204 KDW II-2016 19-2-16 - sos-kinderdoerfer.de · 2 Die drei Geschwister Maksat, Adjamal und Adilet...

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MEIN BRUDER, MEINE SCHWESTER IHR MAGAZIN DER SOS-KINDERDÖRFER AUSGABE 2 / 2016 SOS KINDERDÖRFER WELTWEIT INFORMIEREN & HELFEN KIRGISISTAN: WIEDER ZU DRITT SYRIEN: „ICH BIN BEI DIR“

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MEIN BRUDER,MEINE SCHWESTER

IHR M AGAZIN DER SOS-KINDERDÖRFERAUSGABE 2 / 2016

SOSKINDERDÖRFERWELTWEITINFORMIEREN & HELFEN KIRGISISTAN: WIEDER ZU DRITT • SYRIEN: „ICH BIN BEI DIR“

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Die drei Geschwister Maksat, Adjamal und Adilet aus Kirgisi-stan hatten keinen guten Start: Die Kinder wurden geschlagen,vernachlässigt und schließlich getrennt. Als sie ins SOS-Kin-derdorf in Cholpon Ata kamen, waren sie wie Fremde fürein-ander.

Geschwisterliebe ist so eine Sache – meist liebt man sich, man-mal bringt man sich auch auf die Palme. Aber Geschwister habenauch eine starke Bindung, eine spezielle Art, sich zu verstehen.Sie kennen sich so gut wie kein anderer und sie teilen eine Le-benserfahrung, die immer einzigartig ist. Besonders wenn KinderMissbrauch und Leid ertragen müssen, sind die Geschwister-

bande enorm stark. Denn egal wie schlimm das Erlebte war, esgibt jemanden, mit dem man den Schmerz teilt.

Das Ende einer Familie Die drei Geschwister Maksat, Adjamal und Adilet wurden in denrauen Bergen von Kirgisistan geboren, in einer sehr armen Fa-milie. Der Vater trank und war aggressiv – zunächst nur seinerFrau gegenüber, dann bekam auch sein ältester Sohn MaksatSchläge. Mehrmals versuchte die verzweifelte Frau vor ihremEhemann zu fliehen. Ohne Geld und mit drei kleinen Kindernhatte sie jedoch kaum Chancen zu überleben. Und dann geschahdas Schlimmste. Eines Tages, im Alkoholrausch, übergoss der

| SOS-EDITORIAL & NAH DRAN

Liebe Freunde der SOS-Kinderdörfer,Geschwister begleiten uns unser ganzes Leben lang: UnsereEltern sterben, die eigene Familie kommt erst später hinzu, aberGeschwister sind von Anfang bis Ende in unserem Leben prä-sent. Was für eine Kraft in dieser Beziehung steckt! Sie kannschön sein, manchmal traurig oder warmherzig, auf jeden Fallberührt sie uns tief.

In den SOS-Kinderdörfern leben die Brüder und Schwestern al-len Alters zusammen. Sie haben eine sehr wichtige Funktion: DieGeschwister lernen voneinander, mit ihren teils schlimmen Bio-grafien zurecht zu kommen – jeder hat eine andere Strategie,Schmerz zu verarbeiten, Lebensfreude zu teilen oder Krisen zuüberstehen.

Die Beziehungen unter den Geschwistern zu stärken, ist eine un-serer wichtigsten Aufgaben. Denn Geschwister schenken einan-der ein Leben lang stabile Beziehungen, ein belastbares Netzwerk.

Dieses Heft ist deshalb denGeschwistern gewidmet, denSOS-Geschwistern und denleiblichen. Mit Ihrer Unter-stützung helfen Sie uns, die-se besondere Beziehung einLeben lang zu fördern!

Herzlichst

Wilfried VyslozilVorsitzender des Vorstands der SOS-Kinderdörfer weltweit

Editorial MEIN BRUDER,MEINE SCHWESTER

Ein Moment, in dem die Schrecken der Vergangenheit vergessen sind.

Kirgisistan EIN UNZERTRENNLICHES TEAM

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3SOS-NAH DRAN |

aggressive Ehemann seine Frau mit Ben-zin und zündete sie an. Der damals 7-jäh-rige Maksat versuchte verzweifelt, seineMutter zu retten, doch es war zu spät. Diebeiden Kleineren hörten ihre Schreie imNebenzimmer.

Zwei Jahre lang getrennt Und es wurde nicht besser. Wenn die seeli-schen Wunden nicht geheilt werden, tragendie Kinder die Schreckensbilder täglich imHerzen. Die drei Kinder, drei, vier und sie-ben Jahre alt, wurden nach dem Mord an ih-rer Mutter getrennt und kamen bei verschie-denen Verwandten unter, jeder in einer an-deren Familie. Dort bekamen sie kaum Zu-neigung oder Fürsorge, geschweige dennpsychologische Unterstützung. Die drei habensich zwei Jahre lang nicht gesehen. Bis zu demTag, an dem Mitarbeiter des SOS-Kinderdorfes Cholpon Ata dieKinder in ihr neues Zuhause brachten. Was genau sie in diesenzwei Jahren erlitten haben, weiß man nicht. Aber man bekommteine Vorstellung davon, wenn ihre SOS-Mutter Asel erzählt.

Wortlos und wütend„Als die drei ins SOS-Kinderdorf kamen, waren sie vollkommenverwahrlost, stark unterernährt und nässten ständig ein. Adiletsprach nicht, Maksat war aggressiv, alle drei benahmen sich wiekleine, wilde Tiere. Und in ihren Augen konnte man so viel Angstsehen. Aber das schlimmste war, dass sie sich so fremd waren.Sie hatten keine Beziehung zueinander, da war kein Hauch Ge-schwisterliebe zu spüren. Meine älteste Tochter Djaka war vonAnfang an für sie da. Es war selbstverständlich für sie, nachts dieBetten frisch zu überziehen.“

Das hilft: Tanzen, Spielen, Toben, KuschelnDerart körperlich und psychisch verwahrloste Kinder hatte die44-jährige SOS-Mutter in ihrem Leben noch nicht gesehen. Es dau-erte ein halbes Jahr, bis die drei ihre alte, wilde Haut abstreiften. Was hat am meisten geholfen? „Die Badewanne“, schmunzeltdie SOS-Mama. „Hier haben sie zum ersten Mal in ihrem Leben

eine gesehen und waren voller Begeisterung! Wir verbrachten täglich ein paar Stunden im Badezimmer, tobten und spieltenmiteinander. Wir haben auch oft zu viert geschmust, da die dreieine enorm starke Sehnsucht nach Zuneigung und Liebe hatten.In diesen glücklichen Momenten habe ich immer gesagt: Ihr seidwas Besonderes, ihr solltet immer für einander da sein, eureLiebe zu einander ist stärker als alles andere auf der Welt.“

Adjamal singt und tanzt gern mit ihren BrüdernDank dieser goldenen Worte und der Geduld von Asel konntedie Geschwisterliebe nach sechs Monaten auch wieder gedeihen.Heute beschützt Maksat seine Schwester und seinen jüngerenBruder rund um die Uhr. Die drei sind ein unzertrennlichesTeam. Adilet spricht wieder und klettert am liebsten auf dieBäume im SOS-Kinderdorf. Adjamal singt und tanzt gerne zu-sammen mit ihren Brüdern. Die drei lieben Musik. Wenn manMaksat fragt, was er später arbeiten möchte, antwortet er ganzernst und souverän: „Ich werde Häuser bauen. Und in einem vondenen werden wir mit meiner SOS-Mama und meinen beidenGeschwistern wohnen.“

Elitsa Dincheva

Noch vor einem Jahr waren sich die drei Geschwister fremd.

Maksat erlebt nun wieder schöne Stunden.Djaka hat die drei in ihr Herz geschlossen.

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4 | SOS-STANDPUNKT

Wer bin ich? Zu wem gehöre ich? Diese Fragen stellensich Jungen und Mädchen im SOS-Kinderdorf immerwieder, besonders im Alter von etwa sieben Jahrenund später noch einmal, wenn sie 16 sind.

Mit sieben Jahren wird vielen Kindern zum ersten Mal deutlichbewusst, dass ihre SOS-Mutter nicht ihre leibliche Mutter ist unddass ihre Geschwister aus unterschiedlichen Familien stammen.Oft haben sie bis dahin ein ziemlich normales Leben geführt, jetztgeraten manche in eine Krise.

Was die Kinder jetzt brauchen, ist Liebe und Geduld. Ganzwichtig ist ihre SOS-Mutter, aber auch den Geschwistern kommtbesondere Bedeutung zu, nicht so sehr durch das, was sie tun,sondern einfach durch ihr Dasein. Sie spielen, lachen, streiten,trösten, kennen sich in- und auswendig. Es ist diese Verlässlich-keit, die die Kinder brauchen.

Im Alter von 16 geraten viele Kinder in eine weitere Krise, dieoft noch tiefer geht. Wenn möglich, versuchen die SOS-Kinder-dörfer den Kontakt zur leiblichen Familie über die Jahre zu hal-ten. Am schwierigsten ist die Situation jetzt für diejenigenKinder, die keine Familie mehr haben.

Vor einigen Jahren begegnete ich in einem SOS-Kinderdorf inOstafrika einem 16-jährigen Mädchen, dem es sehr schlecht ging.Sie war von klein auf im Kinderdorf aufgewachsen, hatte einewunderbare SOS-Familie, gute Freunde.

Aber da war diese Frage: Wieso bin ich hierher gekommen?Schließlich erzählte ihre SOS-Mutter ihr, was sie gehofft hatte,nie erzählen zu müssen: dass sie in einem Mülleimer gefun-den worden war. Das Mädchen war verzweifelt: Warum hatmeine leibliche Mutter das getan? Bin ich Müll?

Ich hörte ihr lange zu.

Wir haben dann viel Zeit miteinander verbracht und darüber ge-sprochen, dass man die Vergangenheit nicht ändern kann, aberdass es sich lohnt, auch all das zu sehen, was das Leben einem ge-geben hat. Ihr Reichtum wurde ihr bewusst: Die Chancen, die sieim Leben hatte, ihre Mutter, die sie liebte, ihre Geschwister, dieimmer an ihrer Seite waren.

Darum geht es uns! Die Jungenund Mädchen im SOS-Kinder-dorf müssen nicht auf irgend-eine Art herausragen oderKarriere machen, sondern wer-den dabei unterstützt, ihren ei-genen Weg finden. Gelingtdies, so geben sie sich auch ge-genseitig Halt und Kraft, alsBruder, als Schwester.

Paul Boyle Traumatherapeut bei den

SOS-Kinderdörfern weltweit.

Standpunkt EINFACH FÜREINANDER DA SEIN!Vor allem in Krisenzeiten brauchen SOS-Kinder die Liebe und Beständigkeit ihrer Mutter und ihrer Geschwister

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5SOS-GESCHWISTER |

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6 | SOS-MITTENDRIN

Er war der Quirligste unter den drei Geschwistern, der Lustigste,der Leichteste. Er war ihr fröhlicher kleiner Bruder. Bis zu demTag, an dem Wael, neun Jahre alt, neben seiner Oma auf demBalkon stand und von einem Heckenschützen ins Visier genom-men wurde. Eineinhalb Jahre ist das jetzt her. Er wollte geradein einen Keks beißen, als ihn der Schuss traf. Sein gesamter Un-terkiefer wurde weggerissen, Wael brach zusammen. Währendweitere Schüsse fielen, brachte ein Nachbar den bewusstlosenJungen unter Lebensgefahr ins Krankenhaus. Sofort wurde eroperiert. Bis dahin hatte Wael bereits jede Menge Blut verloren.Die Ärzte sagen, dass es ein Wunder ist, dass er überlebt hat.

Nicht nur Wael, sondern auch sei-ne Mutter Ghalia, seine SchwesterAbeer und sein Bruder Abdulkarim stan-den unter Schock.

Als Abdulkarim seinen Bruder im Krankenhaus besuchte,konnte er die Tränen kaum zurückhalten. Er erklärte: „Mach dirkeine Sorgen, ich bin bei dir. Ich pass jetzt auf dich auf!“ Abeerhatte die erste Nacht auf dem Fußboden schlafend neben WaelsKrankenbett verbracht. Auch sie rang mit der Fassung. „Das Ge-sicht meines Bruders ist der Preis dafür, dass wir in eine so unsi-chere Gegend gezogen sind“, sagte sie damals. Nachdem dasHaus der Familie zerstört worden war, hatte sie schließlich eineBleibe in Aleppos Stadtteil „Salah-al-Din“ gefunden. Nicht diebeste Adresse, aber für etwas anderes war kein Geld da.

Keine Aussicht auf einen Job für die alleinerziehende MutterSeit Wael das Krankenhaus verlassen hat, tun die Geschwistergemeinsam mit ihrer Mutter alles für ihren kleinen Bruder. AusAleppo ist die Familie weggezogen in den Küstenort Latakia.Dort ist das Leben sicherer, aber nicht unbedingt leichter. VieleFlüchtlinge suchen hier Unterschlupf und so ist Ghalia mit ihrenKindern schon mehrere Male umgezogen. Manchmal ist es einehemaliger Laden, in dem sie unterkommen, manchmal ein Roh-bau. Früher hatte Ghalia als Küchenchefin gearbeitet und auch

Vor eineinhalb Jahren wurde dem neunjährigen Wael von einem Heckenschützenin Aleppo der Unterkiefer weggeschossen. Seitdem tun seine Mutter und seineGeschwister alles, um seine Not zu lindern.

Wael mit SOS-Mitarbeiterin Abeer Anfang 2015. Wir berichteten.

Syrien„ICH PASS JETZT AUF DICH AUF!“

Bitte helfen Sie mit Ihrer Spendeden Kindern

in Syrien

Besuch beim großen Bruder auf der Baustelle.

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7SOS-MITTENDRIN |

In diesem Stadtteil Aleppos wurde Wael angeschossen.

als alleinerziehende Mutter genug verdient, um ihre Familie zuernähren. Jetzt ist es fast aussichtslos, einen Job zu bekommen. Sospringt Abdulkarim ein. Der 13-jährige Junge arbeitet nun aufdem Bau. Seine Mutter hält das kaum aus: „Ich finde es furcht-bar, dass mein Sohn uns ernähren muss, statt weiter in die Schulegehen zu können. Aber ich weiß keine andere Lösung. Ich habealles versucht, um einen Job zu bekommen.“

Mit Unterstützung der SOS-Kinderdörfer ist Wael inzwischenzum vierten Mal operiert worden. Nach jedem Eingriff musste ererneut darauf verzichten, zu essen, zu trinken, zu reden und zulachen. Es werden noch einige weitere Operationen nötig sein,in denen die Ärzte versuchen werden, Waels Unterkiefer so gutwie möglich aus Metall zu rekonstruieren und Zähne zu im-plantieren. Aber so wie vorher wird Waels Gesicht nie wiederaussehen.

Angst, Scham und die Hoffnung auf eine bessere ZukunftWael hat sich verändert seit dem brutalen Vorfall. Immer noch ister freundlich, immer noch macht er gerne Scherze, ist unterneh-mungslustig und hat ständig etwas zu tun. Aber unten drunterist da jetzt die Angst, die Wael nie verlassen hat. Bei jedemSchuss, bei jeder Rakete, die zu hören ist, wird sie aktiviert undentwickelt sich schnell zu Panik.

Und da sind die anderen Kinder, die ihn komisch angucken,manchmal auch verspotten, in der Schule oder anderswo. Wennsein Bruder Abdulkarim dies mitkriegt, wird er wütend undstellt die Kinder zur Rede. Aber er kann nicht immer dabei sein.Wael versucht sich auf seine Art zu helfen. „Ich versuche immer,lustig zu sein und neue Freunde zu finden. Manche sind gernemit mir zusammen, andere mögen mein Gesicht nicht.“

Früher ist Wael gerne zur Schule gegangen, heute würde er amliebsten überhaupt nicht mehr gehen. Seine Schwester lernt re-gelmäßig mit ihm, auch, um den Stoff nachzuholen, den er nach jeder seiner Operationen versäumt hat. Und sie versucht ihn da-von zu überzeugen, dass die Schule wichtig ist. Für Abdulkarimwäre die Lösung, möglichst schnell genug Geld zu verdienen,um mit Wael aus Syrien wegzuziehen. Irgendwohin, wo dieMenschen nicht mit Gewehren auf kleine Kinder zielen. Wie-der sagt er: „Er ist mein kleiner Bruder und ich werde ihn be-schützen!“

Wael hat auch einen Plan: Er möchte später Architekt werdenund das Haus seiner Familie und all die anderen Häuser, die zer-stört wurden, wieder aufbauen. Wael lacht, als er das erzählt.Schaut man ihm dabei in die Augen, so sieht man plötzlich denverschmitzten kleinen Jungen, der auch noch da ist - und der essich nicht nehmen lässt, sich die Zukunft nach seinen eigenenVorstellungen auszumalen.

Simone Kosog & Abeer Pamuk

„Wir tun alles für ihn!“ Ghalia umarmt ihre beiden Söhne.

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Geschwister spielen bei der Eingewöhnung eines neuen Kindes in eine SOS-Familie eine große Rolle.Nicht nur die SOS-Mutter als Fels in der Brandung, sondern auch die Geschwister geben den „Neuen“Orientierung und helfen Ihnen, sich besser zurechtfinden. Denn auch sie haben erlebt, wie es ist, neu ineiner SOS-Familie zu sein.

Indonesien „WIR HELFEN ALLE MIT!“Wie SOS-Kinder Verantwortung für ihre Geschwister übernehmen

8 | SOS-NAH DRAN

SOS-Mutter Utami mit ihren Kindern. Vorne Mitte: Ferdi und sein Bruder Zebe.

Auf den Bäumen des SOS-Kinderdorfs Semarang in Indonesienklettern lachende Kinder, schmale Pflasterwege winden sich umdie Gärten und Häuser. Jemand hat einen Smiley auf die rundeLampe der Straßenlaterne gemalt. Und so fühlt sich das Dorfauch an: Heiter und hell.

Wir besuchen Haus zehn. SOS-Mutter Utami führt uns durchsHaus: Ein heller Raum mit Vitrine, in der an die 30 Pokale stehen,die die Kinder in den letzten Jah-ren gewonnen haben: Judo, Fußball,Schwimmen. An dem langen Tischwird gegessen und die großen Kin-der machen dort ihre Hausaufgaben,denn ihre Zimmer sind klein. Zu drittoder viert schlafen sie in Stockbetten,ihre wenigen Habseligkeiten liegenordentlich aufgeräumt in kleinenSchränken. In seinem Zimmer wickeltFerdi, acht, gerade seinen knapp zwei-jährigen Bruder Zebe.

„Jedes Kind hat feste Aufgaben“, er-klärt Utami. „Sie suchen sich die Auf-gaben im Haushalt selbst aus.“

Ferdi hat sich die Kinderpflege ausgesucht: „Ich mag das Wi-ckeln, manchmal bade ich Zebe auch, das ist schön, er ist süß.“

Hier gibt es immer jemanden zum SpielenFerdi kam vor drei Monaten ins Kinderdorf. Zuvor lebte er imWaisenhaus. Seine Mutter starb, sein Vater schlug ihn und alser wieder heiratete, wollte er seinen Sohn loswerden. Er schickte

ihn Zigaretten verkaufen am Busbahn-hof, wo ihn Sozialarbeiter fanden.

„Hier ist es viel besser als im Wai-senheim“, sagt Ferdi, „man hat Platzund es gibt immer jemanden zumFußballspielen.“ Ferdi ist außerdemfür das Frühstück verantwortlich.Am liebsten brät er Eier. Seine lässter besonders lange in der Pfanne.„Ich mag es, wenn sie fast schwarzsind“, sagt er. „Aber für die ande-ren Geschwister mache ich sie nichtso dunkel.“

Mit seinen Brüdern und Schwe-stern macht er auch beim Judo mit:

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9SOS-NAH DRAN |

„Meine große Schwester hat schon ziemlich viele Pokale“, erzeigt auf die Vitrine im Wohnzimmer. „Ich möchte auch einmalso gut werden wie sie.“

Ich bin der Älteste und helfe wo ich kannNebenan, vor Haus neun, klettern Kinder auf dem Kletterbaum.Sie lachen, spielen Fangen, rufen sich etwas zu. Nur einer sitzt ab-seits, er hat ein kleines Mädchen auf dem Schoß. Das ist Abiman-ju, genannt Abi, ein Hinduname: Der Gott, der Leben schenkt.Abi ist der Älteste im Kinderdorf, er ist seit elf Jahren hier. „Ichbin fast wie ein Erwachsener für meine Geschwister“, erzählt erstolz. „Wenn sie Hilfe brauchen kommen sie zu mir.“ Momentanhat er eine besonders verantwortungsvolle Aufgabe: Er wiegtIzah in den Schlaf. Seine SOS-Mutter Ratna sagt: „Izah schläftnur bei mir und bei Abi ein.“

Kein Wunder, denn Abis ruhige Ausstrahlung überträgt sich so-fort auf die Kleine. Er trägt sie ums Haus, bis sie eingeschlafen ist.„Sie weint viel“, sagt er, „sie ist erst seit drei Monaten hier. Aberes ist schön, mit ihr zu spielen, sie freut sich immer, wenn siemich sieht.“ Ihre Mutter musste sie ins Kinderdorf geben, weilihr Mann sie verlassen hat, sie muss arbeiten und kann mit demGeld kaum sich selbst ernähren.

Von Abis Eltern ist nichts bekannt. „Unser Dorfleiter hat ihn aufdem Bahnhof gefunden, er lief alleine umher. Wir haben mona-telang Nachforschungen angestellt, wahrscheinlich haben sie ihneinfach ausgesetzt“, sagt Ratna. „Ich bin sehr froh, dass er Teilunserer Familie ist, er ist so ruhig und gutmütig.“

Später am Abend sitzen Ratna und Utami vor ihrem Haus undgenießen die Stille im SOS-Kinderdorf Semarang. Die Kindersind im Bett, die beiden Frauen unterhalten sich über den Tag. Dagehen die Straßenlaternen an. Der Smiley leuchtet auf. Ratna undUtami lächeln.

Claudia Singer

Ferdi kümmert sich liebevoll um seinen Bruder Zebe.

Abi trägt seine Schwester so lange, bis sie einschläft.

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Dorfpate!www.sos-kinderdoerfer.de/

dorfpate

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10 | SOS-NACHRUF

EIN LETZTES DANKESCHÖN

Viele Menschen bedenken die SOS-Kinderdörfer in ihrem Testa-ment. Für uns ist dies ein großer Vertrauensbeweis. Manchmalerfahren wir von Angehörigen oder Freunden mehr über denMenschen, der gestorben ist. Dann hören wir gespannt zu: Wirhören von glücklichen Zeiten, schweren Schicksalen, Eigenheitenund Abenteuern.

Weil jede Lebensgeschichte einzigartig ist, erzählen wir regel-mäßig von unseren Nachlass-Spendern. Und um ein letztes MalDANKE zu sagen!

Infos finden Sie unter: www.sos-kinderdoerfer.de/testamente

TERMINE

Herzlich laden wir Sie ein zu unseren Nachlass-Veranstaltungen:

•Nachlass-Sprechstunde am 12. April in Stuttgart•Informations-Nachmittag am 14. Juni in Kassel

Gerne teilen wir Ihnen den jeweiligen Veranstaltungsort mit undsenden Ihnen Informationen zu.

Wenn Sie sich anmelden wollen oder jemanden vorschlagenmöchten, den wir an dieser Stelle portraitieren sollen, dann sindFrau Dr. Wagner und ihr Team für Sie da: Telefon 089 / 179 14 -333 oder E-Mail [email protected]

Was Manfred Kiesant in ein ein-ziges Leben gepackt hat, hätte auch locker für zwei, drei Leben gereicht. Geboren am 8. Mai 1949 als einziges Kindeiner Hausfrau und eines Konditors,wuchs er in dem kleinen Hatzfeld in Hes-sen auf. Er ging zur Schule, machte Ab-itur, studierte Geschichte und Germa-nistik – und dann legte er los: Er er-öffnete eine kleine „Musikkneipe“und gab eine eigene Zeitung her-aus. Der Ton war satirisch, manch-mal surreal – dieser Stil sollte ty-pisch für ihn werden. Als ein Zir-kus durch den Ort zog, entschiedsich Manfred Kiesant mitzureisen.Er fotografierte die Künstler undtrat selbst in der Manege als ClownFloppone sowie mit Pantomime-Vorführungen auf.

Das war der Beginn seiner künstlerischenLaufbahn, die im Laufe seines Lebens im-mer wieder neue Facetten dazugewinnensollte. Im Gespräch mit seinem FreundHelmut Irle geht es deshalb bald vor allemdarum, nichts von all dem Vielen zu ver-gessen.

Nehmen wir das Theater: Während er seinGeld als Webdesigner verdiente, suchte

Manfred Kiesant in seiner Freizeit immerneue Ausdrucksformen der darstellendenKunst. Er schnitzte eigene Marionettenund trat mit ihnen auf, mal spielte er Mär-

chen vor, mal imitierte er die Originale sei-nes Dorfes, sprach im ortsüblichen Dialekt.Für Kinder gab er den mittelalterlichen„Graf Kauzenstein“.

Oder nehmen wir seine Sammlungen:

Er sammelte Eulenfiguren, Mineralien,Bierdeckel, Comics. „Selbst kleinen Plas-tikfiguren vermochte er etwas Schönes ab-zugewinnen“, erinnert sich Helmut Irle.Oder Knöpfe, davon hatte er tausende,aufgenäht, in Klarsichtfolie oder hinter

Glas – denn es mag voll gewesen sein inManfred Kiesants Haus, aber keines-wegs chaotisch.

Manfred Kiesant widmete sich derdigitalen Fotografie, schrieb, zeich-nete, malte, unterstützte immerwieder neue künstlerische Projekte.Was vergessen? Ganz sicher.

Als Manfred Kiesant an Krebs er-krankte, ging er offen und gefasst damit

um. Seinen Freunden sagte er, dass esschnell gehen könnte. Und er machte seinTestament zugunsten der SOS-Kinderdör-fer. Er selbst hatte keine Kinder, aber Kin-der lagen ihm am Herzen.

Manfred Kiesant starb im Alter von 66 Jah-ren, viel zu früh, um all seine Pläne zuEnde zu führen. Aber das wäre es ver-mutlich immer gewesen.

Simone Kosog

Manfred KiesantGENUG IDEEN FÜR DREI LEBENEr war Clown, Märchenerzähler, Autor, Sammler und vieles vieles mehr

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11SOS-ZUKUNFT |

Wenn ein neues Kind ins SOS-Kinderdorf kommt, ist das für alleein großer Moment. Vieles ändert sich im Familienalltag, Ge-schwisterrollen werden neu verteilt. Die Kinder der SOS-Familie,die es aufnimmt, sind zuerst ein wenig verhalten, müssen siedoch die SOS-Mutter einmal mehr teilen. Doch fast immer siegenFreude und die Neugier auf das neue Geschwisterchen.

Dieses Baby ist ein Segen für das SOS-Kinderdorf in Monrovia.Im wahrsten Sinne des Wortes: Ihr Name ist Blessing – englischfür Segen. Weniger als eine Woche alt, kam es vor ein paar Tagenim SOS-Kinderdorf an.

Fast alle Bewohner waren auf den Beinen, um den segensreichenNeuzugang willkommen zu heißen. Fasziniert von ihrer Aus-strahlung – Blessing wirkte glücklich und ruhig – durfte jederdas Baby auf den Arm nehmen.

Ein Neuanfang, der gefeiert wirdNach all den Monaten, in denen das Land von Ebola zerrüttetwurde, Berührung den Tod bedeuten konnte, ganze Familienisoliert wurden und viele Menschen tragische Verluste hinneh-men mussten, ist die Epidemie eingedämmt. Die Menschen kön-nen aufatmen, der Alltag kommt zurück. Die Hoffnung und dieAufbruchsstimmung spürt man auch im SOS-Kinderdorf: Wäh-rend der Ebola-Epidemie haben die Menschen hier zusammen-gehalten, sich gegenseitig gestützt und sich gemeinsam gegendie Ansteckung mit Ebola gewehrt: erfolgreich!

Das musste natürlich gefeiert werden – mit den SOS-Familien,Nachbarn und Freunden. Gemeinsam wurde viel geredet – überdie harte Zeit während der Ebola-Gefahr, über die Trauer desVerlusts geliebter Menschen, aber auch über die glücklichen Mo-mente, als das Land wieder aufatmen und neu anfangen konnte.

Die kleine Blessing ist ein lebendiges Symbol für diesen Neu-anfang!

Das Schönste an diesen Tagen ist, zu erleben, wie sich die Men-schen endlich wieder gegenseitig umarmen, sich berühren undberühren lassen. Das ist lebenswert!

Jeanne Mukaruhogo

In unserem SOS-Blog „Mit Jeanne durch Afrika“schreibt unsere SOS-Mitarbeiterin Jeanne Mukaruhogo über Afrika. Besuchen Sie:http://blogs.sos-kinderdoerfer.de

Nach der großen Anspannung während der Ebola-Gefahr können die Kinder im Kinderdorf Monrovia heute wieder ausgelassen spielen.

LiberiaDAS LÄCHELN KEHRT ZURÜCKEin Baby kommt ins Kinderdorf

Die Geschwister bestaunen den kleinen Neuankömmling auf dem Arm ihrer SOS-Mutter.

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SOS-Kinderdörfer weltweit • Ridlerstraße 55 • 80339 München • Telefon: + 49 /89 /179 14 - 140 • [email protected] & Eigentümer: SOS-Kinderdörfer weltweit, Hermann-Gmeiner-Fonds Deutschland e.V.

Für den Inhalt verantwortlich: Dr. Wilfried Vyslozil

Redaktion: Paul Boyle, Elitsa Dincheva, Wolfgang Kehl, Constanze Körner, Simone Kosog, Jeanne Mukaruhogo, Abeer Pamuk, Andrea Seifert, Claudia Singer, Louay Yassin.

Grafik & Design: pskdesign, Petra Kull

Bildnachweis: S. Alassar, R. Fleischanderl, C. Gubelic, P. Hahn, K. Ilievska, C. Lesske, C. Martinelli, M. Morosini, B. Neele-mann, A. Pamuk, S. Preisch, M. Rivera, K. Snozzi, P. Wittmann, SOS-Archiv, Depositphotos. Titel: M. Morosini.

www.sos-kinderdoerfer.de

Um die Identität der Kinder zu schützen, haben wir ihre Namen im Text geändert.

IMPRESSUM

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Geburtstage, Hochzeiten, Jubiläen oder Trauerfeiern – unterstützen Sie bei diesen Anlässen Kinder und Familien in Not. Tel. 0800 / 50 30 600 oder unter:www.meine-spendenaktion.de

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| SOS-VORSCHAU

Gaza-Streifen DIE VERGESSENEN KRISENDas Thema „Flüchtlinge“ hat 2015 sehr viel Aufmerksamkeit auf sich gezo-gen und viele andere Krisen überdeckt. Und doch leiden Menschen auch anvielen anderen Orten: In Griechenland haben viele Familien nicht einmalmehr das Geld für Essen. In der Ukraine ist die Lage weiterhin instabil unddie Menschen sind sehr arm. Im Südsudan werden Kinder als Soldatenmissbraucht. Überall setzt sich SOS für Kinder und Familien ein.

Im Gaza-Streifen ist auch zwei Jahre nach dem Kriegdie Lage vieler Kinder verzweifelt. Sie leben in Ruinen,haben nichts zu essen, die Eltern haben keine Chance,eine Arbeit zu finden. Die beiden Brüder Ramzi undLeith (Foto) haben in dem Krieg ihre Eltern und einenBruder verloren. Eine Rakete zerstörte ihr Haus. Nunleben sie im SOS-Kinderdorf in Rafah und lernen lang-sam, mit ihren Traumata zu leben.

In der nächsten Ausgabe erzählen wir Ihnen mehr überdie Kinder im Gazastreifen. Wie leben sie? Was hat derKrieg in ihnen angerichtet? Können sie fröhlich sein?

Louay Yassin Ramzi und Leith aus dem Gaza-Streifen haben alles verloren. Im SOS-Kinder-

dorf Rafah haben sie ein neues Zuhause, Liebe und Geborgenheit gefunden.

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