26. September 1980 Das Oktoberfest- Attentat · Inhalt Vorwort Dieter Reiter, Oberbürgermeister 6...

27
26. September 1980 Das Oktoberfest- Attentat

Transcript of 26. September 1980 Das Oktoberfest- Attentat · Inhalt Vorwort Dieter Reiter, Oberbürgermeister 6...

26. September 1980Das Oktoberfest-Attentat

Tatjana Neef

26. September 1980Das Oktoberfest-Attentat

Landeshauptstadt München (Hrsg.)

Inhalt

Vorwort Dieter Reiter, Oberbürgermeister 6

1980 – Das 146. Oktoberfest 11

Das Bombenattentat – 26. September 1980 11

Die Tage nach dem Attentat 14

Die polizeilichen Ermittlungen 19

Nach dem Abschluss der Ermittlungen 1982:

neue Fragen, neue Erkenntnisse 26

Das Oktoberfest-Attentat

im öffentlichen Bewusstsein 36

„Die Zeit heilt keine Wunden“ –

die Folgen für die Opfer und deren Angehörige 45

Erinnerungskulturelles Forschungsprojekt

der Landeshauptstadt München 48

Quellen 49

Abbildungsverzeichnis 50

54

6

Vorwort

Es ist sicher nicht das Erste, woran man bei der Wiesn

denkt. Und trotzdem ist es untrennbar mit ihr verbun -

den: das Oktoberfest-Attentat vom 26. September 1980.

Bei dem verheerenden Bombenanschlag nahe dem

Haupt eingang zur Festwiese kamen damals 13 Menschen

ums Leben, 211 weitere wurden zum Teil schwer verletzt.

Es war der schlimmste Terroranschlag in der Geschichte

der Bundesrepublik Deutschland. Als Bombenleger

wurde seinerzeit der beim Attentat ebenfalls ums Leben

gekommene, rechtsradikale Student Gundolf Köhler

identifiziert. Dessen Verbindungen zur neonazistischen

„Wehrsportgruppe Hoffmann“ wurden von den Ermitt-

lungsbehörden allerdings ausgeblendet, so dass das

gesellschaftspolitische Umfeld des Terrorakts und

etwaige Drahtzieher lange Zeit im Dunkeln blieben.

Journalisten, Anwälte, Bündnisse und Hinterbliebene

zweifelten die mehr als 30 Jahre lang vertretene Einzel -

täterthese allerdings immer wieder an. Dennoch lehnten

Generalbundesanwaltschaft und BKA alle Vorstöße für

eine Wiederaufnahme der Ermittlungen mit dem Verweis

auf fehlende neue Indizien lange Zeit ab. Nicht zuletzt

die Aufklärung der „NSU“-Morde unserer Tage, bei der

die Opfer und ihre Familien selbst jahrelang auf beschä-

mende Weise im Visier der Behörden standen, dürfte mit

dazu beigetragen haben, dass das Oktoberfest-Attentat

seit Ende 2014 von der Justiz endlich neu aufgerollt wird.

Die Stadt München begrüßt das ausdrücklich. Schließlich

7

werden die Trauer um die Opfer und die Qualen der Über-

lebenden noch immer vom Verlangen nach Gewissheit

über Täter und Motive begleitet.

Selbstverständlich kann das Leid der Betroffenen auch

damit nicht wieder gutgemacht werden. Trotzdem ist

es ein wichtiges Signal, dass in unserem Rechtsstaat

alles versucht wird, jedes Verbrechen aufzuklären und

in diesem Fall naheliegende rechtsextremistische Hinter-

gründe offenzulegen. Schließlich geht es hierbei neben

Trauer, Erinnerungsarbeit und umfassender historischer

Aufklärung auch darum, Gewalt, Rassismus und Men-

schenverachtung heute die Stirn zu bieten und aktiv

für Freiheit und Menschenwürde einzutreten.

Auch die Stadt München hat sich dem Wunsch zur

Aufklärung und Sensibilisierung der Stadtgesellschaft

hinsichtlich dieses dunklen Kapitels der Stadtgeschichte

verschrieben. Daher wurde 2015 ein Forschungsprojekt

initiiert, das der Dokumentation der bewegenden

Lebensschicksale der Opfer des Oktoberfest-Attentats

dient und somit dem Prozeß des Verdrängens und

Vergessens entgegenwirken soll. Den Auftakt dieses

Forschungsprojekts stellte im September 2015 eine

Veranstaltung im Alten Rathaus dar. Auf meine Bitte

berichtete ein betroffenes Ehepaar öffentlich über die

erlittenen Verletzungen und die daraus resultierenden

Beeinträchtigungen ihres heutigen Lebens. Der gewährte

Einblick war ergreifend. Mir bestätigte er einmal mehr

die Sinnhaftigkeit des Forschungsprojekts, denn nur allzu

schnell werden Menschen mit ihrem Schicksal allein

gelassen und geraten aus unserem Blickfeld, obwohl sie

unserer Fürsorge und Unterstützung bedürfen.

Dieter Reiter

Oberbürgermeister

8

Das Oktoberfest-Attentat

1980 – Das 146. Oktoberfest

Das Bombenattentat – 26. September 1980

Das 146. Oktoberfest war wie in den Jahren zuvor ein Publi-kumsmagnet. Über fünf Millionen Besucher zog es auf das31 Hektar große Festgelände unterhalb der Bavaria-Statue.Am Abend des 26. Septembers 1980, kurz vor der abendlichenSchließung der Festzelte, ereignete sich das Unfassbare. Gegenüber der Verkehrsinsel am Bavariaring, an der Nordseiteder Theresienwiese nahe dem Haupteingang zum Festareal,kam es gegen 22:20 Uhr zu einer gewaltigen Explosion. Ineinem metallenen Abfallkorb, der an einem Verkehrsschildmontiert war, explodierte ein Sprengkörper mit verheerendenFolgen. Als die Rettungskräfte am Tatort eintrafen, fanden sie in einem Umkreis von bis zu 23 Metern Verletzte und Toteverstreut auf der Straße liegen. Die die Detonation beglei-tende Druckwelle war gewaltig gewesen. Obwohl die Ver-letzten umgehend versorgt wurden, kam für dreizehn Men-schen jegliche Hilfe zu spät. Sie starben bereits am Tatort oderin den darauffolgenden Stunden und Tagen. 211 Menschenwurden verletzt, 68 davon schwer. Zum Teil erlitten die Opferschwerste Verbrennungen, die auf eine starke Hitzeentwick-lung zurückzuführen waren. Wie die Polizei später in ihren Ermittlungen rekonstruierte, hatte es sich bei der Bombe umeinen selbstgebauten Sprengkörper gehandelt. ZahlreichePersonen wiesen durch Metallsplitter bedingte Verletzungenauf, die Amputationen von Gliedmaßen und Organentnahmenerforderlich machten. Einige der Opfer waren noch Wochen

11

und Monate nach dem Anschlag auf die Versorgung in Kran- kenhäusern und Rehabilitationseinrichtungen angewiesen. Dieerlittenen physischen und psychischen Schäden be stimmenzum Teil bis heute das Leben der Opfer, ihrer Ange hörigenund derjenigen Menschen, die sich am Tatort für die Versor-gung der Verletzten und die Bergung der Toten verantwortlichzeigten.

13

Die Opfer

Gabriele Deutsch (*1962)

Robert Gmeinwieser (*1963)

Axel Hirsch (*1957)

Markus Hölzl (*1936)

Paul Lux (*1928)

Ignaz Platzer (*1974)

Ilona Platzer (*1972)

Franz Schiele (*1947)

Angela Schüttrigkeit (*1941)

Errol Vere-Hodge (*1955)

Ernst Vestner (*1950)

Beate Werner (*1969)

und der Attentäter

Gundolf Köhler (*1959)

Links: Übersicht Theresienwiese, Tatort und Mahnmal

Die Tage nach dem Attentat

Einen Tag nach dem Attentat deutete, abgesehen von nieder- gelegten Blumen, nur noch wenig auf den Anschlag hin. Zumeinen war dies auf die Lage des Explosionszentrums zurück-zuführen, welches sich am Rande des Festgeländes befand –auf nahezu unbebauter Fläche. Weder Fahrgeschäfte nochFest zelte waren beschädigt worden. Bis auf einzelne verbo-gene Verkehrsschilder, beschädigte Gehwegplatten und geborstene Fensterscheiben hatte sich der Sachschaden inGrenzen gehalten. Er war zudem bereits einen Tag nach demAttentat größ tenteils behoben worden. Zum anderen hatteder damals amtierende Oberbürgermeister, Erich Kiesl, nochin der Nacht vom 26. auf den 27. September entschieden,dass das Oktoberfest vorerst nicht unterbrochen werdensollte. Die aus mancher Sicht als pietätlos betrachtete Ent-scheidung basierte auf zwei Gründen: Zusätzlich zu der amWochenende ohnehin hohen Besucherzahl des Oktoberfestswurden Fußballfans zu einem Spiel zwischen dem HamburgerSV und dem FC Bayern München in der Stadt erwartet. DiePolizei befürchtete, dass die Enttäuschung über die geschlos-senen Festzelte womöglich in Aggression umschlagen könnte,die schwer zu kontrollieren wäre. Da von terroristischen Hintergründen des Attentats ausgegangen wurde, fußte dieEntscheidung zugleich auf dem Wunsch, Stärke zu demons -trieren. Oberbürgermeister Kiesl for mulierte es mit den Worten: „Weder dieser Staat noch diese Stadt oder ihre Bürger sind von Verbrechern erpressbar. Eine Schließungwürde nur den verwerflichen Absichten der Attentäter ent-gegenkommen. Deshalb muß man auch sagen: Das Leben

14 15

Unterbrechung des Oktoberfests für einen Tag am 30. September 1980

17Trauernde am Tatort

Trauerfeier im Alten Rathaus, 30. September 1980

Die polizeilichen Ermittlungen

Unmittelbar nach dem Anschlag nahm die Polizei ihre Ermittlungen auf. Vor dem Hintergrund der Schwere des Attentats und angesichts der neun Tage später stattfindendenBundestagswahl waren die Erwartungen an eine schnelleAufklärung sehr hoch. Erste Spekulationen über die Hinter-gründe der Tat wurden laut. Dass es sich bei der Explosionum einen Akt des Terrors handelte, bezweifelte niemand. DieFrage nach den Hintergründen für die Tat schien allerdingsstrittig zu sein. Wer waren die Verantwortlichen? Gab eseinen oder mehrere Täter? Handelte es sich um eine politischmotivierte Tat? Und, wenn dies zutraf, war die Verantwortungdafür in links- oder rechtsextremistischen Kreisen zu suchen?

Am 5. Oktober 1980 fand die Wahl des

9. Deutschen Bundestages statt, bei denen

sich der amtierende Bundeskanzler Helmut

Schmidt (SPD) gegen seinen konservativen

Herausforderer, den baye rischen Ministerpräsi-

denten Franz Josef Strauß (CSU), durchsetzte.

Vorausgegangen war ein hochpolarisierter,

von Fragen der Sicherheitspolitik dominierter

Wahl kampf.

19

geht weiter.“1 So wurde das Oktoberfest fortgesetzt, rundeine Million Menschen besuchten das Festareal an diesemWochenende. Eine offizielle Trauerfeier im Alten Rathaussowie ein ökumenischer Gottesdienst, eine Kranznieder-legung und einige andere Gedenkveranstaltungen fanden vier Tage später, am 30. September 1980, statt. An diesemTag wurde das Volksfest für einen Tag unterbrochen, um der Opfer des Anschlags zu gedenken.

18

1 Schmalz, Peter: Wir dürfen vor der Gewalt nicht

kapitulieren. In: Die Welt. 1. Oktober 1980.

Gundolf Köhler wurde am 27. August 1959

geboren. Er wuchs in Donaueschingen auf, wo

er 1978 seinen Gymnasialabschluss machte.

Bereits als Jugendlicher hatte er im Keller des

elterlichen Wohnhauses mit Sprengstoff expe-

rimentiert. Während seines Grundwehrdienstes

strebte er die Ausbildung zum Sprengmeister

an. Aufgrund eines Gehörschadens wurde er

jedoch vorzeitig aus dem Wehrdienst entlassen.

Der politisch rechts orientierte Köhler stand

bereits Mitte der 1970er Jahre in Kontakt zu

der durch den Rechtsextremisten Karl Heinz

Hoffmann begründeten Wehrsportgruppe

Hoffmann (WSG) und nahm an Geländeübun-

gen teil. 1978 wandte sich Köhler mit der Bitte

an Karl Heinz Hoffmann, ihn bei der Gründung

einer WSG-Gruppe in Donaueschingen zu

unterstützen. Hoffmann verwies ihn jedoch

an eine sich bereits im Aufbau befindende

WSG-Gruppe in Tübingen. Im Anschluss an

seinen Wehrdienst begann er ein Studium der

Geologie in Tübingen. Am 26. September 1980

verübte er den Bombenanschlag in München

und kam dabei selbst ums Leben.

Vgl. Heymann, Tobias von: Die Oktoberfest-Bombe. München,

26. September 1980 – Die Tat eines Einzelnen oder ein Terror-

Anschlag mit politischem Hintergrund? Berlin, 2008, S. 51ff.

Zunächst von Auseinandersetzungen um die Zuständigkeitzwischen Land und Bund überschattet, setzte sich die „Sonderkommission Theresienwiese“ (Soko) schließlich auszeitweise rund 100 Mitarbeitern des Bayerischen Landeskri-minal amts (LKA) und des Bundeskriminalamts (BKA) zusam-men. Auf den Verdacht hin, dass es sich um einen Terrorakthandelte, war das Ermittlungsverfahren gegen „Unbekannt“zusätzlich durch den damaligen Generalbundesanwalt KurtRebmann eingelei tet worden. Die Untersuchung lag damitfederführend beim Bund.

Bereits am Samstag, einen Tag nach dem Attentat, hatte dieSoko den Geologiestudenten Gundolf Köhler als Attentäteridentifiziert. Er zählte zu den dreizehn Todesopfern. Zeugenhatten ihn unmittelbar vor der Explosion am Tatort gesehen.Die Verletzungsmerkmale an Köhlers Leiche untermauertendie Aus sagen der Zeugen und ließen keinen Zweifel an seinerTäterschaft. Ein erstes Ermittlungsergebnis. Der Umstand,Köhler selbst nicht mehr zu der Tat und den Hintergründenver neh men zu können, sollte jedoch die weiteren Ermittlungenerschweren und nicht zuletzt bestimmend für aufkommendeZweifel werden.

20 21

2322

Mit der Feststellung der Personalien wurden erste Details zuKöhlers Person und insbesondere dessen politischer Gesin-nung bekannt. Köhler war, aufgrund seines Kontakts zu derrechtsextremistischen Wehrsportgruppe Hoffmann (WSG),bereits in der Vergangenheit polizeilich erfasst worden. Angesichts dessen wurde vermutet, dass die WSG für denAnschlag verantwortlich zu machen sei. Die Ermittlungen derersten Tage konzentrierten sich somit auf die bereits im Früh-jahr 1980 verbotene paramilitärische Wehrsportgruppe umKarl Heinz Hoffmann. Parallel zu den Verhaftungen ehemaligerMitglieder der WSG wurden bundesweit mehrere Hausdurch-suchungen durchgeführt, u.a. in Schloss Ermreuth, dem ein-stigen Haupt sitz der Organisation und Wohnsitz Hoffmanns.Sichergestellt wurden neonazistische Schriften, Granaten undSprengstoff militärischer Herkunft. Kurz darauf wandte sichder bayerische Innenminister Gerold Tandler (CSU) – dessenMinisterium das LKA unterstellt war – an die Öffentlichkeitund machte die WSG für das Attentat verantwortlich.2 EinenTag später wurden die WSG-Mitglieder jedoch wieder aus derUntersuchungshaft entlassen, eine Verbindung zur Tat konntenicht nachgewiesen werden. Gerold Tandler wich von der an-fangs verbreiteten These der Täterschaft der WSG wieder abund sprach fortan nur noch von einer Einzeltat. Im Gegensatzdazu äußerte sich ein Sprecher des GeneralbundesanwaltsRebmann zurückhaltender. Er schloss eine Einzeltäterschaftnicht aus, stufte jedoch eine Beteiligung mehrerer Personenals wahrscheinlich ein, ohne dabei auf die WSG Bezug zu

2 Ohne Verfasser: Rebmann: Schwerster Anschlag.

In: Bild vom 29. September 1980.

Die Wehrsportgruppe Hoffmann (WSG) war

eine terroristische Vereinigung neonazistischer

Prägung, die Neonazis im Kampfsport sowie

im Einsatz von Waffen und Munition ausbildete.

Sie wurde 1973 durch den in den 1970er Jahren

bekann testen Rechtsextremisten in der Bun-

desrepublik Deutschland, Karl Heinz Hoffmann,

gegründet. Im Januar 1980 wurde die WSG

aufgrund ihrer verfassungsfeindlichen Ausrich-

tung durch das Bundesinnenministerium

verboten.

Vgl. Fromm, Rainer: Die „Wehrsportgruppe Hoffmann“:

Darstellung, Analyse und Einordnung: ein Beitrag zur

Geschichte des deutschen und europäischen Rechts-

extremismus. Frankfurt/Main u.a., 1998. S. 439ff.

Obwohl der Tathergang nicht gänzlich nachvollzogen werdenkonnte, stellte das bayerische LKA die Ermittlungen im Mai1981 ein. Eineinhalb Jahre später, im November 1982, schlossauch die Generalbundesanwaltschaft ihre Ermittlungen ab.Die aus den Abschlussberichten zu entnehmenden Schluss-folgerungen unterscheiden sich kaum. In beiden wird GundolfKöhler als Einzeltäter benannt, der die Bombe gebaut, an denTatort gebracht und gezündet hat. Eine Tatbeteiligung Dritterwird im Bericht des Generalbundesanwalts für möglich gehal-ten, jedoch als nicht nachweisbar eingestuft. Eine Beteiligungder WSG wird trotz des bestehenden Anfangsverdachts inbeiden Berichten ausgeschlossen. Sich auf Aussagen aus demBekanntenkreis Köhlers beziehend wird dieser als jungerMann rechtsextremer Gesinnung mit einem übersteigertenBezug zu Sprengstoffen beschrieben. Persönliche Frustrationund unkontrollierter Hass auf seine Umwelt werden als Motive für den Anschlag herausgestellt.

25

nehmen.3 Zwischen dem bayerischen Ministerium und demGeneralbundesanwalt bestand fortan ein Disput bezüglich derFrage einer möglichen Beteiligung Dritter an dem Attentat.

Unterdessen hatte die Polizei die Zusammensetzung derBombe rekonstruieren können. Anhand sichergestellter Bom-bensplitter kam sie zu dem Schluss, dass es sich um einenselbstgefertigten Bombenkörper, bestehend aus einer CO2-Treibgasflasche und einer sich darin befindenden englischenMörsergranate, gehandelt hatte. Bei einer Durchsuchung imKeller des elterlichen Wohnhauses von Gundolf Köhler wurdenneben schriftlichen Aufzeichnungen zur Herstellung vonSpreng stoffen und Zündeinrichtungen Farbpartikel gefunden,die aus dem gleichen Material wie die Farbspuren der sicher-gestellten Bombensplitter bestanden. Sie wurden als Indizdafür gewertet, dass Köhler die Bombe nicht nur gezündet,sondern auch gebaut hatte. In den folgenden Wochen undMonaten wurden über 1.800 Zeugen vernommen, um denTathergang zu rekon struieren.4 Einzelne Zeugen hatten aus-gesagt, dass sie Gundolf Köhler in der Nähe des Tatorts in Begleitung mehrerer Personen gesehen hätten. Diese Per-sonen, die zum Teil nur vage beschrieben werden konnten,wurden jedoch nie ausfindig gemacht. Auch ein Koffer, denKöhler unmittelbar vor der Tat bei sich gehabt haben soll,wurde weder unter den sichergestellten Asservaten noch an anderer Stelle gefunden.

24

3 Ohne Verfasser: Generalbundesanwalt hält Bombenleger

nicht für Einzeltäter. In: Frankfurter Rundschau vom

1. Oktober 1980.

4 Vgl. Heymann, Tobias von, a.a.O. S. 89.

Vereinigungen) und Einzelpersonen – darunter mehrereMünchner Stadträte sowie Landes- und Bundespolitiker derSPD – erneut um eine Wiederaufnahme der Ermittlungendurch LKA und BKA. Vier Jahre später reichten wiederum Abgeordnete der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine„Kleine Anfrage“ zum Oktoberfest-Attentat im Bundestagein.5 Aus dem Antwortschreiben der Bundesregierung ist zu entnehmen, dass „keine neuen zureichenden und tatsäch-lichen Anhaltspunkte oder Beweismittel“ vorliegen, die Anlass bieten würden, die Ermittlungen neu aufzunehmen.6Mit dem Verweis auf unzureichende und fehlende neue Indizien wurden sämtliche, bis 2014 unternommenen Initia- tiven für eine Wiederaufnahme bzw. Nachermittlung durchdie Generalbundesanwaltschaft und das BKA abgelehnt.

27

Nach dem Abschluss der

Ermittlungen 1982:

neue Fragen, neue Erkenntnisse

Seit Einstellung der offiziellen Ermittlungen im Jahr 1982wurden immer wieder Zweifel an deren Ergebnissen geäu-ßert, die nicht zuletzt in mehreren Initiativen zur Klärung deroffenen Fragen mündeten. Rechtsanwalt Werner Dietrich, der einzelne Opfer des Attentats bis heute rechtlich vertritt,stellte dreimal einen Antrag auf Wiederaufnahme des Ermitt-lungsverfahrens. Die ersten beiden Anträge (1983 und 2008)wurden seitens der Generalbundesanwaltschaft offiziell„mangels neuer Erkenntnisse“ zurückgewiesen. Erst mit seinem dritten Versuch im Jahr 2014 sollten Dietrich unddamit einhergehend all diejenigen, die die Festlegung aufeinen Einzeltäter in Frage stellten, Erfolg haben.

Zweifel an den Ermittlungsergebnissen hegten nicht nur Familienangehörige und Opfer des Attentats. Auch aus denReihen der Politik wurde wiederholt die Initiative ergriffen, die Tathintergründe neu hinterfragen zu lassen. So stellte dieSPD-Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende des Rechts-ausschusses Herta Däubler-Gmelin bereits 1981 eine parla-mentarische Anfrage nach einer Neubewertung des Oktober-fest-Attentats, nachdem Hinweise auf eine mögliche Herkunftdes Sprengstoffs aus rechtsextremistischen Kreisen aufge-taucht waren. Im Jahr 2005, anlässlich des 25. Jahrestagsdes Anschlags, bemühte sich ein Bündnis aus mehreren Organisationen (u.a. Gewerkschaften und antifaschistische

26

5 Kleine Anfrage der Abgeordneten Hans-Christian Ströbele,

Jerzy Montag, Volker Beck (Köln), Monika Lazar, Silke

Stokar von Neuforn, Wolfgang Wieland, Josef Philip Winkler

und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. In: Bundes-

tags-Drucksache 16/13305. Deutscher Bundestag, 4. Juni

2009, „Oktoberfest-Attentat – Stasi-Notizen und Indizien

betreffend Beteiligung der ,Wehrsportgruppe Hoffmann‘

sowie Verbindungen zu ,Gladio‘“.

6 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der

Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, Jerzy Montag,

Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. In: Deutscher Bundestag

Drucksache 16/13527. Deutscher Bundestag 22. Juni. 2009,

„Oktoberfest-Attentat – Stasi-Notizen und Indizien betref-

fend Beteiligung der ,Wehrsportgruppe Hoffmann‘ sowie

Verbindungen zu ,Gladio‘“.

Allen Bemühungen liegen im Wesentlichen dieselben Moti-vationen zugrunde: der Wunsch nach einer Aufklärung derstrittigen Ermittlungsergebnisse (z.B. Auswertung von Zeugenaussagen, Bezug des Sprengstoffs, Beteiligung derWehrsportgruppe Hoffmann). Die Skepsis stützt sich unteranderem auf die Publikation des Journalisten Ulrich Chaussy„Oktoberfest. Ein Attentat“, in der er seine Recherchen denErmittlungen von Polizei und Justiz gegenüberstellt und unbeantwortete Fragen sowie Unstimmigkeiten offen legt.7Einer der Hauptkritikpunkte ist dabei die schnelle Festlegungauf eine Einzeltat, die, trotz mehrerer gegenteiliger Zeugen-aussagen, nicht zuordenbarer Asservate sowie der Selbst-bezichtigung zweier ehemaliger WSG-Mitglieder, an der Tatbeteiligt gewesen zu sein, getroffen wurde. In diesem Zu-sammenhang wird vermutet, dass die damalige Bundestags-wahl am 5. Oktober 1980 einen entscheidenden Einfluss aufdas Vorgehen der bayerischen Ermittler und deren Ergebnissegehabt hat. Es wird angenommen, dass der Bevölkerungdurch schnelle Ermittlungserfolge nicht nur Kontrolle und Sicherheit suggeriert, sondern auch eine vorausgegangeneFehleinschätzung des bayerischen Ministerpräsidenten undBundeskanzlerkandidaten Franz Josef Strauss relativiert wer-den sollte. Dieser hatte nicht nur die von Linksextremistenausgehende Gefahr als wesentlich höher als die von Rechts-extremisten eingestuft, sondern auch das Verbot der WSG imFrühjahr 1980 als Überreaktion bezeichnet.8 Eine Involvierungder WSG als Ermittlungsergebnis hätte wohlmöglich einen

28

negativen Einfluss auf seine Kandidatur als Bundeskanzlerhaben können.

Die Zweifel an der propagierten Einzeltat und den MotivenKöhlers werden durch Veröffentlichungen der jüngsten Jahregestützt. Seit dem Zusammenbruch des kommunistischenOstblocks in den späten 80er Jahren des 20. Jahrhundertssetzten sich Wissenschaftler in unterschiedlicher Weise erneutmit dem Anschlag auf das Oktoberfest auseinander. Ursachehierfür war vor allem die Möglichkeit, Dokumente mit einbe-ziehen zu können, die bis dato unzugänglich gewesen waren.So untersuchte der Journalist Tobias von Heymann Akten desMinisteriums für Staatssicherheit der DDR (MfS) gezielt nachAufzeichnungen, die das Bombenattentat von München be-trafen.9 Er sichtete über 6.000 Dokumente, die verdeutlichen,dass das MfS die Ermittlungen zum Attentat nicht nur sehraufmerksam verfolgt hatte, sondern den Anschlag als einepolitisch motivierte, rechtsextremistische Tat erachtete. Heymann verweist insbesondere auf ein Dokument, in demdas MfS auf eine Überwachung der WSG durch die Verfas-sungsschutzämter der Länder Bayern, Nordrhein-Westfalenund Baden-Württemberg Bezug nimmt. Diese unter demNamen „Aktion Wandervogel“ durchgeführte Überwachungwar bereits 22 Stunden vor dem Münchner Sprengstoffan-schlag eingeleitet worden. Sie ließ das MfS mutmaßen, dassdie bundesdeutschen Staatsschützer möglicherweise Kennt-nisse über den bevorstehenden Anschlag besaßen.10

29

7 Chaussy, Ulrich: Oktoberfest. Ein Attentat.

Darmstadt/Neuwied, 1985.

8 Heymann, Tobias von, a.a.O., S. 215ff.

9 Ebd.

10 Ebd., S. 131ff.

gemacht. Wir werden weitermachen.“13 – Knapp zwei Monatevor dem Oktoberfest-Attentat war in Bologna am 2. August1980 ebenfalls ein Bombenattentat verübt worden, bei dem85 Menschen starben und über 200 verletzt wurden. DieserAnschlag konnte eindeutig rechtsextremistischen Stay-Behind-Mitgliedern zugeordnet werden. – Der anonyme Anruf konntenie zurückverfolgt werden. Der Hinweis auf das Bombenatten- tat von Bologna, dessen zeitliche Nähe zum Oktoberfest-An-schlag und die mögliche Involvierung der GeheimorganisationGladio, deren Existenz in Deutschland im Jahr 1990 durch dieBundesregierung bestätigt worden war14, lassen für viele dieEinzeltäter-These einmal mehr als fraglich erscheinen.

Unverkennbar trugen die Forschungsergebnisse Gansers undHeymanns dazu bei, dass Rechtsanwalt Dietrich im Jahr 2008seinen zweiten Antrag auf Wiederaufnahme der Ermittlungenstellte. Neben seiner Forderung, die MfS-Akten einzubeziehen,regte er zudem einen Abgleich der Splitter der Oktoberfest-Bombe mit den Bomben an, die von rechtsextremistischenOrganisationen in den 1970er und 1980er Jahren verwendetworden waren. Ein weiterer Beweggrund Dietrichs, den Fallwieder aufrollen zu lassen, bestand in den neuen Möglichkei- ten kriminaltechnischer Untersuchungen, wie beispielsweiseder DNA-Analysen, die in den 1980er Jahren noch nicht durch- führbar waren. Auf seinen Antrag hin, die damals sichergestell- ten Asservate erneut untersuchen zu lassen, gab die Bundesan- waltschaft jedoch bekannt, dass diese bereits 1997 vernichtet

31

Auch die Recherchen des Historikers Daniele Ganser stützendie von verschiedenen Seiten formulierten Zweifel und liefernzudem Anhaltspunkte für eine Herkunft des Sprengstoffs ausrechtsextremen Kreisen.11 In seinem Buch setzt er sich mitdem als „Gladio“ bezeichneten Stay-Behind-Netzwerk inWesteuropa auseinander. Hierbei handelte es sich um para-militärische Geheimarmeen, die unmittelbar nach Ende desZweiten Weltkriegs von der NATO gegründet worden waren.Ihre Aufgabe bestand in der Bekämpfung des Kommunismus.Laut Ganser wurden sie dafür mit Waffen und Sprengstoffausgestattet, die in geheimen Depots aufbewahrt wurden.Als Verwahrer eines solchen Waffenlagers in Deutschlandführt Ganser den Rechtsextremisten Heinz Lembke an, derlaut Aussagen einzelner Angehöriger der rechtsextremen„Deutschen Aktionsgruppen“ auch Mitglieder der WSG mitSprengstoff versorgt haben soll.12 Die Recherchen Gansers,die Lembke mit den Stay-Behind-Armeen in Verbindung brin-gen, lassen aus Sicht des Autors einen weiteren Aspekt anBedeutung gewinnen: Einen Tag nach dem Oktoberfest-Atten-tat waren bei mehreren Münchner Tageszeitungen anonymeAnrufe einer Frau entgegengenommen worden. Der Wortlautwar immer derselbe: „Wir sind von den Rechten aus Bologna.Wir sind gegen die Roten. Wir haben gestern einen Streich

30

11 Ganser, Daniele: NATO-Geheimarmeen in Europa; inszenierter

Terror und verdeckte Kriegsführung. Zürich, 2008.

Die hier zitierte Dissertation von Daniele Ganser ist in wissenschaft-

lichen Fachkreisen anerkannt. Von den späteren Aktivitäten und

Äußerungen Gansers, der sich sowohl verschwörungstheoretischen

als auch rechtspopulistischen Milieus und Kontexten zugewandt

hat, distanziert sich die Landeshauptstadt München ausdrücklich.

12 Ebd., S. 322.

13 Heymann, Tobias von, a.a.O., S. 79.

14 Ganser, Daniele, a.a.O., S. 325ff.

33

worden seien. Weshalb dies geschah, ist bislang ungeklärt. ImRegelfall werden Asservate nur bei rechtskräftig abgeschlos-senen Fällen – Strafverfahren mit Freispruch oder Verurteilung– ausgesondert.

Über drei Jahrzehnte nach dem Attentat wurde dem drittenAntrag Dietrichs schließlich 2014 stattgegeben. Ausschlag-gebend für diesen späten Erfolg war der Kinofilm „Der blindeFleck“ (2013) – ein Politthriller, der das Attentat und die Nach-forschungen des Journalisten Chaussy thematisiert. Die me-diale Wirkung war unerwartet. Der preisgekrönte Film rief beiden Zuschauern eine Resonanz hervor, wie sie durch keineandere Berichterstattung je erreicht worden war. Es meldetensich neue Zeugen bei Chaussy und Dietrich und untermauer-ten mit ihren Aussagen die Zweifel an einem Einzeltäter, indemsie bezeugten Köhler unmittelbar vor der Explosion in Beglei-tung gesehen zu haben. Doch nicht nur diese Aussagen zwan- gen die Generalbundesanwaltschaft letztendlich zum Handeln.Auch die Erkenntnisse aus dem andauernden NSU-Prozesstrugen dazu bei. Das damalige Ermittlungs versagen und dieVerwicklung von Vertrauensleuten in die NSU-Mordserie sen-sibilisierte die Sicherheitsbehörde für eine Überprüfung einststrittiger Ermittlungsergebnisse. Zudem reichten die Bundes- tagsfraktionen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und die DIE LINKEim Mai 2015 eine gemeinsame Klage beim Bundesverfas-sungs gericht ein. Sie soll der Klärung dienen, inwieweit V-Leutedes Verfassungsschutzes Kenntnisse über das bevorstehendeOktoberfest-Attentat besaßen. Bislang waren Anfragen bezüg- lich der V-Leute mit dem Verweis auf den Schutz der Arbeits-weise des Geheimdiensts abgelehnt worden.

32

Ulrich Chaussy, freier Journalist des Bayerischen Rundfunks und Rechtsanwalt Werner Dietrich fochten über drei Jahrzehntedie Ermittlungsergebnisse zum Oktoberfest-Attentat an. Für beide gestaltete sich die Wahrheitsfindung zu einem Lebensthema, in welches Dietrich weit über sein Mandat hinaus Zeit und Geld investierte. Ihrer Beharr-lichkeit ist es zu verdanken, dass die Ermitt -lungen wieder aufgenommen wurden. 2015erhielten sie beide für ihr Engagement denKrenkl-Preis der SPD im Münchner Süden.Zudem wurde Ulrich Chaussy 2014 mit der Bayerischen Verfassungsmedaille ausgezeichnet. Für seinen investigativen Journalismus ehrten ihn im Jahr 2015 die Journalistenvereinigung „Netzwerk Recherche“mit dem Leuchtturm-Preis, sowie 2016 die Landeshauptstadt München mit dem Publi zis -tikpreis.

35

Im Dezember 2014 hat die Bundesanwaltschaft ihre Ermittlun- gen wieder aufgenommen. Gemeinsam mit der eigens vomBayerischen Landeskriminalamt gegründeten „Soko 26. Sep-tember“ sollen sämtliche das Attentat betreffende Akten neu gesichtet werden, darunter auch Geheimdienstakten, die bislang unter Verschluss lagen. Ein Vorhaben, welches sichals diffizil erweist, denn erst Mitte des Jahres 2017 sind nahezu alle relevanten Akten des Bundesamts für Verfassungs-schutz an die Soko ausgehändigt worden. Offiziell wird dieVerzögerung mit dem Umfang des Materials erklärt. Skeptikerhingegen befürchten eine bewusste, politisch motivierte Verschleierung als wahren Hintergrund. Die Mutmaßung ist nicht unbegründet. Unter Berufung auf den Schutz der V-Männer liegen etliche der bereits übergebenen Akten lediglich in Auszügen vor. Es bleibt daher abzuwarten inwie-fern die Sichtung der Akten tatsächlich zur Aufklärung des Attentats beitragen kann.

Die Arbeit der Soko konzentriert sich jedoch nicht nur auf dasAktenmaterial. An die Bevölkerung erging ein Aufruf sich mit Zeugenaussagen sowie historischen Foto- und Filmauf-nahmen rund um den Tatort an das LKA zu wenden. Darüberhinaus werden sämtliche damaligen Zeugen zu denGeschehnissen am 26. September 1980 neu vernommen. Ein Abschluss der Ermittlungen ist laut Rechtsanwalt WernerDietrich derzeit nicht in Sicht.

34

Im Mai 2013 begann in München der NSU-

Prozess. Die Angeklagte, Beate Zschäpe war

Mitglied der dreiköpfigen rechtsterroris ti schen

Vereinigung „Nationalsozialistischer Unter-

grund“ (NSU). Die beiden anderen Mitglieder

Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt hatten

sich einer Verhaftung durch Suizid entzogen.

Unter dem Vorsatz des „Erhalts der deutschen

Nation“ ermordete das Trio in den Jahren

2000 bis 2006 neun Menschen nichtdeutscher

Herkunft. Darüber hinaus sind sie für zahlreiche

Sprengstoffanschläge und den Tod einer Poli zi-

stin verantwortlich. Erst 2011 wurde der NSU

enttarnt. Bis zu diesem Zeitpunkt gingen die

Sicherheitsbehörden davon aus, dass es sich

bei der Mordserie um orga nisierte Ausländer-

kriminalität handelte. Das rassistische Motiv

wurde jahrelang verkannt und auch Hinweise

auf die rechtsextremen Täter ignoriert. Die

öffentliche Empörung über das Ermittlungs-

versagen mündete in dem Vorwurf, dass der

Verfassungsschutz auf dem „rechten Auge

blind“ sei. Neben Zschäpe müssen sich vier

weitere mutmaßliche Unterstützer des NSU

vor Gericht verantworten.

Das Oktoberfest-Attentat

im öffentlichen Bewusstsein

Vier Tage nach dem Attentat, am 30. September 1980, trauerte die ganze Stadt um die Opfer des Anschlags. In eineroffiziellen Trauerfeier im Alten Rathaus kamen neben den Familien angehörigen Politiker der Bundesrepublik, Geistlichesowie verschiedene andere Würdenträger zusammen, um derGetöteten und Verletzten zu gedenken. In seiner Ansprachebezeichnete der damalige Oberbürgermeister Kiesl die Trauer- feier als einen Akt der Solidarität mit den Verletzten und Hin-terbliebenen und wandte sich gleichzeitig in einem Appell andie Bevölkerung. Er betonte, dass Gewalt, unabhängig ob vonlinker oder rechter Gesinnung motiviert, sich immer gegen dieGesellschaft als Ganzes richte. Er forderte die Menschen zupolitischer Wachsamkeit und Zivilcourage auf: „Wir müsseneintreten gegen jede Haltung, die Gewalt ausübt, sie predigt,sie billigt, duldet oder nur verharmlost.“15 Dieser Aufforderungkamen am 30. September 1980 die Bürger der Stadt Münchennach, indem sie an den ver schiedensten öffentlichen Mahn-und Gedenkveranstaltungen teilnahmen.16 Seit dem Attentat

36 37

Gedenkfeier am Tatort, 26. September 1981

15 Landeshauptstadt München (Hrsg.): 26. September 1980.

Dokumentation zum 5. Jahrestag des Bombenanschlages

auf dem Oktoberfest in München. München, 1985, S. 18.

16 Unter anderem fanden ein von der Vereinigung der Verfolg-

ten des Naziregimes und den Münchner Jungdemokraten

und Jungsozialisten organisierter Gedenk-Fackelzug, ein

ökumenischer Gottesdienst, eine DGB-Kundgebung mit

Schweigeminute sowie eine Kranzniederlegung statt.

38

organisiert die DGB-Jugend München jeweils am Jahrestageine Kundgebung mit Kranzniederlegung, um der Opfer desBombenanschlags zu gedenken und die kritische Auseinan-dersetzung mit dem Attentat wachzuhalten.

Um die Erinnerung an die Opfer des Anschlags im öffentlichenBewusstsein aufrechtzuerhalten, wurde im Auftrag der StadtMünchen 1981 eine Gedenksäule am Haupteingang desOktoberfests errichtet. Eingebettet in Blumenbeete fiel dieSäule als Gedenkort jedoch kaum auf. Die Dominanz des Festareals und die unscheinbare Gestaltung ließen Millionenvon Besuchern vorbeiziehen, ohne den Ort wahrzunehmen.Oft wurde er als Müllhalde oder Pissoir zweckentfremdet.Um dem Gedenk ort mehr Würde und Beachtung zukommenzu lassen und diesen vor Beschädigungen zu schützen, wurdeim Jahr 2008 das Mahnmal umgestaltet. Die 1981 durchFriedrich Koller entworfene, bronzene Stele wurde von ihmum eine halbrunde, durchlöcherte Stahlwand erweitert, die an die Streukraft der Bombe erinnern soll. Laut Aussage desKünstlers ist diese Wand als eine Metapher für Schutz undDemokratie zu verstehen, die, angedeutet durch die Löcher,verletzt wurde. Zusätzlich finden sich in den Boden einge las-sene Stahlsplitter, die symbolisch für die Toten des Attentatsstehen. Auf der Säule selbst sind die Namen der getötetenPersonen zu lesen.

39

Antifaschistische Mahnwache, 26. September 2000

Während der Recherchen für die erstmals 2010 erschieneneBroschüre hat sich gezeigt, dass das Oktoberfest-Attentathäufig mit dem Anschlag auf die 1972 in München veran-stalteten Olympischen Spiele verwechselt wird. Auch vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Initiativen wie dieUmgestaltung des Mahnmals, die jährliche Gedenkveran-staltung, sowie publizistische und künstlerische Auseinan-dersetzungen17 wichtig sind, um die Erinnerung an das Geschehen im öffentlichen Bewusstsein stets wachzuhalten.

42

17 Hierzu zählen u.a. der Film „Der blinde Fleck“ von Daniel

Harrich (2013) sowie das Theaterstück der Regisseurin

Christiane Mudra „Wir waren nie weg – die Blaupause“

aus dem Jahr 2015.

„Die Zeit heilt keine Wunden“ –

die Folgen für die Opfer und

deren Angehörige

„Die Zeit heilt keine Wunden“, das waren die Worte einerFrau, deren Sohn bei dem Anschlag ums Leben gekommenist und die, wie einige andere, für die vorliegende Broschüre interviewt wurde. Ihre Aussage steht exemplarisch für dasLeid aller, die bei dem Attentat verletzt wurden oder Freundeund Familienangehörige verloren haben.

Knapp vier Jahrzehnte nach dem Anschlag leiden viele nochimmer unter ihren schwerwiegenden Verletzungen, die trotz lang andauernder Krankenhausaufenthalte, unzähligerOperationen und weiterer Rehabilitationsmaßnahmen nichtgänzlich geheilt werden konnten. Zum Großteil handelt essich um Bewegungseinschränkungen, die das alltäglicheLeben der Anschlagsopfer seitdem prägen. Mehrere der befragten Personen mussten ihr Leben angesichts der körper-lichen und seelischen Verletzungen vollständig umstellen.Dies zeigt sich ganz besonders im Alltag. So ist beispiels-weise die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel für einige nur noch unter erheblichen Kraftanstrengungen möglich, da bereits Wege zu den Haltestellen oder langes StehenSchmerzen hervorrufen.

45

Ausnahmslos alle Interviewpartner betonten die Hilfsbereit-schaft der Münchner Bürger direkt nach dem Attentat sowiedas Engagement einzelner Organisationen, wie z.B. desWeissen Rings, einer Hilfsorganisation für Kriminalitätsopferund deren Familien. Mit Spenden, Geschenken und Kranken-hausbesuchen unterstützten sie die Verletzten, die von dieserpositiven Erfahrung teilweise heute noch zehren. Darüber hinaus empfanden einige der Befragten die lang anhaltendenBemühungen um eine Wiederaufnahme der Ermittlungen als Rückhalt, der sie in ihrer Forderung und Hoffnung auf einelückenlose Aufklärung der Tat bestärkte. Es bleibt zu hoffen,dass die jüngst wieder aufgenommenen Ermittlungen dieserErwartung gerecht werden.

47

Doch nicht nur die physischen Beeinträchtigungen haben zueinem Verlust der Lebensqualität geführt. Während heutzutageKrisenintervention und psychologische Betreuung trauma ti-sierter Personen nach einschneidenden Erlebnissen oder Un-fällen nahezu selbstverständlich sind, waren diese Behand- lungsmethoden Anfang der 1980er Jahre noch nicht etabliert.Die Opfer des Anschlags und deren Angehörige waren mit derVerarbeitung ihrer Erlebnisse weitestgehend auf sich allein ge- stellt. Ein Großteil leidet noch heute unter posttrauma tischenBelastungsstörungen. So wurde in Gesprä chen deutlich, dassviele es seit dem Anschlag vermeiden, sich in größeren Men-schenmengen aufzuhalten, und sehr sensibel auf laute Knall-geräusche reagieren. Auch von einer Teilnahme an der jähr -lichen Gedenkveranstaltung nehmen viele der BetroffenenAbstand, da der Aufenthalt am Tatort und die Atmosphäre des Oktoberfests die schreck lichen Erinnerungen an den Anschlag zu schmerzhaft hervorrufen.

Als zusätzliche Belastung zu den erlittenen physischen undpsychischen Verletzungen empfinden einige der Interview-partnerinnen und Interviewpartner den heutigen Umgang mitihren durch den Anschlag verursachten gesundheitlichen Bedürfnissen. Innerhalb des ersten Jahres nach dem Attentathatten die geschädigten Personen eine finanzielle Unterstüt-zung erhalten, welche jedoch mit zunehmender Genesung reduziert bzw. eingestellt wurde. Für weitere notwendige Reha- bilitationsmaßnahmen oder psychologische Behandlungenhaben die Geschädigten – laut Angaben der Interviewpartner –selbst aufzukommen oder müssen lange bürokratische Wegeauf sich nehmen.

46

Quellen:

– Chaussy, Ulrich: Oktoberfest. Ein Attentat.Darmstadt/Neuwied, 1985.

– Fromm, Rainer: Die „Wehrsportgruppe Hoffmann“: Darstellung, Analyse und Einordnung: ein Beitrag zur Geschichte des deutschen und europäischen Rechtsextremismus. Frankfurt/Main u.a., 1998.

– Ganser, Daniele: NATO-Geheimarmeen in Europa; inszenierter Terror und verdeckte Kriegsführung. Zürich, 2008.

– Heymann, Tobias von: Die Oktoberfest-Bombe. München, 26. September 1980 – Die Tat eines Einzelnenoder ein Terror-Anschlag mit politischem Hintergrund? Berlin, 2008.

– Kleine Anfrage der Abgeordneten Hans-Christian Ströbele,Jerzy Montag, Volker Beck (Köln), Monika Lazar, Silke Stokar von Neuforn, Wolfgang Wieland, Josef Philip Winkler und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. In: Bundestags-Drucksache 16/13305. Deutscher Bundes-tag, 4. Juni 2009, „Oktoberfest-Attentat – Stasi-Notizenund Indizien betreffend Beteiligung der ,WehrsportgruppeHoffmann‘ sowie Verbindungen zu ,Gladio‘“.

– Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, Jerzy Montag,Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. In: Deutscher Bundestag Drucksache 16/13527. Deutscher Bundestag 22. Juni 2009, „Oktoberfest-Attentat – Stasi-Notizen und Indizien betreffend

49

Erinnerungskulturelles

Forschungsprojekt der

Landeshauptstadt München

2015 hat das Kulturreferat der Landeshauptstadt Münchenein Forschungsprojekt ins Leben gerufen, welches sich denOpfern und Betroffenen des 26. September 1980 widmet.Anders als bei den polizeilichen Ermittlungen, die sich auf die Tat und Tathintergründe konzentrieren, ist der Fokus desProjekts auf die Opfer gerichtet. Anhand von Interviews werden ihre individuellen Schicksalsgeschichten gesammeltund dokumentiert, um sie für nachfolgende Generationen zubewahren und die in der Münchner Stadtgeschichte vielfachverdrängte Thematik des Oktoberfest-Attentats ins öffentlicheBewusstsein zurück zu bringen. So soll die Öffentlichkeit sensibilisiert werden für die individuellen Lebensgeschichtender Betroffenen, welche mehrheitlich bis in die Gegenwartdurch das Attentat geprägt sind. Darüberhinaus ist es ein Anliegen des Projekts mit Betroffenen des Attentats in denDialog zu treten, wie der erinnerungskulturelle Umgang inMünchen künftig gestaltet werden kann.

Für weitere Informationen zu dem Projekt wenden Sie sichbitte an das Kulturreferat der Landeshauptstadt München,Stadtgeschichte, Telefon: 089 233 - 24435.

48

Beteiligung der ,Wehrsportgruppe Hoffmann‘ sowie Verbindungen zu ,Gladio‘“.

– Landeshauptstadt München (Hrsg.): 26. September1980. Dokumentation zum 5. Jahrestag des Bombenan-schlages auf dem Oktoberfest in München. München,1985.

– Ohne Verfasser: Generalbundesanwalt hält Bombenlegernicht für Einzeltäter. In: Frankfurter Rundschau vom 1. Oktober 1980.

– Ohne Verfasser: Rebmann: Schwerster Anschlag. In: Bild vom 29. September 1980.

– Schmalz, Peter: Wir dürfen vor der Gewalt nicht kapitulieren. In: Die Welt. 1. Oktober 1980.

Abbildungsverzeichnis

– Seite 12 Städtisches Vermessungsamt der Landeshauptstadt München

– Seite 15 Heinz Gebhardt– Seite 16, 17 Stadtarchiv München

(FS-ERG-B-0025, FS-ERG-B-0027)– Seite 37, 38, 44 Mark Schütze/Stadtarchiv München

(FS-ERG-B-0026, FS-ERG-B-0029, FS-ERG-B-0028)– Seite 40/41, 43 Denis Schäfer

50

Impressum

Herausgeber:

Landeshauptstadt München

Kulturreferat

Burgstr. 4, 80331 München

Oberbürgermeister

Fachstelle für Demokratie –

gegen Rechtsextremismus, Rassismus

und Menschenfeindlichkeit

Marienplatz 8, 80331 München

3. überarbeitete Auflage 2017

Autorin:

Tatjana Neef

Redaktion:

Kulturreferat, Dr. Sabine Schalm

Grafische Gestaltung:

www.leistls.org

Druck und Bindung:

Weber Offset GmbH

Gedruckt auf Papier aus

100% zertifiziertem Holz

aus kontrollierten Quellen