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Die Monatszeitschrift Herausgeber: Prof. Dr. Monika Jachmann-Michel Holger Radke Prof. Dr.Thomas Voelzke Prof. Dr. Stephan Weth RA Prof. Dr. ChristianWinterhoff In dieser Ausgabe: Die auch unter www.juris.de JULI/AUGUST 2020 M 7/8 Topthema: Das elektronische Doku- ment i.S.d. Elektronischen Rechtsverkehrs Stv. Dir. d. AG Dominik Mardorf Architektenhonorar ./. Europa- recht: Zurück nach Luxemburg RiLG Dr. Christoph Kretschmer, z. Zt. Wiss. Mit. beim BGH Aktuelles zum Widerruf von Kfz-Finanzierungen – sticht der „Widerrufsjoker“ weiter? RA und Wiss. Mit. Veris-Pascal Heintz, LL.M. Das Gesetz zu sozialen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie (Sozial- schutz-Paket II) VRiLSG Leandro Valgolio Rechtsprechung zum Infektionsrecht in der SARS-COV-2-Welt Prof. Dr. Hans-Heinrich Trute Des einen Freud, des andern Leid – Steueränderung im Crowdlending Wiss. Mit. Florian Auer Interview: Als Bundesrichter im Reservat Justice Russel Zinn

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Die Monatszeitschrift

Herausgeber:Prof. Dr. Monika Jachmann-Michel Holger Radke Prof. Dr. Thomas Voelzke Prof. Dr. Stephan Weth RA Prof. Dr. Christian Winterhoff

In dieser Ausgabe:

Die auch unter www.juris.de

JULI/AUGUST

2020M 7/8

Topthema:

Das elektronische Doku-ment i.S.d. Elektronischen RechtsverkehrsStv. Dir. d. AG Dominik Mardorf

Architektenhonorar ./. Europa-recht: Zurück nach LuxemburgRiLG Dr. Christoph Kretschmer, z. Zt. Wiss. Mit. beim BGH

Aktuelles zum Widerruf von Kfz-Finanzierungen – sticht der „Widerrufsjoker“ weiter?RA und Wiss. Mit. Veris-Pascal Heintz, LL.M.

Das Gesetz zu sozialen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie (Sozial-schutz-Paket II)VRiLSG Leandro Valgolio

Rechtsprechung zum Infektionsrecht in der SARS-COV-2-WeltProf. Dr. Hans-Heinrich Trute

Des einen Freud, des andern Leid – Steueränderung im CrowdlendingWiss. Mit. Florian Auer

Interview: Als Bundesrichter im ReservatJustice Russel Zinn

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INHALT

AUFSÄTZE UND ANMERKUNGEN

Das elektronische Dokument i.S.d. Elektronischen RechtsverkehrsStv. Dir. d. AG Dominik Mardorf S. 266

Architektenhonorar ./. Europarecht: Zurück nach LuxemburgRiLG Dr. Christoph Kretschmer, z. Zt. Wiss. Mit. beim BGH S. 270

Aktuelles zum Widerruf von Kfz-Finan-zierungen – sticht der „Widerrufsjoker“ weiter?RA und Wiss. Mit. Veris-Pascal Heintz, LL.M. S. 276

Missachtung substantiierten Vorbringens zum Sachmangel bei Abgasmanipulation an DieselfahrzeugenBGH, Beschl. v. 28.01.2020 - VIII ZR 57/19VRiOLG a.D. Lothar Jaeger S. 280

Die Gedanken sind frei: Online-Bewertung nach ausgewählten Beiträgen ist zulässigBGH, Urt. v. 14.01.2020 - VI ZR 496/18W. a. RiAG PD Dr. Gunter Deppenkemper, LL.M LL.M S. 283

Das Gesetz zu sozialen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie (Sozialschutz-Paket II)VRiLSG Leandro Valgolio S. 285

Rechtsprechung zum Infektionsrecht in der SARS-COV-2-WeltProf. Dr. Hans-Heinrich Trute S. 291

Zivil- und Wirtschaftsrecht

Sozialrecht

Verwaltungsrecht

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Topthema:

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AUFSÄTZE UND ANMERKUNGEN

INHALT

Des einen Freud, des andern Leid – Steueränderung im CrowdlendingWiss. Mit. Florian Auer S. 298

Den Joint nicht weitergeben – weshalb Egoismus zuweilen vor Strafe schütztBGH, Urt. v. 11.09.2019 - 2 StR 563/18Wiss. Mit. Michelle Weber S. 302

Als Bundesrichter im ReservatInterview mit:Justice Russel Zinn S. 305

SteuerrechtSteuerrecht

SteuerrechtStrafrecht

INTERVIEW

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EDITORIAL

Holger Radke,Vizepräsident des Landgerichts Karlsruhe

...in der Mitte chaotisch und am Ende wunderschön“. Wer die-se Weisheit ersonnen hat, konnte ich nicht gesichert ermitteln, aber die Einführung des Elektronischen Rechtsverkehrs und der elektronischen Justizakte sind jedenfalls Prozesse, auf die der Satz gut passt. Mühsam ist man viele Jahre hinweg den Weg gegangen, über fakultative Angebote an bundesweit ver-streuten Pilotstandorten und später über den verpflichtenden Einsatz in ausgewählten Bereichen jenseits der kontradiktori-schen Verfahren die Rechtssuchenden von den Vorteilen der elektronischen Kommunikation zu überzeugen. Mit bescheide-nem Erfolg. Ab 2013 ist der Gesetzgeber dann aktiv geworden und hat auf dem beschwerlichen Pfad feste Markierungen und einen Zielpunkt gesetzt: Seit 2018 die flächendeckende Möglichkeit der elektronischen Einreichung, ab 2022 die Ver-pflichtung insbesondere der Anwaltschaft, dieses freundliche Angebot auch zu nutzen, und ab 2026 die flächendeckende elektronische Aktenführung in der Justiz. Gemessen am Ein-gangssatz dieses Editorials sind wir damit wohl in der chaoti-schen Phase angekommen. Das scheint zwar etwas zu hart formuliert, aber, wenn man sich an die Einführungsphase des beA erinnert oder auch auf Gerichtsseite an manche Ausfälle oder Performancekrisen der Pilotprojekte zu elektronischen Akte, dann gab es wohl zumindest chaotische Momente. Ob es am Ende „wunderschön“ werden wird, bleibt abzuwarten.

Für viele Juristen gleich welcher Couleur ist es allerdings min-destens eine erhebliche Herausforderung (manche werden sa-gen: Zumutung), wenn sie in „ihren“ Prozessordnungen bzw. in den auf deren Grundlage ergangenen Rechtsverordnungen und Bekanntmachungen plötzlich mit Anforderungen an Datei-formate, mit „eingebetteten“ oder „beigefügten“ Signaturen, mit Richtlinien zum rechtssicheren Scannen oder einer Authen-tifizierung über „SAFE“ konfrontiert werden. So nötig solche Regelungen im Interesse von Rechts- und Datensicherheit sind, sie stellen Anforderungen, denen man mit dem Wissen aus der juristischen Ausbildung eher selten gerecht werden kann. Diese Situation ist es, die einen Autor wie Dominik Mardorf so wert-voll macht: Einen Richter, der neben juristischer Expertise auch über ein vertieftes technisches Verständnis verfügt und der die Kombination aus beiden Fähigkeiten gewinnbringend in praxistaugliche Anleitungen umzusetzen weiß. Im Topthema dieses Hefts hat er dies für das „elektronische Dokument“ ge-tan – ein Terminus, der dem Rechtsanwender zwischenzeitlich in sämtlichen Prozessordnungen begegnet und an den der Ge-setzgeber mannigfaltige Anforderungen knüpft.

Architekten sind es demgegenüber von Hause aus ge-wohnt, gerade technische Herausforderungen zu bewälti-gen. Wenn sie ihre auf diesem Feld erbrachten Leistungen abrechnen wollen, treffen sie aber wieder auf uns Juristen, die seit Jahrzehnten unter Anwendung der „HOAI“ über die Berechtigung solcher Ansprüche entscheiden. Ob und wie es mit dieser Honorarordnung und ihren Höchst- und Min-destsätzen weitergeht, ist seit einiger Zeit Gegenstand eines Austauschs zwischen BGH und EuGH, dessen Historie und aktuellen Stand Dr. Christoph Kretschmer für uns zu-sammengefasst hat. Für jeden, der mit privatem Baurecht befasst ist, aber auch generell für alle Rechtskundigen, die juristische Wechselspiele zwischen Karlsruhe und Luxem-burg mit Interesse verfolgen, eine lohnende Lektüre.

Um dem „roten Faden“ dieses Editorials, dem Aufeinander-treffen von technischen Fragestellungen und juristischer Be-wertung, treu zu bleiben, sei noch auf die Entscheidungsan-merkung von PD Dr. Gunter Deppenkemper zur Entscheidung des BGH über das Bewertungsportal „Yelp“ gesondert hinge-wiesen. Wer verstehen will, warum Bewertungen mithilfe von Algorithmen sortiert und selektiert werden dürfen und sich ein Bild darüber machen möchte, wie realitätsnah das Ver-trauen auf den selbstbestimmten, mündigen Bürger bei deren Nutzung ist, der wird an diesem Beitrag Gefallen finden.

Gewinn und Freude bei der Lektüre dieser, aber auch der weiteren sehr lesenswerten Beiträge wünscht Ihnen, im Namen aller Herausgeber und Experten,

Holger Radke

„Veränderung ist am Anfang schwer…

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Die Monatszeitschrift

Zivil- und Wirtschaftsrecht

AUFSÄTZE UND ANMERKUNGEN

Durch die Einführung des Elektronischen Rechtsverkehrs sollte das Einreichen bei Gericht schneller und einfacher gehen. Doch wie immer, wenn Juristen auf Technik treffen, gibt es Verunsicherung und überzogene Anforderungen. Nachfolgend soll Licht ins Dunkel gebracht werden.

Gem. § 130a Abs. 2 ZPO1 bestimmt die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die für die Übermittlung und Bearbeitung geeigneten tech-nischen Rahmenbedingungen für die Einreichung eines elektronischen Dokuments.

Dies ist durch die Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung (ERVV) geschehen.

A. Die Anforderungen an das Dateiformat .pdf

Maßgebliche Norm ist hier § 2 Abs. 1 ERVV:

„(1) Das elektronische Dokument ist in druckbarer, kopier-barer und, soweit technisch möglich, durchsuchbarer Form im Dateiformat PDF zu übermitteln. Wenn bildliche Darstel-lungen im Dateiformat PDF nicht verlustfrei wiedergegeben werden können, darf das elektronische Dokument zusätz-lich im Dateiformat TIFF übermittelt werden. Die Dateifor-mate PDF und TIFF müssen den nach § 5 Absatz 1 Nummer 1 bekanntgemachten Versionen entsprechen.“

Die zulässigen Dateiformate für elektronisch einzureichen-de Dokumente werden durch die ERVV auf das Dateiformat .pdf2 beschränkt. Durch § 2 Abs. 1 Satz 1 ERVV selbst erfol-gen jedoch noch weitere Einschränkungen:

I. „In druckbarer, kopierbarer und, soweit technisch möglich, durchsuchbarer Form“

Was ist damit gemeint? Durch diese Formulierung soll sicher-gestellt werden, dass das Gericht sowie die weiteren Empfän-ger das elektronische Dokument grds. weiterverarbeiten kön-nen. Jedem .pdf können nämlich Sicherheitseinstellungen3 mitgegeben werden, die verhindern können, dass ein .pdf ge-druckt, durchsucht und das Durchsuchte zum Zwecke der Wei-terverarbeitung kopiert werden kann. Zwingend ist hierbei nach den Vorgaben von § 2 Abs. 1 ERVV die Einreichung druck-barer und kopierbarer elektronischer Dokumente, während die Durchsuchbarkeit „soweit technisch möglich“ einzuhalten ist.

Dabei dürfen an die Durchsuchbarkeit keine allzu hohen Ansprüche gestellt werden:

Das beste Ergebnis erzielt man, wenn der mit einer Textver-arbeitung erstellte Schriftsatz gleich im Format .pdf abge-speichert wird. Aber auch dann kann es, insbesondere bei Bildern, wie z.B. Briefköpfen, dazu kommen, dass diese nicht durchsuchbar sind. Gleiches gilt, wenn das elektroni-sche Dokument durch das Scannen eines Papierdokuments erzeugt wurde und die so erzeugte Bilddatei anschließend mit einer Texterkennungssoftware (OCR) behandelt wurde, die aber nicht alle Zeichen (richtig) erkannt hat.

II. Welches pdf-Formt?

Aufgrund der Verweisung in § 2 Abs. 1 Satz 3 ERVV muss das verwendete Dateiformat den im Internet bekanntge-machten Versionen entsprechen:

1. ERVB 20184

Nach der Bekanntmachung zu § 5 ERVV (Elektronischer-Rechtsverkehr-Bekanntmachung 2018 – ERVB 2018) vom 19.12.2017 sind als zulässigen Dateiversionen5 gem. § 5

Das elektronische Dokument i.S.d. Elektronischen Rechtsverkehrs*

Stv. Dir. d. AG Dominik Mardorf

Weg vom papierzentrierten Verfahren hin zum digitalen Pro-zess – diese umfangreiche Umstrukturierung stellt die Justiz vor erhebliche Herausforderungen. Unsere Reihe beleuchtet diese und wird zur Lösung beitragen.

jM-Reihe „Justiz digital“

* Der Autor ist einer der beiden Projektleiter für die Einführung der elek-tronischen Akte in der Justiz in Schleswig-Holstein. Der Aufsatz gibt nur seine persönliche Meinung wieder.

1 Jeweils gleichlautend: § 14 Abs. 2 FamFG/§ 32a Abs. 2 StPO/§ 46c Abs. 2 ArbGG/§ 55a Abs. 2 VwGO/§ 52a Abs. 2 FGO/§ 65a Abs. 2 SGG.

2 Sollte das .pdf-Format für eine grafische Darstellung nicht ausreichen, darf auf das Format TIFF zurückgegriffen werden. Diese Formatvorga-ben gelten natürlich nicht für Beweismittel, da diese von § 130a Abs. 1 ZPO nicht erfasst werden.

3 Zu finden bspw. für die Adobe-Produkte in der Menüleiste unter Datei > Einstellungen Sicherheit. Auch die Verordnungsbegründung stellt in BR-Drs. 645/17, S. 11 auf die Einstellungen ab, da es dort heißt: „Zur Bearbeitung ungeeignet können etwa elektronische Dokumente sein, die mit Schadsoftware versehen sind oder durch ein Kennwort lese-geschützt sind.“

4 Https://justiz.de/elektronischer_rechtsverkehr/doku/bmjv_bekanntma-chung_5_ervv_ervb_2018.pdf (zuletzt abgerufen am 29.05.2020).

5 Das TIFF wird ab der Version 6 zugelassen. Dieses Format ist seit 1992 Standard, sodass es schwierig sein dürfte, Grafiken in einer niedrigen Version zu finden.

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Abs. 1 Nr. 1 der ERVV bis mindestens 31.12.2020 grds. PDF einschließlich PDF 2.0, PDF/A-1, PDF/A-2 und PDF/UA zuge-lassen.

Ausgeschlossen sind damit:

• PDF/X – Format zur Übermittlung von Druckvorlagen• PDF/H – Format für das Gesundheitswesen• PDF/IE – Format für Ingenieurwesen, Architektur und

Geoinformationen

2. ERVB 20196

Durch die Bekanntmachung vom 20.12.2018 hat die allge-meine Zulassung des PDF bis einschließlich Version 2.0 ver-schiedene Einschränkung erfahren. Maßgeblich für die all-gemeine Praxis ist vor allem folgende Festlegung:

Hinsichtlich der zulässigen Dateiversionen PDF, insbeson-dere PDF/A-1, PDF/A-2, PDF/UA, müssen alle für die Dar-stellung des Dokuments notwendigen Inhalte (insbesonde-re Grafiken und Schriftarten) in der Datei enthalten sein.

Was ist damit gemeint? Es gibt Schriftarten, die direkt in der Datei enthalten sind – sog. eingebettete Schriftarten. Andere, nicht eingebettete Schriftarten sind nicht unmit-telbar in der übersandten Datei enthalten. Vielmehr wird das Bild der Schrift erst beim Öffnen der Datei durch einen Zugriff auf die eigenen im öffnenden Programm verfügbaren Schriftarten generiert. Dies ist von außen weder für den Empfänger noch für den Versender erkenn-bar. Die Festlegung der ERVB 2019 hat damit erhebliche Auswirkung auf den Erstellungsprozess eines den Vor-schriften der ERVV und ERVB genügenden .pdf, doch ist sie in der Praxis bis Anfang 2020 weitgehend unbeachtet geblieben. Da weder Anwälte (noch Richter) IT-Experten sind und kaum Näheres zu dem bei ihnen laufenden Pro-zess der .pdf-Erstellung sagen können, ist guter Rat teu-er. Aber es gibt eine einfache Hilfe: Es lässt sich in den meisten Programmen nicht nur festlegen, dass ein .pdf erzeugt wird, sondern auch welche Art von .pdf erstellt werden soll.

Wählen Sie hier die Möglichkeit: PDF/A bzw. ISO 19005-1 kompatibel aus. Dieses .pdf/A-Format, dass von außen nicht von einem normalen .pdf zu entscheiden ist, hat den Vorteil, dass dort alle verwendeten Schriften und Grafiken automatisch eingebettet sind und damit den Anforderun-gen genüge getan wird.

Aber wie geht das?

In den Produkten der Microsoft-Linie wird die .pdf-Erzeu-gung im Rahmen der Option Speichern unter gesteuert. Wählen Sie als Dateityp PDF (.pdf) aus. Klicken Sie dann auf Optionen.

Setzen Sie in den PDF-Optionen ein Häkchen bei ISO 19005-1-kompatibel (PDF/A), drücken auf OK…

…und drücken anschließend auf Speichern.

III. Die Anforderungen an den Dateinamen

Allerdings müssen Sie vor einen zulässigen Dateinamen fest-gelegt haben. Hier gilt es zwei Anforderung zu beachten:

1. Die Anforderungen der ERVV

Nach § 2 Abs. 2 ERVV soll der Dateiname den Inhalt des elektronischen Dokuments schlagwortartig umschreiben und bei der Übermittlung mehrerer elektronischer Doku-mente eine logische Nummerierung enthalten.

Hintergrund dieser Anforderungen ist die schnelle Erkenn-barkeit, welches Dokument was enthält, sowie die Mög-

6 Https://justiz.de/elektronischer_rechtsverkehr/doku/erv_ervb_2019.pdf (zuletzt abgerufen am 29.05.2020).

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Die Monatszeitschrift

lichkeit, die übermittelten Dokumente automatisch in der richtigen Reihenfolge auszudrucken, ohne dass es eines händischen Eingriffs bedarf.

Beispiel:

• 01_Klageschrift• 02_Vollmacht• 03_Anlage_K1• 04_Anlage_K2

2. Die zulässigen Zeichen im Dateinamen

Ohne dass dies an prominenter Stelle bekanntgemacht worden wäre, kann man bei der Wahl des Dateinamens nicht alle Zeichen verwenden. Hintergrund ist, dass an der Übermittlung und Verarbeitung viele verschiedene techni-sche Systeme beteiligt sind, die auf unterschiedlichen Be-treibsystemen laufen, und damit unterschiedlichen Datei-namenskonventionen gehorchen.7 Verarbeitbare Zeichen im Dateinamen sind:

• Alle Buchstaben des deutschen Alphabets.8

• Zudem dürfen alle Ziffern und die Zeichen Unterstrich und Minus genutzt werden.

• Punkte sind nur als Trennung zwischen Dateiname und Dateinamenserweiterung zulässig.

• Ausgeschlossen ist das Leerzeichen.

Das Verwenden eines nicht zu gelassenen Zeichens führt dazu, dass die entsprechende Nachricht im automatisierten Verarbeitungsprozess der Justiz ausgesteuert wird und händisch angefasst werden muss. Dies führt zu Verzögerun-gen und Schwierigkeiten, die alle Einreicher zu vermeiden suchen.

B. Die Zurückweisung

Korrespondierend zu der Verpflichtung der Einreicher, die Anforderungen an elektronisch einzureichende Do-kument bereits bei deren Erstellung zu beachten, hat das Gericht die Einhaltung der entsprechenden Anforde-rungen zu prüfen und den Einreicher auf die Unwirksam-keit des Eingangs und auf die geltenden technischen Rahmenbedingungen unverzüglich hinzuweisen, wenn ein elektronisch übermitteltes Dokument zur Bearbei-tung nicht geeignet ist, d.h. den Anforderungen der ERVV nicht entspricht (vgl. § 130a Abs. 6 ZPO und die entsprechenden Parallelnormen in den anderen Prozess-ordnungen). Aber nicht jeder scheinbare Verstoß recht-fertigt das Vorgehen nach § 130a Abs. 6 ZPO, denn es gilt natürlich die Rechtsprechung des BVerfG,9 dass der Zugang zu den Gerichten nicht unnötig erschwert wer-den darf. Die Punkte im Einzelnen:

I. Das „korrupte“ Dokument

Nicht in der ERVV erwähnt, aber trotzdem ein Fall der Be-anstandung nach § 130a Abs. 6 ZPO ist das sog. korrupte Dokument – d.h. eine technisch fehlerhafte Datei. In diesen Fällen kann das übermittelte Dokument gar nicht erst ge-öffnet werden oder ihm fehlen offensichtlich Inhalte; zwei-felsfrei ist ein solches Dokument zur Bearbeitung nicht ge-eignet.

II. Das nicht druckbare Dokument

Kann das Dokument aufgrund der enthaltenen Sicherheits-einstellungen nicht gedruckt werden, ist es zu beanstan-den, da es weder für die Akte des Gerichts noch für eine Papierzustellung an die Gegenseite ausgedruckt werden kann, und damit die Bearbeitbarkeit fehlt.

III. Das nicht durchsuchbare Dokument

Die größten Schwierigkeiten in der Praxis macht im Mo-ment die Frage der Durchsuchbarkeit. Da die Verordnung sich gleichermaßen sowohl an Bürger als auch an profes-sionelle Einreicher richtet, darf man unter Berücksichtigung der Gewährung effektiven Rechtsschutzes gem. Art. 19 Abs. 4 GG keine überzogenen Anforderungen an die techni-schen Möglichkeiten stellen. Der Verordnungstext selbst schränkt schon die Anforderung der Durchsuchbarkeit auf das technisch Mögliche ein. Jeder, der sich mit dem Scan-nen beschäftigt, weiß, dass das Ergebnis eines Scanvor-gangs von vielen Faktoren abhängt (liegt das Ausgangsdo-kument als Datei vor, wie viele Bildpunkte (dpi) wurden bei der Herstellung des haptischen Ausgangsdokuments ver-wendet, wurde dieses bereits kopiert und verfügt der Ein-reicher ggfs. nur über eine schlechte Kopie etc.). Dement-sprechend heißt es auch in der Verordnungsbegründung:10

Ein eingescannter Schriftsatz kann als elektronisches Do-kument übermittelt werden, wenn es mit einem Text-erkennungsprogramm als OCR-Scan (Optical Character Recognition) erstellt wurde. Dies kann jedoch technisch

7 Hier muss das Recht einfach den technischen Gegebenheiten folgen, ob man will oder nicht.

8 Seit dem 14.02.2020 auf Umlaute ä, ö, ü und ß, siehe Teilnahme von Drittanwendungen am OSCI-gestützten elektronischen Rechtsverkehr – Anforderungen Version 1.2 vom 14.02.2020, S. 16; zu beziehen unter: https://egvp.justiz.de/Drittprodukte/index.php (zuletzt abgerufen am 29.05.2020).

9 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 29.10.1975 - 2 BvR 630/73; BVerfG, Beschl. v. 16.12.1975 - 2 BvR 854/75; BVerfG, Beschl. v. 11.02.1976 - 2 BvR 652/75; BVerfG, Beschl. v. 04.05.1977 - 2 BvR 616/75; BVerfG, Beschl. v. 11.10.1978 - 2 BvR 1055/76; BVerfG, Beschl. v. 02.12.1987 - 1 BvR 1291/85.

10 BR-Drs. 645/17, S. 12.

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unmöglich sein, wenn das Ausgangsdokument etwa handschriftliche oder eingeschränkt lesbare Aufzeichnun-gen oder Abbildungen enthält, die mit dem Texterken-nungsprogramm nicht erfasst werden können. Diese elek-tronischen Dokumente müssen nicht in durchsuchbarer Form übermittelt werden.

Daher kann eine Zurückweisung regelmäßig nicht erfolgen, wenn lediglich Teile eines Dokumentes (z.B. Name oder Telefonnummer aus einem grafisch gestalteten Briefkopf, Seitenzahlen oder geringfügige Teile des Textes) nicht durchsucht werden können.

Auch das Zurückweisen eines elektronischen Dokuments als nicht durchsuchbar, wenn eine Durchsuchbarkeit nur mit einem sehr teuren am Markt erhältlichen Tool erreicht werden könnte, dürfte mit dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes unvereinbar sein, da der Zugang zu Ge-richt nicht von der finanziellen Potenz des Einreichers bzw. seines bevollmächtigten Anwalts abhängen darf.

IV. Das nicht kopierbare Dokument

Hier geht es nicht darum, dass die .pdf-Datei kopiert werden kann, sondern dass die Inhalte des Dokumentes nicht kopiert werden können. Auch hier wirken beim nicht kopierbaren Dokument Sicherheitseinstellen, die verhindern, dass ein durchsuchbarer Teil, der markiert wurde, nicht kopiert werden kann. Die Kopierbarkeit hängt damit an der Durchsuchbarkeit. Daher kommt eine Beanstandung durch das Gericht nur in Betracht, wenn ein durchsuchbarer Textteil nicht zu kopieren ist. Aber auch hier sollte Augenmaß gelten. Da die Anforderung der Kopierbarkeit (lediglich) der Weiterverarbeitbarkeit dienen soll, dürfte eine fehlende Kopierbarkeit weniger Zeichen nicht zu einer mangelnden Bearbeitungseig-nung führen, da jeder kopierte Text im Regelfall nachbe-arbeitet werden muss.

V. Die fehlende Einbettung von Schriftenart im .pdf (ERVB 2019)

Noch problematischer ist die Zurückweisung unter Hinweis auf die fehlende Einbettung der Schriftarten.

1. Verstoß gegen die ERVB 2018

Bisher hat sich niemand, der sich für seine Zurückweisung auf die ERVB 2019 beruft, nach außen sichtbar mit der Fra-ge beschäftigt, ob die ERVB 2019 überhaupt rechtmäßig ist. Nach § 5 Abs. 2 Satz 1 ERVV müssen die Anforderungen mit einer Mindestgültigkeitsdauer bekanntgemacht werden. Diese ist im Rahmen der ERVB 2018 vom 19.12.2017 hin-sichtlich der Dateiformate mit bis mindestens 31.12.2020

angegeben. Durch die ERVB 2019 wird jedoch das Dateifor-mat .pdf faktisch abgeschafft, da die zwar allgemein for-mulierte Anforderung

„Hinsichtlich der zulässigen Dateiversionen PDF, insbe-sondere PDF/A-1, PDF/A-2, PDF/UA, müssen alle für die Darstellung des Dokuments notwendigen Inhalte (insbe-sondere Grafiken und Schriftarten) in der Datei enthalten sein.“

sich praktisch nur dadurch verwirklichen lässt, dass man in seinem Computerprogramm ein PDF/A erstellt.11 Damit wird gegen die in der ERVB 2018 normierte Mindestgül-tigkeitsdauer verstoßen, sodass die Bekanntmachung 2019 rechtswidrig und damit insoweit unbeachtlich sein dürfte.

2. Einbettung und eingescannter Schriftsatz

Selbst wenn man dies anders sehen wollte, kann diese An-forderung nicht für gescannte Schriftsätze gelten: Wird ein Dokument gescannt, wird durch die Software ein durch-suchbares Bild erzeugt, d.h. die Software erhält das Origi-nalbild, entfernt ggf. eine Verzerrung und platziert darüber eine unsichtbare Textebene, die durchsucht werden kann. Wird nun verlangt, dass die unsichtbare Textebene, die nur der Durchsuch- und Kopierbarkeit dient, auch noch die im Bild zu sehenden Schriftarten enthält, wird eigentlich ver-langt, dass das gescannte und durchsuchbare Bild zu einem bearbeitbaren .pdf wird. Damit würde letztlich das Einrei-chen eines bearbeitbaren .pdf gefordert, eine Anforderung die so nicht von der § 2 Abs. 1 ERVV gefordert wird. Eine entsprechende Beanstandung hat damit keine Grundlage in der ERVV in Verbindung mit der ERVB und ist damit rechtswidrig.

C. Die Neueinreichung nach einem Hinweis nach § 130a Abs. 6 ZPO

Sofern eine Beanstandung nach § 130a Abs. 6 ZPO erfolgt, sollte der Einreicher den beanstandeten Mangel so schnell wie möglich wie oben beschrieben beheben und das Doku-ment erneut elektronisch einreichen. Zugleich ist glaubhaft zu machen, dass das Dokument mit dem zuvor eingereich-ten Dokument inhaltlich übereinstimmt. Diese Glaubhaft-machung selbst ist wieder ein elektronisches Dokument, das den Vorschriften für das elektronische Dokument genü-gen muss.

11 Dementsprechend wird auch in einigen Landesjustizverwaltungen da-rüber nachgedacht zu fordern, dass in einer zukünftigen ERVB 2021 nur noch das Format PDF/A zugelassen wird.

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Die Monatszeitschrift

A. Einleitung

Der EuGH hat mit seinem Urteil vom 04.07.2019 für Fu-rore gesorgt, als er in einem von der Europäischen Kom-mission angestrengten Vertragsverletzungsverfahren die in der Honorarordnung für Architekten und Ingenieure (HOAI) vorgesehenen Mindest- und Höchstsätze für unionsrechtswidrig angesehen hat.1 Für eine Vielzahl von noch laufenden Gerichtsverfahren stellt sich damit die Frage, ob die Mindest- und Höchstsätze dennoch weiterhin Anwendung finden können oder diese nun-mehr – auch vor Änderung der HOAI und ihrer Ermächti-gungsgrundlage – nicht mehr bei der Bemessung des Honorars zu berücksichtigen sind. Der BGH hat in einem Rechtsstreit um restliche Ingenieurvergütung diese Fra-ge nicht abschließend beantwortet, sondern sie dem EuGH neben weiteren Fragen mit Beschluss vom 14.05.2020 im Rahmen eines Vorabentscheidungsersu-chens vorgelegt.2

B. Die Dienstleistungsrichtlinie

Verbindliche Mindest- und Höchstsätze für die Vergütung von Architekten- und Ingenieurleistungen sind in Deutsch-land durch die 1977 in Kraft getretene HOAI und ihre Vor-gängerregelungen bereits seit Jahrzehnten festgeschrie-ben. Das Honorar richtet sich gem. § 7 Abs. 1 HOAI nach der schriftlichen Vereinbarung, die die Vertragsparteien bei Auf-tragserteilung im Rahmen der durch die Verordnung festge-setzten Mindest- und Höchstsätze treffen. Sofern das schriftlich vereinbarte Honorar die Mindestsätze unter-schreitet, ist die Honorarvereinbarung unwirksam und es kann nach den Mindestsätzen abgerechnet werden, wenn kein Ausnahmefall nach § 7 Abs. 3 HOAI vorliegt.

Die Dienstleistungsrichtlinie 2006/123/EG3 verlangt in Art. 15 hingegen von den Mitgliedstaaten die Prüfung, ob ihre Rechtsordnungen die Aufnahme oder Ausübung einer Dienst-leistungstätigkeit von bestimmten Anforderungen abhängig macht und ob diese Anforderungen nicht-diskriminierend, er-forderlich und verhältnismäßig sind. Zu diesen zu prüfenden Anforderungen gehört nach Art. 15 Abs. 2 Buchst. g) auch die Beachtung von festgesetzten Mindest- und/oder Höchstprei-sen durch den Dienstleistungserbringer. Eine etwaige Ände-rung von Rechts- und Verwaltungsvorschriften zur Einhal-tung dieser Vorgaben hätte nach Art. 44 Abs. 1 der bereits im Jahr 2006 in Kraft getretenen Dienstleistungsrichtlinie bis zum Dezember 2009 erfolgen müssen.

Auf die Vorgaben der Dienstleistungsrichtlinie hat der Ver-ordnungsgeber für die Neufassung der HOAI 2009 nicht durch die Abschaffung der Mindest- und Höchstätze re-agiert, sondern durch die Einschränkung des Anwen-dungsbereichs der HOAI auf innerstaatliche Sachverhalte. Nach § 1 HOAI in der aktuellen Fassung regelt die Verord-nung nur die Berechnung der Entgelte für die Grundleis-tungen der Architekten und Ingenieure mit Sitz im Inland, soweit die Grundleistungen vom Inland aus erbracht wer-den. Typische grenzüberschreitende Fälle, die man mit der Dienstleistungsfreiheit oder Niederlassungsfreiheit in Ver-bindung bringen würde – etwa der Architekt aus dem El-sass, der Planungsleistungen für ein Bauvorhaben in Deutschland erbringt – werden von der HOAI damit ohne-

Architektenhonorar ./. Europarecht: Zurück nach Luxemburg

RiLG Dr. Christoph Kretschmer, z. Zt. Wiss. Mit. beim BGH

1 EuGH, Urt. v. 04.07.2019 - C-377/17 - „Kommission/Deutschland“.2 BGH, Beschl. v. 14.05.2020 - VII ZR 174/19.3 Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates

vom 12.12.2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt.

D. De lege ferenda

Die Ausführungen zeigen, dass ERVV und ERVB für die praktische Arbeit von Juristen wenig geeinigt sind. Zu for-dern ist, dass diese zukünftig so formuliert werden, dass der Erstellung- und Prüfungsmaßstab für elektronisch ein-gereichte Dokumente eindeutig ist und diese technischen Prüfungen – ähnlich wie bei der qualifizierten elektroni-schen Signatur – von Maschinen vorgenommen werden können. § 2 Abs. 1 ERVV könnte daher lauten:

Das elektronische Dokument ist im Dateiformat PDF zu übermitteln, dessen Druckbarkeit und Kopierbarkeit nicht durch die Dokumenteneigenschaften ausgeschlossen ist. Soweit dies technisch möglich ist, ist das Dokument in durchsuchbarer Form einzureichen. Wenn bildliche Darstel-lungen im Dateiformat PDF nicht verlustfrei wiedergegeben werden können, darf das elektronische Dokument zusätz-lich im Dateiformat TIFF übermittelt werden. Die Dateifor-mate PDF und TIFF müssen den nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 be-kanntgemachten Versionen entsprechen.

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hin nicht mehr erfasst. Auch der nunmehr vom BGH zu entscheidende Fall betraf keinen grenzüberschreitenden Sachverhalt, sondern die Klage eines deutschen Inge-nieurs auf restliche Vergütung gegen eine deutsche GmbH für ein Bauvorhaben in Berlin.4

C. Vertragsverletzungsverfahren und Urteil des EuGH

Nachdem der deutsche Gesetz- und Verordnungsgeber auch nach Ablauf der Umsetzungsfrist für die betreffen-den Vorgaben der Dienstleistungsrichtlinie Ende 2009 weiterhin an den Mindest- und Höchstsätzen der HOAI festhielt, leitete die Europäische Kommission ein Vertrags-verletzungsverfahren ein. Die Kommission verklagte die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2017 vor dem EuGH, weil die Beibehaltung verbindlicher Honorare für Archi-tekten und Ingenieure sowohl gegen die Dienstleistungs-richtlinie als auch gegen die Niederlassungsfreiheit ver-stoßen habe.

Bereits in den Schlussanträgen des Generalanwalts wurde ein Verstoß der Bundesrepublik Deutschland gegen Art. 15 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. g) und Abs. 3 der Dienstleistungsricht-linie angenommen.5 Die Entscheidung des EuGH vom 04.07.2019 kam daher zumindest im Ergebnis nicht mehr überraschend, auch wenn die Begründung für die Vertrags-verletzung zugunsten der Bundesrepublik Deutschland durchaus zurückhaltender ausfällt, als vom Generalanwalt und insbesondere von der Europäischen Kommission gel-tend gemacht.

Die Anwendung der Dienstleistungsrichtlinie auch auf rein innerstaatliche Sachverhalte hatte der EuGH schon im Jahr zuvor in der Entscheidung X und Visser geklärt6 und nun erneut bestätigt.7 Von den drei in Art. 15 Abs. 3 der Dienstleistungsrichtlinie genannten Bedingungen an zulässige Anforderungen (Nicht-Diskriminierung, Erfor-derlichkeit und Verhältnismäßigkeit) hat der EuGH die ersten beiden Bedingungen noch durch die in der HOAI geregelten Mindest- und Höchstsätze als erfüllt angese-hen. Die beanstandeten Regelungen sind nicht diskrimi-nierend und zudem zur Verwirklichung zwingender Gründe des Allgemeininteresses (Qualität der Arbeiten und des Verbraucherschutzes, Erhaltung des kulturellen und historischen Erbes sowie des Umweltschutzes) er-forderlich.8

Bei der dritten Bedingung – der Verhältnismäßigkeit – hat der EuGH entschieden, dass die deutschen Regelungen zur Erreichung dieser Ziele grds. geeignet sind und die Bundesrepublik Deutschland – entgegen der Auffassung der Europäischen Kommission – hinreichend dargetan

hat, dass ohne die Mindestpreise der HOAI die Gefahr eines Konkurrenzkampfes besteht, die zur Ausschaltung von Qualitätsleistungen führen kann.9 Der entscheidende Grund für die Annahme einer Vertragsverletzung war hin-gegen, dass die Bundesrepublik Deutschland das Ziel der Gewährleistung einer hohen Qualität der Planungsleis-tungen nicht in kohärenter Weise verfolgt hat. Da neben Architekten und Ingenieuren auch andere nicht reglemen-tierte Dienstleistungsanbieter Planungsleistungen erbrin-gen können, gelten für die Vornahme der Leistungen, die den Mindestsätzen unterliegen, keine Mindestgarantien, welche die Qualität dieser Leistungen gewährleisten kön-nen.10

D. Folgen des EuGH-Urteils und Vorabentschei-dungsverfahren des LG Dresden

Mit der Entscheidung im Vertragsverletzungsverfahren war noch nicht geklärt, welche Auswirkungen die Fest-stellung der Unionsrechtswidrigkeit der Mindest- und Höchstsätze in der HOAI durch den EuGH auf laufende Gerichtsverfahren in Deutschland haben würde. Bereits vor Erlass des EuGH-Urteils hatten sich mehrere Instanz-gerichte mit dieser Frage befasst. So hatte das OLG Naumburg die Aussetzung eines Rechtsstreits schon vor Klageerhebung der Kommission im Vertragsverletzungs-verfahren abgelehnt und dabei u.a. ausgeführt, dass aus einem unterstellt klagestattgebenden Urteil des EuGH nicht auf einen Einfluss auf den Rechtsstreit geschlossen werden könne.11 Dem hatten sich der 21. Zivilsenat des KG,12 das Landesberufsgericht für Architekten NRW13 sowie das LG Stuttgart14 angeschlossen. Demgegenüber hatte das LG Dresden ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gerichtet und angenommen, die dortige

4 BGH, Beschl. v. 14.05.2020 - VII ZR 174/19.5 Schlussanträge des Generalanwalts Maciej Szpunar vom 29.02.2019 -

C-377/17.6 EuGH, Urt. v. 30.01.2018 - C-360/15 und C-31/16 - „X und Visser“

Rn. 98 ff.7 EuGH, Urt. v. 04.07.2019 - C-377/17 - „Kommission/Deutschland“

Rn. 57 f.8 EuGH, Urt. v. 04.07.2019 - C-377/17 - „Kommission/Deutschland“

Rn. 68 ff.9 EuGH, Urt. v. 04.07.2019 - C-377/17 - „Kommission/Deutschland“

Rn. 78 ff.10 EuGH, Urt. v. 04.07.2019 - C-377/17 - „Kommission/Deutschland“

Rn. 89 ff.11 OLG Naumburg, Urt. v. 13.04.2017 - 1 U 48/11 Rn. 46.12 KG, Urt. v. 01.12.2017 - 21 U 19/12 Rn. 24 ff.13 Landesberufsgericht für Architekten NRW, Beschl. v. 01.08.2018 - 6s

E 46/18.S Rn. 10 ff.14 LG Stuttgart, Beschl. v. 16.11.2018 - 28 O 375/17 Rn. 5 f.

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Honorarklage sei bei Unionswidrigkeit der nationalen Regelungen ohne Weiteres abzuweisen, soweit mehr als die vereinbarte Pauschale verlangt werde.15 Das LG Ba-den-Baden und das LG Essen hatten diese Auffassung geteilt und ihre anhängigen Verfahren bis zur Entschei-dung des EuGH im Verfahren des LG Dresden ausge-setzt.16

Über das genannte Vorabentscheidungsersuchen des LG Dresden hat der EuGH zwischenzeitlich entschieden: Mit Beschluss vom 06.02.2020 hat er im Anschluss an sein Urteil im Vertragsverletzungsverfahren wenig überra-schend festgestellt, dass Art. 15 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. g) und Abs. 3 der Dienstleistungsrichtlinie so auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der es verboten ist, in Verträgen mit Architekten oder Ingenieuren Honorare zu vereinbaren, die die Min-destsätze der HOAI unterschreiten.17 Der EuGH hat in diesem Beschluss auch ausdrücklich die nunmehr rele-vante Frage offengelassen, ob diese Bestimmungen der Dienstleistungsrichtlinie im Rahmen eines Rechtsstreits, den ausschließlich Privatpersonen gegeneinander füh-ren, anwendbar sind.18

Nach dem EuGH-Urteil vom 04.07.2019 haben sich eine Vielzahl von Literaturstimmen und Instanzgerichten zu den Folgen dieses Urteils geäußert, wobei die Auffas-sungen deutlich auseinandergehen und es keine klar überwiegende Meinung zu geben schein.19 Von den Oberlandesgerichten haben das OLG Celle,20 OLG Düs-seldorf,21 OLG Schleswig22 und ein Senat des KG23 eine Anwendung der Mindest- und Höchstsätze der HOAI in laufenden Gerichtsverfahren zwischen Privatpersonen abgelehnt, während ein anderer Senat des KG,24 das OLG München,25 das OLG Dresden26 sowie das OLG Hamm27 diese Regelungen weiterhin für anwendbar er-achtet haben.

Die letztgenannte Entscheidung des OLG Hamm führte zum Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH durch den für das Werkvertragsrecht zuständigen VII. Zivilsenat des BGH mit Beschluss vom 14.05.2020.28

E. Vorabentscheidungsersuchen des BGH

I. Sachverhalt

Der Kläger betreibt ein Ingenieurbüro und hat mit der Be-klagten im Jahr 2016 einen Vertrag über die Erbringung von Ingenieurleistungen bei einem Bauvorhaben in Ber-lin zu einem Pauschalhonorar von 55.025 € geschlossen. Nach Kündigung des Ingenieurvertrags durch den Kläger rechnete dieser seine erbrachten Leistungen auf Grund-

lage der HOAI-Mindestsätze ab und verlangte nach Ab-zug der geleisteten Zahlungen und eines Sicherheitsein-behalts noch 102.934,59 € brutto von der Beklagten. Die Klage hatte in den Vorinstanzen weit überwiegend Er-folg. Das OLG Hamm hat die Beklagte zur Zahlung von 96.768,03 € nebst Zinsen verurteilt und ist davon ausge-gangen, dass die Pauschalpreisvereinbarung der Parteien wegen Verstoß gegen den Mindestpreischarakter der HOAI unwirksam war.

II. Richtlinienkonforme Auslegung?

Der BGH erläutert zunächst die Entscheidungserheblich-keit der Vorlagefragen und legt dar, dass die Revision der Beklagten bei Anwendung der deutschen Regelungen kei-nen Erfolg haben würde. Dem Kläger stehe danach der vom Oberlandesgericht zuerkannte Betrag aus § 631 Abs. 1 BGB i.V.m. § 7, §§ 55, 56 HOAI zu. Dies wäre aller-dings bereits dann anders zu beurteilen, wenn schon eine richtlinienkonforme Auslegung der HOAI dazu führen würde, dass die Mindestsätze der HOAI keine Anwendung mehr finden.

Eine solche Auffassung wird etwa vom OLG Celle,29 aber auch teilweise in der Literatur30 vertreten. Begründet wird diese Auffassung insbesondere damit, dass der Ver-ordnungsgeber bei Neufassung der HOAI in den Jahren 2009 und 2013 die Dienstleistungsrichtlinie richtig um-setzen und die Vorgaben des Unionsrechts berücksichti-gen wollte. Es entspreche daher ersichtlich nicht dem

15 LG Dresden, Beschl. v. 08.02.2018 - 6 O 1751/15 Rn. 16 f.16 LG Baden-Baden, Beschl. v. 07.05.2019 - 3 O 221/18; LG Essen, Beschl.

v. 20.03.2019 - 44 O 12/18.17 EuGH, Beschl. v. 06.02.2020 - C-137/18 - „hapeg dresden“.18 EuGH, Beschl. v. 06.02.2020 - C-137/18 - „hapeg dresden“ Rn. 21.19 Vgl. beispielhaft für Auffassungen in der Literatur Gundel, BauR 2020,

23; Scheffelt, BauR 2019, 1827; Fuchs, BauR 2020, 348; Fuchs/van der Hout/Opitz, NZBau 2019, 483; Sturmberg, BauR 2019, 1505; Ehlers, JZ 2019, 886; Wiesner, IBR 2019, 1146.

20 OLG Celle, Urt. v. 17.07.2019 - 14 U 188/18; OLG Celle, Urt. v. 23.07.2019 - 14 U 182/18; OLG Celle, Urt. v. 14.08.2019 - 14 U 198/18; OLG Celle, Urt. v. 08.01.2020 - 14 U 96/19; OLG Celle, Urt. v. 01.04.2020 - 14 U 185/19.

21 OLG Düsseldorf, Urt. v. 17.09.2019 - 23 U 155/18.22 OLG Schleswig-Holstein, Urt. v. 25.10.2019 - 1 U 74/18.23 KG, Urt. v. 13.09.2019 - 7 U 87/18.24 KG, Beschl. v. 19.08.2019 - 21 U 20/19.25 OLG München, Beschl. v. 08.10.2019 - 20 U 94/19.26 OLG Dresden, Beschl. v. 30.01.2020 - 10 U 1402/17.27 OLG Hamm, Urt. v. 23.07.2019 - 21 U 24/18.28 BGH, Beschl. v. 14.05.2020 - VII ZR 174/19.29 OLG Celle, Urt. v. 14.08.2019 - 14 U 198/18 Rn. 23.30 Fuchs, BauR 2020, 348, 358 f.; Steeger in: Steeger/Fahrenbruch, Pra-

xiskommentar HOAI 2013, § 7 Rn. 2/1/1, Stand 29.03.2020.

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Willen des Verordnungsgebers, die europarechtswidri-gen Vorschriften der HOAI Mindest- und Höchstsätze an-zuwenden. Damit sei eine Auslegung möglich, wonach der verbindliche Preisrahmen der HOAI unanwendbar sei. Noch weitergehend wird die Auffassung vertreten, es sei sogar eine richtlinienkonforme Auslegung dahin gehend möglich, dass der persönliche Anwendungsbe-reich der HOAI – entgegen der weit überwiegenden Auf-fassung in Rechtsprechung und Literatur31 – auf Archi-tekten und Ingenieure beschränkt sein solle. Mit dieser Auslegung soll die vom EuGH gerügte Inkohärenz we-gen fehlender Mindestgarantien zur Qualität der Leis-tungen bei der leistungsbezogenen Auslegung der HOAI, die auch Nichtarchitekten und Nichtingenieure betrifft, vermieden werden.32

Der BGH sieht das jedoch anders. Zwar ist die Bundesre-publik Deutschland aufgrund des Urteils im Vertragsver-letzungsverfahren nach Art. 260 Abs. 1 AEUV gehalten, alle zur Beseitigung der Pflichtverletzung geeigneten Maßnahmen zu ergreifen.33 Zudem folgt aus dem Grund-satz der Gemeinschaftstreue gem. Art. 4 Abs. 3 EUV und aus Art. 288 Abs. 3 AEUV dass die Träger der öffentlichen Gewalt in den Mitgliedstaaten einschließlich der Gerich-te alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder beson-derer Art zu treffen haben, um die Verpflichtung zur Er-reichung des in der Richtlinie vorgesehenen Ziels zu erfüllen.34 Allerdings ist auch anerkannt, dass die Ver-pflichtung des nationalen Richters, bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften des in-nerstaatlichen Rechts den Inhalt des Unionsrechts her-anzuziehen, ihre Schranken in den allgemeinen Rechts-grundsätzen findet und nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen darf.35 Die Auslegung des nationalen Rechts darf nicht dazu führen, dass einer nach Wortlaut und Sinn eindeu-tigen Norm ein entgegengesetzter Sinn gegeben oder der normative Gehalt der Norm grundlegend neu be-stimmt wird.36

Der BGH nimmt an, dass nach diesen Grundsätzen eine Unverbindlichkeit der HOAI-Mindestsätze nicht mit einer richtlinienkonformen Auslegung begründet werden kann. Der Gesetz- und Verordnungsgeber hat eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass eine unterhalb der ver-bindlichen Mindestsätze liegende Honorarvereinbarung für Architekten- und Ingenieurleistungen – von be-stimmten Ausnahmen abgesehen – unwirksam ist und sich das Honorar dann nach den Mindestsätzen be-stimmt. Dies ergibt sich nicht nur aus dem klaren Wort-laut der betreffenden Regelungen, sondern auch aus ihrem Sinn und Zweck, durch Mindestpreise Umfang und Qualität von Architekten- und Ingenieurleistungen zu

gewährleisten und einen ungezügelten Preiswettbewerb zu vermeiden.37 Vor diesem Hintergrund lässt § 7 HOAI keinen Spielraum für eine Auslegung, nach der die Min-destsätze wegen des inkohärenten und damit von Art. 15 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. g) und Abs. 3 der Dienstleistungs-richtlinie nicht gedeckten Regelungskonzepts der HOAI grds. und nicht nur in den vorgesehenen Ausnahmefäl-len unverbindlich sind. Eine solche Auslegung stünde im klaren Widerspruch zu dem erkennbaren Willen des Ge-setz- und Verordnungsgebers und wäre als unzulässige Auslegung contra legem des nationalen Rechts einzu-ordnen.38 Daran ändert auch der Wille des Verordnungs-gebers nichts, mit der Neufassung der HOAI in den Jah-ren 2009 und 2013 die Dienstleistungsrichtlinie richtig umzusetzen. Der Verordnungsgeber hat sich im Rahmen der Neuregelung der HOAI bewusst für die Beibehaltung verbindlicher Mindestsätze entschieden, obwohl ihm die Problematik der Zulässigkeit eines verbindlichen Preis-rahmens im Zusammenhang mit der Dienstleistungs-richtlinie bekannt war. Der Verordnungsgeber war ledig-lich der unzutreffenden Auffassung, dem Problem durch die Einschränkung des Anwendungsbereichs auf inner-staatliche Sachverhalte hinreichend Rechnung zu tra-gen.39

III. Unmittelbare Wirkung der Dienstleistungsricht-linie zwischen Privatpersonen?

Der Staat mit seinen Verwaltungsträgern kann sich auf eine nationale Regelung, die gegen eine Richtlinie ver-stößt, i.d.R. nicht berufen.40 Umgekehrt ist in der Recht-sprechung des EuGH seit Langem anerkannt, dass sich der Einzelne in bestimmten Fällen gegenüber dem Staat auf eine Richtlinie berufen kann, wenn die Richtlinie nicht fristgemäß oder nur unzulänglich in das nationale

31 Vgl. BGH, Urt. v. 22.05.1997 - VII ZR 290/95 Rn. 9 ff.; Wirth/Galda in: Korbion/Mantscheff/Vygen, HOAI, 9. Aufl. 2016, § 1 Rn. 49 ff.

32 Wiesner, IBR 2019, 1146.33 Vgl. EuGH, Beschl. v. 28.03.1980 - C-24/80 - „Kommission/Frankreich“

Rn. 16.34 Vgl. EuGH, Urt. v. 08.05.2019 - C-486/18 - „Praxair MRC“ Rn. 36;

EuGH, Urt. v. 07.08.2018 - C-122/17 - „Smith“ Rn. 38.35 Vgl. EuGH, Urt. v. 08.05.2019 - C-486/18 - „Praxair MRC“ Rn. 38;

EuGH, Urt. v. 07.08.2018 - C-122/17 - „Smith“ Rn. 40.36 BGH, Beschl. v. 31.03.2020 - XI ZR 198/19 Rn. 13; BGH, Urt. v.

15.10.2019 - XI ZR 759/17 Rn. 24; BVerfG, Beschl. v. 26.09.2011 - 2 BvR 2216/06 Rn. 45.

37 BT-Drs. 10/543, S. 4; BT-Drs. 10/1562, S. 5.38 Vgl. OLG Düsseldorf, Urt. v. 28.012020 - 21 U 21/19 Rn. 67 ff.; KG,

Beschl. v. 19.08.2019 - 21 U 20/19 Rn. 68.39 Vgl. BR-Drucks. 395/09, S. 143 ff.; Gundel, BauR 2020, 23, 29.40 Vgl. EuGH, Urt. v. 07.08.2018 - C-122/17 - „Smith“ Rn. 45.

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Die Monatszeitschrift

Recht umgesetzt wurde und die Richtlinienbestimmung inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau er-scheint.41 Das diese Voraussetzungen hinsichtlich Art. 15 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. g) und Abs. 3 der Dienstleistungs-richtlinie erfüllt sind, folgt bereits aus der bisherigen EuGH-Rechtsprechung zur Unionsrechtswidrigkeit der HOAI-Mindestsätze42 sowie der Entscheidung X und Vis-ser.43

Davon zu unterscheiden ist die erste Frage, die der BGH dem EuGH im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV vorlegt, ob eine unmittelbaren Wirkung dieser Vorgaben in der Dienstleistungsrichtlinie auch zwischen Privatpersonen angenommen werden kann. Würde eine solche unmittelbare Wirkung bestehen, könnten die in der HOAI statuierten Mindestsätze in einem laufenden Gerichtsverfahren nicht mehr ange-wendet werden.

Eine solche unmittelbare Wirkung zwischen Privatperso-nen wurde in der Instanzrechtsprechung und Literatur vielfach bejaht.44 Diese Auffassung wird überwiegend damit begründet, dass eine Anwendung der vom EuGH verbindlich als unionsrechtswidrig festgestellten Rege-lungen der HOAI dem Anwendungsvorrang des Gemein-schaftsrechts widersprechen würde.45 Der jeweiligen Partei im Gerichtsverfahren werde durch die Nicht-anwendbarkeit der Mindestsätze kein subjektives Recht entzogen, da die negative Belastung nicht unmittelbar aus der Richtlinie als Anspruchsgrundlage resultiere, sondern sich aus den verbleibenden nationalen Vor-schriften ergebe.46

Der BGH macht in seinem Vorlagebeschluss47 hingegen deutlich, dass er zur Gegenauffassung tendiert, wonach die Mindestsätze der HOAI in laufenden Gerichtsverfahren zwi-schen Privatpersonen weiterhin gelten, bis der nationale Gesetz- und Verordnungsgeber den verbindlichen Preisrah-men aufhebt.48

Eine Richtlinie kann nach ständiger Rechtsprechung des EuGH grds. nicht selbst Verpflichtungen für einen Ein-zelnen begründen, sodass ihm gegenüber eine Berufung auf die Richtlinie als solche nicht möglich ist. Würde die Möglichkeit, sich auf eine Bestimmung einer nicht oder unrichtig umgesetzten Richtlinie zu berufen, auf den Bereich der Beziehungen zwischen Privaten ausge-dehnt, liefe das darauf hinaus, der EU die Befugnis zu-zuerkennen, mit unmittelbarer Wirkung zulasten des Einzelnen Verpflichtungen anzuordnen, obwohl ihr dies nur dort gestattet ist, wo ihr die Befugnis zum Erlass von Verordnungen zugewiesen ist.49 Eine Richtlinie kann demgemäß grds. auch nicht in einem Rechtsstreit zwischen Privaten angeführt werden, um die Anwen-

dung der Regelung eines Mitgliedstaats, die gegen die Richtlinie verstößt, auszuschließen.50

Der BGH ist der Auffassung, dass nach Maßgabe dieser EuGH-Rechtsprechung eine unmittelbare Wirkung des Art. 15 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. g) und Abs. 3 der Dienstleis-tungsrichtlinie in laufenden Gerichtsverfahren zwischen Privatpersonen ausscheidet, mithin der Richtlinienbe-stimmung insoweit kein Anwendungsvorrang gegenüber den nationalen Regelungen über die Verbindlichkeit der Mindestsätze in § 7 HOAI zukommt. Dabei soll es ohne Bedeutung sein, dass durch die genannten Vorschriften der Dienstleistungsrichtlinie keine Verpflichtungen für einen Einzelnen begründet werden. Denn es macht kei-nen Unterschied, ob dem Einzelnen durch eine Richtlinie unmittelbare Verpflichtungen auferlegt oder ihm durch eine Richtlinie nach nationalem Recht bestehende sub-jektive Rechte – hier der Anspruch auf ein Honorar in Höhe der Mindestsätze – unmittelbar genommen wer-den können.

Soweit der EuGH in bestimmten Ausnahmefällen eine Nichtanwendung nationaler Vorschriften zwischen Privat-personen bejaht hat, wird der zu entscheidende Fall hier-von nicht umfasst. Insbesondere liegt keine Vergleichbar-keit mit der Konstellation in den Entscheidungen „CIA Security International“51 und „Unilever“52 vor, bei denen es jeweils um den „Sonderfall“ der Nichtanwendung tech-nischer Vorschriften in einem Zivilrechtsstreit zwischen Pri-vatpersonen ging.53

41 EuGH, Urt. v. 26.02.1986 - C-152/84 - „Marshall“ Rn. 46 ff.; EuGH, Urt. v. 19.01.1982 - C-8/81 - „Becker“ Rn. 21 ff.

42 EuGH, Urt. v. 04.07.2019 - C-377/17 - „Kommission/Deutschland“; EuGH, Beschl. v. 06.02.2020 - C-137/18 - „hapeg dresden“.

43 EuGH, Urt. v. 30.01.2018 - C360/15 und C-31/16 - „X und Visser“ Rn. 130.

44 Vgl. z.B. OLG Düsseldorf, Urt. v. 17.09.2019 - 23 U 155/18 Rn. 21; Schwenker, jurisPR-PrivBauR 10/2019, Anm. 1.

45 KG, Urt. v. 13.09.2019 - 7 U 87/18 Rn. 27; OLG Celle, Urt. v. 14.08.2019 - 14 U 198/18 Rn. 20.

46 Fuchs/van der Hout/Opitz, NZBau 2019, 483, 485 f.; Bitzer/Wittig, NZBau 2019, 683 f.

47 BGH, Beschl. v. 14.05.2020 - VII ZR 174/19.48 Vgl. z.B. KG, Beschl. v. 19.08.2019 - 21 U 20/19 Rn. 38 ff.; Gundel, BauR

2020, 23, 30; Sturmberg, BauR 2019, 1505, 1511.49 EuGH, Urt. v. 22.01.2019 - C-193/17 - „Cresco Investigation“ Rn. 72;

EuGH, Urt. v. 07.08.2018 - C-122/17 - „Smith“ Rn. 42.50 EuGH, Urt. v. 22.01.2019 - C-193/17 - „Cresco Investigation“ Rn. 73;

EuGH, Urt. v. 07.08.2018 - C-122/17 - „Smith“ Rn. 44; EuGH, Urt. v. 27.02.2014 - C351/12 - „OSA“ Rn. 43.

51 EuGH, Urt. v. 30.04.1996 - C-194/94 - „CIA Security International“ Rn. 54.

52 EuGH, Urt. v. 26.09.2000 - C-443/98 - „Unilever“ Rn. 49 ff.53 Vgl. EuGH, Urt. v. 07.08.2018 - C-122/17 - „Smith“ Rn. 51 ff.

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IV. Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit oder sonstige allgemeine Grundsätze des Unionsrechts

Sollte der EuGH – entsprechend der vom BGH geäußer-ten Auffassung – die erste Vorlagefrage verneinen und eine unmittelbare Wirkung der betreffenden Normen der Dienstleistungsrichtlinie in einem Rechtsstreit zwi-schen Privatpersonen nicht annehmen, stellt sich die weitere Frage zum Verstoß gegen die Niederlassungs-freiheit und gegen sonstige allgemeine Grundsätze des Unionsrechts sowie nach den etwaigen Folgen eines Verstoßes.

Ein solcher Verstoß könnte grds. dazu führen, dass sich auch eine Privatperson in einem laufenden Gerichtsver-fahren gegen eine andere Privatperson auf die Unions-rechtswidrigkeit der HOAI-Mindestsätze berufen kann. Gemäß dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts bewirken die Bestimmungen der Verträge und die unmit-telbar geltenden Rechtsakte der Organe der Union in ihrem Verhältnis zum innerstaatlichen Recht der Mitglied-staaten, dass allein durch ihr Inkrafttreten jede entgegen-stehende Bestimmung des nationalen Rechts ohne Weite-res unanwendbar wird.54 Es kommt daher in Betracht, dass eine nationale Regelung bei einem Verstoß gegen europäisches Primärrecht – auch soweit ein Rechtsstreit zwischen Privatpersonen betroffen ist – unangewendet bleibt.55

Einen Verstoß der HOAI-Mindestsätze gegen die Nieder-lassungsfreiheit – wie von der Europäischen Kommission angenommen – hatte der EuGH bislang ausdrücklich of-fengelassen.56 Der BGH macht in seinem Vorlagebe-schluss deutlich, dass ein solcher Verstoß nicht ausge-schlossen werden kann. Allerdings ist zweifelhaft, ob der Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit über-haupt eröffnet ist, nachdem die HOAI in der im zu ent-scheidenden Fall anwendbaren Fassung nur auf Inlands-sachverhalte Anwendung findet (§ 1 HOAI). Zudem könnte von Bedeutung sein, inwieweit der Zweck der Niederlas-sungsfreiheit es gebietet, in Rechtsverhältnissen zwischen Privatpersonen die nationalen Regelungen über die Ver-bindlichkeit von Mindestsätzen in § 7 HOAI unangewen-det zu lassen.

Die Frage nach einem Verstoß gegen die Niederlassungs-freiheit oder gegen sonstige allgemeine Grundsätze des Unionsrechts stellt sich darüber hinaus auch unmittelbar in den Fällen, in denen die Wirkungen der Dienstleistungs-richtlinie von vornherein keine Rolle spielen. Dies betrifft Verträge über Architekten- und Ingenieurleistungen, die vor Ablauf der Umsetzungsfrist der Richtlinie Ende 2009 abge-schlossen wurden.

F. Fazit und Folgen für weitere Gerichtsverfahren

Das Vorabentscheidungsersuchen durch den BGH mit Beschluss vom 14.05.2020 dürfte diejenigen enttäu-schen, die auf eine schnelle und endgültige Klärung der durch das EuGH-Urteil vom 04.07.2019 ausgelösten Rechtsfragen gehofft hatten. Angesichts der kontrover-sen Diskussion zur unmittelbaren Anwendung der Dienstleistungsrichtlinie in laufenden Gerichtsverfahren zwischen Privatpersonen lag es aber nahe, den EuGH er-neut mit den verbindlichen Mindestsätzen der HOAI zu befassen. Die richtige Anwendung des Unionsrechts ist bislang nicht von vornherein eindeutig („acte claire“) oder in einer Weise geklärt („acte éclairé“), dass keine vernünftigen Zweifel mehr bleiben.

Für weitere bei den Gerichten anhängige Verfahren, bei denen die Anwendung der Mindest- oder Höchstsätze der HOAI entscheidungserheblich ist, muss kein erneutes Vor-abentscheidungsersuchen an den EuGH erfolgen. Vielmehr können diese Verfahren in entsprechender Anwendung von § 148 ZPO ausgesetzt werden, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von der Beantwortung derselben Fragen ab-hängt, die bereits vom BGH im Verfahren VII ZR 174/19 zur Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV vorgelegt wur-den.57 Eine Vorlage auch der anderen Verfahren (allein am BGH sind dies mehrere zugelassene Revisionen und Nicht-zulassungsbeschwerden)58 würde nicht zu einer schnelle-ren Beantwortung der maßgeblichen Rechtsfragen führen, sondern im Gegenteil die Funktion des EuGH im Vorabent-scheidungsverfahren beeinträchtigen. Da der EuGH kein Rechtsmittelgericht für sämtliche mitgliedschaftlichen Ver-fahren darstellt, genügt es, wenn dort über eine klärungs-bedürftige Rechtsfrage lediglich in einem Verfahren ver-handelt und entschieden wird.59

54 EuGH, Urt. v. 04.02.2016 - C-336/14 - „Ince“ Rn. 52; EuGH, Urt. v. 08.09.2010 - C-409/06 - „Winner Wetten“ Rn. 53.

55 EuGH, Urt. v. 07.08.2018 - C-122/17 - „Smith“ Rn. 46; EuGH, Urt. v. 19.01.2010 - C-555/07 - „Kücükdeveci“ Rn. 51.

56 EuGH, Urt. v. 04.07.2019 - C-377/17 - „Kommission/Deutschland“ Rn. 97.

57 Vgl. BGH, Beschl. v. 11.04.2013 - I ZR 76/11 Rn. 5; BGH, Beschl. v. 31.05.2012 - I ZR 28/10 Rn. 5.

58 In einem Revisionsverfahren, welches auf einem Berufungsurteil des OLG Celle beruht (OLG Celle, Urt. v. 14.08.2019 - 14 U 198/18) und in dem wie im Verfahren VII ZR 174/19 am 14.05.2020 die mündliche Verhandlung stattfand, hat der BGH die klageabweisen-den Entscheidungen der Vorinstanzen bestätigt und die Revision der Klägerin zurückgewiesen. Auf die Rechtsfragen zu den Folgen des EuGH-Urteils vom 04.07.2019 (C-377/17 - „Kommission/Deutschland“) kam es in diesem Verfahren nicht entscheidungser-heblich an.

59 BGH, Beschl. v. 24.01.2012 - VIII ZR 236/10 Rn. 7 f.

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Die Monatszeitschrift

A. Einleitung

Zahlreiche Automobilkäufe werden über einen vom je-weiligen Fahrzeughändler vermittelten Kredit bei der Autobank des Fahrzeugherstellers oder einer Drittbank finanziert. Verbraucher können den mit dem Kaufvertrag verbundenen Darlehensvertrag1 innerhalb von 14 Tagen nach Vertragsschluss widerrufen. Das Widerrufsrecht kann mitunter aber auch nach Ablauf dieser Frist be-stehen, nämlich dann, wenn die Widerrufsinformationen unzureichend bzw. fehlerhaft sind oder wenn die Pflicht-angaben nach § 492 Abs. 2 BGB i.V.m. Art. 247 § 6 bis § 13 EGBGB nicht richtig erteilt wurden (siehe § 356b Abs. 2 Satz 1 BGB). Der Erfolg des nachträglichen Wider-rufs, der gemeinhin als „Widerrufsjoker“ bezeichnet wird,2 hängt also davon ab, ob die Pflichtangaben in dem betreffenden Darlehensvertrag den gesetzlichen Voraussetzungen genügen. In der verbraucher(schutz)rechtlichen Praxis wurde eine Vielzahl an Argumenten dafür zusammengetragen, warum die Pflichtangaben in den Darlehensverträgen der meisten Autobanken den in-haltlichen Anforderungen gerade nicht genügen.3 Die Verbraucherseite sieht sich hierbei dem Vorwurf ausge-setzt, sie arbeite „mit viel kreativer juristischer Ener-gie“.4 Dennoch konnten Verbraucher mit ihrer Argumen-tation vor einigen Instanzgerichten durchdringen und eine Rückabwicklung der Kfz-Finanzierung erreichen.5 Im November 2019 wies der BGH jedoch zwei Klagen von Verbrauchern ab, die bestimmte Formulierungen als falsch bzw. fehlerhaft rügten, die in den meisten Darle-hensverträgen der Autobanken vorkommen.6 Diese Ent-scheidungen sowie die vom LG Ravensburg veranlasste Vorlage entsprechender Fragen an den EuGH7 bieten Anlass genug, sich mit den Informationspflichten der Darlehensgeber und insbesondere mit den inhaltlichen Anforderungen an die einzelnen Pflichtangaben zu be-schäftigen.

B. Rechtlicher Hintergrund

Mit der Umsetzung der Richtlinie 2008/48/EG des Euro-päischen Parlaments und des Rates vom 23.04.2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates (Verbraucherkredit-richtlinie – VerbrKrRL)8 in das deutsche Recht9 wurde die Erteilung umfangreicher Verbraucherinformationen zur

Pflicht. Seit dem 30.07.2010 hängt der Beginn der Wi-derrufsfrist davon ab, dass der Verbraucher die erforder-lichen Pflichtangaben ordnungsgemäß „erhalten“ hat (so § 495 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. b BGB bis zum 12.06.2014) bzw. dass diese in der Vertragsurkunde „enthalten“ sind (so § 356b Abs. 2 Satz 1 BGB seit dem 13.06.2014).10 Genügt der Darlehensgeber seinen Informationspflich-ten nicht und holt er die fehlenden bzw. fehlerhaften Pflichtangaben nicht nach,11 besteht für den Verbrau-cher grds. die Möglichkeit, den Widerruf noch Jahre spä-ter für eine Loslösung vom Vertrag zu nutzen. Da der Automobilkaufvertrag und der vom Fahrzeughändler ganz oder zum Teil vermittelte Darlehensvertrag gem. § 358 Abs. 3 Satz 1 BGB miteinander verbunden sind,12 kann insoweit die für den Verbraucher lukrative Rückab-wicklung beider Geschäfte erreicht werden.13 Es ver-wundert daher nicht, dass seither über den erforderli-chen Inhalt der einzelnen Pflichtangaben vor den Gerichten aller Instanzen gestritten wird.

C. Inhaltliche Anforderungen an die Pflichtangaben

Die darlehensgebenden Autobanken müssen ihren Infor-mationspflichten, wie sie sich aus § 492 Abs. 2 BGB i.V.m. Art. 247 § 6 bis § 13 EGBGB ergeben, nachkom-men. Die Vielzahl der zu erteilenden Pflichtangaben14

Aktuelles zum Widerruf von Kfz-Finanzierungen – sticht der „Widerrufsjoker“ weiter?

RA und Wiss. Mit. Veris-Pascal Heintz, LL.M.

1 Hierzu zugleich unter B.2 Vgl. statt vieler Döll, DAR 2018, 61; Ring, SVR 2018, 321; Schön, BB

2018, 2115.3 Vels, NJW 2018, 1285; Edelmann, BB 2020, 82.4 Vels, NJW 2018, 1285; vgl. auch Edelmann, BB 2020, 82, der das Vor-

gehen der Verbraucheranwälte – negativ konnotiert – als „erfinde-risch“ bezeichnet.

5 Vgl. etwa OLG Düsseldorf, Urt. v. 29.05.2019 - 16 U 102/18; LG Berlin, Urt. v. 05.12.2017 - 4 O 150/16; LG Ellwangen, Urt. v. 25.01.2018 - 4 O 232/17; LG Hamburg, Urt. v. 12.11.2018 - 318 O 141/18; LG Tübingen, Urt. v. 28.12.2018 - 3 O 137/18.

6 BGH, Urt. v. 05.11.2019 - XI ZR 650/18; BGH, Urt. v. 05.11.2019 - XI ZR 11/19.

7 LG Ravensburg, EuGH-Vorlage v. 07.01.2020 - 2 O 315/19.8 ABl. L 133/66 v. 22.05.2008.9 Gesetz vom 29.07.2009, BGBl. I, 2355.10 Schön, BB 2018, 2115; Rosenkranz, BKR 2019, 469, 471.11 Mit Erhalt der nachgeholten Pflichtangaben wird eine einmonatige

Widerrufsfrist in Gang gesetzt, siehe § 492 Abs. 6 Satz 4 BGB.12 BGH, Urt. v. 05.11.2019 - XI ZR 650/18 Rn. 17; BGH, Urt. v. 05.11.2019 -

XI ZR 11/19 Rn. 15; Döll, DAR 2018, 61; Ring, SVR 2018, 321, 322 f.; Ring, NJW 2020, 435, 435 f.

13 Näher hierzu Schön, BB 2018, 2115, 2119 ff.; Rosenkranz, BKR 2019, 521 – 528.

14 Eine Auflistung findet sich etwa bei Döll, DAR 2018, 61, 64.

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bereitet einen äußerst fruchtbaren Nährboden für die Angriffspunkte der Verbraucherseite.15 Der vorliegende Beitrag wird nicht alle in Betracht kommenden Fehler in den Darlehensverträgen der Autobanken in den Blick nehmen, sondern beschränkt sich auf eine Untersuchung der Pflichtangaben, die in den Verfahren vor dem BGH16 und vor dem LG Ravensburg17 als fehlerhaft gerügt wur-den.

I. Unzureichende Angabe des geschuldeten Zinsbe-trages

Bei Bestehen eines Widerrufsrechts nach § 495 BGB muss in dem Darlehensvertrag u.a. ein Hinweis auf die Ver-pflichtung des Darlehensnehmers enthalten sein, ein be-reits ausbezahltes Darlehen zurückzuzahlen und Zinsen zu vergüten (Art. 247 § 6 Abs. 2 Satz 1 EGBGB). Nach Art. 247 § 6 Abs. 2 Satz 2 EGBGB ist dabei der pro Tag zu zahlende Zinsbetrag anzugeben. Diese Informations-pflicht nimmt Bezug auf die Rechtsfolge des § 357a Abs. 3 Satz 1 BGB, demzufolge der Darlehensnehmer im Fall des Widerrufs für den Zeitraum zwischen der Auszahlung und der Rückzahlung des Darlehens den vereinbarten Sollzins-satz zu entrichten hat.18 Viele Autobanken erklären in ihren Widerrufsinformationen zunächst, dass der Darle-hensnehmer „für den Zeitraum zwischen der Auszahlung und der Rückzahlung des Darlehens den vereinbarten Sollzins zu entrichten“ habe, um dann zwei Sätze weiter anzugeben, es sei „pro Tag ein Zinsbetrag von 0,00 Euro zu zahlen“.19 Der BGH sah hierin eine klare und verständ-liche Regelung, aus der sich „unmissverständlich und ein-deutig“ ergebe, dass der Verbraucher „im Falle des Wider-rufs für den Zeitraum zwischen Auszahlung und Rückzahlung des Darlehens keine Sollzinsen zu zahlen“ habe.20 Der „verständige Verbraucher“ verstehe „die kon-krete Angabe des zu zahlenden Zinsbetrags mit 0,00 € dahin, dass die finanzierende Bank auf ihren etwaigen Zinsanspruch verzichtet“.21

Entgegen der Ansicht des BGH ergibt sich aus den vor-stehend zitierten Widerrufsinformationen sehr wohl ein Widerspruch, der bei einem durchschnittlichen Verbrau-cher eine Unsicherheit über die Widerrufsfolgen hervor-ruft.22 Da in einem Darlehensvertrag zur Kfz-Finanzie-rung stets eine Sollzinsvereinbarung getroffen wird, erweist sich die Angabe, wonach „pro Tag ein Zinsbe-trag von 0,00 Euro zu zahlen“ sei, als irreführend.23 Selbst ein verständiger und redlicher Verbraucher ver-mag nicht zwanglos zu erkennen, dass für ihn nur die Angabe des tatsächlich geschuldeten Zinsbetrages i.H.v. 0,00 € von Relevanz sein soll. Der BGH legt seinen Überlegungen insoweit ein falsches Bild eines Durch-schnittsverbrauchers zugrunde.24 Abzulehnen ist auch

die Unterstellung des BGH, der Verbraucher erkenne in der Zinsangabe von 0,00 € einen Verzicht der Autobank auf ihren Zinsanspruch. Der Verbraucher erwartet in den Widerrufsinformationen keine Inhalte, die von dem eigentlichen Hauptteil des Vertrages – in dem der Soll-zins gerade entsprechend festgeschrieben ist – abwei-chen.25 Naheliegender ist, dass der Verbraucher die An-gabe eines Zinsbetrages von 0,00 € als Fehleintrag ansieht und dementsprechend auch keinen auf Erlass der bankenseitigen Zinsforderung gerichteten Annah-mewillen bildet.26

II. Unterbliebener Hinweis auf das außerordentliche Kündigungsrecht nach § 314 BGB

Der Verbraucherdarlehensvertrag muss nach Art. 247 § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 EGBGB (in der seit dem 21.03.2016 gül-tigen Fassung)27 klare und verständliche Angaben über das einzuhaltende Verfahren bei der Kündigung des Vertrages enthalten. Strittig ist, ob hierbei auf ein mögliches Kündi-gungsrecht aus wichtigem Grund nach § 314 BGB hinzu-weisen ist.

Nach einer Auffassung muss der Verbraucher – jedenfalls bei befristeten Verträgen – über das Kündigungsrecht nach § 314 BGB informiert werden.28 Diese Ansicht nimmt insbesondere Bezug auf den in der Begründung des Re-

15 Schön, BB 2018, 2115.16 BGH, Urt. v. 05.11.2019 - XI ZR 650/18; BGH, Urt. v. 05.11.2019 - XI

ZR 11/19.17 LG Ravensburg, EuGH-Vorlage v. 07.01.2020 - 2 O 315/19.18 BGH, Urt. v. 05.11.2019 - XI ZR 650/18 Rn. 20; BGH, Urt. v. 05.11.2019 -

XI ZR 11/19 Rn. 18; Ring, NJW 2020, 435, 436.19 So bspw. die Widerrufsinformationen der Autobanken von BMW und

Ford, vgl. BGH, Urt. v. 05.11.2019 - XI ZR 650/18 Rn. 2; BGH, Urt. v. 05.11.2019 - XI ZR 11/19 Rn. 2.

20 BGH, Urt. v. 05.11.2019 - XI ZR 650/18 Rn. 21, 23; BGH, Urt. v. 05.11.2019 - XI ZR 11/19 Rn. 19, 21.

21 BGH, Urt. v. 05.11.2019 - XI ZR 650/18 Rn. 23; BGH, Urt. v. 05.11.2019 - XI ZR 11/19 Rn. 21.

22 LG Aurich, Urt. v. 13.11.2018 - 1 O 632/18 Rn. 48; Schwintowski in: jurisPK BGB, 9. Aufl. 2020, § 495 Rn. 18; Heintz, VuR 2020, 153.

23 LG Aurich, Urt. v. 13.11.2018 - 1 O 632/18 Rn. 48.24 Heintz, VuR 2020, 153.25 So auch Thürmer, VuR 2019, 416, 417 f.26 Vgl. OLG Düsseldorf, Urt. v. 28.05.2019 - 9 U 77/18 Rn. 30; näher Thür-

mer, VuR 2019, 416, 418.27 Wortlautidentisch mit der – für „Altverträge“ noch maßgeblichen –

Fassung des Art. 247 § 6 Abs. 1 Nr. 5 EGBGB vom 11.06.2010 bis zum 20.03.2016.

28 LG Arnsberg, Urt. v. 17.11.2017 - 2 O 45/17 Rn. 24 ff.; LG Berlin, Urt. v. 05.12.2017 - 4 O 150/16 Rn. 31 ff.; LG Ellwangen, Urt. v. 25.01.2018 - 4 O 232/17 Rn. 47 ff.; LG Hamburg, Urt. v. 12.11.2018 - 318 O 141/18 Rn. 19; Nietsch in: Erman, BGB, 15. Aufl. 2017, § 492 Rn. 15; Schwintow-ski in: jurisPK BGB, 9. Aufl. 2020, § 492 Rn. 22.

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Die Monatszeitschrift

gierungsentwurfs zu Art. 247 § 6 Abs. 1 Nr. 5 a.F. zum Aus-druck gekommenen Willen, dass bei befristeten Darle-hensverträgen „zumindest darauf hingewiesen werden [müsse], dass eine Kündigung nach § 314 BGB möglich ist“.29

Nach der Gegenauffassung, der sich der BGH zwischenzeit-lich angeschlossen hat,30 muss nur auf das ordentliche Kündigungsrecht des Darlehensnehmers, nicht aber auf die Möglichkeit zur Kündigung gem. § 314 BGB hingewiesen werden.31

Vermag sich eine Pflicht zum Hinweis auf das Kündi-gungsrecht nach § 314 BGB aus einer „isolierten“ Aus-legung des Art. 247 § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 EGBGB – vor allem mit Rücksicht auf den umsetzungsgesetzgeberi-schen Willen – noch herleiten lassen, muss dieses Ergeb-nis nach einer richtlinienkonformen Auslegung korrigiert werden.32 Art. 10 Abs. 2 Buchst. s VerbrKrRL schreibt vor, dass über „die einzuhaltenden Modalitäten bei der Aus-übung des Rechts auf Kündigung des Kreditvertrags“ Angaben zu machen sind. Sowohl der Wortlaut als auch die Systematik legen nahe, dass hiervon nur das ordent-liche Kündigungsrecht bei einem unbefristeten Darle-hensvertrag erfasst sein kann, denn nur dieses hat in Art. 13 Abs. 1 VerbrKrRL eine nähere Regelung erfah-ren.33 Die letztgenannte Auffassung erscheint deshalb vorzugswürdig. Spannend wird sein, ob der EuGH auf die entsprechende Vorlagefrage des LG Ravensburg („Ist Art. 10 Absatz 2 lit. s RL 2008/48/EG dahingehend aus-zulegen, dass im Kreditvertrag auch die im nationalen Recht geregelten Kündigungsrechte der Parteien des Kreditvertrags angegeben werden müssen, insbesonde-re auch das Kündigungsrecht des Darlehensnehmers aus wichtigem Grund gemäß § 314 BGB bei befristeten Dar-lehensverträgen?“)34 im zuvor genannten Sinne antwor-ten wird.

III. Angaben zur Berechnungsmethode der Vorfällig-keitsentschädigung

Nach Art. 247 § 7 Abs. 1 Nr. 3 EGBGB muss in dem Darle-hensvertrag die Berechnungsmethode des Anspruchs auf Vorfälligkeitsentschädigung klar und verständlich formu-liert angegeben werden, soweit der Darlehensgeber be-absichtigt, diesen Anspruch geltend zu machen, falls der Darlehensnehmer das Darlehen vorzeitig zurückzahlt. Die Reichweite jener Informationspflicht ist durchaus frag-lich.35 Der BGH hat es jedenfalls – wie einige Obergerich-te und Teile der Literatur – als ausreichend erachtet, wenn der Darlehensgeber die für die Berechnung der Vorfällig-keitsentschädigung wesentlichen Parameter in groben Zügen benennt.36 Die Autobanken verwenden hierbei

häufig die Formulierung, dass sich die Berechnung „nach den vom Bundesgerichtshof vorgeschriebenen finanzma-thematischen Rahmenbedingungen“ richtet, die „insbe-sondere“ bestimmte, nicht abschließend genannte Krite-rien berücksichtigen.37 Als „insbesondere“ zu benennende Parameter erachtet der BGH

• das zwischenzeitlich veränderte Zinsniveau (als Aus-gangspunkt für die Berechnung des Zinsverschlechte-rungsschadens),

• die für das Darlehen ursprünglich vereinbarten Zahlungs-ströme (als Grundlage der sog. Cash-Flow-Methode),

• den der Bank entgangenen Gewinn (als Ausgangspunkt für die Berechnung des Zinsmargenschadens),

• die infolge der vorzeitigen Rückzahlung ersparten Risi-ko- und Verwaltungskosten (als Abzugsposten) und

• den mit der vorzeitigen Rückzahlung verbundenen Ver-waltungsaufwand.38

Für Unklarheit sorgt schon der Hinweis auf vom BGH vermeintlich „vorgeschriebene“ Rahmenbedingungen. Solche Vorschriften kann der BGH gar nicht erlassen.39 Die schlichte Information über gewisse Berechnungs-parameter, die nach höchstrichterlicher Rechtsprechung maßgeblich seien, versetzt den Verbraucher noch nicht in die Lage, seine finanzielle Belastung für den Fall der vorzeitigen Ablösung des Darlehens verlässlich abzu-schätzen.40 Art. 247 § 7 Abs. 1 Nr. 3 EGBGB, der Art. 10

29 BT-Drs. 16/11643, S. 128; vgl. LG Ravensburg, EuGH-Vorlage v. 07.01.2020 - 2 O 315/19 Rn. 105; Ring, NJW 2020, 435, 436.

30 BGH, Urt. v. 05.11.2019 - XI ZR 650/18 Rn. 29 ff.; BGH, Urt. v. 05.11.2019 - IX ZR 11/19 Rn. 27 ff.

31 OLG Stuttgart, Urt. v. 10.09.2019 - 6 U 191/18 Rn. 54 ff.; Kessal-Wulf in: Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2012, § 492 Rn. 46; Schürnbrand/Weber in: MünchKomm, BGB, 8. Aufl. 2019, § 492 Rn. 27.

32 Herresthal, ZIP 2018, 753, 755; Rosenkranz, BKR 2019, 469, 473 f.33 Schürnbrand/Weber in: MünchKomm, BGB, 8. Aufl. 2019, § 492 Rn. 27;

Herresthal, ZIP 2018, 753, 755 f.34 Vorlagefrage II. 3. a) des LG Ravensburg, EuGH-Vorlage v.

07.01.2020 - 2 O 315/19.35 LG Ravensburg, EuGH-Vorlage v. 07.01.2020 - 2 O 315/19 Rn. 90 ff.;

Herresthal, ZIP 2018, 753, 759.36 BGH, Urt. v. 05.11.2019 - XI ZR 650/18 Rn. 45 m.w.N.; BGH, Urt. v.

05.11.2019 - XI ZR 11/19 Rn. 42 m.w.N.; OLG Düsseldorf, Urt. v. 07.06.2019 - 17 U 158/18 Rn. 58; OLG München, Beschl. v. 29.01.2019 - 5 U 3251/18; Schürnbrand/Weber in: MünchKomm, BGB, 8. Aufl. 2019, § 492 Rn. 34, § 491a Rn. 39.

37 So bspw. die Widerrufsinformationen der Autobanken von BMW und Ford, vgl. BGH, Urt. v. 05.11.2019 - XI ZR 650/18 Rn. 5; BGH, Urt. v. 05.11.2019 - XI ZR 11/19 Rn. 3.

38 BGH, Urt. v. 05.11.2019 - XI ZR 650/18 Rn. 46; BGH, Urt. v. 05.11.2019 - XI ZR 11/19 Rn. 43; vgl. Ring, NJW 2020, 435, 437.

39 So zu Recht LG Berlin, Urt. v. 05.12.2017 - 4 O 150/16 Rn. 42.40 Vgl. BT-Drs. 16/11643, S. 87; LG Berlin, Urt. v. 05.12.2017 - 4 O 150/16

Rn. 42; Heintz, VuR 2020, 153.

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Abs. 2 Buchst. r VerbrKrRL umsetzt, hat jedoch gerade den Zweck, den Verbraucher zu dieser Entscheidung zu befähigen.41 Richtigerweise muss also über die konkrete Berechnungsmethode informiert werden,42 da hiermit – entgegen der Ansicht des BGH und einer im Schrifttum geäußerten Meinung –43 ein deutlicher Informations-mehrwert einhergeht.44 Auch der klare Wortlaut des Art. 247 § 7 Abs. 1 Nr. 3 EGBGB lässt kein anderes Ergeb-nis zu, da über „die“ Berechnungsmethode – und nicht etwa über „mögliche Berechnungsmethoden“ – zu unterrichten ist.45

Der EuGH hat nunmehr Gelegenheit, auf die entsprechen-de Vorlagefrage des LG Ravensburg („Ist Art. 10 Absatz 2 lit. r RL 2008/48/EG dahin auszulegen, dass im Kreditver-trag ein konkreter vom Verbraucher nachvollziehbarer Rechenweg für die Ermittlung der bei vorzeitiger Rück-zahlung des Darlehens anfallenden Vorfälligkeitsentschä-digung anzugeben ist, so dass der Verbraucher die Höhe der bei vorzeitiger Kündigung anfallenden Entschädigung zumindest annäherungsweise berechnen kann?“)46 zu replizieren und Klarheit zu schaffen. Der EuGH wird sich hierbei mit der Funktion der Belehrung befassen müssen. Nach Erwägungsgrund 39 VerbrKrRL sollte die Berech-nung der dem Darlehensgeber geschuldeten Entschädi-gung „transparent“ und „verständlich“ sein. Für hin-längliche „Transparenz“ und „Verständlichkeit“ kann indes nur ein Hinweis sorgen, der es dem Verbraucher er-möglicht, die Vorfälligkeitsentschädigung selbst zu be-rechnen.47

IV. Angaben über den Verzugszins und die Art und Weise seiner etwaigen Anpassung

Der Verbraucher muss gem. Art. 247 § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 (in der seit dem 21.03.2016 gültigen Fassung)48 i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 11 EGBGB u.a. über den Verzugszinssatz und die Art und Weise seiner etwaigen Anpassung informiert wer-den. Die an diese Pflichtangabe zu stellenden Anforderun-gen werden in Rechtsprechung und Literatur unterschied-lich beurteilt.49

Nach einer Auffassung reicht es aus, wenn auf den gesetz-lichen Zinssatz gem. § 288 Abs. 1 Satz 2 BGB, also fünf Prozentpunkte über dem jeweils geltenden Basiszinssatz, hingewiesen wird.50 Dem hat sich der BGH angeschlos-sen.51

Nach der Gegenauffassung muss als geltender Verzugszins-satz hingegen eine absolute Zahl angegeben werden.52

Der erstgenannten Ansicht ist zuzugestehen, dass die ge-läufige Aussage, der Verzugszinssatz betrage „fünf Pro-zentpunkte über dem Basiszinssatz“,53 eine Ermittlung des Verzugszinses durchaus ermöglicht.54 Die Ermittlung des

konkreten Verzugszinses stellt den Durchschnittsverbrau-cher dann jedoch vor hohe Hürden. So müsste er zumindest umfassende Recherchen im Internet anstellen oder sich so-gar der Expertise von Fachleuten bedienen. Aus Gründen der Transparenz ist deshalb die Angabe einer absoluten Zahl zu fordern,55 die zweitgenannte Ansicht verdient Zu-stimmung. Ohne die Nennung einer absoluten Zahl wird der Verbraucher den Umfang seiner Zahlungspflichten im Verzugsfall nicht zuverlässig einschätzen können.56

Es darf wohl davon ausgegangen werden, dass der EuGH auf die entsprechende Vorlagefrage des LG Ravensburg („Ist Art. 10 Abs. 2 lit. l Richtlinie 2008/48/EG […] dahin auszulegen, dass im Kreditvertrag der bei Abschluss des Kreditvertrages geltende Verzugszinssatz als absolute Zahl mitzuteilen ist, zumindest aber der geltende Referenzzins-satz (vorliegend der Basiszinssatz gem. § 247 BGB), aus dem sich der geltende Verzugszinssatz durch einen Zu-schlag (vorliegend von fünf Prozentpunkten gem. § 288 Abs. 1 Satz 2 BGB) ermittelt, als absolute Zahl anzugeben ist?“)57 antworten wird, dass der geltende Verzugszinssatz

41 Vgl. Rosenkranz, BKR 2019, 469, 474.42 Ring, SVR 2018, 321, 324; a.A. Herresthal, ZIP 2018, 753, 759; Schön,

BB 2018, 2115, 2118.43 BGH, Urt. v. 05.11.2019 - XI ZR 650/18 Rn. 47; BGH, Urt. v. 05.11.2019 -

XI ZR 11/19 Rn. 45; Herresthal, ZIP 2018, 753, 759.44 Heintz, VuR 2020, 153, 154.45 LG Berlin, Urt. v. 05.12.2017 - 4 O 150/16 Rn. 43; Maier, VuR 2019,

163, 166.46 Vorlagefrage II. 2. des LG Ravensburg, EuGH-Vorlage v. 07.01.2020 -

2 O 315/19.47 Rosenkranz, BKR 2019, 469, 474 f.; a.A. BGH, Urt. v. 05.11.2019 -

XI ZR 650/19 Rn. 45; BGH, Urt. v. 05.11.2019 - XI ZR 11/19 Rn. 43; Herresthal, ZIP 2018, 753, 759.

48 Wortlautidentisch mit der – für „Altverträge“ noch maßgeblichen – Fassung des Art. 247 § 6 Abs. 1 Nr. 1 EGBGB vom 11.06.2010 bis zum 20.03.2016.

49 LG Ravensburg, EuGH-Vorlage v. 07.01.2020 - 2 O 315/19 Rn. 63.50 OLG Stuttgart, Urt. v. 10.09.2019 - 6 U 191/18 Rn. 54 ff.; Merz/Wittig

in: Kümpel/Mülbert/Früh/Seyfried, Bank- und Kapitalmarktrecht, 5. Aufl. 2019, Rn. 5.104; so wohl auch Ring, NJW 2020, 435, 437 f.

51 BGH, Urt. v. 05.11.2019 - XI ZR 650/18 Rn. 52.52 Artz in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 10. Aufl. 2019, § 492

Rn. 128; Schürnbrand/Weber in: MünchKomm, BGB, 8. Aufl. 2019, § 491a Rn. 31; Knops in: BeckOGK, BGB, § 491a Rn. 28 Stand 01.01.2020.

53 Artz in: Bülow/Artz, Verbraucherkreditrecht, 10. Aufl. 2019, § 492 Rn. 128.

54 Merz/Wittig in: Kümpel/Mülbert/Früh/Seyfried, Bank- und Kapital-marktrecht, 5. Aufl. 2019, Rn. 5.104.

55 Schürnbrand/Weber in: MünchKomm, BGB, 8. Aufl. 2019, § 491a Rn. 31.

56 Knops in: BeckOGK, BGB, § 491a Rn. 28 Stand 01.01.2020.57 Vorlagefrage II. 1. a) des LG Ravensburg, EuGH-Vorlage v. 07.01.2020 -

2 O 315/19.

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Die Monatszeitschrift

als absolute Zahl mitzuteilen ist. Art. 10 Abs. 2 Buchst. l VerbrKrRL sieht unzweideutig vor, dass in dem Kreditver-trag in „klarer, prägnanter Form“ u.a. „der Satz der Ver-zugszinsen gemäß der zum Zeitpunkt des Abschlusses des Kreditvertrags geltenden Regelung“ anzugeben ist. „Klar“ und „prägnant“ ist nur die konkrete Benennung des gel-tenden Verzugszinssatzes, da dem Verbraucher ansonsten übermäßige Nachforschungspflichten auferlegt werden würden.

D. Bewertung und Fazit

Die vorstehenden Ausführungen haben aufgezeigt, dass ein nachträglicher Widerruf einer Kfz-Finanzierung durchaus zu Recht erfolgt, wenn in dem jeweiligen Ver-trag einer der erwähnten Belehrungsfehler zu finden ist. Derzeit wird man die Erfolgsaussichten einer gerichtli-chen Rechtsdurchsetzung allerdings (noch) davon ab-hängig machen müssen, ob man sich nur gegen solche Pflichtangaben wenden kann, zu deren inhaltlichen An-forderungen sich der BGH nunmehr klar positioniert hat,58 oder ob man sich von der „bisherigen Standardar-gumentation“59 lösen kann. Dieses Fazit mag zunächst ernüchtern, bedeutet aber nicht, dass von einem Wider-ruf der Kfz-Finanzierung abgesehen werden sollte. Zum einen darf nämlich nicht übersehen werden, dass viele Belehrungsfehler noch gar nicht zum Gegenstand eines Verfahrens vor dem BGH gemacht wurden. So hat das OLG Brandenburg einen nachträglichen Widerruf als wirksam erachtet, weil die streitgegenständlichen Anga-ben zur Berechnungsmethode der Vorfälligkeitsentschä-digung nicht den Anforderungen des Art. 247 § 7 Abs. 1 Nr. 3 EGBGB genügt haben.60 Das LG Ravensburg hat ferner festgestellt, dass aufgrund eines verbraucherseiti-gen Widerrufs die Zahlungsverpflichtungen aus einem Darlehensvertrag erloschen sind, da die streitgegen-ständliche Widerrufsinformation hinsichtlich des Be-ginns der Widerrufsfrist unklar sei.61 Zum anderen darf nach der wichtigen Vorlageentscheidung des LG Ravens-burg62 eine verbraucherfreundliche(re) Entscheidung des EuGH erwartet werden, die die Karten für die Verbraucherseite neu mischen würde. Im Verbrau-cher(schutz)recht sind nun – wie so oft – alle Blicke nach Luxemburg gerichtet.

Missachtung substantiierten Vorbringens zum Sachmangel bei Abgasmanipulation an DieselfahrzeugenBGH, Beschl. v. 28.01.2020 - VIII ZR 57/19

VRiOLG a.D. Lothar Jaeger

A. Problemstellung

Eine Revision wird vom BGH nicht zugelassen, wenn der Beschwerdeführer es versäumt hat, innerhalb der ihm vom Berufungsgericht gem. § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO eingeräum-ten Frist zu einem Hinweisbeschluss Stellung zu nehmen, um der nunmehr gerügten Gehörsverletzung entgegenzu-wirken.1 Das bedeutet, dass ein Kläger, der vom Berufungs-gericht einen Hinweis erhält, dass sein Vorbringen unsubs-tantiiert, eine unbeachtliche Behauptung „ins Blaue hinein“ und der hierfür angebotenen Sachverständigenbe-weis ein unzulässiger „Ausforschungsbeweis“ sei, dieser Rechtsauffassung des Berufungsgerichts entgegen treten muss, wenn er sich die Möglichkeit offen halten will, mit der Beschwerde die Nichtzulassung der Revision anzugrei-fen.

Kommt noch hinzu, dass das Berufungsgericht mit der im Hinweisbeschluss vertretenen Rechtsauffassung von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abweicht, muss der anwaltlich vertretene Kläger das Berufungsgericht auf die-se höchstrichterliche Rechtsprechung hinweisen, um zu verhindern, dass diese vom Berufungsgericht übersehen wird.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der VIII. Zivilsenat des BGH stellt seiner Entscheidung fol-genden Leitsatz voran:

Eine Zulassung der Revision wegen eines dem Beru-fungsgericht unterlaufenen Gehörsverstoßes kommt nicht in Betracht, wenn es der Beschwerdeführer ver-säumt hat, im Rahmen der ihm eingeräumten Frist zur Stellungnahme auf einen Hinweisbeschluss des Beru-fungsgerichts der nunmehr gerügten Gehörsverletzung entgegenzuwirken.2 Hierbei ist eine anwaltlich vertrete-ne Partei auch gehalten, das Berufungsgericht auf von ihm bislang nicht beachtete höchstrichterliche Recht-sprechungsgrundsätze hinzuweisen (hier: Voraussetzun-gen einer Behauptung „ins Blaue hinein“ und eines „Ausforschungsbeweises“).58 BGH, Urt. v. 05.11.2019 - XI ZR 650/18; BGH, Urt. v. 05.11.2019 -

XI ZR 11/19.59 Edelmann, BB 2020, 82.60 OLG Brandenburg, Urt. v. 13.11.2019 - 4 U 7/19 Rn. 48 f.61 LG Ravensburg, Urt. v. 18.02.2020 - 2 O 299/19 Rn. 27 ff.62 LG Ravensburg, EuGH-Vorlage v. 07.01.2020 - 2 O 315/19.

1 Im Anschluss an BGH, Beschl. v. 17.03.2016 - IX ZR 211/14.2 Im Anschluss an BGH, Beschl. v. 17.03.2016 - IX ZR 211/14.

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Mit diesem Leitsatz greift der Senat seine ständige Rechtsprechung zum Grundsatz der Subsidiarität der Nichtzulassungsbeschwerde auf. Dieser Grundsatz greift ein, wenn dem Beschwerdeführer vorgeworfen werden kann, eine dem Berufungsgericht unterlaufene Gehörs-verletzung nicht schon im Berufungsverfahren geltend gemacht zu haben, um der Gehörsverletzung entgegen-zuwirken.

Das OLG Celle hat in der angefochtenen Entscheidung die Auffassung vertreten, der Kläger habe nicht schlüs-sig dargetan, wie er zu der Einschätzung gelangt sei, dass sein Fahrzeug über eine unzulässige Abschaltein-richtung verfüge. Es fehle an jeglichen Anhaltspunkten dahin gehend, dass das Fahrzeug des Klägers eine Ab-gasmanipulation aufweise. Die im Internet abrufbare Liste der von einem Rückruf des Kraftfahrtbundesamts betroffenen Fahrzeuge führe keine Fahrzeuge der Her-stellerfirma des Fahrzeugs des Klägers auf. Letztlich habe sich der Kläger auf bloße Mutmaßungen und Spe-kulationen beschränkt. Er wolle durch das Sachverstän-digengutachten Tatsachen in Erfahrung zu bringen, durch die er in die Lage versetzt werde, sein Rücktritts-begehren schlüssig darzutun. Derartige auf einen „Aus-forschungsbeweis“ gerichtete Beweisanträge seien je-doch unzulässig.

Dem widerspricht der BGH. Das Berufungsgericht habe die Anforderungen an die Substantiierungspflicht des Klä-gers rechtsfehlerhaft überspannt und verfahrensfehler-haft den vom Kläger für die von ihm behaupteten Mängel des Fahrzeugs angetretenen Sachverständigenbeweis nicht erhoben. Damit habe es den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt, weil die Nichtberücksichtigung des Beweisangebots im Pro-zessrecht keine Stütze finde.

Der Senat benötigt dann bis zur Randnummer 15, um zu belegen, dass der Kläger zunächst alles richtig gemacht und eindeutig substantiiert und nicht „ins Blaue hinein“ vorgetragen habe und dass der Beweisantritt durch Sach-verständigenbeweis keinen „Ausforschungsbeweis“ dar-stelle. Sein Vorbringen sei ohne Weiteres plausibel. Er habe mangels eigener Sachkunde und hinreichenden Ein-blicks in die Konzeption und Funktionsweise des in sei-nem Fahrzeug eingebauten Motors einschließlich des Sys-tems zur Verringerung des Stickoxidausstoßes keine genauen Kenntnisse von dem Vorhandensein und der kon-kreten Wirkung einer Abschalteinrichtung haben können. Er habe ausreichend greifbare Anhaltspunkte vorge-bracht, auf die er letztlich seinen Vorwurf gestützt habe, sein Fahrzeug sei in zweifacher Hinsicht mit einer unzu-

lässigen Abschalteinrichtung i.S.d. Art. 5 Abs. 2 Satz 1 VO 715/2007/EG ausgestattet.

C. Kontext der Entscheidung

Die Entscheidung vermag nicht zu überzeugen. Sie beach-tet nicht die vom VI. Zivilsenat des BGH3 an eine gerichtli-che Entscheidung gestellte Forderung:

Die Aufgabe der Tatsacheninstanz besteht in der Gewin-nung einer fehlerfreien und überzeugenden und damit rich-tigen Entscheidung des Einzelfalles.

Was für die Tatsacheninstanz gilt, muss erst recht von der Revisionsinstanz beachtet werden.

Das gilt insbesondere für die Ausführungen des Senats zum Subsidiaritätsgrundsatz sowie die weitere Forderung, dass eine anwaltlich vertretene Partei in jedem Fall auch gehalten sein soll, das Berufungsgericht auf von ihm bislang nicht be-achtete höchstrichterliche Rechtsprechungsgrundsätze hin-zuweisen (hier: Voraussetzungen einer Behauptung „ins Blaue hinein“ und eines „Ausforschungsbeweises“).

Zu Recht fordert der Senat allerdings, dass eine Partei zu einem Hinweisbeschluss gem. § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO grds. Stellung nehmen muss, um einer erkennbaren Gehörsver-letzung zu begegnen.

Dieser Grundsatz gilt aber nicht uneingeschränkt. Erscheint eine Stellungnahme für die Partei nämlich sinnlos und aus-sichtslos, kann sie nicht gefordert werden. Dies hat der III. Zivilsenat des BGH4 für den Nichtgebrauch eines Rechts-mittels gegen Sachverständigengutachten in staatsanwalt-schaftlichen Ermittlungsverfahren für eine vergleichbare Fallgestaltung ausdrücklich festgestellt. Der entsprechende Leitsatz lautet:

Ein Rechtsmittel muss möglich, zumutbar und erfolgver-sprechend sein, damit sein Nichtgebrauch zu einem An-spruchsverlust führt; liegen diese Voraussetzungen aus der begründeten Sicht des Geschädigten nicht vor, so stellt sich der Nichtgebrauch des Behelfs nicht als schuld-haft dar.

Zur Begründung der Anwendbarkeit des Subsidiaritäts-grundsatzes beruft sich der VIII. Senat auf mehrere Ent-scheidungen, die teils vor dem Inkrafttreten des § 522 ZPO liegen, teils Sachverhalte betreffen, in denen tatsäch-liches Vorbringen einer Partei übergangen worden sind,5

3 BGH, Urt. v. 11.02.2020 - VI ZR 415/18.4 BGH, Urt. v. 24.10.2019 - III ZR 141/18.5 BGH, Urt. v. 17.03.2016 - IX ZR 211/14; BGH, Urt. v. 15.10.20018 - VIII

ZR 225/17; BGH, Urt. v. 28.03.2019 - IX ZR 147/18.

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Die Monatszeitschrift

und auf einen Hinweisbeschluss,6 der weder dem Kläger, noch dem Berufungsgericht im Zeitpunkt der Entschei-dung des OLG Celle vom 08.01.2019 bekannt gewesen sein dürfte.

Wie auch dieser Fall zeigt, streben Berufungsgerichte nicht selten eine rasche Erledigung des Verfahrens an und ver-zichten auf eine Beweisaufnahme und im Ergebnis auf eine richtige Entscheidung. Es ist Aufgabe eines jeden Spruch-körpers, auch des Revisionsgerichts, richtig und gerecht zu entscheiden. Nicht jede Entscheidung, die formal korrekt erscheint, ist auch richtig und gerecht. In den Entscheidun-gen anderer Senate des BGH wird darauf hingewiesen, dass das Vorbringen eines Klägers inhaltlich nach seinem Sinngehalt zu bewerten ist.7 Geschieht das nicht, sollte vom Subsidiaritätsgrundsatz zurückhaltend Gebrauch ge-macht werden und einer Partei nicht zusätzlich „gnaden-los“ verpflichtet werden, den Versuch zu unternehmen, das Gericht davon zu überzeugen, dass und warum seine Auf-fassung unzutreffend ist, um Fehler des Gerichts zu verhin-dern.8

Macht der Berufungsführer von der Möglichkeit, gem. § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO zu dem Hinweisbeschluss Stellung zu nehmen, keinen Gebrauch, kann ihm dies nur vorgewor-fen werden, wenn er eine Stellungnahme schuldhaft im Sin-ne eines Verschuldens gegen sich selbst, also vorwerfbar unterlässt.9 Das ist nur dann der Fall, wenn eine solche Stel-lungnahme von ihm ernstlich verlangt werden kann, nicht aber wenn sie z.B. lediglich in einer Wiederholung dessen bestehen könnte, was die Partei schon vorgetragen hat. Ein formelhaftes Wiederholen kann nicht verlangt werden, wenn es keine Aussicht auf Erfolg bietet und sinnlos wäre. Die nach dem Gesetz mögliche Stellungnahme unterbliebe ohne Verschulden.

Genau dies, nämlich vom anwaltlich vertretenen Kläger zu verlangen, seinen Tatsachenvortrag zu wiederholen, fordert der VIII. Zivilsenat ausdrücklich (Rn. 17), ohne die Erfolgsaussicht dieser sinnlosen Forderung zu hinterfra-gen.

Also: Wiederholen musste der Kläger sein Vorbringen nicht, weil alles in den Akten stand.

Hätte der Kläger zu dem Hinweisbeschluss des OLG Celle Stellung genommen und nur sein schlüssiges Vorbringen wiederholt, wäre der Senat des Oberlandesgerichts nur ver-pflichtet gewesen, zu neuen Argumenten oder zu bisher von ihm übergegangen Vorbringen in der abschließenden Entscheidung Stellung zu nehmen und sich mit solchen Ausführungen auseinandersetzen. Eine Pflicht, zum wieder-holten bisherigen Vorbringen des Klägers in der abschlie-ßenden Entscheidung erneut Stellung zu nehmen, hätte nicht einmal bestanden.10

Dem Kläger wird weiter vorgeworfen, dass er den Senat des OLG Celle nicht auf die höchstrichterliche Rechtspre-chung zu den Anforderungen an die Substantiierung hin-gewiesen hat. Richtig ist, dass der Anwalt einer Partei versuchen muss, Fehler des Gerichts zu verhindern. Er muss alles – einschließlich Rechtsausführungen – vor-bringen, was die Entscheidung günstig beeinflussen kann.11

Eines Hinweises auf die Rechtsprechung zur Substantiie-rung bedurfte es hier jedoch nicht, denn das OLG Celle hat im Hinweisbeschluss hinreichend deutlich gemacht, dass ihm diese Rechtsprechung, die es auch anwenden wollte, bekannt war. Lediglich bei der Anwendung dieser ständigen Rechtsprechung auf den vom Kläger vorgetra-genen Sachverhalt haperte es. Es mag sein, dass ein Hin-weis geboten sein kann, wenn das Berufungsgericht eine ständige Rechtsprechung glatt übersehen hat. Das war hier eindeutig nicht der Fall, denn der Senat wollte diese Rechtsprechung anwenden, allerdings nicht ganz korrekt.

Es gibt mehrere Senate des BGH, die für verschiedene Rechtsgebiete die Auffassung vertreten, dass die Anfor-derungen an die Substantiierungspflicht eines Klägers nicht überspannt werden dürfen. Als Beispiele sollen Hinweise auf Entscheidungen des VI. Zivilsenats genü-gen.12

• Wie weit eine Partei ihren Sachvortrag substantiieren muss, hängt von ihrem Kenntnisstand ab.13

• Die Substantiierungslast des Klägers bei Inanspruchnah-me eines Herstellers von Schließzylindern unter dem Ge-sichtspunkt der Haftung für wirkungslose Produkte darf nicht überspannt werden.14

• An die Substantiierungsanforderungen des Patienten sind im Arzthaftungsprozess lediglich maßvolle Anforde-rungen zu stellen.15

6 BGH, Beschl. v. 08.01.2019 - VIII ZR 225/17.7 BGH, Beschl. v. 21.01.2020 - VI ZR 165/19.8 Deckenbrock, NJW 2018, 1636.9 Im Anschluss an BGH, Beschl. v. 17.03.2016 - IX ZR 211/14; so auch

BGH, Urt. v. 28.06.1990 - IX ZR 209/89 - NJW-RR 1990, 1241.10 Goertz in: Baumbach/Lauterbach/Hartmann/Anders/Gehle, ZPO,

78. Aufl. 2020, § 522 Rn. 21.11 BGH, Urt. v. 28.06.1990 - IX ZR 209/89; Deckenbrock, NJW 2018, 1636,

1637.12 Bei Juris erzielen die Stichworte Substantiierung/6. Zivilsenat/ab

01.01.2016 insgesamt 41 Treffer (Stand 27.05.2020).13 BGH, Beschl. v. 15.10.20119 - VI ZR 377/18; BGH, Urt. v. 13.07.1988 -

IVa ZR 67/87.14 BGH, Beschl. v. 02.07.2019 - VI ZR 42/18.15 BGH, Beschl. v. 25.06.2019 - VI ZR 12/17, Festhalten an BGH, Beschl.

v. 01.03.2016 - VI ZR 49/15.

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• Anforderungen an die hinreichende Substantiierung des Klägervortrags zu einer Atemwegserkrankung aufgrund von Immissionen eines Beryllium verarbeitenden Be-triebs in der Nachbarschaft eines Bauhofs dürfen nicht überspannt werden.16

Die Frage der Substantiierungspflicht, wird in den letz-ten Jahren für Kläger, die mit der Materie, aus der sie ihren Anspruch herleiten, nicht vertraut sein können, wiederholt diskutiert. Wie auch die BGH-Entscheidung zeigt, war die Ansicht des Berufungsgerichts zur Subs-tantiierung nicht „willkürlich“, sondern grenzwertig, andernfalls hätte der BGH nicht Randziffer 15 benötigt, um das Vorbringen des Klägers als schlüssig zu bezeich-nen.

In einem solchen Fall kann es einem Kläger nicht gelingen, das Berufungsgericht zu überzeugen. Auch gilt, dass von einer Partei nichts Sinnloses verlangt werden darf. Ein Hin-weis auf dem Senat an sich bekannte ständige Rechtspre-chung kann nichts bewirken. Das Berufungsgericht hätte auf einen entsprechenden Hinweis des Klägers seine Mei-nung nicht geändert.

D. Auswirkungen für die Praxis

Die Folgen der BGH-Entscheidung sollten ebenfalls bedacht werden:

Der Kläger hat den Prozess verloren und muss die Kosten für drei Instanzen tragen.

Nun kann er versuchen, bei seinem Anwalt mit der vom BGH gegebenen Begründung Regress zu nehmen.

Das beginnt mit einer Klage beim Landgericht und würde dann in der zweiten Instanz erneut beim OLG Celle an-hängig. Der neue Senat stellt möglicherweise – wie in diesem Beitrag ausgeführt – geringere Anforderungen an die Pflichten eines Anwalts bezüglich der Stellungnahme zu einem Hinweisbeschluss insbesondere bezüglich der Pflicht, auf die nicht beachtete höchstrichterliche Recht-sprechung hinzuweisen. Nur wenn er alle diese Pflichten des nun beklagten Anwalts genauso sieht, wie der VIII. Zivilsenat wird er dem beklagten Anwalt ein Verschulden vorwerfen und müsste dann in die Beweisaufnahme ein-treten, um erstmals Feststellungen zu der Frage treffen zu können, ob das Fahrzeug des Klägers eine Abschalt-vorrichtung aufweist.

Gelingt dem Kläger in dem neuen Verfahren der Nach-weis einer Abgasmanipulation nicht, hat er die Ent-scheidung über sein vermeintliches Recht mit den Kos-ten für fünf Instanzen bezahlt, obwohl er im ersten Durchgang in der zweiten Instanz (fast) alles richtigge-

macht hatte und er ohne den Fehler des 7. Zivilsenats des OLG Celle zwar den Prozess nach einer vor diesem Senat durchgeführten Beweisaufnahme wohl ebenfalls verloren hätte, aber mit deutlich weniger Kosten belas-tet worden wäre.

Geht die Beweisaufnahme allerdings zu seinen Gunsten aus, zahlt sein früherer Prozessbevollmächtigter – bzw. des-sen Versicherer – sowohl den zunächst vom Hersteller ge-forderten Schadensersatz, als auch die gesamten Prozess-kosten.

Nach der Lebenserfahrung wird der neue Senat aber eine Beweisaufnahme vermeiden wollen. Er wird vermutlich das Verschulden des Anwalts verneinen und die Klage ohne Be-weisaufnahme abweisen.

Dann hat der Kläger in fünf Instanzen verloren. Vielleicht waren alle Entscheidungen formal richtig, gerecht aus-gegangen wäre der Rechtsstreit ohne Beweisaufnahme nicht.

16 BGH, Beschl. v. 26.03.2019 - VI ZR 163/17.

Die Gedanken sind frei: Online-Bewertung nach ausgewählten Beiträgen ist zulässigBGH, Urt. v. 14.01.2020 - VI ZR 496/18

W. a. RiAG PD Dr. Gunter Deppenkemper, LL.M LL.M

A. Problemstellung

Kundenbewertungen in Online-Shops sind verbreitetet und ein wirkungsmächtiges Werbemittel zur Förderung des eigenen Absatzes. Gerade der Anschein der Authen-tizität und Objektivität erweckt Vertrauen. Darum wird der Kunde durch § 5 UWG vor Irreführung geschützt, was zugleich den Mitbewerber vor Wettbewerbsverzer-rungen schützt. Ein Online-Shop darf daher nicht mit überholten1 oder gekauften2 oder „garantiert echten Meinungen“ werben, wenn die negativen Meinungsäu-

1 OLG Frankfurt, Urt. v. 14.06.2018 - 6 U 23/17.2 OLG Frankfurt, Urt. v. 16.05.2019 - 6 U 14/19; LG Stuttgart, Beschl. v.

06.08.2014 - 37 O 34/14 KfH.

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ßerungen vorab herausgefiltert gefiltert werden.3 Wie ist es aber, wenn ein Betreiber eines Bewertungsportals4 zwar im Ergebnis alle Bewertungen veröffentlicht, aber diese vorher automatisiert nach bestimmten Kriterien filtert und auf dieser Basis ein ins Auge springendes Durchschnittsergebnis darstellt? Verlässt der Portalbe-treiber dann seine „neutrale“ Stellung als Informations-mittler,5 sodass das bewertete Unternehmen gegen ihn einen Unterlassungsanspruch hat? Oder erfüllt ein Be-wertungsportal gerade dann seine gesellschaftlich er-wünschte Funktion, wenn es durch einen Filter gekaufte oder sonst wie beeinflusste Online-Bewertungen zu eli-minieren sucht, um Wettbewerbsverzerrungen zu verhin-dern?

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

I. Die Beklagte, eine Gesellschaft mit Sitz in Irland, er-stellt nicht selbst Kundenbewertungen, sondern stellt im Internet unter www.yelp.de ein Bewertungsportal be-reit.6 Nutzer können hier Unternehmen durch die Verga-be von einem bis zu fünf Sternen bewerten. Die Beklagte spaltete diese Bewertungen mittels einer Software auto-matisiert in „empfohlene“ und „nicht empfohlene“ Bei-träge auf. Die Anzahl der im Durchschnitt vergebenen Sterne, die einem Nutzer nach Aufruf des Unternehmens angezeigt wird, errechnete sie dann nur anhand der als „empfohlenen“ kategorisierten Nutzerbeiträge. Auch wurden zunächst nur diese angezeigt. Erst am Ende de-ren Wiedergabe ist ersichtlich, dass eine bestimmte An-zahl von Beiträge nicht empfohlen wurde. Nach Ankli-cken der daneben befindlichen Schaltfläche wurde erläutert, was empfohlene Beiträge sind, um wie viel Beiträge es sich handelt und ihr Inhalt nebst Sternebe-wertung wiedergegeben.

Die Klägerin betrieb ein Fitnessstudio in Deutschland. Zu diesem Fitnessstudio zeigte das Bewertungsportal auf-grund eines aktuellen empfohlenen Beitrags drei Sterne. 24 ältere Beiträge mit überwiegend positiven Bewertun-gen wurden bei der Sternebewertung nicht berücksich-tigt, weil sie als momentan nicht empfohlen eingeordnet wurden, was angezeigt wurde. Die Klägerin war der Mei-nung, die Beklagte habe den unzutreffenden Eindruck erweckt, der Bewertungsdurchschnitt aller Beiträge sei angezeigt worden. Die Unterscheidung zwischen den Bei-trägen sei willkürlich, wodurch ein verzerrtes Gesamtbild entstehe. Dadurch seien Neukunden nicht akquiriert wor-den. Nachdem das LG München die Klage abgewiesen hatte, verurteilte das OLG München7 die Beklagte es zu unterlassen, eine Gesamtbewertung auszuweisen, in die „momentan nicht empfohlene“ Beiträge nicht eingerech-net werden.

II. Die Revision hatte Erfolg.

1. Nach sorgfältiger Begründung der internationalen Zu-ständigkeit (Rn. 9 – 14) und der Anwendbarkeit deutschen Rechts (Rn. 17 – 24) lehnt der BGH einen Unterlassungs-anspruch aus § 824 Abs. 1 BGB (i.V.m. § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB analog) ab, da die Beklagte durch die Bewer-tungsdarstellung nicht der Wahrheit zuwider eine Tatsa-che behauptet oder verbreitet habe (Rn. 26). Nach dem maßgeblichen Sinnzusammenhang (Rn. 28) äußere sie nicht, dass es sich bei dem angezeigten Bewertungs-durchschnitt um das Ergebnis der Auswertung aller für das Fitnessstudio abgegebenen Beiträge handele und dass der danebenstehende Text deren Anzahl wiedergebe. Der unvoreingenommene und verständige Nutzer schlie-ße aus den vorhandenen Angaben, dass Grundlage für die Durchschnittsberechnung ausschließlich der „empfohle-ne“ Beitrag ist und dass sich die Angabe der Anzahl nur darauf bezieht.

2. Auch verletzte die Bewertungsdarstellung nicht das Unternehmenspersönlichkeitsrecht der Klägerin und greife nicht rechtswidrig in ihr Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb ein (§ 823 Abs. 1 BGB). Zwar sei der jeweilige Schutzbereich berührt, da die An-zeige des Bewertungsdurchschnitts geeignet war, sich auf das unternehmerische Ansehen der Klägerin auszu-wirken (Rn. 41). Die Bewertungsdarstellung sei jedoch nicht rechtswidrig gewesen, da das Interesse der Kläge-rin nicht die schutzwürdigen Belange der Beklagten überwiege (Rn. 44). Die Anzeige des Bewertungsdurch-schnitts sei von Schutzbereichen der Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, Art. 10 Abs. 1 Satz 1 EMRK und des Art. 12 Abs. 1 GG erfasst. Der Betrieb eines Bewertungsportals erfülle eine gebilligte und gesellschaftlich erwünschte Funktion (Rn. 46). Das gelte auch für eine Kontrolle und Bewer-tung von Nutzerbeiträgen durch den Betreiber eines Be-wertungsportals zum Zweck, dessen Funktionsfähigkeit zu schützen und zu unterstützen (Rn. 47), wobei die Ein-ordnung eines Beitrags als „empfohlen“ oder „nicht

3 BGH, Urt. v. 21.01.2016 - I ZR 252/14 Rn. 38.4 Zu Bewertungsportalen bereits BGH, Urt. v. 04.04.2017 - VI ZR 123/16 -

„klinikbewertungen.de“; BGH, Urt. v. 19.03.2015 - I ZR 94/13 - „Ho-telbewertungsportal“; BGH, Urt. v. 23.06.2009 - VI ZR 196/08 - „spick-mich.de“; BGH, Urt. v. 01.07.2014 - VI ZR 345/13 - „Ärztebewertung I“; BGH, Urt. v. 23.09.2014 - VI ZR 358/13 - „Ärztebewertung II“; BGH, Urt. v. 01.03.2016 - VI ZR 34/15 - „jameda II“.

5 Dazu BGH, Urt. v. 20.02.2018 - VI ZR 30/17 - „jameda.de III, Ärztebe-wertung III“.

6 Vgl. bereits KG, Urt. v. 10.12.2015 - 10 U 26/15, MMR 2016, 352 mit Anmerkung Plog/Zimprich, 353; OLG Hamburg, Urt. v. 10.11.2015 - 7 U 18/15.

7 OLG München, Urt. v. 13.11.2018 - 18 U 1282/16 Pre.

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empfohlen“ eine nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, Art. 10 Abs. 1 Satz 1 EMRK geschützte Meinungsäußerung sei (Rn. 48), mit der ausschließlich ein Werturteil geäußert werde (Rn. 49). „Jeder soll frei sagen können, was er denkt, auch wenn er keine nachprüfbaren Gründe für sein Urteil angibt“ (Rn. 50). Eine dadurch zum Ausdruck kommende Kritik müsse die Klägerin als Gewerbetrei-bende grds. hinnehmen (Rn. 52).

C. Kontext der Entscheidung

Fast zeitgleich hat der BGH8 zu Bewertungen bei Ama-zon entschieden, dass den Anbietern eines Produkts für dessen Bewertungen durch Kunden grds. keine wettbe-werbsrechtliche Haftung treffe, selbst wenn die Äuße-rungen irreführend sind. Auch seien sie nicht verpflich-tet, solche Äußerungen zu verhindern, wobei von ausschlaggebender Bedeutung sei, dass Kundenbewer-tungssysteme auf Online-Marktplätzen gesellschaftlich erwünscht seien und verfassungsrechtlichen Schutz ge-nössen.

D. Auswirkungen für die Praxis/Bewertung

Im Internethandel ist eine gute Bewertung und Platzierung des eigenen Produkts in den Suchergebnissen entschei-dend. „Schwarze Schafe“ wissen das und manipulieren be-wusst mit gekauften Reviews. Mit seiner mit zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen angereicherten Begründung stärkt der BGH Ansätze, mithilfe automatisiert arbeitender Algorithmen eine Sortierung und Selektion nach Relevanz vorzunehmen. Die Idee ist zu begrüßen. Die Vorstellung, der Nutzer werde nach mehreren Klicks die Selektion erkennen, ist zwar realitätsfern, entspricht aber dem Bild des selbst-bestimmten, mündlichen Bürgers. Problematisch bleibt, dass die Algorithmen nicht nachvollziehbar sind. Der mün-dige Bürger sollte sich daher auch stets bewusst sein, dass eine „Empfehlung“ kein Wahrheitsbeweis und auch eine bewusste Beeinflussung durch ein selektiv auswählendes Bewertungsportal nicht undenkbar ist.

Sozialrecht

A. Einleitung

Begonnen hat das Gesetzgebungsverfahren zum Sozial-schutz-Paket II mit einem Referentenentwurf der Bun-desregierung zu einem Gesetz zur Sicherung der Funk-tionsfähigkeit der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit während der COVID-19-Epidemie sowie zur Änderung weiterer Gesetze (COVID-19 ArbGG/SGG-AnpassungsG) vom 09.04.2020.1 Dieser sah schwerpunktmäßig2 durch die Einfügung von § 114 ArbGG und § 211 SGG Anpas-sungen im Prozessrecht vor, um die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege im Bereich der Arbeits- und Sozialge-richtbarkeit während der Pandemie sicherzustellen. Neben dem verstärkten Einsatz der Videotechnik in der

mündlichen Verhandlung sollten die Gerichte abwei-chend von § 169 Abs. 1 GVG die Öffentlichkeit ausschlie-ßen dürfen, wenn der Gesundheitsschutz anders nicht zu gewährleisten wäre, das Sozialgericht ferner einen Ge-richtsbescheid nach § 105 SGG auch dann erlassen, wenn die Sache besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweise, sowie das Landessozialge-

Das Gesetz zu sozialen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie (Sozialschutz-Paket II)

VRiLSG Leandro Valgolio

8 BGH, Urt. v. 20.02.2020 - I ZR 193/18.

1 https://efarbeitsrecht.net/wp-content/uploads/2020/04/ArbGG-Anpas-sungsgesetz_9April.pdf (zuletzt abgerufen am 03.06.2020).

2 Nebenbei in einem neuen § 25a KSchG auch eine Verlängerung der Klagefrist in Kündigungsschutzverfahren (§ 4 Satz 1 KSchG) von drei auf fünf Wochen (Art. 3 des Referentenentwurfes).

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richt nach § 153 Abs. 4 SGG durch Beschluss unter Betei-ligung der ehrenamtlichen Richter der Berufung auch stattgeben.

Aus welchen Gründen die Bundesregierung den drin-genden Anpassungsbedarf durch den zusätzlichen Ein-satz von Ton- und Videokonferenz nur in der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit gesehen hat und nicht in der gesamten Rechtspflege, zudem schon damals absehbar die Verwaltungsgerichte eher mit zunehmenden pande-miebedingten Rechtsgesuchen belastet würden, bzw. warum sie die aus ihrer Sicht in den anderen Verfah-rensordnungen bewährten Normen und Mechanismen nicht einfach auf die Arbeits- und Sozialgerichtsbar-keit übertragen hat, ist der Begründung nicht zu ent-nehmen. Jedenfalls ist der Referentenentwurf vom 09.04.2020 unabhängig von dieser Insellösung in der Fachöffentlichkeit kritisch bis ablehnend aufgenom-men, bei den Richterverbänden kontrovers gewürdigt worden.3

Der Referentenentwurf ist in abgespeckter Form4 und er-gänzt um neue Regelungen im Sozialleistungsrecht in den Entwurf eines Gesetzes zu sozialen Maßnahmen zur Be-kämpfung der Corona-Pandemie (Sozialschutz-Paket II) vom 05.05.20205 eingeflossen. Der weitere parlamentari-sche Werdegang gestaltet sich äußerst rapide: Der Aus-schuss für Arbeit und Soziales (11. Ausschluss) hat eine Anhörung von Sachverständigen durchgeführt und in sei-nem Bericht vom 13.05.20206 einige Änderungen vorge-schlagen. Das Sozialschutz-Paket II ist dann am 14.05.2020 vom Bundestag, am 15.05.2020 vom Bundesrat verab-schiedet worden, trägt das Datum vom 20.05.2020 und ist in seinen wesentlichen Teilen am 29.05.2020 in Kraft getreten.7

B. Änderungen des Dritten Buches Sozialgesetzbuch (Art. 1)

Das (erste) Sozialschutz-Paket vom 27.03.20208 hatte mit § 421c SGB III eine für systemrelevante Branchen und Berufe bis zum 31.10.2020 befristete Regelung für das Kurzarbeitergeld eingeführt, wonach abweichend von § 106 Abs. 3 SGB III bei der Berechnung des sog. Ist-Entgelts (§ 106 Abs. 1 Satz 3 SGB III) das während des Leistungsbezuges aus einer anderen Beschäftigung er-zielte Arbeitsentgelt nur teilweise anzurechnen ist.9 Mit dem Teilverzicht auf die Anrechnung von Kurzarbeiter-geld wollte der Gesetzgeber einen Anreiz schaffen, auf freiwilliger Basis vorübergehend Tätigkeiten in system-relevanten Bereichen aufzunehmen.10 Das Sozialschutz-Paket II hat nunmehr in § 421c Abs. 1 SGB III die Begünstigung des Hinzuverdienstes aus einer Nebenbe-

schäftigung bis zur vollen Höhe des bisherigen Monats-einkommens auf alle Beschäftigungen ausgedehnt und die Regelung insgesamt bis 31.12.2020 verlängert.11

Im neuen Abs. 2 des § 421c SGB III12 wird das Kurzarbei-tergeld abweichend von § 105 SGB III individuell auf 70/77 % ab dem vierten Bezugsmonat und auf 80/87 % ab dem siebten Monat aufgestockt, wenn der Ausfall im jeweiligen Bezugsmonat mehr als 50 % beträgt. Refe-renzmonat für die Berechnung der Dauer des Bezuges des Kurzarbeitergeldes ist der März 2020. Mit der ge-staffelten Erhöhung wird berücksichtigt, dass im Zuge der COVID-19-Pandemie viele Unternehmen ihren Be-trieb ganz eingestellt haben und – anders als in der Fi-nanzkrise 2008/2009 – die Arbeitnehmer einen vollstän-digen Entgeltausfall erleiden.13 Nicht berücksichtigt wurde aber, dass in diversen Branchen (z.B. Metall- und Chemische Industrie) die Tarifvertragsparteien bzw. in anderen Bereichen durch Betriebsvereinbarungen die Arbeitgeber bereits Regelungen zugestimmt hatten, das Kurzarbeitergeld bis zu 80 % der Nettovergütung aufzu-stocken. Einen Systembruch enthält § 421c Abs. 2 SGB III auch deshalb, weil die Bezugsdauer arbeitnehmerbezo-gen berechnet werden muss, während das Kurzarbeiter-geld ansonsten betriebsbezogen bestimmt wird (§ 104 Abs. 1 Satz 2 SGB III), was ein höheres Risiko für die Arbeitgeber bedeutet, die in Vorleistung treten und so-mit für eine zeit- und ordnungsgemäße Leistungsberech-nung verantwortlich sind.14

3 Ablehnend Bundesfachausschuss Richter/innen und Staatsanwälte/innen in ver.di (https://bund-laender.verdi.de/fachgruppen/justiz/++co++c1d33bd6-861d-11ea-b205-001a4a160119) und Neue Rich-tervereinigung (www.neuerichter.de/fileadmin/user_upload/fg_so-zialrecht/. 2020_04_Stellungnahme_NRV_FG_ArbR_Covid-19_AZV.pdf), grds. zustimmend der Richterbund (www.drb.de/positionen/stellungnahmen/stellungnahme/news/320-1/) (zuletzt abgerufen am 03.06.2020).

4 Ersatzlos gestrichen wurden die Möglichkeit zum Ausschluss der Öffentlichkeit in der mündlichen Verhandlung, die abweichenden Entscheidungsalternativen nach § 105 und § 153 Abs. 4 SGG, die verlängerte Klagefrist bei Kündigungsschutzklagen, die Vereidi-gung von ehrenamtlichen Richtern in schriftlicher Form an Eides statt.

5 BT-Drs. 19/18966.6 BT-Drs. 19/19204.7 BGBl. I, 1041.8 BGBl. I, 575.9 Ausführlich zum Sozialschutz-Paket I vom 27.03.2020: Voelzke, jM

2020, 235 – 240.10 BT-Drs. 19/18107, S. 3.11 Art. 1 Nr. 2a).12 Art. 1 Nr. 2b).13 BT-Drs. 19/18966, S. 29.14 § 328 Abs. 3 Satz 2, 2. Halbsatz SGB III.

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§ 421d SGB III sieht eine einmalige Verlängerung des An-spruchs auf Arbeitslosengeld um drei weitere Monate vor, wenn sich dieser in der Zeit vom 01.05.2020 bis zum 31.12.2020 auf einen Tag gemindert hat.15 Nur dann, wenn die Anspruchsdauer nach § 148 Abs. 1 Nr. 1 bis 8 SGB III mit dem letzten Leistungstag in dieser Zeitspanne erschöpft ist und die allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen nach § 137 Abs. 1 SGB III erfüllt sind, wird im Anschluss daran die zusätzliche Anspruchsdauer von 90 Tagen (§ 154 SGB III) gutgeschrieben. Die Regelung trägt dem Umstand Rech-nung, dass infolge der wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie die Möglichkeiten und Chancen, eine neue Beschäftigung zu finden und aufzunehmen, erheblich eingeschränkt sind.16

C. Änderungen des Arbeitsgerichtsgesetzes und des Sozialgerichtsgesetzes (Art. 2 und 4)

Das Sozialschutz-Paket II hat im Wesentlichen wort- und immer sinngleich § 114 ArbGG und § 211 SGG zum Zwe-cke des Infektionsschutzes bei epidemischen Lagen von nationaler Tragweite nach § 5 Abs. 1 Satz 1 des Infek-tionsschutzgesetzes neu eingefügt, weil die bestehen-den Regelungen in beiden Prozessordnungen für das Er-fordernis eines umfassenden Gesundheitsschutzes der beteiligten Personen nicht ausreichend sind.17 Dieser Gefahr soll durch einen verstärkten Einsatz von Video-technik ohne physische Anwesenheit der jeweiligen Ak-teure in der mündlichen Verhandlung bei Gericht abge-holfen werden. Die Geltungsdauer beider Vorschriften ist bis zum 31.12.2020 befristet.18

I. Gem. § 114 Abs. 1 ArbGG sowie § 211 Abs. 1 SGG kann das Gericht einem ehrenamtlichen Richter19 von Amts we-gen gestatten, an der mündlichen Verhandlung von einem anderen Ort aus teilzunehmen, wenn es für ihn aufgrund der epidemischen Lage unzumutbar ist, persönlich an der Gerichtsstelle zu erscheinen (Satz 1). Die Verhandlung wird zeitgleich in Bild und Ton an den anderen Ort und in den Sitzungssaal übertragen, wobei die Übertragung nicht auf-gezeichnet wird (Satz 2 und 3). Als unzumutbar wird das persönliche Erscheinen bei der Gerichtsstelle angesehen, wenn z.B. die Infektionsgefahr bei Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel besonders groß ist oder die Teilnahme mit einer längeren Anreise verbunden ist, wie etwa beim BSG, bei dem i.d.R. die ehrenamtlichen Richter am Vortage der Sitzung anreisen und in der aktuellen Krisensituation Ho-tels geschlossen oder Hotelzimmer nicht mehr verfügbar sind.20

Diese Neuregelung verdient Kritik. Das Gerichtsverfahren ist gem. § 169 Abs. 1 Satz 1 GVG von den Prinzipien der Öffentlichkeit, Unmittelbarkeit und Mündlichkeit geprägt.

Der Grundsatz der Transparenz und Unmittelbarkeit als wesentliches Strukturprinzip des Gerichtsverfahrens ist verfassungsrechtlich abgesichert.21 Ein Abtrennen des Spruchkörpers in der mündlichen Verhandlung von haupt-amtlichen Richtern im Gerichtssaal und zugeschaltet eh-renamtlichen Richtern an einem anderen Ort genügt die-sen Anforderungen nicht und degradiert schon vom normativen Ansatz her die ehrenamtlichen Richterkolle-gen zu Richtern 2. Klasse. Ihnen wird z.B. die Möglichkeit genommen, Einsicht in Akten und Dokumente zu nehmen. Sie werden ferner von der Interaktion im Gerichtssaal, die Körpersprache, Zwischentöne, Mimik, persönlichkeitsbe-zogene Reaktionen und situationsbedingtes Zusammen-wirken der Beteiligten umfasst und eine unmittelbare Prä-senz vor Ort erfordert, ausgeschlossen. Die persönliche Teilnahme der ehrenamtlichen Richter an der mündlichen Verhandlung ist genauso unverzichtbar wie die der Be-rufsrichter, weil sonst das Wesentliche am ehrenamtlichen Element, welches die Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit bereichert, keinen Eingang mehr in das Verhandlungsge-schehen finden würde.

II. Die Beteiligung von ehrenamtlichen Richtern mittels Bild- und Tonübertragung wird gem. § 114 Abs. 2 ArbGG bzw. § 211 Abs. 2 SGG auch auf die Beratung, Abstimmung und Verkündung der Entscheidung erstreckt, insbesondere wenn eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung er-geht (Satz 1 und 2). Durch geeignete und zu protokollieren-de Maßnahmen ist die Wahrung des Beratungsgeheimnis-ses sicherzustellen (Satz 3).

Abgesehen von den oben geschilderten Einwänden, die im Hinblick auf § 193 Abs. 1 GVG erst recht für die Bera-tung und Abstimmung des Gerichts gelten,22 geht diese Regelung völlig ins Leere. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass die 219 Gerichte der Arbeits- und Sozialgerichts-barkeit über die notwendige Hardware und ausreichende Internetkapazitäten für die Durchführung von mündlichen Verhandlungen mittels Videokonferenzen verfügen.23 Die Sachverständigenanhörung hat aber gezeigt, dass diese technischen Voraussetzungen bei den meisten Gerichten nicht gegeben sind.24 Der Bundesrat hat in seiner Ent-

15 Art. 1 Nr. 3.16 BT-Drs. 19/18966, S. 29.17 BT-Drs. 19/18966, S. 2.18 Art. 3 für § 114 ArbGG und Art. 5 für § 211 SGG i.V.m. Art. 20 Abs. 3.19 Die ehrenamtlichen Richterinnen sind in der pandemiebedingten Eile

vom Gesetzgeber übersehen worden.20 BT-Drs. 19/18966, S. 31 zu Art. 4 Abs. 1.21 BVerfG, Beschl. v. 27.11.2018 - 1 BvR 957/18.22 BAG, Urt. v. 26.03.2015 - 2 AZR 417/14.23 BT-Drs. 19/18966, S. 28.24 BT-Drs. 19(11)655, S. 42.

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schließung vom 15.05.2020 diese Defizite ebenfalls her-vorgehoben und die ausgebliebene Abstimmung mit den Ländern gerügt25 Selbst das BSG verfügt nur über eine Internet-Bandbreite von zehn Mbit, die schon durch die verstärkte Heimarbeit infolge der Pandemie an ihre Gren-zen stößt und einer störungsfreien zusätzlichen Nutzung von Videokonferenzen entgegensteht.26 Hinzu kommen datenschutzrechtliche Bedenken, weil Veröffentlichungen des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstech-nik eine extern gehostete (kostenfreie) Lösung über Mes-senger-Dienste auf Arbeitsplatzrechnern verbietet, sodass eine Videokonferenz zurzeit nicht einmal unter Berufsrich-tern möglich ist.27 Nicht vermittelt ist die Vorstellung des Gesetzgebers, wie er das Home-Office der ehrenamtlichen Richter ausstatten will und muss, damit das Beratungsge-heimnis und das Aufzeichnungsverbot sichergestellt wer-den können.

III. Das Gericht soll ferner Parteien und Beteiligten, ihren Bevollmächtigten und Beiständen sowie Zeugen von Amts wegen gestatten, sich während einer mündlichen Ver-handlung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort im Wege der zeitgleichen Bild- und Tonübertragung Verfah-renshandlungen vorzunehmen (§ 114 Abs. 3 ArbGG, § 212 Abs. 2 SGG). Die Soll-Vorschrift gilt auch für den Fall, dass ein entsprechender Antrag bei den Arbeitsgerichten nach § 128a ZPO bzw. bei den Sozialgerichten nach § 110a SGG gestellt wird. Die Umwandlung der Kann-Vorschrift, wie dies noch im Referentenentwurf vom 09.04.2020 vor-gesehen war, in eine Sollvorschrift, begründet der Gesetz-geber mit dem Erfordernis, die Nutzung der Videotechnik zu fördern.28

Die Umsetzung dieser Vorschrift scheitert bereits an der fehlenden technischen und räumlichen Ausstattung der Gerichte, wie die bisherige Bedeutungslosigkeit der seit 2013 bestehenden Möglichkeit eines virtuellen Gerichts nach § 128a ZPO bzw. § 110a SGG zeigt. Ein echtes Be-dürfnis, daran wegen der COVID-19-Pandemie etwas zu ändern, besteht in der richterlichen Praxis nicht. Erst recht kann das Argument des Gesetzgebers, man wolle dadurch die Nutzung der Videotechnik fördern, nicht greifen, weil der Hauptzweck der pandemiebedingten Übergangsregelungen der Gesundheits- und Infektions-schutz ist. Es ist geradezu unproduktiv, die Gerichte, die in dieser Krisensituation personell und logistisch er-schwerten Arbeitsbedingungen ausgesetzt sind, mit zu-sätzlichen Aufgaben bezüglich des Einsatzes der Video-technik zu belasten. Zu befürchten ist vielmehr, dass durch die Soll-Vorschrift die Gerichte mit (wenig zielfüh-renden) Anträgen nach § 114 Abs. 3 ArbGG und § 211 Abs. 3 SGG konfrontiert werden, was zu einer zusätzli-chen Verzögerung des Verfahrensablaufes oder sogar zu

Vertagungen von Verhandlungsterminen führen kann, was kaum den Interessen des wirksamen Schutzes so-zialer Rechte dient.

IV. Im Gesetzentwurf des Sozialschutz-Pakets II war in § 114 Abs. 4 und § 211 Abs. 4 SGG vorgesehen, dass das BAG bzw. das BSG auch ohne Zustimmung der Parteien und Beteiligten eine Entscheidung ohne mündliche Ver-handlung treffen könnten, wenn in zweiter Instanz die Berufung zurückgewiesen worden war.29 Begründet wur-de dieser Vorschlag damit, dass in der Revisionsinstanz die mündliche Verhandlung nicht so wichtig sei, weil der Sachverhalt bereits aufgeklärt sei und allein Rechtsan-sichten ausgetauscht würden.30 Der Ausschuss für Arbeit und Soziales hat jeweils den Absatz 4 gestrichen, weil beim BAG und beim BSG genügend Räumlichkeiten zur Verfügung stünden, um mündliche Verhandlungen unter angemessener Beachtung des Gesundheitsschut-zes durchzuführen.31 Die Begründung ist verwunderlich, nachdem beide Präsidenten diese Option unter Verwer-fung von Bedenken nach Art. 6 EMRK befürwortet hat-ten.32

D. Änderungen des Sozialdienstleister-Einsatz- gesetzes (Art. 6)

Mit dem Gesetz über den Einsatz der Einrichtungen und sozialen Dienste zur Bekämpfung der Coronavirus-SARS-CoV-2-Krise in Verbindung mit einem Sicherstellungsauf-trag (Sozialdienstleister-Einsatzgesetz – SodEG) vom 27.03.202033 werden die sozialen Dienstleister in Deutschland im Rahmen ihrer Aufgaben von den jeweils zuständigen Leistungsträgern aufgefordert, mit ihnen abgestimmte konkrete Beiträge zur Bewältigung der Auswirkungen der Coronavirus SARS-CoV-2 Krise zu identifizieren und, soweit sie geeignet, zumutbar und rechtlich zulässig sind, auch umzusetzen. Die Leistungs-träger sollen dafür den Bestand der sozialen Dienstleis-ter durch Gewährung von Zuschüssen sicherstellen. Vor-aussetzung hierfür ist, dass die sozialen Dienstleister erklären, alle ihnen nach den Umständen zumutbaren und rechtlich zulässigen Möglichkeiten auszuschöpfen,

25 BR-Drs. 245/20.26 BT-Drs. 19(11)655, S. 75.27 BT-Drs. 19(11)655, S. 75.28 BT-Drs. 19/18966, S. 30 zu Art. 2 Abs. 3.29 BT-Drs. 19/18966, S. 10f.30 BT-Drs. 19/18966, S. 31 und 32.31 BT-Drs. 19/19204, S. 29 zu Nr. 1 und 2.32 BT-Drs. 19(11)655, S. 42.33 Art. 10 Sozialschutz-Paket vom 27.03.2020, BGBl. I, 578.

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um zur Bewältigung der Auswirkungen der Pandemie beizutragen. Die sozialen Dienstleister stellen Arbeits-kräfte, Räumlichkeiten und Sachmittel zur Verfügung, die hierfür geeignet und einsetzbar sind, insbesondere in der Pflege, und in sonstigen gesellschaftlichen und so-zialen Bereichen (z.B. die Unterstützung bei Einkäufen, Begleitung bei Arztbesuchen, telefonische Beratung in Alltagsangelegenheiten). Durch den Sicherstellungsauf-trag wird eine Rechtsgrundlage geschaffen, durch wel-che die Leistungsträger weiterhin an die sozialen Dienst-leister zahlen können, und zwar unabhängig davon, ob diese ihre bisherige Leistung tatsächlich ausführen oder nicht. Die Wirkung des SodEG ist, dass Haushaltsmittel nicht für die Erbringung von Leistungen, sondern auch für die Sicherstellung der Existenz der Dienstleister er-bracht werden.34

Das Sozialschutz-Paket II hat im SodEG Änderungsbe-darfe umgesetzt, die sich zwischenzeitlich ergeben ha-ben.35 Das betrifft die interdisziplinäre Früherkennung und Frühförderung (§§ 2, 3 und § 9), weil ansonsten Leistungen nach dem SGB V ausgeschlossen sind, die Er-gänzung der Aufzählung von vorrangigen Mitteln im Rahmen des Erstattungsanspruchs (§ 4), eine daten-schutzrechtliche Grundlage zur Erhebung und Übermitt-lung von personenbezogenen Daten an öffentliche Stel-len (§ 6) sowie eine Evaluation und Berichtspflicht bis zum 31.12.2021 (§ 8). Auf diesen neuen Aufgabenkreis nach dem SodEG ist die durch Art. 16 des Sozialschutz-Pakets II bewirkte Ergänzung des § 71 Abs. 1 Satz 1 Nr. 15 SGB X zurückzuführen.36

§ 7 SodEG regelt neu den Rechtsweg für Streitigkeiten nach diesem Gesetz. Zuständig sind die Gerichte der So-zialgerichtsbarkeit, soweit dies auch bei Streitigkeiten zwischen dem sozialen Dienstleister und dem Leistungs-träger über das zugrunde liegende Rechtsverhältnis nach § 2 Satz 2 SodEG der Fall wäre (Abs. 1). Diese Zuständig-keit erfasst auch Verfahren, die bereits vor den Verwal-tungsgerichten anhängig gemacht wurden, die insoweit auf die Sozialgerichte zu übertragen sind (§ 7 Abs. 2 Satz 1). Evtl. bei Sozialgerichten anhängige Verfahren, für die nach § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO der Verwaltungsrechts-weg gegeben ist, gehen in dem Stadium, in dem sie sich befinden, auf die Gerichte der Verwaltungsgerichtsbar-keit über (§ 7 Abs. 2 Satz 2). Der gespaltene Rechtsweg ist zurecht kritisiert worden.37 Die Gerichte werden näm-lich bereits bei der Prüfung der Zuständigkeit sehr kom-plizierte materiell-rechtliche Fragen über Vertragsver-hältnisse und Erstattungsansprüche prüfen müssen, die eine zügige Zuordnung erschweren werden. Sinnvoller wäre gewesen die einheitliche Zuweisung dieser Rechts-streite zur Sozialgerichtsbarkeit, die für die meisten Pro-

zesse zuständig sein wird. Hier wiederholt sich aber das Dilemma, dass (unvernüftigerweise) Leistungen der Kin-der- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII immer noch bei der Verwaltungsgerichtsbarkeit verortet sind, obwohl sie untrennbar mit dem Sozialhilferecht verbunden sind38 und im Rahmen von Rehabilitationsleistungen nach § 14 SGB IX je von den Sozialgerichten mitentschieden wer-den müssen.39

E. Änderungen des Tarifvertragsgesetzes, des Min-destlohngesetzes und des Heimarbeitsgesetzes (Art. 8, 9 und 10)

Durch Ergänzung des § 5 Abs. 2 TVG, § 10 Abs. 4 Satz 1 MindestlohnG und § 4 Abs. 3 HeimarbeitsG wird ermög-licht, dass die zu treffenden Beschlüsse über die Allge-meinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen, der Mindestlohnkommission sowie der Heimarbeitsaus-schüsse keine physische Teilnahme ihrer Mitglieder an einem Termin erfordern, die mit erheblichen Anreise-schwierigkeiten verbunden sein kann. Abhilfe wird durch die Möglichkeit der Zuschaltung mittels Video- oder Telefonkonferenz geschaffen.40

F. Änderungen des Asylbewerberleistungsgesetzes, des Bundesversorgungsgesetzes, des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch sowie des Bundeskindergeldgesetzes (Art. 7, 12, 13, 17 und Art. 18)

Die Schließung von Schulen, Kindertagesstätten und der Kindertagespflege hat zum Wegfall der gemeinschaftli-chen Mittagsverpflegung geführt, die sich besonders für Kinder und Jugendliche, die über das sog. Bildungspaket diese Leistung erhielten, sehr nachteilig auswirkt. Mit dem Verzicht auf das Merkmal der Gemeinschaftlichkeit der Mittagsverpflegung wird in der Zeit vom 01.03.2020 bis zum 31.07.2020 sichergestellt, dass diese nach Hau-se geliefert wird (§ 88b BVG, § 68 SGB II, § 142 SGB XII und entsprechende Verweisungen in § 3 Abs. 4a AsylbLG, § 20 Abs. 7a BKGG). Dies gilt ebenso für Leistungsbe-rechtigte in Werkstätten für behinderte Menschen. Fer-ner wird die Bundesregierung ermächtigt, durch Rechts-

34 BT-Drs. 19/18107, S. 34 f.35 BT-Drs. 19/18966, S. 32 ff.36 BT-Drs. 19/18966, S. 41 zu Nr. 3.37 BT-Drs. 19(11)655, S. 44 f. und S. 78.38 Vgl. LSG Essen, Urt. v. 30.07.2018 - L 20 SO 331/15.39 Vgl. LSG Celle, Urt. v. 17.03.2020 - L 7 AL 81/19 Rn. 43 ff.40 BT-Drs. 19/18966, S. 36 f.

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verordnung ohne Zustimmung des Bundesrates den Geltungszeitraum dieser Übergangsregelung bis zum 31.12.2020 zu verlängern. Zu den Aufwendungen zählen auch bei Leistungsberechtigten anfallende Zahlungsver-pflichtungen, wenn sie pandemiebedingt in geänderter Höhe oder aufgrund abweichender Abgabewege berech-net werden.41

G. Änderungen des Sechsten und Siebten Buches Sozialgesetzbuch sowie des Gesetzes über die Alterssicherung der Landwirte (Art. 14, 18 und 19)

Anders als bei minderjährigen Waisen setzt die Waisen-rente bei Personen zwischen dem 18. und 27. Lebensjahr in der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung und der Alterssicherung der Landwirte weitere Tatbestände voraus, wie z.B. eine Schul- oder Berufsausbildung oder eine begrenzte Übergangszeit zwischen zwei Ausbil-dungsabschnitten. Im Rahmen der Bekämpfung der epi-demischen Lage können diese Merkmale durch Schul-schließungen entfallen. Durch die Änderung in § 304 Abs. 2 SGB VI und § 218g Abs. 2 SGB VII und der Verwei-sung in § 87d ALG wird vermieden, dass die Unterbre-chung der Schul- oder Berufsausbildung zu Nachteilen bei den Waisenrentenberechtigten führt. Durch § 218g Abs. 1 SGB VII will der Gesetzgeber ferner erreichen, dass die gem. § 62 Abs. 2 Satz 1 SGB VII auf drei Jahre befristete vorläufige Unfallrente um die Dauer der epi-demischen Krise verlängert wird, soweit die erforderli-chen Feststellungen nicht abschließend getroffen wer-den konnten.42

H. Resümee

Die gestaffelte Erhöhung des Kurzarbeitergeldes und die Verlängerung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld sind zu begrüßen. Diese zusätzlichen Leistungen mildern die fi-nanziellen Einbußen der betroffenen Arbeitnehmer in der krisenhaften Situation. Gleichwohl erscheinen sie für Be-reiche mit Geringlöhnen wie der Gastronomie oder dem Friseurhandwerk als unzureichend, zudem in anderen EU-Ländern wie Frankreich, Portugal, Polen, Rumänien, Litau-en für das Kurzarbeitergeld die absolute Untergrenze in Höhe des jeweiligen gesetzlichen Mindestlohnes vorgese-hen ist.43

Die Änderungen des ArbGG und des SGG, ursprünglich das zentrale Thema des Gesetzes, sind überflüssig und praxisfern.44 Die Annahme der Bundesregierung, dass durch die vorgeschlagenen Regelungen in der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit schätzungsweise in jeweils

30 % der Sitzungen eine Teilnahme mittels Videokonfe-renz erfolgen wird,45 kommt einem Selbstbetrug gleich. Erstaunlich ist ferner, wie die fehlende technische Aus-stattung der einzelnen Gerichte unbekannt bleiben konnte. Die Förderung von alternativen Schutzmaßnah-men, um eine mündliche Verhandlung unter Beachtung der bisherigen rechtlichen Anforderungen durchzufüh-ren, etwa durch die Installation von Glaswänden46 oder das Tagen in größeren Räumen unter Einhaltung des Ab-standsgebotes, werden vom Gesetzgeber gar nicht in Er-wägung gezogen. Es ist in der gerichtlichen Praxis nicht mit einer fleckendeckenden Umsetzung dieser Pläne zu rechnen.

Sehr aufmerksam reagiert der Gesetzgeber im Sozialleis-tungsrecht auf Verwerfungen und Verzögerungen, die sich aus der pandemiebedingten Lage ergeben, wie dies bei der Waisenrente oder bei der gemeinschaftlichen Mittagsverpflegung geschehen ist, auch wenn der große Wurf aus dem ersten Sozialschutz-Paket, mit dem durch Verschonung von Vermögen ein quasi bedingungsloses Grundeinkommen eingeführt wurde, beim zweiten Ver-such nicht gelungen ist. Obwohl außergewöhnliche Situ-ationen mutige Reaktionen erfordern,47 hat sich der Ge-setzgeber nicht – wie von vielen Stellen gefordert und angemahnt48 – zu den an sich gebotenen Lösungen durchdringen können, z.B. im Sozialhilfe- und Grundsi-cherungsrecht einen befristeten Mehrbedarfszuschlag für die krisenbedingt erforderlichen Mehrausgaben vor-zusehen, oder zumindest eine einmalige Erhöhung der Schülerbedarfspauschale für Kinder und Jugendliche, da-mit sie nach der Schulschließung am digitalen Unterricht teilnehmen können, nachdem Lehrer vielfach feststellen mussten, dass einkommensarme Haushalte oft keinen Computer besitzen mit der Folge, dass diese Kinder vom digitalen Unterricht ausgeschlossen werden. Mit Sicher-heit wird dies nicht der letzte legislative Akt im „Coro-na-Sonderrecht“ gewesen sein.

41 Eingefügt durch den Ausschuss für Arbeit und Soziales, BT-Drs. 19/19204, S. 15 f. und 29 ff.

42 BT-Drs. 19/18966, S. 40 zu Art. 15 Nr. 2.43 Schulten/Müller, WSI-Mitteilungen, Heft: April 2020, 17.44 So auch der Bundesrat in seiner Entschließung vom 15.05.2020, BR-

Drs. 245/20.45 Referentenentwurf vom 09.04.2020, S. 11.46 Vorbildlich insoweit das LSG Niedersachsen-Bremen, welches den um-

gebauten Sitzungsraum auf seine Homepage gesetzt hat.47 Exemplarisch als Beitrag der Rechtsprechung dazu: SG Düsseldorf,

Beschl. v. 14.04.2020 - S 25 AS 1118/20 ER.48 BT-Drs. 19(11)655, S. 12, 21, 38, 56, 88, 114, 154, 165 sowie BT-Drs.

19/18945.

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Verwaltungsrecht

A. Einleitung

Pandemien, wie die durch das Virus SARS-COV-2 verursach-te, sind nichts anderes als Epidemien, die weltweit oder doch in einem sehr weiten Gebiet der Welt auftreten, also nationale Grenzen überschreiten und i.d.R. eine große Zahl von Menschen betreffen.1 Sie beginnen je nach Virus oft-mals schleichend, wie auch im Fall SARS-COV-2, häufig in anderen Regionen der Welt und stoßen – jedenfalls in der Entstehung – nicht auf die Aufmerksamkeit und das Inter-esse derjenigen, die sich glücklich wähnen in anderen Re-gionen der Welt zuhause zu sein. Dieses Aufmerksamkeits-defizit hat auch die Folge, dass die Bereitschaft zur Vorsorge geringer ausgeprägt ist.2

Das Infektionsrecht – früher das Bundesseuchengesetz (BSeuchG), heute das Infektionsschutzgesetz (IfSG) – spie-gelt im Grunde durchaus sehr lange historische Erfahrun-gen der Gesellschaft im Umgang mit gefährlichen Erregern. Gleichwohl hat man den Eindruck, dass die Wucht mit der das neue Virus SARS-COV-2 die Gesellschaft trifft, und dies mehr oder weniger weltweit, eine durchaus neue Erfahrung und zugleich eine Herausforderung auch für das Rechtssys-tem darstellt. Von den mit Epidemien einhergehenden Ein-schränkungsmöglichkeiten legen zwar die grundrechtli-chen Gesetzesvorbehalte in Art. 11 Abs. 2 GG und Art. 13 Abs. 7 GG ein Zeugnis ab. Aber ihre eher spärliche Kom-mentierung spricht für sich. Die nunmehr beobachtbaren Einschränkungen scheinen neu und überwältigend.

Solange keine pharmazeutischen Gegenmittel vorhande-nen sind, und das sind sie jedenfalls bei neuen Erregern regelmäßig nicht, bleiben bei pathogenen Erregern regel-mäßig nur nichtpharmazeutische Mittel, also die Unter-brechung von Handlungsketten und Einschränkung von Kontaktmöglichkeiten, wenn man die Infektion nicht ein-fach hinnehmen möchte. Bei hochpathogenen und hoch-kontagiösen Erregern scheidet ein einfaches Hinnehmen aber aus, und damit sind wir in der Welt von SARS-COV-2 und den in ihr beobachtbaren einschränkenden Maßnah-men, die das bisher bekannte Maß weit überschreiten.

B. Warum sind Pandemien gefährlich?

Jedes Virus, selbst wenn es eine Modifikation eines bekann-ten Virus ist, wie jetzt SARS-COV-2, kann singuläre Eigen-

schaften haben, die erst im Laufe des Ausbruchs entschlüs-selt werden können. Dies mag die Charakterisierung des Virus, seine Pathogenität und Infektiosität, die Letalität und die Verbreitungsformen, aber auch die möglichen Maßnah-men betreffen, um nur einige Aspekte zu nennen. Bei neuen Viren haben die Menschen keine oder nur bei einem gerin-gen Teil eine vorbestehende Immunität. Sofern das Virus durch eine leichte Übertragbarkeit von Mensch zu Mensch charakterisiert ist, verbreitet es sich schnell. Allein die Tatsa-che, dass bei SARS-COV-2 ca. 50 % der Infektionen prä- oder asymptomatisch erfolgen, kann eine enorme Ausbrei-tungsgeschwindigkeit der Pandemie bewirken, weil die normalen Möglichkeiten der Fallidentifizierung, Kontaktver-folgung und Isolation nicht mehr zureichend sind, um die Epidemie einzudämmen. Wichtige Präventionsmaßnahmen wie Impfungen andere pharmazeutische Maßnahmen sind mangels eines geeigneten Impfstoffes zu Beginn nicht vor-handen und deren Entwicklung nimmt erhebliche Zeit in An-spruch.3 Je nachdem, wie pathogen und kontagiös ein Virus ist, können zudem erhebliche indirekte Folgen sozialer, öko-nomischer und politischer Art mit einer Pandemie einherge-hen. Die Verhinderung der Ausbreitung und die Bekämpfung des Virus und Eingrenzung der Folgen sind angesichts der grenzüberschreitenden Ausbreitung und Wirkungen keine (ausschließlich) nationalen Aufgaben, sie verlangen viel-mehr nach einer internationalen Koordination. Diese betrifft ganz unterschiedliche Dimensionen, insbesondere bedarf es einer internationalen Koordination des Monitorings und der Überwachung, der Informationssammlung und -distribu-tion, der Analyse (Surveillance) und der Koordination von Maßnahmen.4

Rechtsprechung zum Infektionsrecht in der SARS-COV-2-Welt

Prof. Dr. Hans-Heinrich Trute

1 RKI, https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/Pandemie/FAQ18.html (zu-letzt abgerufen am 29.05.2020); Porta, A dictionary of epidemiology, 5. Aufl. 2008, S. 179.

2 Die mittlerweile zu einer gewissen Prominenz gelangte BT-Drs. 12/12051 enthält allerdings ein als ein nur bedingt wahrscheinlich an-gesehenes aus heutiger Sicht realistisches Szenario einer Pandemie mit dem fiktiven Erreger Modi-SARS mit den zu erwarteten Folgen.

3 Robert-Koch-Institut, Nationaler Pandemieplan Teil II, 2016, S. 13.4 Allerdings war das internationale Gesundheitsrecht nicht eben ein be-

vorzugtes Feld der deutschen akademischen Debatte; vgl. aber Schmidt am Busch, Gesundheitssicherung im Mehrebenensystem, 2007; Klafki, Risiko und Recht, 2017, S. 11 – 29; Trute in Eger/Oeter/Voigt, International Law and the Rule of Law under Extreme Conditi-ons, 2017, S. 114 f. m.w.N.

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Die Monatszeitschrift

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C. Das Wissensproblem der Pandemie

Wirksame Möglichkeiten der Bekämpfung sind vor allem mit einem Wissensproblem verbunden, das nicht nur das Auftreten eines (neuen) Virus selbst, sondern seine Charak-teristik, den Zeitpunkt, die Orte, Ausbreitungsmöglichkeiten und -muster, das Wissen um wirksame Gegenmaßnahmen, vor allem deren Entwicklung sowie unterschiedliche sozio-kulturelle Rahmenbedingungen5 und Ressourcen betrifft. Dies bedeutet, dass Wissenschaft, Politik und Recht glei-chermaßen mit einem erheblichen Wissensproblem kon-frontiert sind.6

I. Die Notwendigkeit einer Wissensinfrastruktur

Um so wichtiger ist eine hinreichende Expertise in der Be-urteilung des Vorliegens solcher Bedrohungen und der Distribution des vorhandenen Wissens; dies nicht nur ad hoc in einer Krise, sondern kontinuierlich, auch um hinrei-chend vorbereitet zu sein. Dazu besteht eine in Teilen auch weltweit koordinierte Wissensinfrastruktur,7 die zeit-gerecht Anzeichen für das Auftreten einer Pandemie er-kennt, beurteilt und das notwendige Wissen weltweit ver-breitet. Wie in vielen Fällen so gilt auch hier, dass das Wissenschaftssystem von sich aus das erforderliche Wis-sen nicht notwendig und nicht zeitgerecht zur Verfügung stellen kann. Nicht zuletzt deshalb muss dieses innerhalb des öffentlichen Gesundheitswesens, der Wissenschaft, dem professionellen medizinischen Bereich, der Pharma-Industrie sowie im Zusammenwirken mit sehr verschiede-nen Akteuren staatlicher und nicht staatlicher Art organi-siert werden.

II. Das Robert-Koch-Institut als nationaler Knoten-punkt

Spätestens mit dem Seuchenrechtsneuordnungsgesetz von 2000, dem Übergang vom eher traditionell orientier-ten Seuchenrecht zum epidemiologisch orientierten IfSG, ist das Robert-Koch-Institut (RKI) zur zentralen Bera-tungseinrichtung von Bund und Ländern geworden. Vor-bild war das Center for Disease Control and Prevention (CDC) in Atlanta/USA. Das RKI sollte zentrale Ansprech-stelle für staatliche Instanzen in Bund und Ländern, für die Institutionen des Gesundheitswesens, sowie Koopera-tionspartner wissenschaftlicher Einrichtungen sein und damit zugleich der nationale Knotenpunkt eines Netzwer-kes wissenschaftlicher Referenz- und Kompetenzzent-ren.8 Das Gesetz zur Modernisierung der epidemiologi-schen Überwachung übertragbarer Krankheiten9 hat dann noch einmal die (ohnehin schon vorhandene) euro-päische und internationale Einbettung der Aufgaben des RKI gestärkt und geklärt, nicht zuletzt aufgrund der zu-

nehmenden Bedeutung infektions-epidemiologischer Fra-gen aufgrund des Aufkommens neuer und hochgefährli-cher Erreger.10 Der Notwendigkeit einer Institution für die Überwachung der Aus- und Verbreitung übertragbarer Krankheiten, trägt die Einrichtung eines nach einheitli-chen Kriterien funktionierenden Systems der fortlaufen-den und zeitnahen Erfassung von Daten zum Infektions-geschehen Rechnung. Diese sind dann Grundlage der kontinuierlichen Analyse des Infektionsgeschehens und der Entwicklung von rationalen Präventions- und Be-kämpfungsstrategien. Sie bilden dann auch Grundlage der politischen, rechtlichen und administrativen Strate-gien zur Prävention und Bekämpfung von Pandemien. Diese Rolle, die in dem § 4 IfSG ihren Niederschlag gefun-den hat, ist von zentraler Bedeutung im pandemischen Geschehen. Wie Ressortforschungseinrichtungen auch hat das RKI dann eine wichtige Funktion an der Schnitt-stelle von Wissenschaft, Politik und Administration, die letztlich das (international verfügbare) Wissen für Ent-scheidungsprozesse aufbereitet und damit ein zentraler Baustein einer Wissensinfrastruktur zum Umgang mit der Ungewissheit in einer pandemischen Situation ist.

III. Risikoeinschätzungen des RKI als Referenzpunkt der Rechtsprechung

Von daher verwundert es auch nicht, dass die Rechtspre-chung in nahezu allen Entscheidungen in Sachen SARS-COV-2 an die Risikoeinschätzungen des RKI anknüpft.11 Insoweit kommt es darauf an, dass das RKI Konzeptio-nen zur Vorbeugung übertragbarer Krankheiten sowie zur frühzeitigen Erkennung und Verhinderung der Wei-terverbreitung von Infektionen zu entwickeln hat, inklu-sive der Entwicklung und Durchführung epidemiologi-

5 Kennedy/Nisbett, Bulletin of the World Health Organisation 2015, 2.6 In dem Review der WHO zur Implementierung der International Health

Regulation heißt es dementsprechend: „In practice, however, decision-making in a public-health emergency is often based on incomplete information, with uncertainty about the threat and the likely effecti-veness of response measures.“ WHA-Drs. A64/10, 1, 27.

7 Dazu Trute, GSZ 2018, 125 ff.8 BT-Drs. 14/2530, S. 38.9 Gesetz vom 17.07.2017, BGBl. I, 2615.10 BT-Drs. 18/10938, S. 47 f.11 Aus der Vielzahl der Entscheidungen vgl. etwa BVerfG, Beschl.

v. 10.04.2020 - 1 BvQ 28/20 Rn. 14; BayVerfGH, Entscheidung v. 26.03.2020 - Vf. 6-VII-20 Rn. 18; VGH Kassel, Beschl. v. 30.04.2020 - 8 B 1074/20.N Rn. 36, 40; OVG Lüneburg, Beschl. v. 29.04.2020 - 13 MN 120/20n Rn. 23 f.; OVG Münster, Beschl. v. 29.04.2020 - 13 B 512/20.NE Rn. 33 f.; OVG Weimar, Beschl. v. 08.04.2020 - 3 EN 245/20 Rn. 44; VG Saarlouis, Beschl. v. 30.03.2020 - 6 L 340/20 Rn. 21 ff.; VG Düsseldorf, Beschl. v. 20.03.2020 - 7 L 575/20 Rn. 20 f.; VG Dresden, Beschl. v. 09.04.2020 - 6 L 249/20 Rn. 13; VG Greifswald, Beschl. v. 08.04.2020 - 4 B 339/20 HGW Rn. 22 f., 28 f., 31 f.

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scher und laborgestützter Analysen sowie Forschung zu Ursache, Diagnostik und Prävention übertragbarer Krankheiten.12 Gem. § 4 Abs. 2 IfSG erstellt das Institut u.a. im Benehmen mit den jeweils zuständigen Bundes-behörden für Fachkreise als Maßnahme des Gesund-heitsschutzes Richtlinien, Empfehlungen, Merkblätter und sonstige Informationen zur Vorbeugung, Erkennung und Verhinderung der Weiterverbreitung übertragbarer Krankheiten, wertet Daten zu meldepflichtigen Krank-heiten und meldepflichtigen Nachweisen von Krank-heitserregern infektionsepidemiologisch aus und stellt die Ergebnisse bestimmten Behörden und Institutionen zur Verfügung. Die Einbettung in die internationalen Zu-sammenhänge erfordert die Entwicklung abgestimmter Kriterien etwa für Fallbeschreibungen, um überhaupt vergleichbare Daten zu generieren und für die Risiko-analyse nutzbar zu machen. Damit bringt der Gesetzge-ber zum Ausdruck, dass den Einschätzungen des RKI im Bereich des Infektionsschutzes besonderes Gewicht zu-kommt.13

IV. Lernfähiges Recht

Ungewissheit der Wissensgrundlagen kann eine vorüber-gehende oder eine prinzipielle Ungewissheit sein. Jeden-falls in Pandemien darf man von Ersterem ausgehen. Es liegt auf der Hand, dass sich mit zunehmender Kenntnis und wissenschaftlicher Untersuchung des Virus seine Cha-rakteristik, Infektiosität, Letalität und Verbreitungsformen und möglicher Maßnahmen die Genauigkeit der Risiko-einschätzung verbessert. Die Bedeutung für das Rechts-system liegt auf der Hand. Mit zunehmendem Wissen kann auch die Einschätzung der Maßnahmen und dann auch die Abwägung der konkurrierenden Rechtsgüter prä-ziser werden.14 Zugleich kann man die Wirkungen der Maßnahmen im Ganzen, zumindest aber in Teilen besser einschätzen. Durch die Verschärfung oder Lockerung kön-nen neue Erkenntnisse zur Wirksamkeit von Maßnahmen gewonnen werden. In gewisser Weise wird damit die Ge-sellschaft zum Labor.

Dies führt dazu, dass Gesetz- und Verordnungsgeber ihre Strategie jeweils im Lichte der vorhandenen Kenntnisse ausarbeiten und bewerten müssen. Dies gebieten schon ein rationaler Minimalstandard, in der Sache aber auch die jeweils betroffenen Grundrechte. Die Maßnahmen ha-ben, wenn man sowohl will, einen zeitlichen und kogniti-ven Index.15 Dem haben die administrativen Maßnahmen immer auch und von Beginn an durch die (oftmals er-staunlich kurze) Befristung der Maßnahmen Rechnung getragen. Dies schützt nicht nur die eingeschränkten Grundrechte vor nicht notwendiger Einschränkung, son-dern ebenso die Nutznießer von grundrechtlichen Schutz-

pflichten, die vor allzu schnellen Lockerungen der Schutz-maßstäbe durch präzisere Gefährdungsanalysen geschützt werden. Insgesamt, so kann man nach den bisherigen Er-fahrungen sagen, wird dieser Teil der Rechtsordnung in bisher singulärer Weise auf eine permanente Lernfähig-keit ausgerichtet.

D. Die Vielzahl von Maßnahmen und die Rechts-grundlage

In der aktuellen Situation findet sich eine Vielzahl von Maßnahmen, etwa die unterschiedlichen Anforderungen sozialer Distanzierung, die Schließung von Einrichtungen, Geschäften, Spielplätzen, Einschränkungen der Versamm-lungsfreiheit, Einschränkungen der Religionsausübung, um nur einige zu nennen. Nicht alle sind offenkundig als leicht vollziehbare Normen ausgestaltet. Nicht alle der Regelungen, die in den Normen enthalten sind, dürften dabei gut vollziehbare Vorschriften sein, wie etwa das 1,5 m Abstandgebot bei sozialen Kontakten und die Redu-zierung auf die nötigsten Kontakte, die durchaus eher ap-pellativen Charakter haben.16

I. § 28 IfSG als Generalklausel für alle Fälle?

Diese werden im Wesentlichen auf die Generalklausel des § 28 IfSG gestützt. In durchaus polizeirechtlicher Tradition scheint die Vorschrift den Kreis der Störer mehr oder we-niger allgemein die Maßnahmen gegenüber diesem Per-sonenkreis zu ermöglichen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 IfSG genannten, soweit und solange es zur Verhin-derung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erfor-

12 BayVerfGH, Entscheidung v. 26.03.2020 - Vf. 6-VII-20 Rn. 16.13 Aus der Vielzahl der Entscheidungen: BayVerfGH, Entscheidung v.

26.03.2020 - Vf. 6-VII-20 Rn. 16; OVG Weimar, Beschl. v. 09.04.2020 - 3 EN 238/20 Rn. 50 ff.; OVG Weimar, Beschl. v. 08.04.2020 - 3 EN 245/20 Rn. 34; OVG Bremen, Beschl. v. 09.04.2020 - 1 B 97/20 Rn. 46, 48; VG Schleswig, Beschl. v. 01.04.2020 - 1 B 32/20 Rn. 8 ff.; VG Schleswig, Beschl. v. 01.04.2020 - 1 B 32/20 Rn. 10; VG Hamburg, Beschl. v. 27.03.2020 - 14 E 1428/20 Rn. 58; VG Schleswig, Beschl. v. 08.04.2020 - 1 B 28/20 Rn. 34 ff.; VG Bremen, Beschl. v. 26.03.2020 - 5 V 553/20 Rn. 37; VG Minden, Beschl. v. 27.03.2020 - 7 L 246/20 Rn. 22 ff.

14 OVG Greifswald, Beschl. v. 09.04.2020 - 2 KM 293/20 OVG Rn. 36; VGH Kassel, Beschl. v. 07.04.2020 - 8 B 892/20.N Rn. 50 ff.; OVG Weimar, Beschl. v. 09.04.2020 - 3 EN 238/20 Rn. 69.

15 Statt vieler VGH Kassel, Beschl. v. 30.04.2020 - 8 B 1074/20.N Rn. 41; OVG Münster, Beschl. v. 29.04.2020 - 13 B 512/20.NE Rn. 50; wenig hilfreich sind Anforderungen, wonach die Rechtfertigungslasten umso größer werden je länger die Maßnahmen dauern, so aber VerfGH Saar-land, Beschl. v. 28.04.2020 - LV 7/20 Rn. 32; die Rechtfertigung der Einschränkung bestimmt sich letztlich danach, ob die rechtfertigenden Gründe fortbestehen.

16 VGH München, Beschl. v. 30.03.2020 - 20 NE 20.632 Rn. 50 ff.

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derlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter be-stimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr be-stimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten. Zudem kann die zuständige Behörde Veranstaltungen oder sonstige An-sammlungen von Menschen beschränken oder verbieten und Badeanstalten oder in § 33 genannte Gemeinschafts-einrichtungen oder Teile davon schließen. Nun liegt im all-gemeinen Polizeirecht in dem Bezug auf den Kreis der Störer durchaus ein wichtiges Element der Begrenzung, denn wer nicht Störer ist, kann an sich ja nur unter den Voraussetzungen, die für Nichtstörer gelten, in Anspruch genommen werden.

Der § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG spricht von Kranken, Krank-heitsverdächtigen, ansteckungsverdächtigen Personen und Ausscheidern. Damit ist auf den ersten Blick der Stö-rerkreis bezeichnet,17 der durchaus differenzierter als in anderen Bereichen über § 2 Nr. 4 – 7 IfSG eine Abstufung des Störerkreises relativ zu dem Erkenntnisstand und der Nähe der Person zur Infektion erfährt. Es reichen objekti-ve Anhaltspunkte für einen Verdacht aus, auch wenn eine abschließende Beurteilung (noch) nicht möglich ist. Dabei handelt es sich um Anforderungen, die ersichtlich auf das begrenzte Wissen bei Infektionen bezogen sind.18 Durch den Verweis auf die Maßnahmen der §§ 29 – 31 IfSG, die sich ausnahmslos an den benannten Störerkreis richten, wird dies scheinbar noch bestätigt. Unschwer erkennbar steht dahinter das Konzept der Fallverfolgung, Identifizie-rung möglicher Infizierter und der Unterbrechung der In-fektionsketten, durch geeignete Maßnahmen gegenüber diesem solchermaßen identifizierten Gefährdern. Aber ist dies die Konzeption, die dem § 28 Abs. 1 IfSG zugrunde liegt?

II. Maßnahmen gegenüber Nichtstörern?

Es liegt auf der Hand, dass in einer Pandemie diese Kon-zeption unzureichend sein kann; das zeigt die derzeitige Situation. Wenn ca. 50 % der Infizierten asymptomatisch oder präsymptomatisch infektiös sind und der Tag vor Ein-setzen der Symptome der Infektiöseste ist, dann ist mit Maßnahmen gegenüber dem oben beschriebenen Kreis der Störer wenig gewonnen. Die ganz überwiegende Zahl der von den Maßnahmen Betroffenen lassen sich vorab keiner dieser Störerkategorien zuordnen.19 Das wäre die Situation der Inanspruchnahme von Nichtstörern. Freilich interpretiert die Rechtsprechung mittlerweile ganz über-wiegend § 28 Abs. 1 IfSG so, als würde die Feststellung der Störer nur den Tatbestand ausmachen, die Rechtsfolge könnte dann an jedermann gerichtet werden.20 Dafür soll der neu eingefügt § 28 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz IfSG

schon von seinem Wortlaut her sprechen. Der sollte frei-lich ausweislich der Begründung nur eine Klarstellung darstellen21 und systematisch passt er eher zum § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG, wo er auch bisher seinen Ort hatte. Ein Blick in die Entwicklung dieser Generalklausel ergibt in-des nähere Aufschlüsse. Bei der Neufassung der Vorgän-gervorschrift des seinerzeitigen § 34 BSeuchG im Jahre 1979 hatte der Gesetzgeber zur Begründung des neuen § 34 u.a. ausgeführt, Maßnahmen nach dem der heutigen Regelung vergleichbaren Regelung des Satz 1 könnten nicht nur gegen die in Satz 1 (neu) Genannten, also gegen Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsver-dächtige usw., in Betracht kommen, sondern auch gegen-über „Nichtstörern“, so etwa das Verbot an jemanden, der (noch) nicht ansteckungsverdächtig ist, einen Kran-ken aufzusuchen. Die bisher in dem seinerzeitigen § 43 BSeuchG aufgezählten Schutzmaßnahmen gegenüber der Allgemeinheit könnten künftig aufgrund der generellen Regelung des Absatzes 1 Satz 1 angeordnet werden. In Abs. 1 Satz 2 wurden sie trotzdem beispielhaft genannt. Gemeint waren damit etwa Theater, Filmtheater, Vergnü-gungsstätten, Gaststätten und ähnlichen Einrichtungen, Abhaltung von Messen, Tagungen, Volksfesten und Sport-veranstaltungen oder andere Ansammlungen größerer Zahl von Menschen. Dies spricht in der Tat dafür, dass die Lesart der Rechtsprechung richtig ist.22 Dies wurde letzt-lich auch im Übergang vom BSeuchG zum IfSG nicht ge-ändert, der allerdings wiederum auf die Aufzählung ver-zichtete und stattdessen auf Veranstaltungen und sonstige Ansammlung von Menschen in größerer Zahl abstellte.23

17 BVerwG, Urt. v. 22.03.2012 - 3 C 16/11.18 VG Schleswig, Beschl. v. 01.04.2020 - 1 B 32/20 Rn. 8; ähnlich VG

Schleswig, Beschl. v. 08.04.2020 - 1 B 28/20 Rn. 34; VG Schleswig, Beschl. v. 22.03.2020 - 1 B 17/20 Rn. 18; VG Freiburg, Beschl. v. 25.03.2020 - 4 K 1246/20 Rn. 18; VG Bayreuth, Beschl. v. 11.03.2020 - B 7 20.223 Rn. 45; VG Dresden, Beschl. v. 09.04.2020 - 6 L 249/20 Rn. 11.

19 VGH München, Beschl. v. 09.04.2020 - NE 20/688 Rn. 41 f.20 Vgl. etwa OVG Münster, Beschl. v. 29.04.2020 - 13 B 512/20.NE

Rn. 37 f.; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 03.04.2020 - OVG 11 S 14/20 Rn. 8 f.; OVG Weimar, Beschl. v. 08.04.2020 - 3 EN 245/20 Rn. 35; OVG Münster, Beschl. v. 06.04.2020 - 13 B 398/20.NE; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 23.03.2020 - 11 S 12.20 Rn. 8; OVG Greifswald, Beschl. v. 09.04.2020 - 2 KM 268/20 OVG Rn. 29; VGH Kassel, Beschl. v. 07.04.2020 - B 892/20.N Rn. 44; VG Schleswig, Beschl. v. 01.04.2020 - 1 B 32/20 Rn. 8; VG Hannover, Beschl. v. 27.03.2020 - 15 B 1968/20 Rn. 11.

21 BT-Drs. 19/18111, S. 25.22 Aufgenommen in OVG Bremen, Beschl. v. 09.04.2020 - 1 B 97/20

Rn. 43; VGH München, Beschl. v. 30.03.2020 - 20 CS 20/611 Rn. 12 ff. Zutreffend referiert von VG Hamburg, Beschl. v. 27.03.2020 - 14 E 1428/20 Rn. 45, 51, aufgenommen VG Bremen, Beschl. v. 26.03.2020 - 5 V 553/20 Rn. 35; im Ergebnis auch VGH Kassel, Beschl. v. 07.04.2020 - 8 B 892/20.N Rn. 44.

23 BT Durcks 14/2530, S. 76 f.; BR-Drucks 566/99, S. 170 f.

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Zudem enthielt die Vorschrift des § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG einen zweiten Halbsatz, der der heutigen Regelung in Satz 1 wieder entspricht.24 Diese Gesetzesentwicklung entspricht in der Tat der Sichtweise der Rechtsprechung. Insoweit sollte der § 28 Abs. 1 IfSG jedenfalls die Maß-nahmen gegenüber „Nichtstörern“ oder der Allgemein-heit offenkundig mitumfassen.

III. Generalklausel als Grundlage für weitreichende Einschränkungen?

Damit ist freilich noch nicht ausgemacht, dass die Rege-lung des § 28 IfSG als Generalklausel die weiterreichen-den Grundrechtseinschränkungen trägt, die auf seiner Grundlage angeordnet worden sind, auch wenn dies Rückhalt in der Genese der Vorschrift findet. Man wird man mit Fug daran zweifeln können. In der Tat hat zumin-dest die a.F. durchaus nicht unerhebliche Bedenken im Hinblick auf Art. 80 Abs. 1 GG aufgeworfen.25 Ein mehr oder weniger generelles Verbot von Versammlungen, von religiösen Gebeten und Gottesdiensten, Besuchsbe-schränkungen, Beschränkungen der Kontakte auf das Nö-tigste, in anderen Ländern auch allgemeine Ausgangsbe-schränkungen, all das sind so erhebliche Einschränkungen, dass der Gesetzgeber sub specie der Wesentlichkeitsdokt-rin selbst die Eingriffsmöglichkeiten bestimmen muss und dies nicht über eine Generalklausel der Exekutive überlas-sen darf.

Freilich mag man vorübergehend noch die Generalklau-sel nutzen können, um dem Gesetzgeber Zeit zu geben, entsprechende Regelungen zu erlassen.26 Man wird dem Gesetzgeber zugutehalten können, dass das Ausmaß nicht ernsthaft für möglich gehalten worden ist und tat-sächlich über die Wirksamkeit der Maßnahmen nicht un-erhebliche Unsicherheiten bestanden und auch nach mehreren Wochen Pandemie noch bestehen. Deswegen wird man auch die Auswertung der Wirksamkeit der Maßnahmen noch zu der gesetzgeberischen Lernkurve rechnen müssen, zumal die administrativen Maßnahmen ihrerseits stets sehr kurz bemessen befristet sind und eine Neubewertung der Einschränkungen damit konti-nuierlich erforderlich machen.

E. Die Rechtsprechung und ihre Probleme

Die Rechtsprechung arbeitet immer noch im Wesentlichen in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes. So behan-delte die Rechtsprechung die sog. Corona-Verordnungen, die Allgemeinverfügungen ebenso wie einzelne der Maß-nahmen, zunächst eher auf einem generalisierenden Argu-mentationsniveau, zunehmend dann aber differenzierter. Angesichts der oftmals kurzen Befristung der Maßnahmen

ist der einstweilige Rechtsschutz im Grunde auch der end-gültige und damit effektive Rechtsschutz i.S.d. Art. 19 Abs. 4 GG.27 Mittlerweile ist die Differenzierung weiter ge-trieben worden und zudem begleitet die Rechtsprechung zunehmend die Reduktion der Einschränkungen.

I. Das Kontrollprogramm der Rechtsprechung

Die Maßnahmen sind typischerweise auf die § 32 Satz 1, § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG oder als Allgemeinverfügungen auf den § 28 Abs. 1 IfSG gestützt, und zwar in der Fassung, die die Vorschriften durch das „Gesetz zum Schutz der Bevöl-kerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Trag-weite“28 erhalten hat.

Im Übrigen aber ist das Kontrollschema in der ganz über-wiegenden Zahl von Entscheidungen im Wesentlichen ähn-lich: Die Vergewisserung, dass die Rechtsgrundlage die Maßnahmen mit hinreichender Bestimmtheit trägt, die Le-gitimation des Zieles und ansonsten im Wesentlichen die Prüfung der Verhältnismäßigkeit nicht zuletzt im Hinblick auf das Gewicht konkurrierender Rechtsgüter.

Zweifellos dienen die Maßnahmen ganz überwiegend dem in § 1 Abs. 1 IfSG vorgesehen Ziel, übertragbaren Krankhei-ten beim Menschen vorzubeugen, Infektionen frühzeitig zu erkennen und ihre Weiterverbreitung zu verhindern.29 Inso-weit wird, wie oben schon gesehen, an die Einschätzungen des RKI angeknüpft, dass die Maßnahmen (soziale Distan-zierung) geeignet seien, um die Weiterverbreitung des Virus zu verhindern,30 zumindest die Ausbreitung vorübergehend zu verringern.31 Mit Blick auf die Gesamtheit der Maßnah-

24 BT Drucks. 14/3194, S. 30.25 Vgl. Kingreen, https://www.verfassungsblog.de/whatever-it-takes;

Möllers, https://verfassungsblog.de/parlamentarische-selbst- entmaechtigung-im-zeichen-des-virus/; Thiele, https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/ausgangssperren-wegen-corona-zulaessig-infektionsschutzgesetz-katastrophenfall-bayern/; Edenharter, https://verfassungsblog.de/freiheitsrechte-ade/; Klafki, https://www.juwiss.de/27-2020/ (jeweils zuletzt abgerufen am 29.05.2020) dagegen VG Freiburg, Beschl. v. 25.03.2020 - 4 K 1246/20 Rn. 16 ff.

26 BVerfG (K), Beschl. v. 08.12.2011 - 1 BvR 22/12 Rn. 25 f.; BVerwG, EuGH-Vorlage vom 24.10.2001 - 6 C 3/01.

27 VGH München, Beschl. v. 30.03.2020 - 20 NE 20/632 Rn. 31.28 Gesetz vom 27.03.2020 (BGBl. I 2020, 587), BT Drucks 19/18111.29 Darauf abstellend VGH München, Beschl. v. 30.03.2020 - 20 NE 20/632

Rn. 59; VGH München, Beschl. v. 09.04.2020 - NE 20/688 Rn. 44.30 VGH München, Beschl. v. 30.03.2020 - 20 NE 20/632 Rn. 59.31 BVerfG, Beschl. v. 10.04.2020 - 1 BvQ 28/20 Rn. 14; BayVerfGH, Ent-

scheidung v. 26.03.2020 - Vf. 6-VII-20 Rn. 18; VG Saarland, Beschl. v. 30.03.2020 - 6 L 340/20 Rn. 21 ff.; VG Düsseldorf, Beschl. v. 20.03.2020 - 7 L 575/20 Rn. 20 f.; VG Dresden, Beschl. v. 09.04.2020 - 6 L 249/20 Rn. 13; OVG Weimar, Beschl. v. 08.04.2020 - 3 EN 245/20 Rn. 44; VG Greifswald, Beschl. v. 08.04.2020 - 4 B 339/20 HGW Rn. 22 f., 28 f., 31 f.

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men scheint dies zunächst plausibel. Im Hinblick auf die Eignung und/oder Erforderlichkeit der jeweiligen Maßnah-me wird dann oftmals mit einer auf die Ungewissheit bezo-genen Einschätzungsprärogative geantwortet.32 Zudem lassen sich nach Auffassung der Rechtsprechung kaum mil-dere Mittel im jeweiligen Kontext vorstellen.33 Eine nicht unerhebliche Rolle spielen dabei auch die Ausnahmerege-lungen und in zeitlicher Hinsicht die Befristung verbunden mit der Evaluation der Maßnahmen. Die Angemessenheit der Einschränkungen wird in der Abwägung regelmäßig mit der staatlichen Schutzpflicht für Leben und Gesundheit begründet.34 Angesichts der Bedeutung des Rechtsguts, aber auch angesichts der kompensatorischen Möglichkei-ten, wie etwa die bereitgestellten staatlichen Hilfen, die mit in die Abwägung eingestellt werden,35 erscheinen die Maß-nahmen zumindest in der Zeit des Anstiegs der Infektions-zahlen ganz überwiegend als gerechtfertigt. Auf verfas-sungsrechtlicher Ebene geht es um die Einschränkungen der Freiheit, die von den Gerichten durchweg als erheblich angesehen, aber im Hinblick auf die staatliche Schutzpflicht für Leben und Gesundheit insgesamt, auch im Hinblick auf die zeitliche Befristung der Maßnahmen und deren ständi-ge Überprüfung als durchweg angemessen beurteilt wer-den,36 also die Maßnahmen des Social Distancing,37 die Schließung von Sportstätten, Fitnessstudios,38 Verkaufs-stätten,39 Verkaufsstätten mit mehr als 800 qm Verkaufs-fläche,40 Reisebeschränkungen,41 Verbot der Zusammen-künfte von Religionsgemeinschaften,42 Schließung von Schulen43 und Betretungsverbote,44 Demonstrationen,45 Nutzung von Zweitwohnungen, um nur einige zu nennen.

Gelegentliche Ausnahmen,46 im öffentlichen Diskurs manchmal schon als die Wende in der Rechtsprechung ge-feiert, sind teilweise auch auf handwerkliche Fehler zu-rückzuführen,47 wie etwa ein Ermessensausfall bei der Untersagung einer Versammlung.48 Allerdings gehen die Gerichte mehr und mehr dazu über, die Verwaltung zu Entscheidungen im Einzelfall zu verpflichten und sich nicht auf generelle Verbote zurückzuziehen.49 Damit hat das BVerfG im Rahmen der Versammlungsfreiheit begon-nen und setzt dies nunmehr fort in den Entscheidungen zur Religionsfreiheit. Auch wird man mit der Zunahme von Wissen über die Wirkung von Maßnahmen mit weiteren Differenzierungen zu rechnen haben. In der Sache kann man das als eine Bestätigung eines tentativen Ansatzes ansehen, der die Ungewissheit über die Wissensgrundla-gen aufnimmt.

33 OVG Bremen, Beschl. v. 09.04.2020 - 1 B 97/20 Rn. 49; OVG Weimar, Beschl. v. 08.04.2020 - 3 EN 245/20 Rn. 49.

34 Statt vieler VGH Kassel, Beschl. v. 30.04.2020 - 8 B 1074/20.N Rn. 46; OVG Bremen, Beschl. v. 09.04.2020 - 1 B 97/20 Rn. 53; OVG Münster, Beschl. v. 29.04.2020 - 13 B 512/20.NE Rn. 84.

35 BVerfG, Beschl. v. 29.04.2020 - 1 BvQ 47/20 Rn. 16 f.; BVerfG, Beschl. v. 01.05.2020 - 1 BvR 1004/20 Rn. 5 f.; OVG Bremen, Beschl. v. 09.04.2020 - 1 B 97/20; VG Hamburg, Beschl. v. 27.03.2020 - 14 E 1428/20 Rn. 67.

36 Vgl. etwa BVerfG, Beschl. v. 07.04.2020 - 1 BvR 755/20 Rn. 11; BVerfG, Beschl. v. 09.04.2020 - 1 BvR 2020 Rn. 14 f.; BVerfG, Beschl. v. 10.04.2020 - 1 BvQ 31/20 Rn. 16; OVG Greifswald, Beschl. v. 09.04.2020 - 2 KM 293/20 OVG Rn. 37. Fortwährende Evaluation OVG Weimar, Beschl. v. 08.04.2020 - 3 EN 245/20 Rn. 52; OVG Münster, Beschl. v. 06.04.2020 - 13 B 398/20.NE; VG Saarland, Beschl. v. 30.03.2020 - 6 L 340/20 Rn. 26; VG Schleswig, Beschl. v. 06.04.2020 - 1 B 39/20 Rn. 24 f.; VG Hannover, Beschl. v. 27.03.2020 - 15 B 1968/20; VGH München, Beschl. v. 30.03.2020 - 20 CS 20.611 Rn. 25.

37 VG Schleswig, Beschl. v. 01.04.2020 - 1 B 32/20 Rn. 10 ff.; ähnlich VG Schleswig, Beschl. v. 03.04.2020 - 1 B 35/20.

38 VG Hamburg, Beschl. v. 27.03.2020 - 14 E 1428/20 Rn. 59 ff.39 VG Bremen, Beschl. v. 26.03.2020 - 5 V 553/20 Rn. 41 ff.40 BVerfG, Beschl. v. 29.04.2020 - 1 BvQ 47/20; VGH Kassel, Beschl. v.

30.04.2020 - 8 B 1074/20.N; OVG Lüneburg, Beschl. v. 29.04.2020 - 13 MN 120/20; OVG Münster, Beschl. v. 29.04.2020 - 13 B 512/20.NE; OVG Saarlouis, Beschl. v. 27.04.2020 - 2 B 141/20; OVG Bremen, Beschl. v. 09.04.2020 - 1 B 97/20.

41 OVG Schleswig, Beschl. v. 09.04.2020 - 3 MR 4/20 Rn. 18 f.; OVG Schleswig, Beschl. v. 02.04.2020 - 3 MB 8/20; OVG Greifswald, Beschl. v. 09.04.2020 - 2 KM 293/20 OVG Rn. 36; OVG Greifswald, Beschl. v. 09.04.2020 - 2 KM 267/20 OVG Rn. 24 ff. im Ausgangspunkt OVG Greifswald, Beschl. v. 09.04.2020 - 2 KM 268/20 OVG Rn. 30 ff., im Er-gebnis allerdings außer Vollzug setzend.

42 BVerfG, Beschl. v. 10.04.2020 - 1 BvQ 28/20; BVerfG, Beschl. v. 10.04.2020 - 1 BvQ 31/20 Rn. 12; OVG Weimar, Beschl. v. 09.04.2020 - 3 EN 238/20; OVG Greifswald, Beschl. v. 08.04.2020 - 2 KM 236/20 OVG Rn. 38; VG Dresden, Beschl. v. 03.04.2020 - 3 L 182/20 Rn. 21 ff.

43 VG Bayreuth, Beschl. v. 11.03.2020 - B 7 S 20/223 Rn. 52.44 VG Berlin, Beschl. v. 11.03.2015 - 14 L 36/15 Rn. 19 f.45 BVerfG, Beschl. v. 10.04.2020 - 1 BvQ 26/20 Rn. 12; BVerfG, Beschl. v.

09.04.2020 - 1 BvQ 29/20; BVerfG, Beschl. v. 01.05.2020 - 1 BvR 1003/20 Rn. 8; VG Schleswig, Beschl. v. 03.04.2020 - 3 B 30/20 Rn. 10 ff.; OVG Weimar, Beschl. v. 10.04.2020 - 3 EN 248/20 Rn. 45 ff.; VG Gießen, Beschl. v. 31.03.2020 - 4 L 1332/20.GI; VG Karlsruhe, Beschl. v. 14.04.2020 - 19 K 1816/20; VG Hannover, Beschl. v. 27.03.2020 - 15 B 1968/20; VG Neustadt (Weinstr.), Beschl. v. 02.04.2020 - 5 L 333/20.NW.

46 Sondervotum VerfGH Berlin, Beschl. v. 14.04.2020 - VerfGH 50 A/20 Rn. 17, neuerdings VerfGH Saarland, Beschl. v. 28.04.2020 - LV 7/20.

47 Schließungsanordnung ohne Befristung VG Aachen, Beschl. v. 03.04.2020 - 7 L 259/20 Rn. 38.

48 BVerfG, Beschl. v. 17.04.2020 - 1 BvQ 37/20 Rn. 19 ff.; ein Verbot auf-grund der Einzelfallabwägung akzeptierend BVerfG, Beschl. v. 01.05.2020 - 1 BvR 1004/20 Rn. 6; BVerfG, Beschl. v. 01.05.2020 - 1 BvR 1003/20 Rn. 8.

49 BVerfG, Beschl. v. 17.04.2020 - 1 BvQ 37/20 Rn. 19 ff., zunächst nur einen Ermessenausfall rügend, den Entscheidungsspielraum allerdings offenlassend. Dies wird man zunächst als einen Schritt in Richtung Differenzierung verstehen müssen. Ähnlich VG Hannover, Beschl. v. 16.04.2020 - 10 B 2232/20 Rn. 15 ff.

32 OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 23.03.2020 - 11 S 12.20; VG Greifs-wald, Beschl. v. 08.04.2020 - 4 B 339/20 HGW Rn. 26; VGH Hessen, Beschl. v. 07.04.2020 - 8 B 892/20.N Rn. 49; VG Saarland, Beschl. v. 30.03.2020 - 6 L 340/20 Rn. 19.

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II. Ungewissheit und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

So einleuchtend dieser Kontrollansatz auch scheinen mag, so sehr bleibt doch bei genauerer Betrachtung ein Unbehagen, dass die Gerichte an bestimmten Stellen der Ungewissheit nicht hinreichend Rechnung tragen. Das wäre nicht der weiteren Analyse wert, wenn nicht dies ein zentrales Element der Prüfung, nämlich den Verhält-nismäßigkeitsgrundsatz beträfe, der auch ansonsten im öffentlichen Diskurs ebenso wie in Empfehlungen an die Politik eine prominente Rolle spielen würde. Das lässt sich pars pro toto gut an einem stattgebenden Beschluss des OVG Greifswald erläutern.50 Obwohl das Gericht im Prinzip an seiner Rechtsprechung festhält und dem Ver-ordnungsgeber einen großen Spielraum für die Maßnah-men zuerkennt, hält es die Reiseverbotsbeschränkung zu Ostern für Bürger Mecklenburg-Vorpommerns zu be-stimmten, touristisch besonders attraktiven Zielen, wie etwa den Ostseeinseln, für unverhältnismäßig im enge-ren Sinne.51 Zwar gesteht das Gericht zu, dass die Rege-lung durchaus erhebliche Teile der Bürger daran hindert, die betreffenden Gebiete aufzusuchen und auch das In-fektionsrisiko der in den Gebieten lebenden Bürger da-mit verringert wird. Aber es werde durch die Ausnahme-regelung gleichwohl nicht ausgeschlossen, dass sich Menschenansammlungen in den beschränkten Gebieten bilden würden. Auch seien andere Gebiete von touristi-scher Bedeutung nicht nachvollziehbar ausgenommen. Dies werde nach Auffassung des Gerichts dazu führen, dass das Ziel der Beschränkung nur sehr eingeschränkt erreichbar sein dürfte. Auch sei gerade auf den Ostsee-inseln ausreichend Platz, um sich aus dem Wege zu ge-hen. Etwaigen Gegeneinwänden möchte das Gericht durch den Hinweis auf die gezeigte Compliance der Bür-ger entgehen und verweist zudem auf weitere Inkonsis-tenzen des Regelungskonzepts. Man mag zweifeln, dass die aufgeworfenen Probleme eine Frage der Angemes-senheit sind nicht die die Eignung der Maßnahme be-treffen.

Das könnte dahinstehen, wenn es nicht auf Anwendungs-probleme des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in Kons-tellationen dieser Art verweisen würde. Zum einen sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu den Maßnahmen in Pandemien nach wie vor äußerst begrenzt.52 Wie soll dann aber die Eignung und Erforderlichkeit von einzelnen Maßnahmen sinnvoll geprüft werden – von Evidenzen ungeeigneter Maßnahmen einmal abgesehen.53 Ein Wei-teres und damit eng zusammenhängendes Problem liegt darin, dass nach allen bisher vorliegenden Daten die Be-schränkungen als Ganzes betrachtet durchaus erfolgreich waren.54 Aber ob dies durch die Schließung von Einzel-handelsgeschäften und/oder Shoppingmalls, wegen de-

ren Größe oder schlicht wegen des ansonsten induzierten Verkehrs und der damit verbundenen Kontaktsteigerun-gen, durch Schul- und oder Kitaschließungen, Schließung von Spielplätzen oder durch Maßnahmen des Social Dis-tancing erreicht wird und in welchem Umfang welche Faktoren daran jeweils beteiligt sind, dass alles kann man auch im Vergleich einer größeren Zahl von Staaten nicht hinreichender Sicherheit sagen.55 Das Herauspicken ein-zelner Studien ist deswegen ein wenig rationales Vorge-hen.56 Letztlich folgen die Maßnahmen insgesamt der Lo-gik, dass die Kontaktreduktion der effektivste Weg der Unterbrechung von Übertragungsketten ist.57 Das wirft ein etwas fahles Licht auf die Argumentation des OVG Greifswald, zu konstatieren, dass die angeordnete Maß-nahme wohl zur Kontaktreduzierung beitragen kann, aber nicht angemessen ist, weil auch anderen Orten, die nicht beschränkt sind, sehr wohl unerwünschte Ansamm-lungen stattfinden können. Wäre dann nicht noch mehr zu tun gewesen, oder hätte der Verordnungsgeber dann nicht die Möglichkeit bekommen müssen, einem mögli-cherweise rechtferneren Zustand durch eine Modifikation vorzubeugen?

50 OVG Greifswald, Beschl. v. 09.04.2020 - 2 KM 268/20 OVG, der den § 4a SARS-CoV-2 VO außer Vollzug gesetzt hat.

51 OVG Greifswald, Beschl. v. 09.04.2020 - 2 KM 268/20 OVG Rn. 41 f.52 WHO, Non-pharmaceutical public health measures for mitigating the

risk and impact of epidemic and pandemic influenza; 2019: „The evi-dence base on the effectiveness of NPIs in community settings is limi-ted, and the overall quality of evidence was very low for most inter-ventions“. in Ansätzen auch ECDC Technical Report, Guidelines for the use of non-pharmaceutical measures to delay and mitigate the impact of 2019-nCoV, 2/2020.

53 Wenn das VG Hamburg, Beschl. v. 21.04.2020 - 3 E 1675/20 im Hin-blick auf den großflächigen Einzelhandel nicht erkennen kann, dass dessen Öffnung eine zusätzliche Gefahrenquelle darstellen kann, das sie ungeeignet zur Zielerreichung sei, fragt man sich, welche empiri-schen Grundlagen die Vermutung wohl tragen können. Daten können es schon deswegen nicht sein, weil die gar nicht vorliegen können.

54 Statt vieler Seth Flaxman, Swapnil Mishra, Axel Gandy et al. Estima-ting the number of infections and the impact of non-pharmaceutical interventions on COVID-19 in 11 European countries. Imperial College London (30-03-2020) doi: https://doi.org/10.25561/77731 (zuletzt ab-gerufen am 29.05.2020).

55 Seth Flaxman, Swapnil Mishra, Axel Gandy et al., Estimating the num-ber of infections and the impact of non- pharmaceutical interventions on COVID-19 in 11 European countries. Imperial College London (30-03-2020) doi: https://doi.org/10.25561/77731 (zuletzt abgerufen am 29.05.2020).

56 So aber VerfGH Saarland, Beschl. v. 28.04.2020 - LV 7/20 Rn. 36.57 In der Sache auch BVerfG, Beschl. v. 09.04.2020 - 1 BvQ 29/20 Rn. 89;

BVerfG, Beschl. v. 10.04.2020 - 1 BvQ 28/20 Rn. 14; OVG Schleswig, Beschl. v. 09.04.2020 - 3 MR 4/20 Rn. 18 f.; VG Greifswald, Beschl. v. 08.04.2020 - 4 B 339/20 HGW Rn. 33; OVG Weimar, Beschl. v. 09.04.2020 - 3 EN 238/20 Rn. 57 f.; VG Bayreuth, Beschl. v. 11.03.2020 - B 7 S 20.223 Rn. 52.

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Steuerrecht

A. Einleitung

„Das Geld für sich arbeiten lassen“ ist eine bekannte Fi-nanzweisheit. In Zeiten des Niedrigzinses ein immer schwieriger werdendes Unterfangen. Seit der Finanzkri-se im Jahre 2008 und einer seither anhaltenden Niedrig-zinsphase erweist sich das klassische Spar- und Tages-geldkonto bei der Hausbank mit nominalen Zinssätzen von 0,1 bis 1,0 %1 kaum noch als attraktive Anlagequel-le. Nicht verwunderlich scheint es daher, dass in den

letzten Jahren alternative Geldanlagequellen immer grö-ßer werdende Beliebtheit erfahren. Eine dieser aufstre-benden Anlagemöglichkeiten ist das sog. Crowdlending (oder auch „lending-based Crowdfunding“2), welches

Des einen Freud, des andern Leid – Steueränderung im Crowdlending

Wiss. Mit. Florian Auer

III. Konzeptorientierte Kontrolle?

Aber möglicherweise erweist sich die Entscheidung gleichwohl als begründbar. Denn auch wenn der Verhält-nismäßigkeitsgrundsatz aus den genannten Gründen schwer in Bezug auf jede Maßnahme applizierbar ist, so kann dies ja nicht eine Kontrollfreiheit der Exekutive, zu-mal nicht im Hinblick auf die Bedeutung der einge-schränkten Freiheitsrechte bedeuten. In der Sache dürfte auch eher die Inkonsistenz des Konzepts im Kern der Ar-gumentation liegen. Dann aber könnte ein sinnvoller An-satzpunkt des Kontrollzugriffs weniger in der einzelnen Maßnahme liegen, sondern in dem mit der Verordnung verfolgten Konzept der Reduktion von Infektionsfällen oder der Steuerung eines bestimmten Niveaus. Dann wür-de man, wie bei der Kontrolle von Abwägungsentschei-dungen eher danach fragen, ob in dem Konzept nach Maßgabe der Ziele, der vorhandenen Situation alle betrof-fenen Belange mit der zukommenden normativen Bedeu-tung und faktischen Betroffenheit hinreichend berück-sichtigt worden sind. Zugleich ermöglicht ein solcher konzeptorientierter Ansatz auch die Berücksichtigung an-derer, in der jeweiligen Verordnung nicht geregelter, aber im Hinblick auf das Gewicht der Eingriffe durchaus be-deutsamer Aspekte, wie kompensatorische Hilfen.58 Auch ließe sich berücksichtigen, dass Risiken dort zugelassen werden können, wo die entgegenstehenden Rechtsgüter besonders hoch sind, etwa bei den Gottesdiensten. Im

Grunde liegt das ja auch den Ansätzen einiger der oben zitierten Entscheidungen zugrunde, die verlangen, dass die Maßnahmen dem Gebot innerer Folgerichtigkeit unterliegen.59 Die zunehmende Prüfung der Maßnahmen anhand des Art. 3 Abs. 1 GG weist ebenfalls in diese Rich-tung.60 Es ist nicht einsichtig, dass Maßnahmen, die letzt-lich als Gesamtkonzept einen bestimmten Zielzustand er-reichen sollen, von dem Gebot des Art. 3 Abs. 1 GG dispensiert sein sollten und die Bürger in arbiträrer Weise herangezogen werden könnten.61 Wenn schon bei Abriss-verfügungen ein Konzept verlangt werden kann, dass die selektive Inanspruchnahme verhindern soll, dann gewiss auch in diesem Feld. Zugleich würde es verhindern, das Konzepte in eine Vielzahl von Einzelfällen und Gesichts-punkten ausdifferenziert werden, und am Ende dadurch auch zerlegt werden.

58 OVG Greifswald, Beschl. v. 09.04.2020 - 2 KM 293/20 OVG Rn. 36.59 OVG Weimar, Beschl. v. 09.04.2020 - 3 EN 238/20 Rn. 67 unter Beru-

fung auf OVG Hamburg, Beschl. v. 26.03.2020 - 5 BS 48/20; dagegen OVG Lüneburg, Beschl. v. 29.04.2020 - 13 MN 120/20n Rn. 45, aber für die Einbeziehung aller relevanten Belange.

60 OVG Lüneburg, Beschl. v. 30.04.2020 - 13 MN 131/20 Rn. 26 ff.; OVG Lüneburg, Beschl. v. 29.04.2020 - 13 MN 120/20 Rn. 46 ff.; OVG Müns-ter, Beschl. v. 29.04.2020 - 13 B 512/20.NE Rn. 74 ff.; OVG Saarlouis, Beschl. v. 27.04.2020 - 2 B 141/20 Rn. 34 ff.

61 Insoweit auch VerfGH Saarland, Beschl. v. 28.04.2020 - LV 7/20 Rn. 49 mit der zutreffenden Betonung der Inkonsistenz des Konzepts.

1 Geldanlage 2019: Diese Geldanlagen sind jetzt profitabel, abrufbar unter: www.zinsland.de/blog/geldanlage-ratgeber/ (zuletzt abgerufen am 27.05.2020).

2 Heuer, Die Regulierung von Crowdinvesting durch das Kleinanleger-schutzgesetz, 2017, S. 25 f.

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auf diversen Plattformen mit Renditen von bis zu 7,5 % beworben wird.3 Neben gewerbe- oder bankaufsichts-rechtlichen Fragen,4 sind im Rahmen dieser Anlageform auch steuerrechtliche Besonderheiten zu beachten.5 Aus einkommenssteuerrechtlicher Sicht hat vor dem Hinter-grund des Jahressteuergesetzes 2019 vor allem das Ka-pitalertragsteuerabzugsverfahren besonderes Augen-merk verdient, womit sich dieser Beitrag beschäftigen soll.

B. Allgemeines zum Crowdlending

Das Crowdlending ist ein Unterfall des Crowdfundings,6 welches im Deutschen auch häufig als sog. Schwarmfi-nanzierung bezeichnet wird. Unter Zugrundelegung sei-ner Wortbestandteile kann das Crowdfunding als die Fi-nanzierung eines Vorhabens („Funding“) durch eine gewisse Anzahl von Personen („Crowd“) umschrieben werden.7 Gegenstand des Crowdlendings ist die vorüber-gehende, festverzinsliche Kapitalüberlassung, welche folglich funktional mit einem klassischen Darlehensver-trag vergleichbar ist und dem Anleger die Rückzahlung des Kreditbetrages zuzüglich eines vereinbarten Zinses unabhängig vom Erfolg des zugrunde liegenden Projekts zusichert.8

Innerhalb des Begriffs des Crowdlendings, welches je nach Eigenschaft der Beteiligten auch oft als Peer-to-Peer Lending (P2P-Lending) oder Peer-to-Buisness Lending (P2B-Lending) bezeichnet wird,9 lassen sich verschiedene Gestaltungsformen mit kleineren Abweichungen in der Funktionsweise unterscheiden. Wesentlich ist dabei ins-besondere die Unterscheidung zwischen dem sog. echten und unechten P2P-Lending.10 Während beim echten P2P-Lending der Darlehensvertrag unmittelbar zwischen den Anlegern (Kreditgebern) und dem Kreditnehmer zustande kommt, erfolgt dies beim unechten P2P-Lending unter Zwischenschaltung eines Kreditinstituts (genauer im Fol-genden unter C. I.).11 In Deutschland wird über etwaige Crowdlending-Plattformen lediglich letztere Gestaltungs-form angeboten, was insbesondere auf weitreichende Er-laubnispflichten nach dem Kreditwesengesetz und ver-braucherschützende Vorschriften zurückzuführen ist.12

C. Einkommensteuerrechtliche Gesichtspunkte des Crowdlendings

Im weiteren Vorgehen dieses Beitrags sollen nunmehr unter Beschränkung auf das in Deutschland maßgebliche unechte P2P-Lending (im Folgenden: „Crowdlending“) einkommensteuerrechtliche Gesichtspunkte genauer be-leuchtet werden. Der Fokus liegt dabei insbesondere –

wie eingangs erwähnt – auf kapitalertragsteuerrechtli-chen Aspekten.

I. Funktionsweise des Crowdlendings

Um die einkommenssteuerrechtliche Situation besser erläu-tern zu können, soll vorweg in gebotener Kürze die Funk-tionsweise und die Vertragsbeziehungen der Beteiligten beim Crowdlending skizziert werden.

Zunächst publiziert der Kreditnehmer auf entsprechen-den Crowdlending-Plattformen sein Kreditgesuch. Fin-den sich genügend Anleger, den seitens des Kreditneh-mers gewünschten Geldbetrag aufzubringen,13 werden die einzelnen Teilbeträge von einem zwischengeschalte-ten Kreditinstitut zu einem Gesamtkredit gebündelt und dem Kreditnehmer zur Verfügung gestellt. Der Darle-hensvertrag i.S.d. §§ 488 ff. BGB kommt – in Abgrenzung zum echten P2P-Lending – folglich zwischen Kreditinsti-tut und Darlehensnehmer, nicht zwischen Anleger und Darlehensnehmer zustande. Die Crowdlending-Plattform

3 Bspw. auf der Webseite der auxmoney GmBH, als einer der bekann-testen deutschen Crowdlending Plattoformen, abrufbar unter: www.auxmoney.com/kredit/geldanlage-rendite.html (zuletzt abgerufen am 27.10.2019); auf Vergleichsportalen teils sogar bis zu 19 %, vgl. www.kreditrechner.com/ratgeber/crowdlending/ (zuletzt abgerufen am 27.05.2020).

4 Vgl. bspw.: Veith, BKR 2016, 184 ff.; Renner, ZBB 2014, 261 ff.5 Bezüglich Umsatzsteuer bspw.: Jansen/Huget, UR 2018, 417 ff.6 Weitere Formen sind das Donation-based Crowdfunding (Crowdo-

nating), Reward-based Crowdfunding (Crowdsupporting) und Equi-ty-based Crowdfunding (Crowdinvesting), vgl. zu den einzelnen For-men bspw. Waschbusch/Hastenteufel/Reinstädtler, StB 2018, 289, 294.

7 Weber, Die rechtlichen Beziehungen der Parteien einer gewinnbetei-ligten Schwarmfinanzierung (Crowdinvesting), 2019, S. 8 f.

8 Waschbusch/Knoll/Staub-Ney/Salfeld, StB 2016, 206, 207; Veith, BKR 2016, 184, 185; Heuer, Die Regulierung von Crowdinvesting durch das Kleinanlegerschutzgesetz, Europäische Hochschulschriften, 2017, S. 25 f.; darüber hinaus sind auch zinslose Crowdlending Fälle denkbar: vgl. Weber, Die rechtlichen Beziehungen der Parteien einer gewinnbeteiligten Schwarmfinanzierung (Crowdinvesting), 2019, S. 27.

9 Colaert, EuCML 2016, 182, 182; Crowdlending, abrufbar unter: https://ifunded.de/de/glossary/crowdlending/ (zuletzt abgerufen am 27.05.2020).

10 Selbiges muss auch für das P2B-Lending gelten.11 Aschenbeck/Drefke in: Klebeck/Dobrauz, Rechtshandbuch Digitale Fi-

nanzdienstleistungen: FinTechs, Mobile Payment, Crowdfunding, Blockchain, Kryptowährungen, ICOs, Robo-Advice, 2018, S. 102 Rn. 27.

12 Vgl. hierzu u.a.: Renner, ZBB 2014, 261, 264 ff.; Veith, BKR 2016, 184, 185 ff.

13 Andernfalls kommt keine Finanzierung zustande. Die Finanzierung in Höhe eines Teilbetrages der gewünschten Kreditsumme scheidet bei Crowdlending-Projekten grds. aus; vgl. www.kreditrechner.com/rat-geber/crowdlending/ (zuletzt abgerufen am 27.05.2020).

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nimmt dabei eine zwischen allen Beteiligten vermitteln-de Position ein und erhält hierfür eine Vermittlungsge-bühr. Den gegen den Kreditnehmer gerichteten Rückzah-lungsanspruch zzgl. Zinsen gem. § 488 Abs. 1 Satz 2 BGB teilt das Kreditinstitut nunmehr in – den ursprünglichen Teilbeträgen entsprechende – Teilforderungen auf und tritt diese Teilforderungen im Rahmen eines Forderungs-kauf- und Abtretungsvertrages an die Anleger ab.14 So-wohl der Forderungskaufvertrag als auch der Abtre-tungsvertrag zwischen Anleger und Kreditinstitut werden regelmäßig unter der aufschiebenden Bedin-gung eines wirksamen und unwiderruflichen Darlehens-vertrages zwischen Kreditnehmer und Kreditinstitut ge-schlossen.15 Häufig werden die Teilforderungen auch zunächst seitens einer hundertprozentigen Tochterge-sellschaft der Crowdlending-Plattform (sog. Interme-diär) erworben und anschließend den Anlegern zum Er-werb angeboten.16 Die Rückzahlung bzw. das Inkasso erfolgt schließlich über die Crowdlending-Plattform bzw. über eine hundertprozentige Tochtergesellschaft die-ser.17

II. Qualifikation der Einkünfte

Die Qualifikation der Einkünfte im Rahmen des Crow-dlendings wirft keine großen Schwierigkeiten auf. Bei der Rückzahlung der Darlehensvaluta handelt es sich nach quellentheoretischen Grundsätzen lediglich um eine sog. nicht steuerbare Vermögensumschichtung.18 Nichts anderes gilt im Rahmen des Kapitalrückflusses einer erworbenen Darlehensforderung, da der Erwerber in diesem Fall als Folge des Forderungskauf- und Abtre-tungsvertrages in das Kapitalnutzungsverhältnis ein-tritt.19 Wirtschaftlich betrachtet stellt jener Eintritt in das Kapitalnutzungsverhältnis auch das von den Betei-ligten gewünschte Ergebnis dar, da die Zwischenschal-tung eines Kreditinstituts beim Crowdlending prioritär auf anderweitig drohende Erlaubnispflichten zurückzu-führen ist.20

Die seitens des Kreditnehmers gezahlten Zinsen stellen hingegen – auch beim Erwerber einer Zinsforderung – steuerbare Einnahmen i.S.d. § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG dar.21

III. Das Crowdlending und die Kapitalertragsteuer

Insbesondere bei Einkünften aus Kapitalvermögen gilt zu hinterfragen, ob die Kapitalerträge der Kapitalertragsteuer nach §§ 43 ff. EStG unterliegen oder erst im Rahmen der Veranlagung des Gläubigers gem. § 25 Abs. 1, § 32d Abs. 3 EStG von diesem in der Einkommensteuererklärung anzu-geben sind.

1. Allgemeines

Für bestimmte private Kapitaleinkünfte sieht das EStG seit 2009 in Abweichung vom progressiven Tarif des § 32a EStG einen einheitlichen proportionalen Einkom-mensteuersatz i.H.v. 25 %22 vor, § 32d Abs. 1 Satz 1 EStG. Aus Gründen der Verfahrenserleichterung sowie zur Sicherung und Kontrolle des Steueraufkommens wird diese Steuer weitestgehend – jedoch nicht umfas-send – bereits an der Quelle erhoben (sog. Kapital-ertragsteuer). Bei der Kapitalertragsteuer handelt es sich folglich ebenso wie bei der Lohnsteuer um eine be-sondere Erhebungsform der Einkommensteuer.23 Als Quellensteuer wird die Kapitalertragsteuer nicht erst im Rahmen der persönlichen Veranlagung, sondern bereits vom Schuldner der Kapitalerträge oder von der auszah-lenden Stelle für Rechnung des Gläubigers einbehalten (vgl. § 44 Abs. 1 Satz 3 EStG) und an das Finanzamt ab-geführt. Je nach Art der Einkünfte hat dies gem. § 43 Abs. 5, § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG abgeltende oder voraus-zahlende Wirkung. Die der Kapitalertragsteuer unterlie-

14 Ausführlicher siehe: Renner/Böhle, JuS 2019, 316, 318 ff.; Waschbusch/Hastenteufel/Reinstädtler, StB 2018, 289, 294; Veith, BKR 2016, 184, 187 f.; Aschenbeck/Drefke in: Klebeck/Dobrauz, Rechtshandbuch Digi-tale Finanzdienstleistungen: FinTechs, Mobile Payment, Crowdfunding, Blockchain, Kryptowährungen, ICOs, Robo-Advice, 2018, S. 102 Rn. 26 ff.; Renner, ZBB 2014, 261, 263 f.

15 Vgl. hierzu exemplarisch § 2 und § 4 des Mustervertrags der auxmo-ney GmbH, abrufbar unter: www.auxmoney.com/contact/dokumente/lender/AnlageC.pdf (zuletzt abgerufen am 27.05.2020); Veith, BKR 2016, 184, 188; Renner, ZBB 2014, 261, 264.

16 Vgl. BaFin Auslegungsschreiben zum Crowdlending v. 09.10.2015, ab-rufbar unter: www.bafin.de/SharedDocs/Veroeffentlichungen/DE/Aus-legungsentscheidung/WA/ae_151009_crowdlending.html (zuletzt ab-gerufen am 27.05.2020); grafisch dargestellt in Aschenbeck/Drefke in: Klebeck/Dobrauz, Rechtshandbuch Digitale Finanzdienstleistungen: FinTechs, Mobile Payment, Crowdfunding, Blockchain, Kryptowährun-gen, ICOs, Robo-Advice, 2018, S. 103 Rn. 29.

17 Vgl. hierzu exemplarisch § 2 (5) Buchst. c) und Vorbemerkung des Mustervertrags der auxmoney GmbH, abrufbar unter: www.auxmoney.com/contact/dokumente/lender/AnlageC.pdf (zuletzt abgerufen am 27.05.2020).

18 Schmidt in: BeckOK, EStG, 4. Edition, § 20 Rn. 1033 i.V.m. Rn. 378, Stand 01.05.2020.

19 FG Hamburg, Urt. v. 11.10.1990 - VII 23/88; BFH, Urt. v. 21.05.1993 - VIII R 1/91 - BStBl. II 1994, 93.

20 Vgl. bereits Fn. 17.21 Fasst man das Partiarische Darlehen ebenfalls unter den Begriff des

Crowdlendings (vgl. Fn. 10) gilt darüber hinaus § 20 Abs. 1 Nr. 4 EStG zu beachten; (Fremdkapital-)Genussrechten (ohne Beteiligungsrecht am Gewinn oder Erlös) werden hingegen ebenfalls unter § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG subsumiert, vgl. Schmidt in: BeckOK, EStG, 4. Edition, § 20 Rn. 530, Stand 01.07.2019.

22 Zzgl. Solidaritätszuschlag und ggf. Kirchensteuer.23 Hörner in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, 2010, Vorbemerkung

§ 43 Rn. 7.

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genden Kapitalerträge sind in § 43 Abs. 1 EStG abschlie-ßend aufgezählt.24 Die Steuerabzugspflicht und die davon betroffene Person oder Körperschaft ergibt sich aus § 44 Abs. 1 Sätze 3 und 4 EStG.

Kapitalerträge, welche nicht der Kapitalertragsteuer unterliegen, sind hingegen gem. § 32d Abs. 3 Satz 1 EStG verpflichtend zu erklären und werden unter Be-rücksichtigung des besonderen Steuersatzes des § 32d Abs. 1 Satz 1 EStG im Rahmen der Veranlagung der tarif-lichen Einkommensteuer hinzugerechnet, § 32d Abs. 3 Satz 2 EStG.

2. Kapitalertragsteuerabzug beim Crowdlending – Rechtsstand bis 31.12.2019

Nach soeben beschriebenen steuerrechtlichen Rahmenbe-dingungen war ein Kapitalertragsteuerabzug bis Ende 2019 bei aus Crowdlending erworbenen Zinsen i.d.R. nicht vor-zunehmen.

Bei einfachen Darlehensverträgen und so auch beim klassischen Crowdlending kam nach vorherigem Recht grds. nur ein Kapitalertragsteuerabzug nach § 44 Abs. 1 Satz 3 und 4 Nr. 1 Buchst. a), § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 Buchst. b) EStG in Betracht. Voraussetzung dessen war jedoch expressis verbis, dass es sich beim Schuldner der Kapitalerträge um ein inländisches Kreditinstitut – ein-schließlich in § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 Buchst. b) Satz 2 gesondert aufgeführter Körperschaften – oder ein inlän-disches Finanzdienstleistungsinstitut im Sinne des KWG handelte.

Schuldner der Kapitalerträge im Rahmen von Darlehens-verträgen ist derjenige, welcher Zinsen auf die zur Verfü-gung gestellte Darlehensvaluta zu zahlen hat, mithin der Darlehensnehmer. Dieser wird beim Crowdlending aber im Regelfall gerade kein inländisches Kreditinstitut oder Finanzdienstleistungsinstitut sein. U.a. zur Verhinderung dessen ist in Deutschland nahezu ausschließlich das Crowdlending mit Zwischenschaltung eines Kreditinsti-tuts verbreitet, da der Kreditnehmer andernfalls Gefahr liefe, einer Erlaubnispflicht für Einlagegeschäfte gem. § 32 Abs. 1 Satz 1 EStG i.V.m. § 1 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 KWG zu unterliegen und bei entsprechender Gewerblichkeit auch einer Kapitalertragsteuerabzugspflicht.25 Folglich schied der Darlehensnehmer als tauglicher Schuldner der Kapitalerträge i.S.v. § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 Buchst. b) EStG regelmäßig aus.

Auch das Kreditinstitut und (bei entsprechender Zwi-schenschaltung) der Intermediär konnten (bis dato) nicht zum Kapitalertragsteuerabzug verpflichtet werden. Zwar konnte es sich bei diesen um – i.S.v. § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 Buchst. b) EStG – taugliche Schuldner der

Kapitalerträge handeln,26 sie waren jedoch beim Crow-dlending gerade nicht Kapitalertragschuldner der Zin-sen.

Betreffend die klassischen Fälle des Crowdlendings oblag es bis Ende 2019 mithin dem Anleger seiner Erklärungs-pflicht gem. § 32d Abs. 3 Satz 1 EStG nachzukommen.

3. Kapitalertragsteuerabzug beim Crowdlending – Rechtsstand ab 01.01.2020

Diese missbrauchsanfällige Gesetzeslage hat der Ge-setzgeber mit Wirkung zum 01.01.2020 zur Sicherung des Steueraufkommens geändert.27 Die § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 Buchst. c) und § 44 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 Buchst. c) EStG stellen nunmehr sicher, dass Zinserträge aus Crowdlending nicht nur dann besteuert werden, wenn diese seitens der Anleger in ihrer Steuererklärung nach § 32d Abs. 3 Satz 1 EStG angegeben werden, sondern die Steuer bereits bei Auszahlung an die Anleger einbe-halten wird.

§ 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 Buchst. c) Satz 1 EStG unterwirft hierzu unabhängig von der „Qualität“ des Schuldners der Kapitalerträge sämtliche Zinserträge, welche über eine Internetdienstleistungsplattform i.S.v. § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 Buchst. c) Satz 2 EStG-E erworben wurden, der Kapi-talertragsteuer.

Ergänzend hierzu qualifiziert § 44 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 Buchst. c) EStG die Internetdienstleistungsplattform, welche die Kapitalerträge an den Gläubiger auszahlt, als auszahlende Stelle i.S.v. § 44 Abs. 1 Satz 3 EStG, d.h. verpflichtet diese für Rechnung des Gläubigers der Ka-pitalerträge den Steuerabzug vorzunehmen, sofern sich nicht ausnahmsweise die Steuerabzugspflicht eines an-deren ergibt (vgl. § 44 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 Buchst. c) a.E. EStG).

Die Crowdlending-Plattform oder deren Intermediär, wel-che/r üblicherweise die Zahlung der Kapitalerträge abwi-ckelt,28 ist zum Kapitalertragsteuerabzug verpflichtet. Die Crowdlending-Plattform besitzt aufgrund der vorherigen

24 Heß in: Lademann, EStG, 2018, § 43 Rn. 96; Hörner in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, 2010, Vorbemerkung § 43 Rn. 20.

25 Genauer hierzu vgl. Veith, BKR 2016, 184, 185 f.; Renner/Böhle, JuS 2019, 316, 317.

26 Vgl. hierzu bspw. Crowdlending, abrufbar unter: www.bafin.de/DE/Aufsicht/FinTech/Crowdfunding/Crowdlending/crowdlending_node.html (zuletzt abgerufen am 27.05.2020).

27 Gesetz zur weiteren steuerlichen Förderung der Elektromobilität und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften v. 12.12.2019, BGBl. I, 2451.

28 Vgl. C.I. a.E. und Fn. 18.

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Strafrecht

Den Joint nicht weitergeben – weshalb Egoismus zuweilen vor Strafe schütztBGH, Urt. v. 11.09.2019 - 2 StR 563/18

Wiss. Mit. Michelle Weber

A. Problemstellung

Während die Vorschrift des § 13 StGB seit Mitte des vergan-genen Jahres vor allem wegen des Urteils zu den Grenzen der ärztlichen Garantenstellung bei Suizidbegleitung1 im Fokus der Diskussion steht, darf nicht vergessen werden, von welch praktischer Bedeutung die Norm ansonsten ist. Letzteres ver-deutlicht das aktuelle Urteil des BGH, welches neben der Ga-rantenstellung wegen Zugehörigkeit zu einer Gruppe und der Eröffnung einer Gefahrenquelle insbesondere auf die Sonder-verantwortlichkeit wegen pflichtwidrigen Vorverhaltens im Rahmen des Konsums von gefährlichen, aber nicht verbote-nen Mitteln eingeht. Dabei wird nicht nur die Komplexität des unechten Unterlassungsdelikts deutlich, sondern auch, war-um § 13 StGB immer wieder Gegenstand höchstrichterlicher Rechtsprechung ist. Dennoch ist die Entscheidung nicht aus-schließlich wegen der Ausführungen zum Unterlassen lesens- und beachtenswert. Auch die straflose Teilnahme an einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung wird trennscharf zur strafbaren Fremdgefährdung abgegrenzt.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die vom BGH verworfene Revision der Staatsanwalt-schaft betraf ein am 09.05.2018 ergangenes Urteil des LG Hanau,2 dem folgender Sachverhalt zugrunde lag: Die Angeklagten K., S., Z. und As. trafen sich am Abend des 27.04.2016 zunächst in der Wohnung des Angeklag-ten A., bevor alle gemeinsam gegen 0:00 Uhr die Woh-nung verließen und auf einem Schulgelände zufällig auf den erkennbar stark alkoholisierten (2,26 Promille) und deshalb lallenden und taumelnden Geschädigten M. tra-fen. Einige Meter von As. und Z. entfernt, standen K. S. A. und M. zusammen während S. und M. eine Zigarette rauchten. Sodann nahm K. einen von A. hergestellten Joint mit Spice3 hervor und rauchte davon. Auch S. nahm

Anmeldung des Anlegers auf der Plattform als auch auf-grund ihrer Vermittlungstätigkeit i.d.R. alle notwendigen Informationen, die Kapitalertragsteuer einschließlich Soli-daritätszuschlag sowie Kirchensteuer einzubehalten und abzuführen.29

Im Rahmen des Abzugsverfahrens hat die Crowdlending-Plattform eine Kapitalertragsteuererklärung i.S.v. § 45 Abs. 1 Satz 1 EStG abzugeben und auf Verlangen den An-legern gem. § 45 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 EStG eine entspre-chende Bescheinigung der Kapitalertragsteuer zu über-mitteln. Ebenfalls ist es dem Anleger möglich, über einen Freistellungsauftrag gem. § 44a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 seinen Sparerpauschbetrag nach § 20 Abs. 9 EStG gegenüber der Crowdlending-Plattform geltend zu machen. Darüber hin-aus haftet die Crowdlending-Plattform künftig gem. § 44 Abs. 5 Satz 1 EStG für die Kapitalertragsteuer, die sie ein-zubehalten und abzuführen hat.

Mit der Gesetzesänderung ist schließlich auch eine Paral-lele zum Crowdinvesting30 geschaffen worden, im Rah-men dessen der Schuldner der Kapitalerträge je nach Aus-gestaltung gem. § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 oder 3, § 44 Abs. 1 Satz 3 EStG zum Abzug der Kapitalertragsteuer ver-pflichtet ist.

IV. Fazit

Das Crowdlending ist eine attraktive, wenn auch risikorei-che, alternative Anlagequelle. Mit der Anfang dieses Jahres in Kraft getretenen Gesetzesänderung unterfällt nunmehr auch das Crowdlending dem Kapitalertragsteuerabzugs-verfahren. Die infolgedessen verbesserte Zuverlässigkeit von Steuerzahlungen zugunsten des Staates sowie der Wegfall der Erklärungspflicht zugunsten des Steuerschuld-ners gehen jedoch einher mit signifikanten Änderungen zu-lasten der Plattformbetreiber, welche sich neben der Ver-pflichtung zur Abführung der Kapitalertragsteuer auch mit einem Haftungsrisiko und erhöhtem Verwaltungsaufwand konfrontiert sehen.

29 Gesetz zur weiteren steuerlichen Förderung der Elektromobilität und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften v. 12.12.2019, BGBl. I, 2451.

30 Das Crowdinvesting ist dabei die Kapitalüberlassung gegen Betei-ligung am Unternehmensgewinn. In Deutschland dabei nahezu ausschließlich verwendet sind hybride Finanzierungsformen (sog. Mezzanine-Finanzinstrumente) wie partiarische (Nachrang-)Dar-lehen, Genussrechte oder stille Gesellschaften (vgl. Beck, Crowdin-vesting, 2014, S. 29; Heuer, Die Regulierung von Crowdinvesting durch das Kleinanlegerschutzgesetz, 2017, S. 53 ff.; Weber, Die rechtlichen Beziehungen der Parteien einer gewinnbeteiligten Schwarmfinanzierung (Crowdinvesting), 2019, S. 27 ff.; Veith, BKR 2016, 184, 185.

1 BGH, Urt. v. 03.07.2019 - 5 StR 393/18.2 LG Hanau, Urt. v. 09.05.2018 - 3325 Js 7570/16.3 Spice ist eine aus synthetischen Cannabinoiden und Pflanzenteilen

hergestellte Droge, die insbesondere als Ersatz für Cannabisprodukte verwandt wird und u.a. den Wirkstoff 5F-ADB enthält. Erst seit Inkraft-treten des Neue-psychoaktive-Stoffe-Gesetzes (NpSG) am 26.11.2016 ist der Umgang mit Spice verboten.

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einige Züge davon, bevor er den Joint an K. zurückgab, der wieder daran zog. Daraufhin fragte M., ob er auch an dem Joint ziehen könnte, was die Angeklagten K. und S. verneinten. Sie hatten zwar keine Kenntnis von den gesundheitlich negativen Auswirkungen des Joints, wussten aber, dass es sich laut ihrem Freund A. um „starkes Zeug“ handelte. Daraufhin rief M. „Kindergar-ten“ in Richtung von K. und S., nahm K. eigenmächtig den Joint aus der Hand und nahm zwei Züge davon, be-vor er über die Knie nach vorne fiel und reglos auf der Wiese liegen blieb. Die zunächst schockierten Ange-klagten rannten einige Meter davon, bevor S. sich ent-schied, nach M. zu schauen und umkehrte. Dieser erbrach sich, woraufhin S. ihn in eine „Art stabile Sei-tenlage“ brachte und K. zur Hilfe herbeirief. K. half so-dann den M. umzudrehen, der sich noch mehrfach er-brach und nicht ansprechbar war. Da sie wegen des von Z. mitgeführten Grases und des von M. konsumierten Joints strafrechtliche Konsequenzen fürchteten, ent-schieden die Angeklagten, M. keine weitere Hilfe (etwa durch einen Notruf) zukommen zu lassen. Daraufhin be-gaben sich alle Angeklagten in eine Spielothek, die As. und Z. zehn Minuten später wieder verließen, um nach Hause zu fahren. Auch K., S., und A. fuhren nach etwa 30 Minuten auf dem Nachhauseweg am Schulgelände vorbei und S. schaute nach M., der noch an gleicher Stelle lag und gleichmäßig atmete. Die Angeklagten er-kannten weder den tödlichen Ausgang des Geschehens, noch nahmen sie den Tod des M. billigend in Kauf. Da S. und K. selbst mehrfach an dem Joint zogen, schloss das Landgericht eine Kenntnis der Angeklagten von der töd-lichen Wirkung des Joints aus. M. verstarb in den frühen Morgenstunden des 28.04.2016 bedingt durch eine Mischintoxikation von Alkohol und dem synthetischen Cannabinoid 5F-ADB (Spice), sowie einer angeborenen Koronaranomalie. Bei unverzüglichem Absetzen eines Notrufs nach M.‘s Zusammenbruch wäre eine Rettung möglich, aber nicht überwiegend wahrscheinlich gewe-sen.4

Das Landgericht verurteilte alle Angeklagten wegen unterlassener Hilfeleistung nach § 323c StGB. Der 2. Strafsenat bestätigt dies und führt aus, dass eine wei-tergehende Verurteilung wegen Aussetzung mit Todes-folge gem. § 221 Abs. 3 StGB i.V.m. § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB und wegen eines Tötungsdelikts durch Unterlassen mangels Garantenstellung nicht in Betracht kommt. Da-bei wird ausführlich und beinahe lehrbuchartig auf sich möglicherweise für A., S. und K. ergebende Garanten-stellungen wegen Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, Ingerenz und Schaffung oder Unterhaltung einer Gefah-renquelle eingegangen.

I. Garantenstellung wegen Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft

Von der grundsätzlichen Möglichkeit der Generierung einer Garantenpflicht aus der erkennbaren Übernahme einer Schutzfunktion gegenüber einem Hilfsbedürftigen innerhalb einer Gruppe,5 werden lose Zusammenschlüsse wie die einer Gruppe von Rauschgiftkonsumenten abge-grenzt und klargestellt, dass auch das zufällige Befinden in der gleichen Gefahrensituation keine Pflicht nach § 13 StGB begründet.6 Bei dem Zusammenstehen in einer Gruppe handele es sich allenfalls um eine solche Konsum-gemeinschaft, die allein qua ihres Bestehens keine Pflicht begründe.7 Auch die Tatsache, dass M. dem K. den Joint eigenmächtig abnahm, daran zog und zusammenbrach ändere daran nichts, obgleich der Tatsache, dass M. sich damit zu einem „Hilfsbedürftigen“ innerhalb der Gruppe machte. Der 2. Senat verdeutlicht nochmals, dass die Ga-rantenpflicht eine tatsächliche Übernahme von Verant-wortung erfordert, die nicht durch die bloße Kenntnis der Hilfsbedürftigkeit ersetzt werden kann.8 Gleiches gelte auch für die (ungenügende) Erfüllung einer Pflicht aus § 323c StGB, welche keine Garantenpflicht zur Vollendung der begonnenen Hilfeleistung begründe.9

II. Garantenstellung wegen Ingerenz

Das Gericht stellt nochmals klar, dass die Unterstützung des Konsums von Rauschgift durch einen Dritten ein pflichtwid-riges Vorverhalten und damit eine Garantenstellung aus In-gerenz begründet, soweit dies strafbar ist. Diese strafrecht-liche Verantwortlichkeit entfalle jedoch bei Vorliegen einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung des Opfers, da auch die Ermöglichung dessen eine Teilnahme an einem tatbestands- und damit straflosen Geschehen konstatiert.10 Diese straflose Beteiligung an einer eigenverantwortlichen

4 Hierbei handelt es sich um eine gekürzte Form des Sachverhalts. Im Originalsachverhalt ermöglichten die Angeklagten K. und A. am selben Tag einem Verwandten des K. den Konsum eines solchen Joints, wel-cher erhebliches körperliches Unwohlsein davontrug, was die Ange-klagten, die zu diesem Zeitpunkt die Wohnung des Verwandten wieder verlassen hatten, jedoch nicht mehr mitbekamen. Zudem entwendete der Angeklagte K. nach dem Zusammenbruch des M. dessen Geldbör-se und ein Mettaletui mit Zigaretten, wofür er vom LG Hanau wegen Diebstahls verurteilt wurde. Beide Geschehnisse waren nicht Inhalt der BGH-Entscheidung.

5 BGH, Urt. v. 11.09.2019 - 2 StR 563/18 Rn. 12; unter Verweis auf: BGH, Urt. v. 04.12.2007 - 5 StR 324/07.

6 BGH, Urt. v. 11.09.2019 - 2 StR 563/18 Rn. 12.7 BGH, Urt. v. 11.09.2019 - 2 StR 563/18 Rn. 14 f.8 BGH, Urt. v. 11.09.2019 - 2 StR 563/18 Rn. 17.9 BGH, Urt. v. 11.09.2019 - 2 StR 563/18 Rn. 18.10 BGH, Urt. v. 11.09.2019 - 2 StR 563/18 Rn. 19.

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Die Monatszeitschrift

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Selbstgefährdung sei mithilfe der Grundsätze von Täter-schaft und Teilnahme von der grds. tatbestandlichen Fremd-gefährdung abzugrenzen, wobei dem Täter eine relevante Handlungsherrschaft auch dann zuwachsen könne, wenn die Freiverantwortlichkeit des Opfers etwa infolge einer In-toxikation beeinträchtigt ist.11 Ein Rückgriff darauf war im vorliegenden Fall allerdings nicht vonnöten, da bereits kein eine Ingerenz begründendes Vorverhalten gegeben sei. Der vorliegend konsumierte Stoff unterlag im Tatzeitpunkt noch keiner rechtlichen Beschränkung, weshalb die Herstellung und Weitergabe des Joints durch A. sowie das Herausneh-men des Joints auf dem Schulgelände durch K. nicht pflicht-widrig gewesen sei.12 Die Wegnahme des Joints durch M. stelle sich als ein überraschendes, unvorhersehbares und den Angeklagten nicht zuzurechnendes Tun dar. Selbst wenn das Herausnehmen des Joints als pflichtwidrig zu be-werten wäre, und dieses kausal eine Gefahr herbeiführt, die aber erst durch das verantwortungsvolle Handeln eines Dritten begründet wird, könne das Verhalten nicht zu einer Garantenstellung führen.13 Gerade die Ablehnung der Übergabe des Joints vermeide eine Ingerenzhaftung, die im Fall der Überlassung des Joints an M. anzunehmen wäre.14

III. Garantenstellung wegen Unterhaltung einer Gefahrenquelle

Auch die Schaffung oder Unterhaltung einer Gefahren-quelle sei grds. geeignet, eine Garantenpflicht, mit dem Inhalt des Treffens von Vorkehrungen zum Schutz anderer Personen, zu begründen.15 Der Angeklagte A. habe zwar durch das Herstellen und Weitergeben des Joints eine Ge-fahrenquelle geschaffen, K. und S. aber über die Stärke des Joints aufgeklärt, ohne die davon ausgehenden Ge-fahren zu kennen. Weitere Pflichten träfen A. nicht, da der Umgang mit Spice im Tatzeitpunkt nicht unter Strafe stand und er auch während des Geschehens auf dem Schulgelände nicht davon ausgehen musste, dass ein Drit-ter von dem Joint rauchen könnte.16 Dass K. den Joint in den Händen hielt und S. davon rauchen ließ, mache diesen noch nicht zu einer Gefahrenquelle für umstehende Perso-nen, da insbesondere keine eingeräumte Zugriffsmöglich-keit für M. auf den Joint bestand; der Zugriff wurde viel-mehr verweigert. Die Verweigerung des Zugriffs stellt gerade den Unterschied zur Rechtsprechung in den sog. GBL-Fällen17 dar, in welchen eine Garantenstellung aus der Beherrschung einer gefährlichen, wenngleich legalen Gefahrenquelle abgeleitet wird.18

C. Bewertung

Das vorliegende Urteil des BGH ist sowohl wegen der ge-nauen Analyse eines komplexen Sachverhalts als auch wegen seiner präzisen Auseinandersetzung mit den in Be-

tracht kommenden Garantenstellungen begrüßenswert. Der Senat stellt klar, dass er der 1954 ergangenen Recht-sprechung zur Garantenpflicht von gemeinsam Zechen-den19 noch immer Geltung beimisst und an der Vorausset-zung einer tatsächlichen Pflichtübernahme festhält. In früheren Urteilen wurde dem BGH zu Recht Widersprüch-lichkeit vorgeworfen, wenn dem Täter zwar wegen aktiver Mitwirkung an einer eigenverantwortlichen Selbstgefähr-dung Straflosigkeit attestiert wurde, er dann aber wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen bestraft wurde.20 Es führe zu Wertungswidersprüchen, wenn die erlaubte Teilnahme an einer eigenverantwortlichen Selbstgefähr-dung auf einem Umweg über die Unterlassenstrafbarkeit ausgehebelt werde.21 Dies umgeht der 2. Strafsenat hier, indem er zunächst feststellt, dass mangels eines pflicht-widrigen Vorverhaltens bereits keine Garantenpflicht bei den Angeklagten besteht, danach aber – für den Fall, dass doch eine Garantenpflicht bestünde – das Vorliegen einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung feststellt. Damit wird, wie auch mit dem Festhalten an der Rechtsprechung zur Garantenstellung von Zechkumpanen, das Eigenver-antwortlichkeitsprinzip gestärkt. Gleichzeitig wird spie-gelbildlich zu den sog. GBL-Fällen verdeutlicht, dass die Ablehnung der Übergabe des Joints richtigerweise geeig-net ist, einerseits eine Garantenstellung aus Ingerenz zu vermeiden und andererseits dadurch gerade keine Gefah-renquelle für Dritte, eigenverantwortlich handelnde Per-sonen eröffnet wird. Der BGH trägt mit dem besproche-nen Urteil sowohl den Grundsätzen von § 13 StGB als auch dem Eigenverantwortlichkeitsprinzip Rechnung, denn: „Die Strafrechtsordnung verlangt grundsätzlich nur, dass jeder sein Verhalten so einrichtet, dass er selbst Rechtsgüter nicht gefährdet, nicht aber auch darauf, dass andere dies nicht tun.“22

11 BGH, Urt. v. 11.09.2019 - 2 StR 563/18 Rn. 20.12 BGH, Urt. v. 11.09.2019 - 2 StR 563/18 Rn. 22 f.13 BGH, Urt. v. 11.09.2019 - 2 StR 563/18 Rn. 23.14 BGH, Urt. v. 11.09.2019 - 2 StR 563/18 Rn. 24.15 BGH, Urt. v. 11.09.2019 - 2 StR 563/18 Rn. 27.16 BGH, Urt. v. 11.09.2019 - 2 StR 563/18 Rn. 30, 32.17 „GBL“ steht für den Stoff Gamma-Butyrolacton, ein Lösungs-/

Reiningungsmittel, das u.a. als K.O.-Tropfen verwendet wird.18 BGH, Urt. v. 11.09.2019 - 2 StR 563/18 Rn. 28, 32; unter Verweis auf:

BGH, Urt. v. 21.12.2011 - 2 StR 295/11; BGH, Beschl. v. 05.08.2015 - 1 StR 328/15.

19 BGH, Urt. v. 25.02.1954 - 1 StR 612/53; Bosch in: Schönke/Schröder, StGB, § 13 Rn. 40, 41.

20 BGH, Urt. v. 27.06.1984 - 3 StR 144/84; ferner: BGH, Urt. v. 09.11.1984 - 2 StR 257/84.

21 Roxin, AT I, § 11 Rn. 112; Lackner/Kühl, StGB, Vor. 211 Rn. 16; Freund in: MünchKomm, StGB, § 13 Rn. 189, beziehend auf die Sonderverant-wortlichkeit des Drogenlieferanten.

22 BGH, Urt. v. 11.09.2019 - 2 StR 563/18 Rn. 23.

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Justice

Russel Zinn ist seit 2008 Richter am Federal Court of Canada. Er hat 1976 einen Abschluss als Master of Arts in Philosophy an der Carleton University in Ottawa erworben und 1980 als Ba-chelor of Laws an der University of Ottawa. Bis zu seiner Ernennung als

Bundesrichter arbeitete er 27 Jahre lang als Rechtsanwalt. Zinn ist Autor des Buches „The Law of Human Rights in Canada: Practice and Procedure”. 2014 wurde er in das Governing Council der Internationalen Vereinigung der Asyl- und Migrationsrichter (IARMJ) gewählt und war dort bis 2019 der Präsident der Sektion für Amerika. Justice Zinn hat deutsche Vorfahren.

Russel Zinn

INTERVIEW

Kanada hat ein Justizsystem, das den Strukturen der Common-Law-Staaten folgt. Die Gerichte befassen sich dort auch mit Rechtsstreitigkeiten, die in den Besonder-heiten der Geschichte des Landes begründet sind. Kana-da ist ein Land, in dem die Ureinwohner infolge der Be-siedlung durch Europäer in Reservaten leben. Wenn die Ureinwohner eigene Rechte vom Staat einfordern, ent-scheiden hierüber Bundesrichter wie unser Gesprächs-partner Justice Russell Zinn vom Federal Court of Cana-da. Derartige Verfahren finden in bestimmten Abschnitten auch im Reservat statt. Dies und andere Charakteristika des kanadischen Gerichtswesens werden Gegenstand des nachfolgenden Interviews sein.

Dörig: Lieber Herr Kollege Zinn, über welche Rechts-gebiete entscheidet der Federal Court of Canada?

Zinn: Kanada ist ein Bundesstaat, ganz ähnlich wie Deutschland. Es gibt Gesetzgebungszuständigkeiten der Länder („Provinzen”) und des Bundes. Danach richtet sich in Kanada – anders als in Deutschland – auch die Zuständigkeit der Gerichte. Die Gerichte der Provinzen entscheiden über Landesrecht, die Bundesgerichte über Bundesrecht. In Deutschland entscheiden die Gerichte der Länder auch über Bundesrecht, so etwas gibt es bei uns nicht.

Gegenstände des Bundesrechts sind in Kanada etwa die Landesverteidigung, die auswärtigen Beziehungen, das Währungsrecht, Strafrecht, Ausländer- und Staatsangehö-rigkeitsrecht. Die Provinzen sind u.a. zuständig für Kommu-nalrecht, Schul- und Hochschulrecht, Zivilrecht und Stra-ßenrecht. Über diese Fragen entscheiden dann die Gerichte der Provinzen.

Der Federal Court ist Kanadas erstinstanzliches Bundesge-richt. Es gibt hier keine getrennten Gerichtszweige für Straf-, Zivil- oder Verwaltungsrecht. Wir sind auch für das Wettbewerbs- und Urheberrecht zuständig. Aber viele unserer Klagen betreffen verwaltungsrechtliche Fragen. Eine besondere Zuständigkeit bezieht sich auf die Rechte der Ureinwohner. Denn diese Rechte leiten sich aus Ver-pflichtungen ab, die der Zentralstaat wie auch einzelne Pro-vinzen gegenüber den Ureinwohnern („First Nations“) übernommen haben. Darauf komme ich später noch näher zurück.

Wie viele Richter arbeiten am Federal Court?

Gegenwärtig setzt sich das Gericht aus 35 Vollzeitrichtern zusammen, neun außerplanmäßigen Richtern und acht Prothonotaren. Letztere sind gerichtliche Beamte, nicht Richter im engeren Sinne, die überwiegend Fall-Manage-

ment und Mediation betreiben und über prozessuale An-träge sowie Klagen mit einem Streitwert bis zu 50.000 Dollar entscheiden. Rund 50 Richter für alle erstinstanzli-chen Klagen über Fragen des Bundesrechts mögen Ihnen wenig erscheinen im Vergleich zu Deutschland. Aber in Kanada werden viele Streitigkeiten schon im vorgerichtli-chen Raum geklärt.

Entscheidungen des Federal Court sind in allen Provinzen bindend. Gegen sie ist unter gewissen Voraussetzungen Be-rufung zum Federal Court of Appeal möglich. Außerdem hat Kanada einen Supreme Court mit neun Richtern, der in Ot-tawa seinen Sitz hat.

Justice Zinn, ich habe gehört, dass die Richter des Fe-deral Court durch das ganze Land reisen und dort Ge-richtsverhandlungen abhalten, wo der Streit zu ent-scheiden ist. Können Sie das erläutern?

Der Federal Court hat in Kanadas Hauptstadt Ottawa sei-nen Sitz. Er hält seine Verhandlungen aber in allen Provin-zen des Landes ab. Dort werden die Anhörungen durchge-führt und die Entscheidungen verkündet. Das Gericht hat in allen größeren Städten des Landes Büro- und Verhand-lungsräume, z.B. in Toronto, Montreal, Vancouver, Calgary, Halifax, Regina und Edmonton. In Angelegenheiten der in-digenen Bevölkerung tagen wir auch in Reservaten. Ich bin also einen Großteil des Jahres auf Reisen, manchmal be-gleitet meine Frau mich.

Wie viele Richter entscheiden den Rechtsstreit an Ihrem Gericht? Ein Einzelrichter oder eine Kammer aus mehreren Richtern?

Als Bundesrichter im Reservat

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Die Monatszeitschrift

Fast alle Verfahren werden von einem Einzelrichter durch-geführt. Das Gericht arbeitet nur in ganz wenigen Fällen als Kollegialorgan. Laienrichter in Gestalt einer „Jury” wirken nicht mit. Wir entscheiden in einem Spruchkörper von drei – in ganz seltenen Fällen fünf – Richtern, wenn es um die Überprüfung der bisherigen Rechtsprechung geht.

Sie haben eine spezielle Zuständigkeit für Klagen der indigenen Bevölkerung („indigenious affairs“). Was bedeutet diese Zuständigkeit und welchen histori-schen Hintergrund hat sie?

Kanada war von einer indigenen Bevölkerung bewohnt, bevor Franzosen und Engländer im 17. Jahrhundert dorthin einwanderten. Diese Ureinwohner wurden von den Weißen als „Indianer“ bezeichnet. Unsere indigene Bevölkerung bestand aus unterschiedlichen, sich selbst verwaltenden Stämmen. Weil die Zahl der weißen Sied-ler anstieg und diese immer mehr in den Westen Kana-das vordrangen, gab es bei ihnen Bedarf an Land. Des-halb wurden schon vor der Staatsgründung Kanadas im Jahr 1867 Verträge zwischen England und diesen „First Nations“ geschlossen, die eine Übertragung von Land zum Inhalt hatten. Nach der Staatsgründung schloss dann der kanadische Staat solche Verträge ab, die ers-ten wurden nach Ziffern durchnummeriert. Diese Verträ-ge regelten meist die Übertragung von Land durch die „First Nations“ auf die Siedler, die hierfür als Gegen-leistung den indigenen Stämmen Zahlungen und terri-toriale Garantien innerhalb neu geschaffener Reservate einräumten.1 Ich werde später auf den „Treaty 7“ zu-rückkommen, der zu dieser Vertragsserie gehört.

Auf gesetzgeberischer Ebene wurden die Verantwort-lichkeiten der Bundes- und Provinzregierungen gegen-über den „First Nations” 1867 im „British North America Act“ festgelegt, der heute als „Constitution Act“ be-kannt ist. Darin wurde dem Bund die Rechtsprechungs-kompetenz über „Indians, and Lands reserved for the In-dians” eingeräumt. Diese Begriffsbildung ist heute überholt. Heute sprechen wir typischerweise von Kana-das Ureinwohnern als unseren indigenen Völkern („First Nations“). Hierzu werden auch die „Inuit“ (früher „Eski-mos“ genannt) und die „Métis“ gerechnet, das sind Mischlinge. Konsequenterweise ist der Federal Court zu-ständig für Rechtsstreite zwischen dem kanadischen Staat und seinen „First Nations“, wie auch für Streitver-fahren, die zwischen Stämmen oder Mitgliedern der „First Nations“ aufkommen.

Ich habe erfahren, dass Sie Mitte 2019 ein Verfahren entschieden haben, in dem es um die Größe des

einem indigenen Stamm zustehenden Landes gestrit-ten wurde. Worum ging es da konkret?

Das Verfahren, auf das Sie sich beziehen, ist noch nicht endgültig abgeschlossen. Es betrifft die Klage eines in-digenen Stammes, dessen Reservat in der Provinz Alber-ta im Westen Kanadas liegt, etwa 200 km südlich von Calgary. Der Stamm hat etwa 12.000 Mitglieder und gehört zur Gruppe der „Blackfoot“ und nennt sich selbst „The Kainai Nation“, andere nennen ihn auch den „Blood Tribe“. Der Name „Blood Tribe“ stammt ur-sprünglich von indigenen Rivalen, die die Kainai als be-sonders blutrünstig ansahen. Die Kainai erhielten im Jahr 1877 ein Reservat auf Grundlage der Regeln eines Vertrages zwischen ihnen und dem Staat Kanada. Nach dem „Treaty 7” bekamen sie im Austausch für die Auf-gabe ihrer traditionellen Landrechte ein Reservat, des-sen Größe dem Landbedarf der damaligen Stammesmit-glieder entsprechen sollte. Konkret sollte der Stamm „eine Quadratmeile Land für jede Familie mit fünf Perso-nen und in dieser Proportion Land für größere und klei-nere Familien“ erhalten.

Der „Blood Tribe“ macht geltend, dass sein gegenwärti-ges Reservat in Southern Alberta nicht die unter „Treaty 7“ vereinbarte Größe habe. Das Reservat hat gegenwärtig eine Größe von 547,5 Quadratmeilen (1.418 Quadratkilo-meter) und ist damit das größte Reservat in Kanada.

Der Prozess, den ich als Richter leite, besteht aus zwei Ver-fahrensteilen. Zunächst war über die Frage der Begründet-heit des Anspruchs zu entschieden, das ist geschehen. Jetzt geht es in einem zweiten Verfahren über die sich daraus er-gebenden Rechtsfolgen (Zuordnung weiteren Lands oder Entschädigung in bestimmter Höhe). In dem im Juni 2019 von mir entschiedenen Verfahrensteil habe ich herausge-funden, dass der Stamm zur Zeit des „Treaty 7“ insgesamt 3.550 Mitglieder umfasste. Das berechtigte ihn zu einem Reservat in der Größe von 710 Quadratmeilen, seine Land-rechte lagen also um 162,5 Quadratmeilen über dem, was er erhalten hatte.

Der zweite Verfahrensteil, der sich auf die Frage der Rechtsfolge des Vertragsbruchs bezieht, wird nach gegen-wärtigen Planungen im Mai 2021 in Calgary, Alberta be-ginnen.

Haben Sie die Anhörungen in diesem Fall in dem Re-servat der Kainais durchgeführt – etwa in einem Zelt? Wie sind Sie dort hingefahren?

1 Vgl. hierzu die sehr instruktive (deutschsprachige) juristische Disser-tation von Harald Moll, First Nations, First Voices, Berlin 2006, ISBN 3-428-11766-2.

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Auch das 2019 entschiedene Verfahren zur Begründet-heit des Anspruchs war in zwei Teile gegliedert. Zu-nächst (im Mai 2016) habe ich die Stammesältesten der Kainai als Zeugen gehört. Das war eine Beweiserhebung durch mündliche Überlieferung einer First Nation („oral history evidence“). Kanadas Supreme Court hat an-erkannt, dass die Ureinwohner in früheren Zeiten Ereig-nisse nicht schriftlich festgehalten haben und deshalb die mündliche Überlieferung historischer Tatsachen als Beweismittel zuzulassen ist. Der Supreme Court hebt hervor, dass die Gerichte feinfühlig und großzügig sein müssen, wenn sie Beweis über das Bestehen von Rech-ten der

Ureinwohner erheben, z.B. Rechte zum Landbesitz, zum Fi-schen, Jagen oder Versammlungen abhalten, vorausgesetzt die Beweiserhebung ist nützlich und ihr Ergebnis bei ver-nünftiger Betrachtung verlässlich.

Erst zwei Jahre später (also im Juni 2018) wurde Sachver-ständigenbeweis über den Inhalt der vertraglichen Rege-lungen erhoben. Im Einvernehmen mit dem beklagten Staat Kanada wurde die Anhörung der Stammesältesten vorge-zogen, weil diese Zeugen schon hochbetagt, einige von ih-nen sogar schon gestorben waren. Es bestand das beacht-liche Risiko, dass die Beweiserhebung unmöglich werden könnte, wenn die Stammesältesten nicht frühzeitig gehört würden.

Die Anhörung der Stammesältesten hat im Mai 2016 im Re-servat der Kainai in Süd-Alberta stattgefunden, in einem Mehrzweckgebäude des Stammes. Die Kainai widmeten einen Teil ihrer Turnhalle zu einem Gerichtsplatz um und bauten die Tische sowie die Richterbank in einem Kreis auf, so wie es nach ihrer Tradition bei einer wichtigen Be-ratung zu praktizieren ist. Diese Phase des Prozesses dau-erte vier Wochen. Ich flog von Ottawa zu der dem Reser-vat nächstgelegenen Stadt Lethbridge und wohnte dort in einem Hotel. Ich fuhr jeden Tag mit dem Auto länger als eine Stunde zum Reservat, um dort die Anhörungen durch-zuführen.

Die zweite Phase des Erkenntnisverfahrens fand in Calgary im Mai und Juni 2018 statt. Dort hörte ich Sachverständige zur Stammesgröße der Kainai bei Abschluss des Vertrages im Jahr 1877 und zur Auslegung des Vertrages. Das dauerte rund sechs Wochen.

Denken Sie, dass der Schutz der indigenen Bevölke-rung in Kanada zufriedenstellend ist? Wieviel Prozent der kanadischen Bevölkerung sind indigen?

Als Richter kann ich die erste Frage nicht beantworten. In der Volkszählung von 2016 wurden über 1,6 Millionen Ein-

wohner als indigen identifiziert, das sind 4,9 % der kanadi-schen Bevölkerung.

Ich möchte auf Ihre Stellung als Bundesrichter zu-rückkommen. Wie sind Sie Richter geworden? Haben Sie vorher als Anwalt gearbeitet?

Jeder Richter in Kanada muss vor seiner Ernennung Er-fahrungen in der Rechtspraxis gesammelt haben. Rich-ter, die an einem höheren Gericht ernannt werden wie etwa dem Federal Court, müssen mindestens zehn Jahre als Anwalt gearbeitet haben. Typischerweise haben sie eine längere Praxiserfahrung. Ich war 27 Jahre lang An-walt in einer privaten Kanzlei und habe dort überwie-gend auf dem Gebiet des Menschenrechtsschutzes und des Arbeitsrechts praktiziert. Danach wurde ich zum Richter ernannt.

Ernennungen zu den Bundesgerichten und allen höheren Gerichten werden in Kanada vom „Governor in Council“ und dem Kabinett vorgenommen, letzteres bestehend aus dem Premierminister Kanadas und seinen Ministern; an-schließend erfolgt die Bestätigung durch den „Governor General“.

Mitglieder der Richterschaft werden auf Lebenszeit er-nannt. Die Rechtsprechungstätigkeit endet mit der Pensio-nierung; das Pensionsalter für Bundesrichter liegt derzeit bei 75 Jahren. Seines Amtes kann ein höherer Richter nur durch gemeinsamen Beschluss beider Häuser des Parla-ments enthoben werden.

Hat sich die Zusammensetzung der Richterschaft in den letzten Jahren verändert?

Die Regierung hat große Bemühungen unternommen, bei der Ernennung neuer Richter unterschiedliche Bevöl-kerungskreise zu berücksichtigen. Das soll Diversität in der Justiz gewährleisten. Als ich meine juristische Tätig-keit begann, gab es nur männliche Richter am Federal Court. Die erste Frau wurde 1983 zur Bundesrichterin er-nannt. Heute sind zwölf von den 44 Richtern an meinem Gericht Frauen, auch die Vizepräsidentin des Gerichts ist eine Frau. Es gibt Richter, die den „First Nations“ ange-hören, anderen Minderheiten, es gibt Richter unter-schiedlicher sexueller Orientierung und einen Richter, der als Flüchtling aus Kirkuk in Süd-Kurdistan nach Ka-nada gekommen ist.

Justice Zinn, haben Sie herzlichen Dank für dieses Ge-spräch.

Das Interview wurde geführt von RiBVerwG a.D. Prof. Dr. Harald Dörig, der die Antworten auch ins Deutsche übertra-gen hat.

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Die Monatszeitschrift

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DIE AUTOREN

IMPRESSUM

Herausgeber: Vizepräsident des BSG Prof. Dr. Thomas Voelzke, Kassel Vors. Richterin am BFH Prof. Dr. Monika Jachmann-Michel, München Vizepräsident des LG Holger Radke, Karlsruhe Prof. Dr. Stephan Weth, Universität des Saarlandes, Saarbrücken Rechtsanwalt Prof. Dr. Christian Winterhoff, Hamburg

Expertengremium: Vors. Richter am BGH a.D. Wolfgang Ball, Lemberg Rechtsanwalt Prof. Dr. Guido Britz, St. Ingbert Vizepräsident des LArbG a.D. Prof. Dr. Heinz-Jürgen Kalb, Köln Richter am BVerwG a.D. Prof. Dr. Harald Dörig, Erfurt Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. mult. Michael Martinek, Universität des Saarlandes, Saarbrücken Weiterer aufsichtsführender Richter am AG a. D. Dr. Wolfram Viefhues, Oberhausen

Redaktion: Ass. iur. Daniel Schumacher

Medieninhaber und Verlag: juris GmbH, Juristisches Informationssystem für die Bundesrepublik Deutschland, Gutenbergstraße 23, 66117 Saarbrücken, Tel.: 0681 5866-0, Fax: 0681 5866-239, E-Mail: [email protected] Geschäftsführer: Samuel van Oostrom, Johannes Weichert, Aufsichtsratsvorsit-zender: Ministerialdirigent Dr. Matthias Korte

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Satz: Datagroup Int., Timisoara

Druck: L.N. Schaffrath GmbH &Co.KG Druck Medien, Marktweg 42-50, 47608 Geldern

ISSN: 2197-5345

7. Jahrgang

Stellvertretender Direktor des Amts-gerichts

Herr Mardorf ist der stellvertretende Direktor des Amtsgerichts Itzehoe; zurzeit ist er an das Oberlandesgericht Schleswig abgeordnet und mit der Einführung des Elektronischen Rechts-verkehrs in der ordentlichen Gerichtsbarkeit in

Schleswig-Holstein betraut. Bereits 2004 bis 2007 war er für die Einführung des elektronischen Handelsregisters und des Elektronischen Rechtverkehrs in Registersachen in Schleswig-Holstein verantwortlich.

Dominik Mardorf

Wissenschaftlicher Mitarbeiter

Studium der Rechtswissenschaft an der Lud-wig-Maximilians-Universität in München (2011-2017). Anschließend wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Sozietät Zirngibl Rechts-anwälte sowie bei der Kanzlei hww hermann wienberg wilhelm. Referendariat am Landge-

richt München I mit Stationen beim Bezirk von Oberbayern, der Kanzlei Falch & Partner sowie der Wirtschaftskanzlei Bisset Boehmke McBlain in Kapstadt (2017-2019). Seit Juni 2019 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Kanzlei Schnittker Möllmann Partners in Berlin. Begleitend wird eine Promotion im Bereich Steuerrecht angestrengt.

Florian Auer

Richter am Landgericht

Studium der Rechtswissenschaften in Freiburg, Promotion bei Prof. Dr. Andreas Voßkuhle, an-schließend Referendariat am Landgericht Det-mold. Eintritt in den höheren Justizdienst 2008, nach Stationen bei der Staatsanwaltschaft Karlsruhe, am Amtsgericht Ettlingen und im

Wissenschaftsministerium Baden-Württemberg von 2013 bis 2016 Richter am Landgericht Mannheim in einer Zivilkammer; derzeit abgeordnet an den Bundesgerichtshof als Wissenschaftlicher Mitarbeiter.

Dr. Christoph Kretschmer

Rechtsanwalt und Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität des Saarlandes

Herr Heintz studierte von 2007 bis 2013 Rechts-wissenschaft an der Universität des Saarlandes mit dem Schwerpunkt „Deutsches und inter-nationales Steuerrecht“. Seinen juristischen

Vorbereitungsdienst absolvierte er im Bezirk des Pfälzischen Oberlandes-gerichts Zweibrücken mit Stationen in Berlin und beim Bundesverfassungs-gericht. Seit April 2017 ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehr-stuhl von Prof. Dr. Hannes Ludyga tätig. Seit Mitte Februar 2018 übt er gleichzeitig den Anwaltsberuf in eigener Kanzlei aus.

Veris-Pascal Heintz

Professor an der Universität Hamburg

Seit 2001 Professor für Öffentliches Recht, Me-dien- und Telekommunikationsrecht an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universi-tät Hamburg. Interessenschwerpunkte neben dem Öffentlichen Recht in Theorie und Praxis, dem Medien- und Telekommunikationsrecht

u.a. Digitale Transformation des Rechts, das Recht der Wissenschaft sowie das Verhältnis von Recht und Wissen.

Prof. Dr. Hans-Heinrich Trute

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Die digitale Bibliothek beinhaltet Premiumliteratur füh-render Fachverlage der jurisAllianz, insgesamt über 90 Titel, vom Gesellschaftsrecht bis zum Steuerrecht, vom Familien- und Erbrecht bis zum Miet- und Wohnungs-eigentumsrecht.

Alle Werke sind für die Online-Nutzung aufbereitet und professionell verlinkt. Flaggschiff-Titel wie der Stau-dinger BGB und der Heidelberger Kommentar zum GNotKG sind exklusiv bei juris recherchierbar. Die juris Datenbank wird ständig aktualisiert, Neuauflagen auto-matisch integriert. Die intuitiv bedienbare juris Oberflä-che ermöglicht die Crossrecherche über alle Dokumente in Sekundenschnelle.

Mit dem juris PartnerModul Notare verfolgen Sie außer-dem die für Sie relevante Gesetzgebung von der Initia-tive an. Der juris Benachrichtigungsservice informiert automatisch, sobald der Werdegang fortschreitet. Über den juris Fassungsvergleich werden Änderungen auf einen Blick sichtbar.

Digitale Tools und intelligente Arbeitshilfen

Das juris PartnerModul Notare lässt sich auf Wunsch direkt in Ihr Textverarbeitungsprogramm integrieren. Dann können Sie direkt aus Microsoft Word heraus auf die Inhalte des PartnerModuls zugreifen und Musterformulare mit einem Mausklick passgenau einfügen. Das System überprüft automatisch die Ak-tualität der Vorlage hinsichtlich der zugrundeliegen-den Normen und weist Sie auf Neuregelungen hin.

Das Angebot umfasst zahlreiche Newsdienste, die Sie individuell nach Ihren Interessensgebieten kon-figurieren können. Aktuelle Informationen zu neu-en Rechtsentwicklungen sowie Ihre Verkündungs-blätter nach BNotO werden automatisch an Ihren Arbeitsplatz gesendet.

NEU juris Word Add-In – Ihre Vorteile:

�� Suche nach Formularen und Mustertexten – di-rekt aus Word heraus�� Übernahme der Formulare mit einem Klick in

das bestehende Layout�� automatischer Aktualitäts-Check bezüglich Än-

derung zugrundeliegender Vorschriften

NEU Digitaler Pflichtbezug – Ihre Vorteile:

�� automatische elektronische Zustellung Ihrer Verkündungsblätter gemäß § 32 BNotO�� einfacher Download und digitale Archivierung

sparen Lagerfläche und Zeit�� Protokolle und Zertifikate für die komfortable

Dokumentation als Bezugsnachweis

Gratis-Lizenzpaket für Ihre Fachangestellten

Das juris PartnerModul Notare beinhaltet Gratiszu-gänge für bis zu 10 Mitarbeiter Ihrer Kanzlei. Das Lizenzpaket umfasst die für Ihre Fachangestellten relevante Literatur (Basiskommentare, Zeitschriften, Hand- und Formularbücher). Der Einsatz des juris Word Add-Ins mit dem Formular-Aktualitäts-Check vereinfacht die Vertrags- und Urkundenvorbereitung deutlich und reduziert mögliche Fehlerquellen.

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Persönlichen Gratistest direkt freischalten: www.juris.de/prelex

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Das juris PartnerModul Notare verbindet online die Premium-Literatur der jurisAllianz Partner mit der hochmodernen juris Technologie. Das intuitiv bedienbare Arbeitswerk-zeug deckt die gesamte Bandbreite des notariellen Arbeitsbereiches ab und hilft, Prozes-se zu automatisieren. Die Entwicklung der für Sie relevanten Gesetzgebung verfolgen Sie von Beginn an. Ihr persönlicher Nachrichtenservice informiert Sie automatisch über den Fortschritt der Gesetzgebungsverfahren. So bleiben Sie stets auf dem neuesten Stand und behalten immer Recht!

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