montag, der letzte Tag im Januar, Rushhour im Zentrum von Moskau. Aber es herrscht nicht der übliche Stau am Triumfalna-ja-Platz. Heute kommt hier Russ-lands neu formierte Opposition zusammen, wie sie es seit einiger Zeit an jedem 31. eines Monats macht. Die Oppositonellen sind hier, um Artikel 31 der russischen Verfassung einzuklagen, der ihnen das Recht auf Versammlungsfrei-heit garantiert.

„russland ohne Putin!“Jeder denkt an die Proteste in Ägypten, und wer hier für die Op-position das Wort ergreift, zögert nicht, Wladimir Putin mit Husni Mubarak zu vergleichen. Mit dem Unterschied, dass in Moskau nur tausend Demonstranten zusam-mengekommen sind , umstellt von 2000 Polizisten und Soldaten.Vergangenen November gaben die Behörden erstmals grünes Licht für die Demonstrationen am Tri-umfalnaja-Platz. Allerdings ver-zichteten sie damit nicht auf ihr Recht, gehörig mit dem Säbel zu rasseln und Dutzende Aktivisten vom Platz zu schleifen. Am 31. De-zember letzten Jahres wurden dann mehrere Oppositionsführer

schaftskandidaten aufzustellen. Doch selbst in dieser neuen For-mation stehen die Chancen dafür unter den Bedingungen der „ge-lenkten Demokratie“ schlecht. In einer TV-Fragestunde spach es Putin ganz unverblümt aus: Er werde es nicht zulassen, dass die Opposition „an den Futtertrog“ komme. Namentlich erwähnte er Nemzow, Ryschkow und Wladi-mir Milow, Gründungsmitglieder der Partei der Volksfreiheit.Der Opposition fehlt weiterhin eine breitere Basis in der Bevölkerung. Ihre Botschaft sei für die einfa-chen Russen zu abstrakt, erklärt Denis Wolkow vom Meinungsfor-schungsinstitut Lewada-Zentrum. „Die Leute verstehen nicht, warum das Recht auf Versammlungsfrei-heit so wichtig sein soll, wenn sie nicht einmal das Recht auf ein Leben in Würde haben.“ Auch zweifelten sie am Führungspoten-zial der Oppositionellen. „Die Men-schen sind grundsätzlich bereit, ihre Rechte zu verteidigen. Aber sie sehen in Boris Nemzow keinen Mann, der sich wirkungsvoll dafür einsetzen könnte.“

die oPPosition

" Die vier Kernpunkte unseres Parteiprogramms beschäftigen sich damit, wie man gegen

Korruption systematisch und effizient vorgehen kann, wie man staatliche Verwaltung und den Polizeiapparat unter Kontrolle hält, wie man freie und ehrliche Wahlen etabliert und wie man gute Voraussetzungen sowohl für die Unternehmer als auch die Zivilge-sellschaft schafft.“

Wladimir ryschkowOPPOsitiOnsPOlitiker , Mitbegründer der Partei der VOlksfreiheit (Parnas)

Moritz gathMannrussland heute

Michail gorbatschow und Boris jelzin – letzter Präsident der sowjetunion und geburtshelfer der russischen Föderation. der eine wird, der andere wäre in diesem jahr 80 geworden.

Nahrung geben: Am 1. Februar wäre Boris Jelzin, der 2007 ver-storbene erste Präsident der Rus-sischen Föderation, 80 geworden. Dmitri Medwedjew enthüllte in seiner Heimatstadt Jekaterinburg ein Denkmal für den Reformer. Die ältere Generation jedoch

Die Emotionen kochten hoch, als in einer russischen Talkshow ein liberaler Journalist und ein kon-servativer Politologe das nüchter-ne Thema „Der Zerfall der UdSSR – Boris Jelzin und Michail Gor-batschow“ angingen. Auch 20 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion wird über die Bedeutung der beiden Politiker in der russischen Gesellschaft sehr kontrovers diskutiert. Was haben sie – außer seiner Auflösung – für das Land getan? In der Telefon-abstimmung am Ende der Sen-dung erhielt der Politologe, der eine Fortsetzung des „roten Pro-jekts“ prophezeite, sechsmal mehr Stimmen als sein Gegner. Dieser Tage feiert Russland zwei Jubiläen, die der Diskussion neue

würde Jelzin, in dessen Regie-rungszeit Wirtschaft und Politik in die Hände der Oligarchen ge-rieten, diese Ehre nicht erweisen. Laut einer Umfrage des russischen WZIOM-Instituts für Meinungs-forschung hätten heute nur noch ein Viertel der Bevölkerung im

Wahljahr 1991 für ihn gestimmt. Und im Jahr 2000 glaubten 67 Pro-zent, dass die Jelzin-Ära Russland eher geschadet als genutzt habe. „Nach Jelzin sorgte erst Putin für Ordnung und Stabilität“ – eine Aussage, die Anfang der 2000er in Russland sehr häufig zu hören war.Michail Gorbatschow, letzter Prä-sident der Sowjetunion, der die Demokratisierung seines Landes anstieß, den Ostblock in die Frei-heit entließ und die deutsche Ein-heit ermöglichte, feiert am heuti-gen Tag seinen 80. Geburtstag, dort, wo er mehr geschätzt wird als in seiner Heimat: in London.Gorbatschow und Jelzin stehen für die Ambivalenz von Freiheit und Unsicherheit. Das scheinen die Menschen inzwischen begrif-fen zu haben: 2009 glaubten nur noch 56 Prozent der Russen, dass die Jelzin-Ära dem Land gescha-det hätte.

reformer, Befreier, zerstörer? die russen sind 20 jahre nach ende der sowjetunion geteilter Meinung.

Nicht alle schicken Glückwünschejahrestage im frühjahr feiert russland die Jubiläen zweier wichtiger staatsmänner

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gungen zur Partei der Volksfrei-heit zusammen. Ihr Slogan: „Für ein Russland ohne Willkür und Korruption“. Für den 16. April ist eine große Aktion in Moskau ge-plant, bei der die offizielle Regis-trierung der Partei gefordert wird. 45 000 Mitglieder muss sie zu die-sem Zweck vorweisen. Damit wäre die Möglichkeit gegeben, Kandi-daten für die Parlamentswahlen 2011 sowie 2012 einen Präsident-

verhaftet und im Eilverfahren zu fünf bis 15 Tagen Gefängnis ver-urteilt. Die drei Oppositionellen Boris Nemzow, ehemals stellver-tretender Ministerpräsident, Edu-ard Limonow, Vorsitzender der ver-botenen Nationalbolschewistischen Partei Russlands und Ilja Jaschin von der Partei Jabloko bezeichne-ten das Vorgehen der Behörden als „Lukaschenkisierung“ des Putin-Regimes. Wie Alexander Luka-schenko, der in Weißrussland nach massiven Repressionen wiederge-wählt wurde, versuche Putin, alle Macht in seinen Händen zu kon-zentrieren. Die außerparlamenta-rischen Anti-Kreml-Bewegungen haben sehr unterschiedliche Ziel-setzungen. Aber in diesem spezi-ellen Punkt sind sie sich einig.Nikolai Petrow vom Moskauer Car-negie-Zentrum geht in seiner Ana-lyse der Situation noch in eine an-dere Richtung: Das Vorgehen der Behörden lasse nicht zwingend auf neue Repressalien von Staatsseite schließen: „Straßenproteste sind überall in Russland an der Tages-ordnung, und Behörden und Miliz sind schlicht überfordert.“Die Hoffnung der Oppositionel-len, dass offensichtliche Erfolge in den letzten Monaten ein Zei-chen für das Nachlassen der staat-lichen Kontrolle sein könnten, haben sich jedenfalls vorerst nicht bewahrheitet.Die sogenannten Chimki-Proteste gegen ein Straßenbauprojekt durch den Wald von Chimki nahe Mos-kaus waren zunächst ökologisch

begründet, wurden jedoch schnell zu einem Politikum, und gegen Ende des Sommers sah es ganz so aus, als könnten sie erfolgreich sein: Denn angesichts der Massen-proteste entschied Präsident Med-wedjew, die Bauarbeiten zu stop-pen. Im Dezember wurden sie dann aber wieder mit Volldampf aufgenommen.Im selben Monat schlossen sich die Wortführer der liberalen Bewe-

nach der identifizierung des attentäters von domodedowo suchen geheimdienst und Polizei nach den hintermännern.

Die lebende Bombe kam aus dem Kaukasus

Anfang Februar hatten die rus-sischen Ermittler den 20-jährigen Magomed Jewlojew aus der Republik Inguschetien als den Mann identifiziert, der sich am 24. Januar am Moskauer Flughafen Domodedowo in die Luft ge-sprengt hatte. Er stammte aus einem Dorf in der Nordkaukasus-republik Inguschetien, war jedoch schon seit dem letzten Sommer verschollen.Im Laufe des Monats wurden meh-rere Familienangehörige festge-nommen, die Jewlojew bei der Vor- bereitung der Tat geholfen haben sollen. Darunter seine Schwester, deren Mann zum islamistischen Untergrund gehörte und im letz-ten Jahr bei einer Antiterror- Operation getötet wurde. Ob Terroristenführer Doku Umarow, wie dieser behauptet, den An-schlag in Auftrag gegeben hat, ist bislang nicht erwiesen.

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Politik 3RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE

EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU

DIANA LAARZFÜR RUSSLAND HEUTE

Die verschärften Einreise-bestimmungen für die Russische Föderation üben Druck auf die EU aus. Zuvor war noch die Rede von einer visafreien Zone.

Berlin – Moskau: keine Chance ohne VisumReisen Russland hat die Einreisebestimmungen für EU-Bürger verschärft. Zu welchem Zweck?

Ein Blatt Papier kann für viel Un-ruhe sorgen. In diesem Fall ist es ein Dämpfer für alle, die an einen baldigen visafreien Verkehr zwi-schen Russland und Deutschland geglaubt haben. Seit dem ersten November vergangenen Jahres müssen Russlandreisende mit ihrem Visumantrag auch ihre „Rückkehrwilligkeit“ nachweisen. Dafür reicht entweder ein Konto-auszug oder eine formlose Bestä-tigung des Arbeitgebers. Das russische Außenministerium begründete den Schritt mit dem Prinzip der Gegenseitigkeit: Für Russen, die nach Deutschland rei-sen, gelten schon seit längerem ähnliche Bedingungen.

Diana Laarz ist Redakteurin d e r Moskau e r D e ut sch e n Zeitung.

Warten auf das Visum vor dem deutschen Konsulat in Moskau

Visafreiheit. Entsprechende Ver-handlungen sollten aufgenommen werden, hieß es nach dem Treffen in Rostow am Don. Von „notwen-digen Visaerleichterungen“ sprach auch Bundespräsident Christian Wulff bei seinem Moskau-Besuch im Oktober.

Die neuen Visabestimmungen Russlands haben deshalb viele vor den Kopf gestoßen. „Unverständ-lich und kontraproduktiv“ nennt sie Andreas Schockenhoff vom Auswärtigen Amt Berlin. Dabei hatte Russland selbst schon seit Langem für bessere Einreisebe-dingungen geworben. Die Brem-ser saßen eher in Brüssel und in manchen Regierungen der EU. Die nämlich befürchteten einen wach-senden Immigrantenstrom aus Zen-tralasien. Zu den Fürsprechern für Visaerleichterungen gehören Deutschland, Frankreich und Ita-lien. Gegenwind kommt vor allem aus den baltischen Staaten. Manch europäischer Unterhänd-ler mag gehofft haben, Russland werde die Geduld verlieren und die Visap� icht einseitig aufheben, um Investoren und Kapital für die re-formbedürftige Wirtschaft anzu-locken. Immerhin hat der Kreml dafür gesorgt, dass ausländische Führungskräfte seit diesem Jahr

einfacher an Arbeitsvisum und -erlaubnis kommen. Doch das Kal-kül, diese geschäftliche Regelung gelte auch für den Normalreisen-den, ist nicht aufgegangen. „Ich halte es durchaus für mög-lich, dass das russische Außen-ministerium mit diesem Schritt die Deutschen dazu bewegen woll-te, sich in der EU aktiver für die Visafreiheit einzusetzen – zu ihrem eigenen Nutzen“, sagt Ni-kolaj Petrow vom Moskauer Car-negie-Center. Er verweist auf das Prinzip der Gegenseitigkeit: „Un-gleiche Bedingungen zeugen von einem ungleichen Status.“ Brüs-sel müsse das Thema endlich ernsthaft angehen. „Es wäre schon sehr hilfreich, wenn es wenigs-tens einen konkreten Zeitplan oder einen detaillierten Forde-rungskatalog gäbe.“

Dabei hatten die Ampeln bereits auf Grün gestanden. Beim EU-Russland-Gipfel im Juni 2010 war die Visafreiheit noch in aller Munde. Präsident Dmitri Medwedjew überreichte dem EU-Ratspräsi-denten Herman Van Rompuy den Entwurf für ein Abkommen über

Kampf gegen Bakschisch und KorruptionReform Die russische Miliz wird reformiert und erhält einen neuen Namen: Polizei

„Man kann auch ehrlich arbeiten“: Die Moskauer Polizisten Menschenin (links) und Kusminow auf Streife.

ARTJOM SAGORODNOWRUSSLAND HEUTE

Ab dem 1. März tritt das neue Polizeigesetz in Kraft. Die Redaktion wollte von den zukünftigen Polizisten wissen, was sich alles ändern wird und was beim Alten bleibt.

Milizionär Michail Menschenin versucht gerade, eine um sich schlagende 86-jährige Rentnerin zu beruhigen, während er ihren rudernden Armen ausweicht. Menschenin und sein Kollege wur-den von der Sozialarbeiterin Ljud-mila in die Wohnung der Frau ge-rufen. Die Rentnerin habe sie an-gegriffen, schluchzt Ljudmila. „Sie ist völlig durchgedreht.“Die Beamten Alexander Kusmi-now, 23, und Menschenin, 25, gehen in einem Bezirk in Moskaus Südwesten auf Streife. Stolz er-zählen sie, wie gewissenhaft sie ihre P� icht erfüllen. Doch als Be-amte der Moskauer Miliz, wie die Polizei in Russland heißt, gehö-ren sie einer Behörde an, die als korrupt verschrien ist.

Mageres Gehalt, viel Stress„Ich liebe meinen Job. Ich habe Kontakt zu Menschen, ich kann Gutes tun“, sagt Menschenin. „Psychologisch ist es hart, aber harte Arbeit wird auch belohnt. Das Gehalt ist nicht besonders gut, und wir schlagen uns mit Prämi-en durch.“ Menschenin verdient etwa 25 000 Rubel im Monat, das sind ungefähr 600 Euro, eine lä-cherliche Summe für Moskau, und erst recht für einen verheirateten Mann mit zwei Kindern. Der niedrige Verdienst bringt viele Beamte dazu, Bestechungsgelder anzunehmen, was dem Ruf der Polizei beträchtlich schadet. Um-fragen zeigen, dass 60 Prozent der russischen Bürger mit der Arbeit der Polizei nicht zufrieden sind.

Es ist dieses routinemäßige Ein-fordern kleiner Summen, etwa bei geringfügigen Geschwindigkeits-übertretungen, das die Russen so sauer auf ihre Polizei macht.„Was erwarten sie denn für das Geld, das wir bekommen?“, fragt Alexej, ein Polizeibeamter, der sei-nen Nachnamen nicht nennen will. „Die guten Beamten nehmen Geld nur für Kleinigkeiten. Damit man über die Runden kommt.“

Polizei statt MilizDer Amoklauf des Polizeimajors Denis Jewsjukow, der in einem Moskauer Supermarkt 2009 zwei Menschen tötete und sieben ver-letzte, veranlasste Präsident Med-wedjew, eine grundlegende Re-form des Polizeiapparates ein-zufordern. Der Entwurf eines neuen Polizei-gesetzes wurde im Internet zur Diskussion gestellt. Als vertrau-ensbildende Maßnahme schlug Medwedjew vor, zum Begriff „Po-lizei“ aus der Zarenzeit zurück-zukommen – in Abgrenzung zur gegenwärtigen Miliz, einem Über-bleibsel aus der Sowjet-Ära. Fer-ner soll künftig die Befugnis eines Beamten auf seinen Bezirk be-schränkt bleiben, im Falle einer Festnahme hat man das Recht auf ein Telefongespräch und kann vom Recht der Aussageverweigerung Gebrauch machen. Beträchtliche Gehaltserhöhungen bei gleichzei-tiger personeller Verschlankung des Polizeiapparats sollen Beste-chungsgelder hinfällig machen. Einige Abgeordnete bezweifeln, dass die Reform der Bevölkerung ihr Vertrauen zurückgebe. „Statt eines neuen Sicherheitssystems geben wir der Miliz nur einen neuen Namen“, klagt der Duma-Abgeordnete Gennadi Gudkow.Die Pro-Kreml-Partei Einiges Russland habe Versuche blockiert, die Polizei einer umfangreiche-

ren öffentlichen Kontrolle zu unterziehen.Auch einige höhere Polizeibeam-te haben Kritik an dem Gesetz geübt. Es müsse eine allumfassen-de Offensive vor allem gegen Kor-ruption geben. Dies schlösse staat-liche Institutionen und öffentliche Meinung gleichermaßen ein. „Wenn wir die anderen Instituti-onen nicht zusammen mit der Po-lizei reformieren und die Zustän-digkeitsbereiche abgrenzen, wer-den weder Entlassungen von Mitarbeitern noch Gehaltserhö-hungen viel ändern“, sagt Juri Matjuchin, Polizeichef des Bezirks Südwest-Moskau.Nikolai Petrow von der Moskau-er Carnegie-Stiftung glaubt, dass hinter der geringen Wertschät-zung der Polizei etwas ganz anderes stehe, nämlich eine „gärende Unzufriedenheit mit staatlichen Institutionen“. „Nach

KOMMENTAR

Zu viele Fragen bleiben offen

Das neue Polizeigesetz bietet keine Antwort auf die gegenwärtigen Prob-leme der russischen Polizei. Zu kriti-sieren waren bisher in erster Linie die fehlende Umsetzung der gesetzlichen Bestimmungen sowie die Kriminalität innerhalb der Miliz. Auch verfehlt Prä-sident Medwedjew sein Ziel, mit dem Gesetz sein Profil als Verfechter eines

Caroline von Gall

RECHTSEXPERTIN

liberalen Rechtsstaats zu schärfen. Obwohl das Gesetz im Einleitungsteil den Schutz des Bürgers zur Aufgabe der Polizei erklärt, wird dieser Ansatz in den einzelnen Bereichen nicht kon-sequent umgesetzt. Vielfach fehlt es dem neuen Gesetz an Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit der polizeili-chen Maßnahmen. Eine ernst gemein-te Reform müsste sich auch die ande-ren Sicherheitsapparate vornehmen und eine unabhängige Verwaltungs-gerichtsbarkeit schaffen.

meiner Erfahrung gibt es eigent-lich nichts, was bei der Polizei schlechter als woanders wäre.“Ein wichtiger Aspekt der Reform ist noch nicht geklärt: Die Eig-

nungsprüfung der Milizionäre beim Übergang in die Polizei. Das Prozedere soll in naher Zukunft durch einen Ukas von Präsident Medwedjew geregelt werden.

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Wirtschaft4 WWW.russland-heute.de Russland Heute

eine Beilage der russischen tageszeitung rossijskaja gaseta, Moskau

Wirt-schafts-kalender

uMWelt sankt PetersBurger ÖkoWochen14. bis 31. März, sankt Petersburg

Auf dem Lenexpo Messegelände dreht sich alles um eine umwelt-freundlichere Lebensweise. Vorgestellt werden neue Technologien in den Be-reichen Abfallentsorgung, Wasserauf-bereitung und Verbesserung der Luftqualität.

ecoweek.lenexpo.ru/en ›

autoMoBilrussian autoMotive foruM15. bis 17. März, renaissance Monarch centre hotel, Moskau

Regierungsvertreter tauschen sich mit Managern der führenden Autoher-steller über die Zukunft des russischen Automobilbaus aus. Ein Analyse-Workshop zu den wichtigsten Bereichen der Branche und ein Net-working-Tool runden das Forum ab.

adamsmithconferences.com ›

MaschinenBautechnical fair st. PetersBurg15. bis 17. März, lenexPo-zentruM, sankt Petersburg

Die Technische Industriemesse von Sankt Petersburg ist eine internatio- nale Fachmesse für Maschinenbau, Metallverarbeitung, Werkzeuge, Gie-ßerei, Metallurgie, Schweißen, Auto-matisierungstechnik, Antriebstechnik und Subcontracting.

ptfair.ru ›

energierussia PoWer 201125. bis 27. März, exPo center Moskau

Die führende Energiefachmesse Russ-lands findet dieses Jahr zum neunten Mal statt. 5000 Besucher und Aus-steller aus über 50 Ländern werden erwartet. Die Messe bietet eine ideale Plattform für neue Strategien und Technologien aus dem Energiesektor.

russia-power.net ›

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natalja fedotoWafür russland heute

vor rund zehn jahren versprach der damalige Präsident Wladimir Putin, das russische Bruttoinlandsprodukt innerhalb eines jahrzehnts zu verdoppeln. sein ziel hat er knapp verfehlt.

Es erinnerte an die Zehnjahres-pläne aus sowjetischen Zeiten, als Präsident Wladimir Putin im Jahr 2000 ankündigte, bis 2010 das Bruttoinlandsprodukt seines Lan-des zu verdoppeln. Auf dem In-ternationalen Investitionsforum in Sotschi bekräftigte er 2008 noch einmal den Plan. Da ahnte er al-lerdings noch nichts von der kom-menden Finanzkrise, die sein ehr-geiziges Ziel zunichte machen sollte.Im Januar wurde in Russland die Studie der Consultingfirma FBK diskutiert, die zu dem Schluss kam, das reale BIP sei im vergan-genen Jahrzehnt lediglich um das 1,6-Fache gewachsen. „Die BIP-Verdoppelung binnen eines Jahr-zehnts ist nur zur Hälfte gelun-gen“, stellt Igor Nikolajew fest, bei FBK verantwortlich für strategi-sche Analysen. Und das läge nicht nur an der Weltwirtschaftskrise. „Andere Länder haben sich von der Krise schließlich auch nicht beeindrucken lassen.“ So wuchs im gleichen Zeitraum das BIP Chi-nas ums 2,6-Fache, in Kasachs-tan um das 2,2-Fache und in Weiß-russland um das Zweifache.Allerdings, so Nikolajew, habe die Krise auch seine positive Seite: Die russische Wirtschaft entwick-le sich – wenn auch langsam – vom Rohstoff hin zum innovativen Sek-tor, glaubt der Experte.

Alexander Osin von Finam Ma-nagement erklärt den BIP-Zu-wachs vor allem durch einen An-stieg der Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt. „Die wichtigsten Pro-duktionsanlagen in der Industrie sind zu 80 Prozent veraltet, die Unternehmen können aber nicht modernisieren, da sie keinen Etat dafür haben.“ Investitionen von außen fließen in die lukrativen Be-reiche Rohstoffe, Einzelhandel, Dienstleistungen, Finanzmärkte oder Immobilien. Der einzige Weg aus dieser Sackgasse sei aber eine Erhöhung der Investitionen im produzierenden Gewerbe.2010 stieg die Industrieproduk- tion schneller als das reale BIP – erstmals seit 2005. Der Grund waren staatliche Subventionen der

verarbeitenden Industrie, die pri-vate Anleger nach sich zogen. Für 2011 sind noch einmal 1,6 Billio-nen Rubel (40 Milliarden Euro) für weitere Modernisierungsmaß-nahmen eingeplant. Das reicht aber längst nicht aus: Experten schätzen, dass für eine umfassen-de Modernisierung mehrere Bil-lionen Rubel nötig sind.Trotz steigender Produktionskos-ten sind die Prognosen für 2011 aber optimistisch: Die Rating-Agentur Fitch sagt ein BIP-Wachs-tum von 4,3 Prozent voraus, der Internationale Währungsfonds gar von 4,5 Prozent.

Wachstum keine Verdopplung des biP

Propheten und der real existierendeKapitalismus

Branchen der russische Pharmamarkt auf wachstumskurs

rachel Morarjeerussland heute

internationale Pharmakonzerne verlegen ihre standorte nach russland. denn 2011 treten neue vorschriften für importierte Medikamente in kraft, die den Binnenmarkt ankurbeln sollen.

Ende letzten Jahres legte die rus-sische Regierung einen Zwanzig-Jahres-Plan zur Modernisierung der einheimischen Pharmaindus-trie auf. Demnach sollen sich rus-sische Pharmaunternehmen aktiver an den internationalen Märkten beteiligen. Dafür sind Subventionen von jährlich 2,9 Milliarden Euro geplant mit dem Ziel, bis 2020 90 Prozent der lebenswichtigen Medikamente und die Hälfte der medizinischen Ausrüstung im Inland zu produ-zieren. Die Exporte sollen um das Achtfache erhöht werden.Ausländische Pharmaunterneh-men und Hersteller von medizi-

nischen Geräten müssten künf-tig mit Einschränkungen beim Verkauf ihrer Produkte in der Russischen Föderation rechnen, wenn sie ihre Technologie und ihre Produktionsanlagen nicht ins Land bringen, kündigte Pre-mier Wladimir Putin unlängst an. Die Handelsbarrieren wür-den sodann Schritt für Schritt eingeführt.

das sowjet-erbe lastet schwerDmitri Genkin, Vorstand der rus-sischen Pharmasintez, die beim Börsengang im November 13 Mil-lionen Euro generierte, glaubt, dass Russland nach wie vor gegen sein sowjetisches Erbe kämpfe: Damals seien d ie meisten Pharmaunternehmen in Osteu-ropa aufgebaut worden.„Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben wir eine rie-sige Kluft zwischen Grundlagen- und angewandten Wissenschaf-

ten wie der Medizin“, erklärt er. Russische Unternehmen warten schon lange auf staatliche Unter-stützung, denn gegenwärtig liegen die Subventionen im Phar-mabereich weit hinter den Aus-gaben für Forschung und Ent-wicklung in der EU und den USA. Disproportional dazu wächst der russische Arzneimittelmarkt dop-pelt so schnell wie die Märkte in den Vereinigten Staaten und Eu-ropa und ist bereits zu einem um-kämpften Terrain für ausländi-sche Pharmaunternehmen gewor-den, deren Umsätze auf westlichen Märkten gesunken sind.„Der Arzneimittelmarkt wird durch die Subventionen der Regierung und die Nachfrage der Konsumenten angekurbelt und überflügelt die Wachstumsraten des russischen BIP, während das zersplitterte regionale Pharma-segment führenden Unternehmen ein großes Potenzial zur Konzern-bildung bietet“, heißt es in einem Bericht der Uralsib-Bank in Moskau.Westliche Pharmariesen bereiten sich derweil auf die Importschran-ken vor und errichten eigene Pro-duktionsanlagen in der Russischen Föderation, um vom Wachstum des Markts zu profitieren.Ende 2010 kündigte der Novartis-Konzern 370 Millionen Euro Investitionen in den kommenden fünf Jahren an. Die Schweizer wollen eine Produktionsanlage in Sankt Petersburg errichten und gemeinsam mit russischen Unter-nehmen die Entwicklung neuer Pharmaprodukte vorantreiben. Berlin-Chemie, Tochterunterneh-men der italienischen Menarini-Group, baut in Kaluga bei Mos-kau ein Werk für 30 Millionen Euro. Auch Nycomed mit Sitz in der Schweiz und das dänische Unternehmen Novo Nordisk haben Pläne zur Arzneimittelherstellung in Russland angekündigt.

kooperation bei impfstoffen Die britische GlaxoSmithKline hat im November einen Vertrag mit der Moskauer Binnofarm über eine Kooperation im Bereich Impfstoffe abgeschlossen, und auch die Franzosen rückten nach: Im Januar stellte Sanofi-Aventis ein Team für die Erschließung von Emerging Markets zusam-men; ein besonderes Augenmerk gälte dabei Russland.Unterdessen nehmen russische Unternehmen ausländische Märk-te ins Visier. So will Pharmasin-tez einen Teil seines Kapitals zum Kauf von Pharmaunternehmen in Europa, Israel und den USA aufwenden: „Wir suchen kleine, wachsende und gewinnträchtige Unternehmen mit eigenen Pro-duktionsstandorten“, so fasst Dmitri Genkin die Pläne seines Unternehmens nach dem Gang an die Börse zusammen.

die Produktionsanlagen sind zu 80 Prozent veraltet, aber den unternehmen fehlt das geld zur Modernisierung.

das russische BiP 2000 bis 2010

Pillen aus eigener herstellung

die Mitarbeiterin eines Pharmaunternehmens in stawropol arbeitet an einem impfstoff gegen die schweinegrippe.

Quelle: internationaler währungsfond

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5WirtschaftRussland Heute WWW.russland-heute.de

eine Beilage der russischen tageszeitung rossijskaja gaseta, Moskau

sonne im neuen jahrtausendtechnologien Sonne und andere erneuerbare Energien – Energiewende in Russland

Brennholz kombiniert mit sonnenschein: ein haushalt in ostsibirien nützt zur Wärmeerzeugung beide energieformen.

irina FilatovathE moScow timES

russland ist zwar nicht das sonnigste land der erde, doch die nutzung von sonnenenergie gilt als vielversprechende alternative bei der gewinnung von elektrizität und Wärme.

Russland – da denkt man wohl eher an lange dunkle Winter als an strahlend sonnige Tage. Doch das hindert private Unternehmen keineswegs daran, in den wach-senden Markt für Solarenergie einzusteigen. Die Entscheidung darüber, ob die Sonne langfristig mit herkömmlichen Energiequel-len konkurrieren kann, steht zwar noch aus, aber nach Meinung ei-niger führender Anbieter hat So-larenergie ein sehr hohes Poten-zial. Das sieht die Regierung an-ders. Sie setzt noch immer auf Erdöl und hat bislang wenig För-derprogramme für erneuerbare Energien – wie aus der Sonne – lanciert. Handelsminister Viktor Christenko drückte es so aus: „Gott hat Russland mit Kohle, Gas und Öl gesegnet, daher gibt es für die Produktion alternativer Ener-gien keine Stimuli.“„Zu Unrecht“, sagt Marat Saks von Solar Wind, einem Hersteller von Photovoltaikmodulen mit Sitz im südrussischen Krasnodar. „Russland ist auch mit viel Sonne gesegnet. Außerdem: Beim Ver-brauch von Solarenergie ist Deutschland weltweit führend, und scheint dort etwa immer die Sonne?“

120 Millionen für russische solaranlagenSaks Firma produziert Module für den Export, aber man setzt auch auf einen expandierenden Binnenmarkt. „Wenn wir einen Auftrag von einem russischen Kunden bekommen, bearbeiten wir ihn bevorzugt, um die Ent-wicklung auf dem Binnenmarkt anzukurbeln“, sagt Saks.Eine Reihe russischer Privatun-ternehmen gründete Joint Ven-tures mit dem staatlichen Tech-nologieunternehmen Rusnano, um auf die lokale Nachfrage reagie-ren zu können. Gemeinsam mit Rusnano startet Solar Wind gerade ein 4,8 Milliarden Rubel (rund 120 Millionen Euro) teures Projekt zur Produktion doppel-seitiger Photovoltaikmodule für den Binnenmarkt. Sie können auf beiden Seiten Sonnenenergie auf-nehmen. Laut Saks gibt es welt-weit nur wenige Hersteller für So-larmodule dieser Art. Bisher sei das Marktvolumen in Russland noch wesentlich kleiner als das Exportvolumen, erläutert er. Seine russischen Kunden seien Privatfirmen und Regionalverwal-tungen, exportiert werde hinge-gen in mehr als 22 Länder, dar-unter Deutschland, England und die USA.Energiespezialisten gehen davon aus, dass Sonnenenergie in eini-gen Regionen eine echte Alterna-tive zu herkömmlichen Energie-quellen wie Gas und Öl ist. „Die Gegend um Krasnodar am Schwarzen Meer und die meisten Regionen Sibiriens haben eine In-solation (durchschnittliche Zeit

der Sonneneinstrahlung) ver-gleichbar mit Südfrankreich. Die Region Transbaikalien östlich des Baikalsees weist sogar mehr Son-nentage als Spanien auf“, sagt Wassili Malacha, Umweltspezia-list beim GUS-Rat für Elektrizi-tät und Energie.

Mehr sonne als in spanien Laut Malacha beträgt in Krasno-dar die tägliche solare Einstrah-lung pro Quadratmeter 4 bis 4,5 Kilowattstunden. Hier wurde man auf die Möglichkeiten der Solar-energie aufmerksam, als 2006 von der Regierung ein Energieeffi-

zienzprogramm ins Leben geru-fen wurde. Inzwischen sind in der Region Sonnenkollektoren auf einer Fläche von insgesamt 7000 Quadratmetern installiert. Die Zellen werden auch zum Erwär-men von Wasser genutzt: Das städ-tische Krankenhaus in Ust-Lab-insk, einer Stadt 60 Kilometer nördlich von Krasnodar, wurde mit rund 600 Quadratmetern Pho-tovoltaikzellen ausgestattet, die im Sommer den kompletten Warm-wasserbedarf abdecken. Durch die Solarenergie spart das Kran-kenhaus jährlich ca. 1,5 Millionen Rubel (rund 40 000 Euro).

Jewgeni Nadeschdin, Direktor des Internationalen Entwicklungszen-trums für nachhaltige Energien der UNESCO (ISEDC), plädiert dennoch für einen besonnenen Ausbau der Solarenergie.

sonne im verbund mit erneuerbaren energien Zumindest Mittelrussland verfü-ge über zu wenig Sonnenein-strahlung, man solle sich deshalb auf den Süden und die Kaukasus-republiken konzentrieren. „Solar-energie hat auch in Russland Zu-kunft, doch nur in Verbindung mit anderen erneuerbaren und her-

kömmlichen Energien“, bestätigt Brigitte Schmidt von Eurosolar Deutschland. Ein weiteres Hin-dernis beim Ausbau der Solar-energie sind die hohen Baukosten der Kraftwerke. Sie liegen zwi-schen 7000 und 12 000 Euro pro Kilowatt installierter Leistung. Im Vergleich dazu liegen die Kos-ten für Kernkraftwerke bei 2200 Euro, für Wasserkraftanlagen nur bei 730 Euro pro Kilowatt. Eine Energieversogung duch Wasser-kraftwerke und Biokraftstoffe sei deshalb letztendlich doch die bes-sere Option für Russland, meint der Kritiker Nadeschdin.

Die Millionenstadt Jekaterinburg 1500 Kilometer östlich von Moskau ist nicht nur die Hauptstadt des Urals, sie spielt momentan auch bei der Entwicklung von modernen und effizienten Ener-giekonzepten eine tragende Rolle. Derzeit wird dort unter Beteiligung deutscher Unternehmen ein Modell-Wohnhaus aus der Chruschtschow-Zeit unter Aspekten der Energieein-sparung grundsaniert. Nach dem Um-bau soll der Energieverbrauch um bis zu 73 Prozent sinken. Wenn das Expe-riment gelingt, wird auch ein Großteil

energieeFFizienz

modernes outfit für chruschtschow

der umliegenden Wohnhäuser auf diese Weise saniert. Gleichzeitig prüft man weitere Möglichkeiten der Ener-gieeinsparung in Gebäuden, aber auch im Verkehr und in der Abfall- und Wasserwirtschaft, etwa durch den Einbau von Thermostaten an Heizun-gen, Gebäudeisolierungen oder Ener-giesparlampen. Doch das hat seinen Preis: Nach einer Berechnung der deutschen Experten würde eine Inves-tition von 3,6 Milliarden Euro eine Primärenergie-Einsparung von 44 Prozent ermöglichen.

964,4 Mrd. kWh.betrug der Energie- verbrauch Russlands im Jahr 2009. Deutschland verbrauchte im gleichen Jahr 596,8 Mrd. kWh.

40 ProzentBis zum Jahr 2020 soll die Energieeffizienz Russlands laut Plänen der Regierung um 40 Prozent steigen.

30 Prozentdes Energieverbrauchs könnten mit erneuerba-ren Energien bestritten werden. Heute sind es etwa zwei Prozent.

die zahlen

Wasserkraft wurde in der sowjetunion zu einer wichtigen energie-quelle. heute decken die großen Wasserkraftwerke mit 165 Milliarden kilowattstunden fast 20 Prozent des russischen energiebedarfs ab.

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6 www.russland-heute.de Russland Heute

eine Beilage der russischen tageszeitung rossijskaja gaseta, Moskauthema des Monats

Fläche 50 300 km²

Bevölkerung 2,7 millionen

Fläche 3630 km²

Bevölkerung 0,5 millionen

Fläche 8000 km²

Bevölkerung 0,7 millionen

Fläche 15 700 km²

Bevölkerung 1,3 millionen

Fläche 12 500 km²

Bevölkerung 0,9 millionen

saira beim Mittagsgebet in richtung Mekka

anna neMtsovafür russland heute

saira sucht die normalität. sie will einfach nur ihre kinder großziehen. ihr Mann wurde von sicherheitskräften erschossen. deswegen sieht man sie als potenzielle attentäterin.

Saira, eine zarte kleine Frau aus Machatschkala, der staubigen Hauptstadt Dagestans, hat einen Sohn geboren. Doch die Menschen hier sehen sie nicht als junge Mut-ter, sondern als potenzielle Mör-derin. Kürzlich, so erzählt sie, hät-ten Kunden im Supermarkt auf sie gezeigt und gesagt: „Da kommt die Märtyrerin!“ Die junge Frau bleibt jetzt lieber zu Hause, an-statt sich den vorwurfsvollen Bli-cken von Fremden in dieser vor-wiegend muslimischen Region im Süden Russlands auszusetzen.Was sich für Saira zu einem wah-ren Albtraum entwickelte, begann im letzten Frühjahr, als sich zwei Frauen aus Dagestan in der Mos-kauer U-Bahn in die Luft spreng-ten. 40 Menschen wurden getötet, mehr als 100 verletzt. Die Atten-täterinnen hatten mit Saira mehr als nur die geografische Herkunft gemeinsam. Wie Sairas Mann waren auch ihre Ehemänner auf-ständische Islamisten, die bei Kämpfen mit russischen Sicher-heitskräften ums Leben gekom-men waren. Immer wieder begehen in Russ-land solche Witwen Selbstmord-attentate, weshalb die Medien sie als „schwarze Witwen“ bezeich-nen. Nach dem U-Bahn-Attentat

veröffentlichte die Zeitung Kom-somolskaja Prawda Fotos von 22 potenziellen „schwarzen Witwen“, dazu persönliche Daten wie die Städte und Bezirke, in denen sie leben.Die Schlagzeile lautete: „1000 Wit-wen und Schwestern von Bandi-ten aus Dagestan helfen Terroris-ten“. Auch Sairas Foto war unter den 22, mit dem Kommentar, man müsse solche Personen fürchten und beobachten. „Unglaublich, mich auf diese Liste zu setzen“, Saira ringt nach Worten. „Wenn ich einen Terroranschlag planen wollte, würde ich nicht so offen in Machatschkala leben. Ich hätte meinen Sohn nicht auf die staat-liche Schule geschickt.“In den letzten zehn Jahren neigen die Sicherheitsorgane dazu, Isla-misten grundsätzlich als Terror-verdächtige einzustufen. Und laut Menschenrechtlern geht die Po-lizei mit äußerst brutalen Mitteln gegen sie vor.„Sie brennen dein Haus nieder, und es kann passieren, dass du und deine ganze Familie sang- und klanglos verschwinden oder ermordet werden“, sagt Tatjana Lokschina aus dem Moskauer Büro von Human Rights Watch. „Solcherart Methoden und der fehlende Raum für eine eigene Meinung oder religiöse Überzeu-gungen drängen immer mehr Menschen in den Untergrund. Ge-rade Jugendliche!“ Als die Poli-zei die Witwenliste der Zeitung zuspielte, habe sie die negativen Auswirkungen auf die hinterblie-benen Ehefrauen bewusst in Kauf

genommen. Das sei eine neue, be-sonders hinterhältige Taktik in einem schmutzigen Konflikt.Vor Kurzem wurde die nächste angebliche „schwarze Witwe“ in der Republik Inguschetien verhaf-tet: Fatima Jewlojewa, 22, Schwes-ter von Magomed Jewlojew, dem Selbstmordattentäter, der am Flughafen Domodedowo 36 Men-schen in den Tod riss. Die Ermitt-ler behaupten, an Fatimas Hän-den Sprengstoffspuren gefunden zu haben; sie habe ihrem Bruder beim Bombenbau geholfen. Fati-mas Ehemann, ein Aufständischer, wurde letzten Sommer getötet.Im letzten Jahr starben in Dage-stan bei 112 Anschlägen, fünf davon Selbstmordattentate, 68 Menschen, 195 wurden verletzt. Human Rights Watch berichtet von 20 Entführungen und acht Morden an Islamisten durch die Polizei im zweiten Halbjahr 2010. „Um eine wirkliche Diskussion über den Islam und vielleicht sogar Reformen in Gang zu bringen, müssen die Behörden versuchen, alle religiösen Führer zu hören, gerade auch die unbequemen“, so Lokschina. Gennadi Gudkow vom Sicher-heitskomitee der Staatsduma for-dert mehr politische Befugnisse für den Gesetzgeber, um den An-titerrorkampf der Sicherheitskräf-te überwachen und kontrollieren zu können. Gudkow beklagt, das Parlament habe keine Kontrolle über das staatliche Anti-Terror-Komitee. „Wir als Abgeordnete sind bei der Terrorismusbekämp-

die „schwarzen witwen“ aus deM kaukasus

in dagestan gab es 2010 die meisten terroranschläge

die fronten stehen sich unversöhnlich gegenüber

region nordkaukasus

fung völlig ausgeklammert“, sagt er. „Wir haben keinen blassen Schimmer davon, wie die Sicher-heitskräfte vorgehen und welche speziellen Methoden sie dabei anwenden.“Der Fall Saira legt nahe, dass manche dieser Methoden eher kon-traproduktiv sind. Seit ihr Ehe-mann getötet wurde, sagt Saira, habe sie alles versucht, um sich ein neues Leben aufzubauen. Sie hat wieder geheiratet, ein zweites Kind bekommen und eine Anstel-lung als Putzfrau in einem Ge-schäft gefunden.Das alles wurde von der Zeitungs-liste zerstört. Saira hat ihren Job

verloren. Ihren achtjährigen Sohn hat sie aus der staatlichen Schule genommen und schickt ihn nun auf eine private Koranschule. Zuvor hatte ihn ein Lehrer ge-schlagen, weil er Wahhabit sei. Und sie selbst werde immer wie-der von der Polizei aufgesucht und verhört.„Wir wünschten, wir könnten da-zugehören“, sagt sie. „Aber wir werden von der Gesellschaft nicht akzeptiert. Das drängt viele in den Untergrund.“

Anna Nemtsova schreibt über den Kaukasus für die amerikanische Newsweek.

tschetscheniendagestan inguschetien nordossetienKabardino-balkarien

[email protected]

rasul Magomedow (rechts) ist vater einer „schwarzen witwe“: seine tochter sprengte sich 2010 in der Moskauer Metro in die luft.

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Russland Heute www.russland-heute.de

eine Beilage der russischen tageszeitung rossijskaja gaseta, Moskau thema des Monats 7

Warum Morgan Stanley noch zögert, in Dagestan zu investieren

dombaj im nordkaukasus: das skigebiet geht auf über 3000 Meter höhe, umgeben von Viertausendern.

jelena danilowitschruSSlanD heute

der nordkaukasus mit seinen sechs republiken soll zum tourismus-cluster werden. dafür sind bis 2025 15 Milliarden euro eingeplant. aber viele inves-toren sind noch skeptisch.

Hadschi-Murad Magomedras-sulow hat neun Jahre in Moskau gelebt. Als er von den Plänen der Regierung hörte, aus dem Nord-kaukasus ein Urlaubsparadies zu machen, ging er zurück in seine Heimat Dagestan. Zu Sowjetzeiten war die russische Teilrepublik ein beliebtes Reise-ziel mit Hotels, sportlichen Ein-richtungen und Jugendherbergen. Die schneesicheren Berge lockten Skifahrer aus der ganzen Sowjet-union an, und Badegäste aalten sich am Kaspischen Meer in der Sonne. Auch kulturell hatte Da-gestan einiges zu bieten.Heute ist die Region ein Not-standsgebiet – touristisch wie wirtschaftlich. Die Arbeitslosen-quote liegt bei über 20 Prozent, und besonders hoch ist sie unter jungen Leuten. Um der Misere ent-gegenzuwirken, wurde im letzten Jahr ein staatliches Entwicklungs-programm beschlossen, das vier Wirtschaftsbereiche umfasst: Tou-rismus, Landwirtschaft, Energie-wirtschaft und Verkehrswesen. Auch die Jugend- und Bildungs-politik soll eine größere Rolle spielen.

Mehr geld für jugendarbeitGrigori Schwedow, Chefredakteur des Internetportals caucasiank-not.org, das sich dem Kaukasus widmet, sieht in der Jugendarbeit eine wichtige Komponente des neuen Regierungsprogramms. „Die Ansichten und Werte der jun-gen Menschen müssen sich ins Po-sitive entwickeln, sie brauchen sinnvolle Lebensperspektiven.“ Momentan versinke die Region je-doch in der Gesetzlosigkeit.Der 30-jährige Magomedrassulow lässt sich davon nicht abschrecken. Er rechnet mit einem Anwachsen des Tourismus und will in der Hauptstadt Machatschkala ein Reisebüro eröffnen. Er hat vor, Badereisen, Wanderungen und Ethnotouren anzubieten.„Jedes Jahr kommen viele Tou-risten aus Moskau und Sankt Pe-tersburg hierher. Und Ausländer, die von Bekannten gehört haben, wie schön es hier ist“, sagt er. Aber er räumt auch ein, dass die Repu-blik keinen guten Ruf genieße. Der Wahhabismus treibe jedoch kei-nen Kaukasier dazu, einen Tou-risten zu überfallen, denn Gäste gelten im Kaukasus als unantast-bar. Er jedenfalls fühle sich in Da-gestan sicherer als beispielsweise auf Moskaus Straßen.

Manche ausländischen Investoren sehen das inzwischen genauso. Anatoli Karibow, Leiter der Tou-rismus-Agentur von Machatschka-la, erklärt, die türkische Hotel-gruppe Pegasos habe Interesse an drei Objekten bekundet, darun-ter ein Hotelkomplex am Kaspi-schen Meer. Mit einem einzigen türkischen Investor kommt man allerdings kaum auf die 15 Mil-liarden, die die Entwicklungs-agenda vorsieht, eine Summe, die doppelt so groß ist wie das Bud-get für die Olympischen Winter-spiele 2014 in Sotschi.

Vier Milliarden Fremdkapital Deutsche Investoren etwa halten sich mit ihrem Engagement in der Unruheregion Kaukasus noch zu-rück, wie die Auslandshandels-kammer in Moskau bestätigt. Laut caucasianknot.org wurde bereits bei Morgan Stanley, J.P.Morgan, Citibank, Allianz Group und an-deren internationalen Investment-fonds mit Investitionsvorschlägen geworben – bislang jedoch ohne großen Erfolg.Von den 15 Milliarden Euro In-vestitionssumme werden etwa elf Milliarden vom Staat kommen, der Rest muss fremdfinanziert werden. Ihre Verteilung wird nach Meinung von Experten unter we-nigen Akteuren erfolgen, und zwar den großen Tourismusun-ternehmen, den Firmen russischer Oligarchen sowie Energiekonzer-nen, die die Infrastrukturprojek-te realisieren. Für den Mittelstand und Kleinunternehmer bleibe da nur wenig übrig.

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es muss darum gehen, eine Brücke zu den aufständischen zu schlagen

Vor einem Jahr wurde der Unruhe-herd Nordkaukasus aus der Födera-tion Südrussland ausgegliedert und zu einem eigenen Verwaltungsbezirk un-ter Generalgouverneur Alexander Chloponin zusammengeschlossen. Dieses Konzept erscheint mehr als sinnvoll. Hätte die Regierung schon vor zehn Jahren entsprechende Initia-tiven ergriffen, wäre die Situation in dieser Region nicht eskaliert. Doch so gab es einen idealen Nähr-boden für den Terrorismus. Die zu-nächst sozialen Proteste gingen schon bald in religiösen Widerstand über. Die sozialen Motive sind seitdem in den Hintergrund gerückt. Heute schließen sich dem islamistischen Un-tergrund „in den Wäldern“ alle Bevöl-kerungsschichten an. Die wirtschaftli-chen Missstände verschärfen lediglich seine Ideologie. Inzwischen ist praktisch das gesamte öffentliche Leben im Nordkaukasus unter terroristischer Kontrolle. Deswe-gen leistet Alexander Chloponins Pro-gramm eher einen Beitrag zur Stabili-sierung der Lage, ein Allheilmittel ge-gen Terrorismus ist es nicht. Im Nordkaukasus gibt es renommierte Reiseziele, die einen Ausbau des Fremdenverkehrs sinnvoll machen.

orchan dschemal

kaukaSuS-experte

Jedoch wurden in Machatschkala Sprengsätze schon lange vor den Ter-roranschlägen in Moskau gezündet – als Warnung für die nach islamischer Auslegung allzu freizügig bekleideten Touristen. Zur Lösung des Problems müssten Vermittler gefunden werden, deren Beziehung zum „Wald“ gut genug ist, um Einfluss auf die Aufständischen auszuüben. Auch sollte man islami-sche Parteien zulassen, regionale Mandatsträger wählen lassen und Kompromisse zwischen Scharia und weltlicher Gesetzgebung finden. In diese Richtung ist bislang nur der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow gegangen. Indem er seinen ehemaligen Gegnern sinnvolle Aufga-ben zuteilte, hat er sie aus den tsche-tschenischen Wäldern gelockt. Sie wurden Verwaltungschef eines Dorfes oder bekamen einen Posten bei der Polizei. Sowohl in Dagestan als auch in Inguschetien muss es vor allem da-rum gehen, eine Brücke zu den Auf-ständischen zu schlagen. Die Islamis-ten müssen die Möglichkeit haben, den Untergrund zu verlassen und poli-tisch für ihre Ziele zu kämpfen.

Der Moskauer Politologe Orchan Dschemal ist Nordkaukasus-Experte, Publizist und ehemali-ger Autor der r u ss i sche n Newsweek.

raumfahrtam 12. apri 1961 läutete der russische

kosmonaut Juri Gagarin die Ära der bemannten raumfahrt ein.

Thema der nächsten AusgabeNoch frischer als aus dem Druck – das russland heute E-Paper

russland-heute.de/e-paper

wodurch wird der Frieden im nord-kaukasus gestört? Die Region hat eine schmerzliche Vergangenheit. In Tschetschenien gab es zwei Kriege. Und noch immer sinnen viele Menschen auf Rache und führen Blutfehden.kann man dem terror mit höheren lebensstandards begegnen? Niemand kann den Krieg gegen den Terror wirklich gewinnen, solange es im Nahen Osten brodelt. Dieser Terroris-mus ist kein russisches Phänomen, er ist eine internationale Bedrohung. welche rolle spielt der konflikt zwi-schen sufis und sunniten?Religiöse Diskussionen sind zu kompli-ziert und führen nirgendwohin. Wir sind kein Religionsstaat, doppelte Standards darf es nicht geben.wo haben sie als generalgouverneur ihre Prioritäten gesetzt?Oberste Priorität hat der Kampf gegen Terrorismus und Korruption. Und wir wollen neue Arbeitsplätze schaffen. wo sollen diese entstehen?Im Tourismus, im Baugewerbe und im Energiesektor. Auch landwirtschaftliche Projekte sind im Gespräch, ebenso wie Logistikzentren und Industrieparks. Bis wann wollen sie diese Pläne umsetzen?Die Regierung hat einen Ausschuss für die Entwicklung im Nordkaukasus ge-gründet. Schon bis 2015 sollen hier 400 000 neue Arbeitsplätze entstehen. Diese Pläne klingen sehr ehrgeizig, doch wir wollen unser Bestes geben.

Frage & antwort

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Gesellschaft www.russland-heute.de Russland Heute

eine BeilaGe der russischen taGeszeitunG rossijskaja Gaseta, Moskau8

Galina Masterowafür russland heute

der raubtierkapitalismus der 90er-jahre lehrte die russen: jeder stirbt für sich allein. nun bildet sich über das internet eine neue Bewegung von freiwilligen helfern.

Als Marina Litwinowitsch, be-kannte oppositionelle Bloggerin, im Internet über die schrecklichen Waldbrände des letzten Jahres re-cherchierte, wurde sie auf zwei Arten von Kommentaren auf-merksam: „Die einen schrieben ‚Wir brennen‘, die anderen ‚Wie können wir helfen?‘ Diese beiden Strömungen galt es zusammen-zuführen, und genau das taten wir.“Innerhalb weniger Tage stellte Litwinowitsch mit ein paar Frei-willigen eine Seite ins Netz. Dazu benutzten sie Usahidi, ein Com-puterprogramm, das nach dem Erdbeben in Haiti dazu diente, die Hilfslieferungen zu koordinieren und an die Orte zu bringen, wo sie am dringendsten benötigt wur-den. Hunderte von Freiwilligen boten ihre Hilfe an.Die Freiwilligenbewegung ist in Russland auf dem Vormarsch, es entsteht eine Generation junger, interneterfahrener Aktivisten. Sie stehen für eine neue Mittelschicht, die entschlossen ist, soziale Pro-bleme anzugehen und rasch auf Hilferufe zu reagieren.

das Feuer schürt die solidarität unter den MenschenWährend der Brände „gab es eine Welle an freiwilliger Unterstüt-zung: Menschen halfen, Spenden-

wenn Blogger zu Feuerlöschern greifen

ehrenamt die russen entdecken die Philanthropie – ein völlig neues Gefühl der empathie für Menschen in not

die waldbrände im sommer 2010 vereinten Blogger im kampf gegen das Feuer.

lieferungen zu koordinieren, und unterstützten die Löscharbeiten mit ihren eigenen Fahrzeugen“, erzählt Maria Tschertok, Leite-rin von CAF Russia, einer priva-ten Organisation für humanitäre Hilfen. Andere wohltätige Ein-richtungen wie Miloserdie (Barm-herzigkeit) von der Russisch-Or-thodoxen Kirche beteiligten sich ebenfalls an der Hilfsaktion für die Brandopfer.

Doch anders als im Westen, wo sich Menschen verschiedener Al-tersgruppen ehrenamtlich enga-gieren, sind es in Russland eher die Jüngeren. Die meisten sind unter 40 und schreiben Blogs, sie gehören weder Parteien noch Or-ganisationen an. „Es gibt regel-mäßige Internetkampagnen“, er-zählt Tschertok. „Ein Blogger, der freiwillig in einer Reha-Einrich-tung arbeitete, berichtete über die

unhaltbaren Zustände und setzte alles in Bewegung, die Lage zu verbessern.“ Vertreter der örtli-chen Behörden wurden entsandt, die Einrichtung zu überprüfen, und diese Publicity rief neue Frei-willige auf den Plan.Die Gesellschaftskammer der Russischen Föderation beriet kürzlich über eine bessere Koor-dinierung der staatlichen und eh-renamtlichen Dienste, damit die

humanitären Hilfeleistungen noch effektiver greifen können.Gegenwärtig entsteht auch eine staatlich gesteuerte Freiwilligen-bewegung, zum Beispiel bei der Vorbereitung auf die Olympischen Winterspiele in Sotschi 2014 und die Fußball-Weltmeisterschaft 2018. Drei Universitäten bieten Kurse an, die die Helfer auf diese hochrangigen Veranstaltungen vorbereiten sollen.

zum wohltäter ausgebildetUm eine bessere Ausbildung eh-renamtlicher Mitarbeiter küm-mert sich auch Podari Schisn (Schenk Leben) mit Sitz in Mos-kau. Die Organisation hilft Kin-dern, die an Krebs oder anderen schwerwiegenden Erkrankungen leiden. Anastassija Sewerina, 23, ist seit einiger Zeit mit großem Eifer ehrenamtlich tätig. Früher arbei-tete sie als Freiwillige bei Nas-tenka, einer Wohltätigkeitsorga-nisation, die sich ebenfalls für kranke Kinder einsetzt. „Wer in diesem Bereich tätig ist, trifft auf gute, freundliche Menschen“, er-zählt sie.Als sie noch in der freien Wirt-schaft tätig war, fühlte sie sich stets zu wohltätiger Arbeit und ehrenamtlichem Engagement hin-gezogen. Inzwischen schreibt sie einen Blog, über den sie neue Frei-willige anwirbt. Ihre jüngste gute Tat war der Auf-ruf, eine Familie mit sieben Kin-dern in Rjasan zu unterstützen, die sich mit der Bitte um Hilfe an sie gewandt hatte. „Sie leben in einem heruntergekommenen Haus und haben kaum zu essen.“ Sewerina berichtete in ihrem Blog darüber, was die Familie am nö-tigsten brauchte, und bekam spon-tan Lebensmittel und Kleidung zugeschickt. „Die Familie hat viele Probleme,“ sagt sie, „doch ich bin in der Lage, dies publik zu ma-chen und gemeinsam mit anderen gezielt so zu helfen, dass sie ihr Leben meistern kann.“

veronika dorManrussland heute

er ist 34, intelligent und wort-gewandt: alexej nawalny klärt Blogger über die korrupten seilschaften der Beamten auf.

über Mut, Macht und Markt: ein Blogger kämpft gegen Windmühlen

Gazprom und erhebt daraufhin als Shareholder Anspruch auf den Zugang zu den in Russland übli-cherweise fest unter Verschluss gehaltenen internen Unterneh-mensdaten.Nawalny verbringt viel Zeit damit, Daten publik zu machen, die öffentlich zugänglich sein müss-ten. Vor Kurzem stellte er einen Bericht des Rechnungshofes ins Netz, der beweist, das der staat-liche Transneft-Konzern den

Wenn die Moskauer ihren Bür-germeister direkt wählen könn-ten, würden sie für Alexej Nawal-ny stimmen. Nach der Absetzung des früheren Stadthalters Juri Luschkow gaben ihm in einer Internetumfrage 45 Prozent der Befragten ihre Stimme. Vor dem Hintergrund einer undurchschau-baren Politiklandschaft und der korrupten Beamtenschaft avan-cierte Nawalny zu einer Art Held des öffentlichen Lebens.Seine Bühne ist das LiveJournal – 25 285 Menschen lesen Nawal-nys Blog navalny.livejournal.com regelmäßig. Seit 2008 nutzt der studierte Jurist auch die Börse für eine neue Art zivilgesellschaftli-chen Engagements – er kauft Ak-tien großer staatlicher Unterneh-men wie Transneft, Rosneft oder

Steuerzahler beim Bau der Ölpipe-line „Ostsibirien – Pazifik“ um drei Milliarden Euro betrog. Der über 150 Seiten lange Bericht gibt Einblicke in unterschiedlichste Methoden der Unterschlagung – Scheinaufträge, fiktive Subunter-nehmer, überhöhte Preise. Die Re-gierung dementierte das Doku-ment nicht, der Pressesprecher von Premier Putin kommentierte lapidar: „Wenn es hier tatsächlich ein Problem gäbe, hätte der Rech-nungshof uns das mitgeteilt.“ Bevor Nawalny solche Daten ver-öffentlicht, unterzieht er sie einer sorgfältigen Prüfung: „Ich bekom-me viel kompromittierendes Material zugesandt – ich prüfe es gründlich und handle dann. Ich habe keine Zeit, zu untersuchen, wer von den Betrügereien profi-tiert. Doch wenn ich schriftliche Beweise für eine Unterschlagung habe, lege ich Beschwerde ein.“ Trotz aller damit verbundenen Risiken handelt er entschlossen. Der Jurist ist von seinem Recht überzeugt.

alexej nawalny sagt russischen Beamten den kampf an.

Freiwillige hilfe aus deutschlandHunderte Freiwillige – vor allem auch junge - kommen jedes Jahr in die Russische Föderation, um bei Men-schenrechtsorganisationen wie MEMORIAL, in einem Waisenhaus in Sankt Petersburg oder im Naturpark auf Kamtschatka mitzuarbeiten. Für viele ist es der erste Kontakt mit ei-nem fremden Land. Die mehrmonatigen Aufenthalte sind eine einmalige Chance, Land, Leute und Kultur kennenzulernen – und gleichzeitig Gutes zu tun. Außerdem lernt man nebenbei die Landesspra-che. Freiwilligen wird meist Verpfle-

gung und Unterkunft gestellt und ein kleines Taschengeld gezahlt. Außer-dem sind sie gegen Unfälle versichert.Eine Übersicht der Organisationen, die Freiwilligendienste in Russland koordinieren, bietet die Seite des Deutsch-Russischen Jugendaustau-sches www.stiftung-drja.de/russland/wege-nach-russland.In Russland kann auch der sogenann-te „Andere Dienst im Ausland“, eine besondere Form des Zivildienstes, ge-leistet werden, zum Beispiel bei der „Aktion Sühnezeichen“. Mehr dazu unter www.fsj-adia.de.

hanna, eine Freiwillige aus deutschland, schenkt behinderten waisenkindern in einem heim bei tula suppe aus.

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jueves 5 de agosto de 2010

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EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU

NINA WASCHDAJEWAMAGAZIN „ITOGI“

Russische Rentner vermieten ihre Wohnung zu Hause und ziehen nach Tunesien, Spanien oder Italien. Dort erwartet sie ein angenehmeres und erfüllteres Leben.

Unter den russischen Touristen, die Mitte Januar wegen der Un-ruhen in aller Eile Tunesien ver-ließen, waren auffallend viele äl-tere. Im Rahmen des Senioren-Reiseprogramms „Winter in Tunis“ hatten sie die Wintermo-nate in einem wärmeren Land verbringen wollen – ohne zwei-stellige Minusgrade.

Mit den Zugvögeln gen SüdenSeit der Jahrtausendwende über-wintern Senioren aus Russland vermehrt in südlichen Ge� lden. Denn – so stellten sie fest – das steigert nicht nur die Lebensqua-lität, es ist auch bezahlbar. Die Kosten für einen Dreimonatsauf-enthalt in Tunis belaufen sich auf 65 000 Rubel, also knapp 1600 Euro. „Die Ruheständler bezah-len hier ungefähr 700 Rubel – etwa 17 Euro – pro Tag, ein Erholungs-heim im Moskauer Umland kos-tet dagegen 1200 Rubel“, erklärt Alexander Orlowski, Direktor eines Touristikunternehmens, das seit drei Jahren Langzeitreisen für Senioren nach Tunesien anbietet, Tendenz steigend: „Die alten Menschen gehen auf Besich-tigungstour, lassen sich die Mee-resbrise um die Nase wehen, genießen Wellness- und Heilbe-handlungen, während sie zu Hause in der Wohnung hocken und sich nur zum Brotholen auf die spie-gelglatten Straßen trauen. Neben Tunesien überwintern die Russen gerne in der Türkei, Mon-tenegro, Bulgarien, Spanien, Grie-chenland, Italien und Zypern. Ins-besondere die Moskauer konnten erfahren, dass sie für einen lan-gen Auslandsaufenthalt einfach ihre eigene Wohnung zu vermie-ten brauchen. Das reicht für die Reisekosten und einiges mehr.

Das Alter – eine Chance für EntdeckungslustigeAls die 57-jährige Moskauerin La-rissa Petrowa mit 55 in Rente ging, brach sie sofort nach Goa auf. „Das war schon immer mein Traum, aber von einem Lehrer-gehalt kann man keine großen Sprünge machen. Jetzt habe ich meine Wohnung vermietet und in den letzten beiden Jahren in In-dien, der Türkei und Montenegro gelebt. Larissa plant noch eine lange Reise durch Europa, mit Stationen in Frankreich, Spani-en und Italien, danach will sie nach Moskau zurückkehren und sich um die zwei Enkelkinder kümmern. Sie ist Vertreterin einer neuen Ge-neration Rentner, die auch in der postsowjetischen Zeit noch be-rufstätig waren und einiges von ihrem Verdienst beiseitelegen konnten. Sie stehen materiell pas-sabel da und unterscheiden sich gravierend von den Großmüttern, die ihre Zeit auf der Bank vor der Haustür zubrachten. Die neuen Rentner Russlands haben gelernt,

Lieber Gelato als GlatteisLebensabend Russlands Rentner gehen massenhaft ins Ausland. Viele nur über den Winter, manche für immer

Eine Gesellschaft mit zwei Gesichtern: die „neuen“ russischen Senioren, die den strengen Winter in Ägypten und Tunesien verbringen ...

mit Computer, Internet und On-linebanking umzugehen. „In Russland hat sich eine Mit-telschicht herausgebildet“, kons-tatiert Nikita Mkrtschjan, Mig-rationsforscher an der Russischen Akademie der Wissenschaften. „Diese Leute verfügen über Er-sparnisse und rentable Immobi-lien. In den 1990er-Jahren sind sie nicht ins Ausland gefahren, weil es unerschwinglich erschien. Jetzt ist Russland teurer.“ Ihre Rente können sie per Antrag auch außerhalb des Landes in Empfang nehmen und bargeldlos operieren – was vor zehn Jahren noch un-denkbar gewesen wäre.

Kein Ticket für die RückfahrtNach ein, zwei Jahren Auslands-aufenthalt haben sich einige Ru-heständler entschlossen, ganz zu bleiben. Jelena Degtewa, eine Rentnerin aus dem westrussischen Kaluga, lebt seit sechs Monaten im türkischen Mahmutlar, zehn Kilometer von der Urlauberhoch-

burg Alanya entfernt. Mit 63 Jahren ist sie zur Aussteigerin ge-worden: Ihren Unterhalt bestrei-tet sie von den 600 Dollar, die ihr die Vermietung ihrer Wohnung in Kaluga monatlich einbringt. „Vor einem halben Jahr habe ich meine Datscha verkauft und mir dafür die Wohnung in Mahmut-lar zugelegt“, erzählt die Senio-rin. „Alle Nachbarn sind Türken, deshalb lerne ich nach und nach die Sprache. Für den Alltag reicht es schon.“Jelena Degtewa hat nicht vor, offiziell auszuwandern, aber auch an eine Rückkehr nach Russland denkt sie gegenwärtig nicht. Ihren Aufenthalt in der Türkei regelt ein Gastvisum, für das sie 400 Dollar pro Jahr bezahlt. „Hier hat mein Leben neue Impulse erhal-ten“, erklärt sie. „Und in der Tür-kei kommt man ohne nennens-werte Einschränkungen mit 600 Dollar im Monat aus. In Russland kann man von so einem Betrag nur schlecht leben.“

Aus dem Verkaufserlös einer kleinen Wohnung in einem Mos-kauer Fünfgeschosser aus der Chruschtschow-Zeit bekommt man in Bulgarien ein solides Haus samt einem Stück Land. Diese Tatsache und die steigenden Le-benshaltungskosten treiben viele Rentner ins Ausland.

Für ein geregeltes LebenUnd es gibt noch einen dritten Grund, so der Psychologe Pawel Ponomarjow: „Für Menschen über sechzig bedeuten Stabilität und eine gute medizinische Versor-gung sehr viel. Hier ist das Leben instabil, die Renten sind niedrig und in den staatlichen Poliklini-ken geht nichts ohne Warteschlan-ge. Auch � nanziell besser gestell-te Rentner beklagen sich über das Gesundheitssystem, ihnen ziehen private Kliniken schamlos das Geld aus der Tasche. Die Senio-ren gehen in den Westen, um sich als vollwertige Mitglieder der Ge-sellschaft zu fühlen.“

Viele Rentner, die Russland ver-lassen haben, wären liebend gern geblieben. „Doch bei uns betrach-tet man sie nach wie vor als Men-schen, die den Rest ihrer Tage nur so herumbringen.“ Sie fühlen sich schutzlos und über� üssig. Damit die Ruheständler nicht ins Aus-land flüchten, so Ponomarjow, müsse sich in erster Linie die Ein-stellung zum Alter ändern. Noch immer hieße es in offiziellen Dokumenten der Russischen Föderation „Ablebensalter“.An natürlichen Ressourcen hätte Russland durchaus einiges zu bie-ten. Seien es die heilkräftigen Mi-neralquellen des Kaukasus, die urtümlichen Nadelwälder mit ihrem unvergleichlichen Geruch rund um den Ladogasee oder die heißen Quellen auf der Halbinsel Kamtschatka. Dazu gleich zwei Meere mit mildem mediterranem Klima. In Russland gibt es alles für ein erfülltes und zufriedenes Alter. Nur glückliche Senioren sieht man wenig.

Ohne die Unterstützung der Kinder ist es nicht zu schaffen2010 wurde die durchschnittliche Rente in der Russischen Födera-tion um 43 Prozent angehoben, 2011 sollen weitere elf Prozent hinzukommen. „Endlich müssen wir nicht mehr jeden Rubel drei-mal umdrehen“, sagt die 74-jäh-rige Alla Loktjuschina, Rentne-rin aus Wolgograd. Ein Leben im Wohlstand, wie es manche Rentner im Westen ken-nen, bedeutet das aber noch lange nicht: 8400 Rubel im Monat erhält ein russischer Pensionär durch-schnittlich – etwas weniger als 220 Euro. Dabei kosten in Russ-land Lebensmittel nur etwa 20 Prozent weniger als in Deutsch-land, in den Ballungsräumen sind sie sogar teurer. In Großstädten wie Moskau oder Sankt Peters-burg gibt es zwar Rentenaufschlä-ge aus den regionalen Kassen,

diese fallen aber mit ihren 20 bis 30 Prozent kaum ins Gewicht.Das Ehepaar Loktjuschin be-kommt zusammen 21 000 Rubel im Monat – das sind 520 Euro. Davon müssen sie 80 Euro für ihre Wohnung und 120 bis 150 Euro für Medikamente ausgeben. „Unter dem Strich bleiben vielleicht zwölftausend Rubel zum Leben übrig“, klagt Alla Loktjuschina. Das reiche gerade mal so für die täglichen Besorgungen. „Aber wir haben ja unsere Kinder, die für uns sorgen.“Eine Unterstützung durch die eigenen Kinder ist für viele Seni-oren ein Ausweg aus dem � nan-ziellen Debakel im Alter. Kinder-lose müssen sich hingegen selbst versorgen: 8 der 30 Millionen rus-sischen Rentner gehen einer Arbeit nach.

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... und die „alten“ Rentner zu Hause in ihrer Wohnung.

Moskau - eine Stadt ohne Rentner. Erfahren Sie mehr aufrussland-heute.de

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www.russland-heute.de Russland Heute

eine Beilage der russischen tageszeitung rossijskaja gaseta, Moskau10 Meinung

Dmitri meDweDjew herr über Die zeit

Russlands Präsident Dmitri Medwedjew bewies neu-lich, dass seine Vollmachten als Staatsoberhaupt bis in

die am wenigsten erwarteten Sphären hineinreichen: Seine Entscheidung, ab Herbst 2011 den Übergang zur Winterzeit abzu-schaffen, ist die natürliche Fortsetzung einer Initiative, die er bereits im November 2009 in sei-ner Jahresbotschaft an das Parlament und die Nation lancier-te: eine Reduzierung der ursprüng-lich elf Zeitzonen in Russland. Bereits im vergangenen Jahr rück-ten fünf Regionen der Russischen Föderation um eine Stunde näher an Moskau heran, indem sie den Übergang zur Sommerzeit nicht mitvollzogen. Jetzt hat Medwedjew de m ge s a mt e n L a nd de n Verzicht auf die Zeitumstellung verordnet. Das Vorpreschen des russischen Präsidenten ist beispiellos. In vie-len Ländern wie den USA oder den Staaten der EU gehört das regelmäßige Vor- und Zurückstel-len der Uhren zur festen Gewohn-heit. Der Wechsel zwischen Som-mer- und Winterzeit gilt dort als ökonomisch gerechtfertigt und medizinisch unbedenklich. In Russland wie auch zuvor schon in der Sowjetunion sind sich die Ex-perten hingegen uneinig. Als am 1. April 1981 der Zeitwechsel im Sowjetreich Einzug hielt, wurden dafür hauptsächlich wirtschaft-liche Gründe ins Feld geführt. Nach Einschätzung einiger Wis-senschaftler hat Russland dank des Übergangs zur Winterzeit jährlich zweieinhalb Milliarden Kilowatt-

nikolai troizki

publizist

russland heute: die deutsche ausgabe von russland heute erscheint als beilage in der süddeutschen Zeitung. Für den inhalt ist ausschliesslich die redaktion der tagesZeitung rossijskaja gaseta, Moskau, verantwortlich. verlag: rossijskaja gaseta, ul. prawdy 24 str. 4, 125993 Moskau, russische Föderation. tel. +7 495 775-3114 Fax +7 495 988-9213 e-Mail [email protected]

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stunden Strom eingespart. Doch während der gesamten drei Jahr-zehnte verstummten auch die Geg-ner einer rein ökonomischen Be-trachtungsweise nicht. Sie argu-mentierten, der Zeitwechsel störe den Biorhythmus. Unter dem Ein-fluss der Sommerzeit müssten die Menschen zwangsläufig eine Stun-de früher aufwachen und sich während der Herbst- und Winter-monate in einen unnatürlichen Arbeitsrhythmus hineinfinden. Mediziner steuerten das Argument bei, in den ersten fünf Tagen nach der Zeitumstellung erhöhe sich die Anzahl der Notrufe Herzkranker jeweils um 11 Prozent. Vor allem letztere Argumente führte Dmit-

ri Medwedjew bei der Begründung seiner Entscheidung an: „Die Zeit-umstellung geht einher mit Stress und Erkrankungen.“ Man darf auch den Stromsparef-fekt nicht überschätzen. Nach dem Vorstellen der Zeiger auf die Win-terzeit schalten die Menschen zwar tatsächlich das Licht in ihren Wohnungen früher aus, doch die Großverbraucher von Elektroener-gie arbeiten in der Regel rund um die Uhr. Da fallen 60 Minuten nicht ins Gewicht. Es mussten jedoch 30 Jahre vergehen, bis sich diese Einsicht durchsetze.

Dieser Artikel erschien bei ria novosti

Grenzen Der macht tunesien - ÄGypten

Der Die welt verÄnDerte: michail Gor batschow

Das folgerichtige Ende, das zunächst das tunesische und danach das ägypti-sche Regime ereilte, ist

nicht etwa der Beginn einer „neuen Demokratisierungswelle“, es be-deutet zunächst einmal die Rückkehr zur einer politischen Normalität nach vielen Jahren der Unterdrückung. Tunesien und Ägypten zählen zu jenen Ländern, deren Wirtschaft sich langsamer als in anderen des Nahen Ostens entwickelte, bei gleichzeitig rasantem Anstieg der Bevölkerung. Folge war die Verar-mung eines Großteils der Menschen – ein Viertel muss mit weniger als zwei Euro pro Tag auskommen.Eine kleine politische Elite hatte die Kontrolle über die Wirtschaft inne und steckte 90 Prozent des Volkseinkommens ein. Selbst der private Handel – der originäre Wirtschaftssektor der arabischen Welt – war der staatlichen Kont-rolle unterstellt. Natürlich spielte auch die Alters-struktur der Bevölkerung und die neuen Kommunikationsmittel eine wichtige Rolle bei den wachsenden Unruhen. 34 Prozent der Tunesier sind jünger als 21, in Ägypten sind es gar 43 Prozent. Über 30 Prozent der Tunesier und 24 Prozent der Ägypter verfügen über Internet, über 80 Prozent haben ein Handy. Die Konstellation aus 30 Jahren Diktatur und dem hohen Anteil einer jungen Bevölkerungsschicht ergab letztendlich die hochexplo-sive Mischung, die irgendwann hochgehen musste. Und man kann den Menschen in beiden Ländern nur wünschen, dass sie weiterhin auf die Straße gehen, falls sich die neuen Machthaber wieder als Des-poten herausstellen sollten.

Es gibt führende Politiker, die ihr Land in einer Zeit der Erneuerung regierten: Adolfo Suárez, Margret

Thatcher, Helmut Kohl, Ronald Reagan und Václav Havel. Dann gibt es aber auch Politiker, die die Welt verändert haben. Einer von ihnen war Wladimir Iljitsch Lenin, der Begründer des kommunisti-schen Systems, das den Westen he-rausforderte. Der zweite war Michail Gorbatschow, der dieses System stürzte.Zwischen 1985 und 1990 stellte Gorbatschow unter Beweis, dass er

wladislaw inosemzew

volkswiRt

lilija schewzowa politologin

Aus den jüngsten Ereignissen in Tunesien und Ägypten kann man eines jedoch nicht folgern: dass die Zeit der Obrigkeitsstaaten nun end-gültig vorbei sei. Undemokratische Regime wie China und andere asi-atische Staaten hatten bislang nichts zu befürchten: Weil sie ihre Kontrolle auf die Politik beschränk-ten, in die Wirtschaft aber nur wenig eingriffen und für allgemei-nes Wachstum und Wohlstand sorgten. Vor diesem Hintergrund erscheint Russland als „Grenzland“: Einerseits gibt es hier keine aktive, arbeitslose Jugend, wirtschaftlich sind wir im Aufschwung, und der Regierung ist es gelungen, den

Haushalt nach der Krise zu konso-lidieren. Andererseits sind die Men-schen durch undurchsichtige staat-liche Regulierungsmaßnahmen, bürokratische Willkür und die Be-stechlichkeit der Behörden zuneh-mend verärgert. Deshalb geben die Unruhen in den arabischen Ländern zu denken. Für Russland kann es nur einen einzi-gen Ausweg geben: Wenn ein Staat dauerhaft existieren möchte, darf er seine Bürger nicht gängeln und muss auch seine Beamten auf un-terster Ebene im Griff haben. Wenn ihm dies gelingt, hat er nichts zu befürchten.

Dieser Artikel erschien bei iswestija

W ladi slaw Inosemzew i s t Gründer des Zentrums für Studien zur postindustriellen Gesellschaft.

ein politischer Führer anderen Ka-libers war. Als Erstes erkannte er die Sinnlosigkeit des amerikanisch-russischen Wettrüstens. 1986 brach-te er die Idee von einer atomwaf-fenfreien Welt auf den Tisch, als deren Folge umfangreiche Abrüs-tungsverhandlungen aufgenommen wurden; ein anderer sowjetischer Regierungschef hätte das gefähr-liche Spiel mit den Amerikanern wesentlich länger fortführen kön-nen. Gorbatschows zweite große Abwei-chung von seinen Vorgängern war seine tiefe Überzeugung, dass jede Nation das Recht habe, ihre eigene Regierung zu wählen – eine Über-zeugung, die grundlegend für seine Entscheidung war, Osteuropa aus

Für Russland kann es nur einen Ausweg geben: die kontrolle der beamten auf unterster Ebene.

den Klammern der Sowjetunion zu entlassen. Als Bürgerproteste die DDR, die Tschechoslowakei, Un-garn und Polen erschütterten, rie-fen die dortigen Regierungschefs Moskau um Hilfe, doch Gorbat-

schow reagierte mit einem nach-drücklichen Nein. Er wollte keine Wiederholung des Prager Früh-lings.

Sein Verhalten spielte eine entschei-dende Rolle bei der Wiedervereini-gung Deutschlands und der Rück-kehr der früheren Satellitenstaaten der Sowjetunion in den Schoß Eu-ropas. Mit dem Verzicht auf ein Monopol der Kommunistischen Partei und der Öffnung der Grenzen forcierte Gorbatschow den Zerfall der So-wjetunion. Vermutlich sogar ohne Absicht wurde er so zu einem gro-ßen Reformer. Seine Persönlichkeit wirkt vor allem so spannungsvoll, weil er nach Beginn der großartigen Perestroika die Reformen nicht bis zum Ende führte. Er war der erste Mann in der russischen Geschich-te, der den Kreml verließ, ohne sich an die Macht zu klammern.

Andererseits kennt die Geschich-te keinen Reformer, dem es gelang, ein etabliertes System zu zerstö-ren und an dessen Stelle aus ei-gener Kraft ein neues aufzubauen. Reformer opfern ihre Popularität, wenn sie an den alten Lebenswei-sen rütteln, und das gilt auch für Gorbatschow. Selbst heute noch weckt sein Name in Russland gemischte Ge-fühle. Keine Gesellschaft hat ihre Reformer zu deren Lebzeiten als Helden wahrgenommen. Heute wird Michail Gorbatschow 80 Jahre alt.

Lilija Schewzowa ist Senior A s s o c i a t e d e s M o s k a u e r Carnegie-Zentrums.

sein verhalten spielte eine entscheidende Rolle bei der wiedervereinigung Deutschlands.

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11Feuilletonwww.russland-heute.de Russland Heute

eine Beilage der russischen tageszeitung rossijskaja gaseta, Moskau

kultur-kalender

literatur iM FilMder passagier des zuges nr. 12 – erinnerungen an leo tolstoi und seine FaMilie10. März, TolsToi-BiBlioThek, München

Den Dokumentarfilm mit originalen Archivaufnahmen zu Leo Tolstoi und seiner Familie schuf 1998 der russi-sche Regisseur Vladimir Makedonski.

tolstoi-bibliothek.de ›

FotograFieFrédéric chauBin. cosMic coMMunist constructions photographed Bis 27. März, zkM karlsruhe

Chaubins Fotografien zeigen Architek-tur der späten Sowjet-Ära, die sich durch ein utopisches Formenvokabu-lar jenseits der Norm auszeichnet.

zkm.de ›

zirkusder grosse russische staatszirkusMärz Bis Juni, BundesweiT

Temporeich und traditionell. Mit einem Gala-Programm wird heuer der russische Clown Oleg Popow für sein einmaliges Lebenswerk geehrt.

› staatscircus.com

erfahren sie Mehr üBer russische kulTur aufrussland-heute.de

Ich glaube, mIr Ist ganz wenIg zeIt geblIeben

unter den Opfern des Terroranschlags auf dem Moskauer Flughafen Domodedowo am 24.

Januar befand sich auch die Dramatikerin Anna Jablonskaja. Sie war nach Moskau geflogen, um einen Theaterpreis in Empfang zu nehmen. Doch sie kam nie an. Die ganze Nacht versuchten Angehörige und Freunde sie zu erreichen. Irgendwann meldete sich ein Mitarbeiter des Geheimdienstes ... Anna Jablonskaja, die eigentlich Maschutina hieß, wäre diesen Sommer 30 Jahre alt geworden; sie hinterlässt in Odessa ihren Ehemann und eine dreijährige Tochter.Die ukrainische Autorin und Ly-rikerin, die eigentlich internatio-nales Recht in Odessa studiert hatte, schrieb in russischer Spra-che. 2004 erschien die Debütantin auf der Longlist der Literaturkri-tik, ab da ging es steil bergauf: 2006 Einladung auf die Theater-biennale in Wiesbaden, im selben Jahr das Springdance Festival in Utrecht, letztes Jahr war sie am Londoner Royal Court Theatre zu Gast, das im April ihr letztes Stück „Die Heiden“ als szenische Lesung

Ruth Wyneken i st DA A D -Dozentin für Dramaturgie in Moskau und Expertin für russi-sches Theater.

ten Ausschnitt der Welt. Ihr Stück „Ödland“ handelt von einem Mann, der nach Armeedienst und Krieg mit dem Leben nicht mehr zurechtkommt. Wer aber denkt, er hätte nun ein psychologisches, düsteres Drama vor sich, irrt ge-

waltig. Denn alles ist überzeich-net und ins Absurde gekippt. Der Protagonist Zenturio lebt einer-seits im heutigen Russland, in sei-ner Phantasie ist er aber Legio-när des römischen Reiches zur Zeit seines Niedergangs. Beide Ebenen

zeigt. Nicht nur die Moskauer Off-Szene brachte ihre Stücke heraus, auch etablierte Theater und das Kino waren auf die junge Frau aus Odessa aufmerksam geworden. „Mit ihr“, schreibt die russische Zeitung Moskowskij Komsomo-lez, „starb möglicherweise die Zu-kunft der russischen Kultur.“Was genau ist es, das ihre Stücke, Gedichte, ihre Prosaskizzen kenn-zeichnet, sie so besonders macht? Egal ob sie schreiend komisch, schrill oder leise angestimmt sind, bei aller Verzerrtheit ist stets ein trauriger Kontrapunkt zu hören. Ihre Figuren sind entfremdet, verstrickt, meist unglücklich, brü-chige Existenzen allemal – gezeichnet sind sie jedoch aus komisch-grotesker Perspektive. Auffallend ist die starke Bildlich-keit der Texte. Stoffe und Loca-tions entstammen ganz dem heu-tigen postsowjetischen Russland und der Ukraine. Dennoch ist da eine frappierende Nähe zu Nikolaj Gogol, Jablonska-jas großem Landsmann aus dem 19. Jahrhundert. Parallelwelten tun sich plötzlich im Alltag ihrer Figuren auf und lassen sie ins Phantastische oder Metaphysische stürzen. Wie durch Gogols be-rühmten Zerrspiegel blickt Anna Jablonskaja auf einen bestimm-

in memoriam: anna jablonskaja

vermischen sich rasch, der Ex-Sol-dat von heute findet in einer Klär-anlage eine römische Uniform, zieht seine Familie mehr und mehr in die andere Realität und soll schließlich von einem abstrusen Heiler erlöst werden, der schon in römischer Zeit als christlicher Sektierer Wunder tat. Was bleibt, ist das groteske Drama einer Welt mit vertikalen Machtstrukturen, in der Menschen als Sklaven zum Kämpfen und Töten herangezüch-tet werden. In „Die Concierge“ zieht Jablonskaja noch mehr Re-gister. Sie schrieb es in Shake-spear‘schem Versmaß, inhaltlich macht sie jedoch Anleihen bei James Bond und dem Action-film.Ihre Texte sind krass, dabei je-doch feinfühlig und hellhörig. Sie hat dem Volk genau aufs Maul ge-schaut, mit wenigen Strichen zeichnet sie ihre Figuren so le-bendig, dass man selber mitfährt im Liegewagen Kiew-Moskau und mit der 80-jährigen Frau vom Dorf an der Grenze aus dem Zug ge-holt wird, weil sie keinen Schim-mer hat von den politischen Ent-wicklungen – nur ihren alten sowjetischen Pass, der zum Re-likt einer alten Welt geworden ist. Unter der komischen Oberfläche liegt auch hier die alte Traurig-keit, Anna Jablonskaja kannte sie gut. Ihr Blog im Internet spricht oft vom Tod und von der Ahnung, dass ihr nur noch wenig Zeit blei-be. So war es denn auch.

ruth wynekenTheaTerwissenschafTlerin

Vor 25 Jahren ereignete sich der Su-per-GAU von Tschernobyl - mehr in der nächsten Russland HEUTE.

jahrestag

ljudmIla ulItzkaja warnt vor neuem stalInIsmus

sie wollte nicht und hat es doch wieder getan. Nach Erscheinen ihres Romans „Daniel Stein“ hatte

Ljudmila Ulitzkaja, wichtigste russische Gegenwartsautorin und vor Kurzem mit dem Prix Simone de Beauvoir ausgezei-chent, angekündigt, sich nicht mehr mit „großer Prosa“ befas-sen zu wollen. Nun, zwei Jahre später, legt sie das epochale, ein Vierteljahrhundert – von Stalins Tod bis zur Breschnew-Ära – um-fassende Werk „Seljony schat-jor“ (Das grüne Zelt) vor.Am 8. Februar stellte Ulitzkaja im überfüllten Saal der Moskau-er Bibliothek für fremdsprachige Literatur ihren eben erschiene-nen Roman vor. Eine Warnung vor einer nostalgischen Verklärung der „ruhmreichen sowjetischen

darja iwannikowaJournalisTin

siker – dieses freie Denken zu den Dissidenten, in einen Kreis, in dem so mancher dem Druck nicht stand-hält, zum Denunzianten wird und fortan im Bewusstsein der eige-nen Schuld Gewissensqualen lei-det. Auch reale Persönlichkeiten der Zeitgeschichte wie Andrej Sa-charow, Juri Daniel, Andrej Sin-jawski oder Jossif Brodski spielen eine Rolle in Ulitzkajas Buch. Eigentlich, so berichtet die Auto-rin, habe sie den Roman geschrie-ben, um noch einmal die Zeit ihrer Jugend – die 1960er- und 1970er- Jahre – aufzuarbeiten, nach Ab-schluss des Manuskripts jedoch festgestellt, dass ein brandaktu-eller Text entstanden sei. „In letzter Zeit wird in Russland ganz bewusst eine Stalinisierung betrieben – was mir ganz und gar nicht gefällt. Die Generation der heute 30-Jährigen hat noch keine Schläge einstecken müssen, sie ist unverbraucht und risikofreudig, trotzdem spüre ich einen Anflug von Angst. Eigentlich haben wir den Sklaven aus uns herausge-presst, doch er macht sich wieder bemerkbar – in Kriecherei vor der ‚Obrigkeit‘, im Machtdünkel des Beamtenapparats.“

Vergangenheit“ nennt die 68-jäh-rige Autorin ihr neues Werk.„Seljony schatjor“ ist ein Buch über Micha, Ilja und Sanja, Mitte der 1940er-Jahre in Moskau geboren und Freunde seit Kindertagen. In

ihrer Schulzeit übt der Literatur-lehrer großen Einfluss auf die Jun-gen aus, denn er lehrt sie, frei und unabhängig zu denken. Später führt alle drei Männer – den Dich-ter, den Fotografen und den Mu-

Die von einem totalitären Regime zerstörten Lebensentwürfe der Protagonisten sollten, so Ulitz-kaja, all jenen eine Mahnung sein, die der sowjetischen Vergangen-heit nachtrauern und sich allzu gern erinnern, „dass wir damals stärker waren, unsere Raketen geflogen sind, unser Ballett tan-zen konnte und es sich irgend-wie leichter gelebt hat“, so die Autorin im Gespräch mit dem Publikum. Dem Roman „Seljony schatjor“ liegt eine bereits vor acht Jahren entstandene gleichnamige Erzäh-lung zugrunde, die Ulitzkaja im letzten Moment aus der Antholo-gie „Maschas Glück“ herausnahm, weil sie ahnte, dieser Text könne die Keimzelle für ein größeres Werk bilden, doch „die Zeit un-serer Jugend, schwierig und wi-derspruchsvoll wie sie war, sprengt natürlich selbst den Rahmen die-ses 600-seitigen Werks.“Ulitzkajas deutsche Leser müssen sich gedulden: Eine Übersetzung des Romans erscheint laut Han-ser-Verlag erst im Herbst 2012.

Dieser Artikel erschien bei ria novosti

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Porträt12 WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE

EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU

Seid wachsam und pessimistischStraßenkunst Mischa Most, Begründer der Graffitiszene in Russland, macht international von sich reden

Nichts ist selbstverständlich: „‚Warum?‘ ist eine Frage, die sich jeder Mensch viel öfter stellen sollte.“

Sprüher-Pose: Seinen wirklichen Namen gibt Mischa Most nicht preis.

ANASTASIA GOROKHOVARUSSLAND HEUTE

„Satschem?“ Wenn Sie dieses Wort an einer Moskauer Hauswand lesen, wissen Sie, dass Mischa Most hier war. Aber der Graffiti-Künstler hat noch mehr Fragen als „Warum?“

Ich will Mischa Most zu Hause treffen und wundere mich, dass er in einer so noblen Gegend wohnt – die amerikanische Botschaft links, das Weiße Haus gegenüber. Doch hinter der Adresse verbirgt sich ein gelbes, langgezogenes Haus, das aussieht wie ein abge-wracktes Schiff. Mischa Most bringt mich zum „Ochrannik“, dem in Russland allgegenwärti-gen Wachmann. Vor diesem liegt ein offenes Heft, in das Mischa meinen Namen und die Ankunfts-zeit notiert. Im zweiten Stock führt er mich in einen langen Korridor – Tür an Tür wie in einem sowjetischen Wohnheim. Putz bröckelt von der Decke, das Parkett ist mit Bret-tern und Karton ge� ickt. Doch die Türen haben polierte Stahl-klinken. „Willkommen bei mir zu Hause,“ sagt Mischa. Ich blicke in ein riesiges Zimmer mit fünf Meter hoher Decke. Unerwartet. Das Fenster reicht über die ganze Wand, was für eine Aussicht!

Atelier mit Blick auf die amerikanische BotschaftMischa Most, 29, steht in der Mitte des Raumes, groß, dünn, mit zer-zaustem braunen Haar und einem mit grüner Farbe bekleckerten T-Shirt. „Wenn du aus dem Fens-ter schaust, kannst du in die ame-rikanische Botschaft gucken. Die sehen die ganze Zeit fern“, sagt er. Er selbst hat natürlich keinen Fernseher, wie alle, die sich zu den Künstlern und Kreativen zählen. Er gehört dazu. Schon länger hat er den Schritt von der Häuser- zur Leinwand gemacht. Seine Bilder hängen in den ange-sagten Galerien für Moderne Kunst in Moskau, Sankt Peters-burg oder in Perm. Doch auch in Kiew, Baku und in Westeuropa weiß man inzwischen, wer Mischa Most ist. Gerade ist er aus Bolog-na zurückgekehrt, wo er auf der Arte Fiera mit elf weiteren Künst-lern aus Russland seine Werke zei-gen konnte.Er will Anstöße geben; in fast allen Bildern, ob auf der Straße oder in der Galerie, � ndet sich ein sozi-alpolitischer Kontext.

Bereits vor zehn Jahren entstand Mosts Markenzeichen „Sat-schem?“, was ganz einfach „Warum?“ bedeutet. „‚Warum?‘ ist eine Frage, die sich jeder Mensch viel häufiger stellen sollte“, ist er überzeugt. Wurden beispiels-weise wieder einmal unter Denk-malschutz stehende Häuser abge-rissen – wie es unter Bürgermeis-ter Luschkow oft der Fall war –, konnte man darauf wetten, dass schon kurz darauf „Satschem?“ in der Umgebung auftauchte.

Auch die Zukunft des Menschen bewegt den Künstler. Sein Slogan „No future forever“ knüpft an die „No-future“-Bewegung der spä-ten Siebziger an: „Ich will zeigen, dass die Zeit des Pessimismus nicht vorbei ist, vielleicht nie vor-bei sein wird, wenn die Menschen nicht endlich aufwachen und be-greifen, was sie tun.“ Er sprüht gegen Korruption, Umweltver-schmutzung und Terrorismus. Er kritisiert eine Gesellschaft, die bequem ist und wegschaut. Er

stellt die Mächtigen bloß, die al-lein ihren Profit sehen. Erst in jüngster Zeit sei für ihn die Poli-tik interessant geworden, gesteht er. „Ein geplantes Gesetz soll Schriftzüge mit politischem Back-ground unter den Verdacht der Volksaufhetzung stellen. Früher war das einfach nur Vandalismus ohne große Strafen.“In Italien zeigte er ein Werk über den Artikel 31 der russischen Ver-fassung, der die Versammlungs-freiheit garantiert. Die Zahl ist

Mischa Most1981 wird Mischa Most in Moskau ge-boren, mit 16 entdeckt er Graffiti für sich. 1999 gründet er die „Crew Sat-schem“, die zu großer Bekanntheit gelangt, unter anderem durch eine Ausstellung im Jahr 2000 in Moskau. 2005 schließt Mischa Most sein Studi-um als Erdkunde- und Englischlehrer ab. Seine engagierte Examensarbeit widmet er dem Umweltschutz.Im Jahr 2006 folgt der künstlerische Ritterschlag für Most: eine Ausstellung über Graffiti und Street-Art in der Moskauer Tretjakow-Galerie mit eini-gen seiner Werke. Es folgen Ausstel-lungen in Sankt Petersburg, Kiew und Baku. 2011 werden Mosts Werke zum ersten Mal im Ausland gezeigt, auf der Arte Fiera in Bologna.

KURZVITAdas Symbol von Menschen, die sich zu jedem 31. eines Monats im Zen-trum Moskaus versammeln. Meist enden die Demonstrationen mit Festnahmen. Most hat den Para-graphen auf eine riesige Leinwand geschrieben und mit verschiede-nen Farben so übermalt, dass fast nichts mehr zu erkennen ist. Demonstriert er auch selber? „Es ist gut, dass andere das tun. Aber ich mache Kunst und hoffe, dass jemand daran Anstoß nimmt und sich Gedanken macht, bevor die Ordnungshüter alles zupinseln.“Mischa glaubt, dass seine Kunst verstanden wird. Vor ein paar Jah-ren bemerkte er zwei Frauen auf seiner Vernissage, „um die 50 – also nicht gerade meine Zielgrup-pe“. Es stellte sich heraus, dass sie Kunstlehrerinnen waren. „Die Schüler von solchen Lehrern haben Glück“, sagt Most. Zu oft werde Kunst als rein mechani-sches Zeichnen verstanden. Der Kopf werde nicht genutzt. Im Wes-ten sei man offener. Er selbst lebt in einem Experi-ment: Das Haus wurde 1928 als „konstruktivistisches Experi-ment“ erbaut, von der Form über die Materialien bis zum Le-bensprinzip. Heute atmet es die Atmosphäre eines besetzten Hau-ses – mit Schauspielern, Fotogra-fen und Künstlern wie Most, die an einer neuen Welt werkeln, damit „No future forever“ irgend-wann kein Thema mehr ist.

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