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4.3 Anregung der Regeneration 91 4.1.1 Physiotherapeutische Maßnahmen bei Läsionen peripherer Nerven Allgemeines. Peripheren Nervenläsionen liegen verschie- dene Ursachen zugrunde. Dementsprechend kommen un- terschiedliche Behandlungen zur Anwendung. Sofern keine operative Exploration, Neurolyse oder Nervennaht zum ge- genwärtigen Zeitpunkt in Frage kommt, ist die konservati- ve Therapie zunächst die Methode der Wahl. Die Physio- therapie verlangt immer Geduld von Seiten der Patienten und der Behandler. Während der langen Behandlungszeit erhält der Therapeut eine wichtige Funktion in der Patien- tenedukation. Schon zu Beginn der Behandlung soll der Therapeut detailliert über den Nervenschaden und die zu erwartende Erholung informiert sein. Er steht mit dem Arzt über den gesamten Behandlungszeitraum hinweg in ständigem Kontakt und führt in seinen Sitzungen exakte Erfolgskontrollen. Diese ermöglichen, den Regenerations- prozess zu überwachen und eine Verlangsamung bzw. ei- nen Stillstand in der Wiederherstellung frühzeitig zu er- kennen. Information des Patienten über den aktuellen Zustand, über Prognose und Gefahren, die durch die Nervenschädi- gung entstanden sind. Zur Patientenaufklärung gehören die Besprechung der möglichen Schädigungsmechanis- men, der Prognose, der durchzuführenden Behandlungs- maßnahmen und deren Wirkung, der Rolle, die er im Be- handlungsprozess einzunehmen hat, sowie Empfehlungen für günstiges und schädliches Verhalten im Alltag. Die zu erreichenden Ziele werden gemeinsam mit dem Patienten festgelegt und terminiert. Vermeiden von Sekundärschäden in den gelähmten Ex- tremitätenabschnitten. Dazu zählt die Verhütung von Kontrakturen der funktionsfähigen Antagonisten, eine Ver- hütung der Überdehnung der gelähmten Muskulatur, das Vermeiden von Gelenksversteifungen und Vermeiden der Entstehung trophischer Ulzera in den sensibilitätsgestör- ten Hautbezirken. Besonders gefährdet sind Finger und Fü- ße. Als Gefahrenstellen entpuppen sich immer wieder Schuhe und der Umgang mit heißem Wasser. Es ist daher u. a. zu empfehlen, das Gebrauchswasser im Haushalt auf 50 °C einzustellen. Die Gelenke müssen sorgfältig durch gezielte Bewegungsübungen bewegt werden. Man achtet darauf, dass die gelähmten Muskelgruppen, besonders bei Fibularis- und Radialislähmungen, nicht ständig überdehnt werden, was sich durch eine entsprechende Schienung ver- meiden lässt. Verhütung oder Verzögerung der Muskelatrophien. Seit Jahrzehnten wird mit Hilfe der Elektrotherapie versucht, die denervationsbedingte Muskelatrophie zu beeinflussen. Es gibt zahlreiche tierexperimentelle Untersuchungen, welche z. T. widersprüchliche Resultate zeigen. Es darf an- genommen werden, dass die in der Physiotherapie norma- lerweise verwendeten Stimulationsverfahren keinen Nut- zen bringen. Anregung der Regeneration der Nervenfasern. Nerven- schädigungen verursachen in der Akutphase immer ein lo- kales Ödem. Dieses wirkt sich primär regenerationshem- mend aus. Durch eine anfängliche entstauende Lymphdrai- nage kann das Ödem schneller beseitigt werden, was sich günstig auf den Regenerationsprozess auswirkt. Diese Maßnahme ist insbesondere auch unmittelbar nach opera- tiven Eingriffen am Nerven zu empfehlen, da in diesen Fäl- len meistens ein deutliches postoperatives Ödem vorliegt. Weiter postuliert werden zur Anregung der Regenerati- on aktive Bewegungen. Beobachtungen von Holler (590) haben ergeben, dass sich Läsionen zentral automatisch ge- steuerter Muskelgruppen (N. phrenicus) schneller erholen als solche, welche nur der Willkürmotorik unterworfen sind. Da exogen verursachter Stress sich negativ auf die Nervenregeneration auszuwirken scheint, sollte ein exten- sives Training vermieden werden. Bis zum heutigen Zeitpunkt gibt es keine Beweise, dass durch Elektrotherapie beim Menschen positive Resultate wie bei den Nagern erzielt werden können. Funktioneller Ersatz durch Training der erhaltenen Mus- kulatur, Hilfsmittelversorgung und Ersatzoperationen. Rund 10 Tage nach der traumatischen Nervenschädigung, wenn die Entzündungsphase abgeschlossen ist und sich genügend Granulationsgewebe gebildet hat, kann mit dem Einüben von Trickbewegungen begonnen werden. Damit soll dem Patienten möglichst früh eine möglichst große Selbständigkeit zurück geben werden. Dies sollte man auch 4 Allgemeines zur Therapie peripherer Nervenläsionen 4.1 Konservative Therapie Mumenthaler, Stöhr, Müller-Vahl. Läsionen peripherer Nerven und radikuläre Syndrome (ISBN 3133802089) © 2003 Georg Thieme Verlag

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4.3 Anregung der Regeneration 91

4.1.1 Physiotherapeutische Maßnahmenbei Läsionen peripherer Nerven

Allgemeines. Peripheren Nervenläsionen liegen verschie-dene Ursachen zugrunde. Dementsprechend kommen un-terschiedliche Behandlungen zur Anwendung. Sofern keineoperative Exploration, Neurolyse oder Nervennaht zum ge-genwärtigen Zeitpunkt in Frage kommt, ist die konservati-ve Therapie zunächst die Methode der Wahl. Die Physio-therapie verlangt immer Geduld von Seiten der Patientenund der Behandler. Während der langen Behandlungszeiterhält der Therapeut eine wichtige Funktion in der Patien-tenedukation. Schon zu Beginn der Behandlung soll derTherapeut detailliert über den Nervenschaden und die zuerwartende Erholung informiert sein. Er steht mit demArzt über den gesamten Behandlungszeitraum hinweg inständigem Kontakt und führt in seinen Sitzungen exakteErfolgskontrollen. Diese ermöglichen, den Regenerations-prozess zu überwachen und eine Verlangsamung bzw. ei-nen Stillstand in der Wiederherstellung frühzeitig zu er-kennen.

Information des Patienten über den aktuellen Zustand,über Prognose und Gefahren, die durch die Nervenschädi-gung entstanden sind. Zur Patientenaufklärung gehörendie Besprechung der möglichen Schädigungsmechanis-men, der Prognose, der durchzuführenden Behandlungs-maßnahmen und deren Wirkung, der Rolle, die er im Be-handlungsprozess einzunehmen hat, sowie Empfehlungenfür günstiges und schädliches Verhalten im Alltag. Die zuerreichenden Ziele werden gemeinsam mit dem Patientenfestgelegt und terminiert.

Vermeiden von Sekundärschäden in den gelähmten Ex-tremitätenabschnitten. Dazu zählt die Verhütung vonKontrakturen der funktionsfähigen Antagonisten, eine Ver-hütung der Überdehnung der gelähmten Muskulatur, dasVermeiden von Gelenksversteifungen und Vermeiden derEntstehung trophischer Ulzera in den sensibilitätsgestör-ten Hautbezirken. Besonders gefährdet sind Finger und Fü-ße. Als Gefahrenstellen entpuppen sich immer wiederSchuhe und der Umgang mit heißem Wasser. Es ist daher u. a. zu empfehlen, das Gebrauchswasser im Haushalt auf50 °C einzustellen. Die Gelenke müssen sorgfältig durch

gezielte Bewegungsübungen bewegt werden. Man achtetdarauf, dass die gelähmten Muskelgruppen, besonders beiFibularis- und Radialislähmungen, nicht ständig überdehntwerden, was sich durch eine entsprechende Schienung ver-meiden lässt.

Verhütung oder Verzögerung der Muskelatrophien. SeitJahrzehnten wird mit Hilfe der Elektrotherapie versucht,die denervationsbedingte Muskelatrophie zu beeinflussen.Es gibt zahlreiche tierexperimentelle Untersuchungen,welche z. T. widersprüchliche Resultate zeigen. Es darf an-genommen werden, dass die in der Physiotherapie norma-lerweise verwendeten Stimulationsverfahren keinen Nut-zen bringen.

Anregung der Regeneration der Nervenfasern. Nerven-schädigungen verursachen in der Akutphase immer ein lo-kales Ödem. Dieses wirkt sich primär regenerationshem-mend aus. Durch eine anfängliche entstauende Lymphdrai-nage kann das Ödem schneller beseitigt werden, was sichgünstig auf den Regenerationsprozess auswirkt. DieseMaßnahme ist insbesondere auch unmittelbar nach opera-tiven Eingriffen am Nerven zu empfehlen, da in diesen Fäl-len meistens ein deutliches postoperatives Ödem vorliegt.

Weiter postuliert werden zur Anregung der Regenerati-on aktive Bewegungen. Beobachtungen von Holler (590)haben ergeben, dass sich Läsionen zentral automatisch ge-steuerter Muskelgruppen (N. phrenicus) schneller erholenals solche, welche nur der Willkürmotorik unterworfensind. Da exogen verursachter Stress sich negativ auf dieNervenregeneration auszuwirken scheint, sollte ein exten-sives Training vermieden werden.

Bis zum heutigen Zeitpunkt gibt es keine Beweise, dassdurch Elektrotherapie beim Menschen positive Resultatewie bei den Nagern erzielt werden können.

Funktioneller Ersatz durch Training der erhaltenen Mus-kulatur, Hilfsmittelversorgung und Ersatzoperationen.Rund 10 Tage nach der traumatischen Nervenschädigung,wenn die Entzündungsphase abgeschlossen ist und sichgenügend Granulationsgewebe gebildet hat, kann mit demEinüben von Trickbewegungen begonnen werden. Damitsoll dem Patienten möglichst früh eine möglichst großeSelbständigkeit zurück geben werden. Dies sollte man auch

4 Allgemeines zur Therapie peripherer Nervenläsionen

4.1 Konservative Therapie

Mumenthaler, Stöhr, Müller-Vahl. Läsionen peripherer Nerven und radikuläre Syndrome (ISBN 3133802089) © 2003 Georg Thieme Verlag

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92 4 Allgemeines zur Therapie peripherer Nervenläsionen

dann durchführen, wenn ein funktionell befriedigendesSpätresultat zu erwarten ist. Bei fehlender oder ungenü-gender Erholung kommen die Abgabe von Orthesen oderErsatzoperationen in Frage. Orthesen dienen besonders imBereich der Hand dazu, Greiffunktionen zu ermöglichenoder zu verbessern. Ersatzoperationen siehe bei den jewei-ligen Nervenläsionen.

Die soziale Reintegration. Die soziale Reintegration bzgl.der Funktion in der Familie, im Hauhalt oder Beruf muss

frühzeitig in die Gesamtplanung aller Maßnahmen einbe-zogen werden. Dieser Teil der Behandlung ist ein Prozess,der i. d. R. längere Zeit in Anspruch nimmt. Je besser dasGesamtumfeld des Patienten mitberücksichtigt wird, destobesser sind die Erfolgschancen einer Reintegration. Für dieberuflichen Wiedereingliederung stehen Testbatterien zurBestimmung der funktionellen Leistungskapazität zur Ver-fügung, die ein objektives Bild des möglichen Leistungs-profils ergeben.

4.2 Assessments in der PhysiotherapieAssessmentsysteme haben die Aufgabe, den aktuellen Zu-stand der Schädigung auf der Ebene der Körperstrukturund -funktion, sowie deren Auswirkungen auf die Aktivitä-ten und der Teilnahme an der Gesellschaft unter Berück-sichtigung der persönlichen und umweltbedingten Kon-textfaktoren (WHO) zu beschreiben. Im Weiteren sollen dieAssessments die Wirkung der Therapiemaßnahmen mes-sen. Sie ermöglichen, die Veränderungen in einer bestimm-ten Zeiteinheit zu registrieren. Die Auswahl der richtigenMessinstrumente ist nicht immer leicht und von der Erfah-rung des Therapeuten abhängig.

Für die Bestimmung der Läsionshöhe des Nervenscha-dens und des Standes der Nervenregeneration dient dasTinel-Hoffmann Zeichen. Damit kann die Nervenregenera-tion metrisch verfolg werden.

Zur Bestimmung der Kraft dient die Skala des BritishMedical Research Concil (s. S. 39). Zur genauen Erfassungeignet sich die isometrische Kraftmessung in Kilopondnach Huber (605) besser. Die Ausgangsstellungen zur Mes-sung sind genau definiert, zudem bestehen Normperzenti-len gesunder Altersgruppen.

Die genaue Messung der Kraft und der Kraftentwicklungvon Hand und Finger erfordert i. d. R. mehrere Messinstru-mente. Für die grobe Handkraft wird wohl am häufigstender Jamar Dynamometer gebraucht. Bei der Durchführungder Krafttests in den 5 vorgegebenen Positionen ist auf ei-ne korrekte Ausgangsstellung zu achten, damit keine Ver-zerrungen der Resultate durch Trickbewegungen entste-hen. Andere Möglichkeiten der Testung bestehen mit demVigorimeter und dem Intrinsic-Meter. Für die Testausfüh-rung gelten dieselben Vorgaben wie beim Jamar.

Aussagekräftiger als reine Kraftmessungen sind funktio-nelle Tests für die Bestimmung der Behinderung des Pati-enten. Es ist durchaus möglich, dass sich die funktionelleKapazität erhöht, ohne dass es zu einer signifikanten Kraft-zunahme gekommen ist. Trickbewegungen, bessere Koordi-nation verbliebener Muskelgruppen, aber auch neue Prob-lemlösungsstrategien als Adaptation an die aktuelle Behin-derung können zu einer verbesserten Funktion führen. ImBereich peripherer Nervenläsionen sind kaum standardi-sierte Tests vorhanden, sie richten sich meist nach der indi-viduellen Zielsetzung des Patienten. Es gehört zur Kunst desTherapeuten, aus der individuellen Zielvereinbarung mitdem Patienten einen funktionellen Test zu finden, welcher

reproduzierbar und relevant ist. Beispiele solcher Testssind: Eine Tür mit einem Schlüssel öffnen, aus einer Flascheein Glas einschenken usw. Es wird z. B. die benötigte Zeitund/oder das Gewicht der Flasche bestimmt, mit welcherdie Tätigkeit gerade noch durchgeführt werden kann.

Mit 29 standardisierten funktionellen Leistungstestsnach Isernhagen werden die Belastbarkeit für häufige phy-sische Funktionen der Arbeit untersucht (Hebe- und Trage-kapazität, Simulation von typischen Arbeitshaltungen,Handkoordination, Gehtests u. a.). Ziel dieser Untersu-chung ist eine realitätsgerechte Beurteilung der arbeitsbe-zogenen, ergonomisch sicheren Belastbarkeit. Dadurchwird ein Vergleich mit den Anforderungen der bisherigenberuflichen Tätigkeit oder einer allenfalls vorgesehenenUmschulung möglich („Job match“) (624).

Die Geschicklichkeit der Hand wird am besten mit den9 Hole Peg Test gemessen (1498). Dieses standardisierte Instrument ist gut evaluiert und eignet sich für eineschnelle Durchführung. In ein Brett mit 9 Löchern wer-den an einem Tisch sitzend 9 Dübel gesteckt. Es wird dieZeit gemessen, die der Patient für die Durchführungbraucht. Gesunde Probanden führen diesen Test in wenigerals 18 Sekunden durch.

Das Ausmaß der Schmerzen wird mit der graduierten Visual Analogue Scale 0–10 beurteilt. 0 bedeutet keinSchmerz, 10 bedeutet den stärksten Schmerz, den man sichvorstellen kann. Es empfiehlt sich, diese Art der Schmerz-befragung für den aktuellen Zustand, für den Zeitpunkt, alser in den vergangenen 7 Tagen am schlimmsten und als eram besten war, zu erheben.

Eine weitere gängige Methode, die Schmerzen Quantita-tiv und auch topisch zu erfassen, ist die Schmerzzeichnung.In einer Körpertabelle soll der Patient seine gesamtenSchmerzbereiche sowie die jeweilige Schmerzintensitätmöglichst genau mit Kreuzen oder Strichen symbolisierteintragen. Diese Art der Erhebung gibt einen Hinweis aufdie Ausdehnung und Verbreitung der Schmerzbezirke.

Die Überprüfung der Sensibilität über einen längerenZeitraum hinweg kann klinisch relevant sein, die Doku-mentation ist aber schwierig. Im Alltag haben sich 2 Me-thoden etabliert, die Zwei-Punkte-Diskrimination und derMonofilament Test nach Semmes -Weinstein., Die Zwei-Punkte-Diskrimination kann statisch oder dynamischdurchgeführt werden.

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4.3 Anregung der Regeneration 93

Aktive Bewegungen. Wie eine tierexperimentelle Studiean Ratten zeigte, konnte mit einem moderaten täglichenSchwimmtraining von 180 Metern die Nervenregenerationgegenüber einer Kontrollgruppe nicht beeinflusst werden.In derselben Studie zeigten Ratten, die 2-mal täglich wäh-rend 30 Minuten auf einem Laufband mit einer Geschwin-digkeit von 10 Metern pro Minute liefen, eine verzögerteErholung (1467).

In einer weiteren Studie an Hühnern wurden Ischiadi-cusläsionen mit einer End-zu-End-Naht versorgt. Die Hüh-ner teilte man in 3 Gruppen Eine erste Gruppe wurde in ei-nem Freigehege gehalten und zusätzlich täglich zu Bewe-gungen angeregt, die Gruppen 2 und 3 hielt man in engenKäfigen, die 3. Gruppe bekam zusätzlich täglich Elektrothe-rapie. Die elektromyographische Erholung bei den Hüh-nern im Freigehege trat um fast 1/3 früher ein als bei denandern beiden. Diese letzteren unterschieden sich nicht(596).

Exogener Stress kann sich negativ auf die motorische Er-holung peripherer Nervenfasern auswirken. Eine Untersu-chung an denervierten Ratten zeigte bei denjenigen, wel-che täglich mit elektrischen Fußschocks versehen wurden,eine signifikant verminderte Regeneration gegenüber derKontrollgruppe (1468). Auch wenn diese Resultate nichtohne weiteres auf den Menschen übertragen werden kön-nen, darf doch angenommen werden, dass Stress sich ne-gativ auf die Nervenregeneration auswirken kann und da-her möglichst vermieden werden sollte. Extensives Trai-ning löst im Körper bekanntermaßen Stressfaktoren aus.Diese Art des Trainings sollte daher vermieden werden.

Elektrotherapie Zuverlässige Messungen über den Effekteiner Elektrotherapie auf die Nervenregeneration gibt esnur im Tierversuch. Beim Menschen liegen solche Untersu-chungen nicht vor. In vitro Untersuchungen haben gezeigt,dass Neurite parallel zum elektrischen Feld 3 bis 8-malschneller zur Kathode wachsen als in Richtung Anode (844,1140).

Nix und Hopf konnten an Kaninchen zeigen, dass Elek-trostimulation die Nervenregeneration und funktionelleErholung zu beschleunigen vermag (975). VerschiedeneUntersuchungen an Nagern zeigten, dass elektrische Felderdie Nervenregeneration anzuregen vermögen, sofern dieKathode distal angelegt wird. Im Vergleich zur Kontroll-gruppe hat Al-Majed durch eine Stimulation mit 20 Hz ei-ne 3-mal kürzere Erholungszeit nach Nervennaht festge-stellt (13). Die täglich einmalige 1-stündige Stimulationbrachte die gleichen Resultate wie eine 2-wöchige Dauer-stimulation.

Obwohl bei verschiedenen Säugetieren die Nervenrege-neration durch elektrische Felder und Stimulation angeregtwerden kann, fehlen beweisende klinische Studien amMenschen. Es ist auch nicht klar, welche Stromform trans-kutan appliziert werden soll. Somit kann der Stellenwertder Elektrotherapie nicht abschließend beurteilt werden.Mit Sicherheit wurde früher die Elektrotherapie zu häufigangewendet.

Die Denervation eines Muskels wird immer von einerAtrophie begleitet. Nach 2 bis 3 Monaten reduziert sich derDurchmesser der Muskelfasern um 50 % und mehr. Nachungefähr 4 Monaten verlangsamt sich der atrophische Pro-zess. Etwa 2 Jahre nach der Denervation erfolgt ein Zerfallder Muskelfasern, an ihre Stelle treten Fettzellen (2).

Beurteilung der Effektivität elektrischer Muskelstimula-tion. Dies kann sich nur auf Resultate in Tierversuchen ab-stützen. Denervierte Kaninchenmuskeln wurden mittelsOberflächenelektroden täglich 2-mal während 6 Minutenmit einem biphasischen Rechteckstrom von 20 ms Dauerund einer Frequenz von 25 Hz über 110 bis 117 Tage teta-nisch stimuliert. Der Querschnitt der stimulierten Muskel-fasern reduzierte sich um 14 bis 28 %, während die nichtsti-mulierte Kontrollgruppe eine Abnahme von 51 bis 71 % zuverzeichnen hatte (899). Die Effektivität der Stimulation istabhängig von der Stimulationsart, der Stärke, der Dauer, derPulsfrequenz und den Trainingspausen. In einer Untersu-chung an 9 Patienten mit kompletter Denervation des Ti-bialis anterior Muskels kamen die Autoren zum Schluss,dass nach einer 3-wöchigen Elektrostimulation mit Recht-eckstrom von 20 ms Dauer, 25 Hz und einer Stimulations-dauer von 2-mal 20 Minuten täglich 5-mal in der Woche dieAtrophie aufgehalten werden konnte und sich die Dorsa-lextension des Fußes während der Stimulation vergrößerte(1457). Demgegenüber fanden Boonstra und Mitarbeiter an73 Patienten nach totaler Nervenläsionen keinen Nutzen ei-ner galvanischen submaximalen 35-wöchigen Elekrostimu-lation mit einer Impulsdauer zwischen 70 und 200 ms(148). Eine Auseinandersetzung mit diesen widersprüchli-chen Resultaten zeigt, dass in der Untersuchung von Boon-stra nur submaximale galvanische Ströme angewendetwurden, während bei den übrigen Untersuchungen faradi-sche Ströme Anwendung fanden, die eine tetanische Kon-traktion bewirkten. Die Wirkung der Elektrotherapie ist ab-hängig von der Anzahl der stimulierten Muskelfasern, wasbei kleinen Muskeln in den Tierversuchen und durch im-plantierte Elektroden leichter zu bewerkstelligen ist (976).

Effekte der elektrischen Langzeit-Muskelstimulation aufdie Reinnervation. Diese wurde kontrovers diskutiert. Eswird immer wieder auf eine Hemmung des terminalenAusprossens in die Muskelfaser hingewiesen. Hennigkonnte an Ratten zeigen, dass lediglich 5 bis 20 % der Mus-kelfasern von dieser Hemmung betroffen sind und somitdie Axonregeneration oder Reinervation nicht wirklich ver-hindert wird (568).

Es darf als erwiesen betrachtet werden, dass Elektrosti-mulation bei tetanischer Kontraktion die Muskelatrophiezu verzögern vermag. Eine Stimulation sollte nur erfolgen,sofern eine Reinervation erwartet werden kann, und wenndie Erholung nicht innerhalb weniger Wochen zu erwartenist (395). Die zu verwendende Stromart sollte wegen derbesseren Verträglichkeit biphasisch und die Stimulations-art maximal sein (1562). Kinder sollten von dieser Art derTherapie verschont bleiben.

4.3 Anregung der Regeneration

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94 4 Allgemeines zur Therapie peripherer Nervenläsionen

Schmerzsyndrome, welche nach peripheren Nervenläsio-nen auftreten, sollten primär konservativ mit Medikamen-ten in Kombination mit physikalischer Therapie behandeltwerden. In der Akutphase führt die Reduktion der Schwel-lung zu weniger Schmerzen, was mit einer bis zu 2-maltäglich durchgeführten Lymphdrainage zu bewerkstelligenist. Zusätzlich unterstützende Maßnahmen sind Kälte-oder Wärmeanwendungen.

Chronische Schmerzen können mit transkutaner elektri-scher Nervenstimulation TENS behandelt werden. Die Behandlung ist dann am erfolgreichsten, wenn die zu sti-mulierenden Nervenfasern oberflächlich verlaufen und

zwischen dem stimulierten Areal und dem Zentralnerven-system eine intakte Verbindung besteht. Ebenfalls hilfreichist die Elektro-Akupunktur, wobei diese besonders Wir-kungen bei Dysästhesien und atypischen Gesichtsschmer-zen zeigt. Zeigen weder TENS noch Elektro-AkupunkturWirkung, können beide Methoden kombiniert werden.

Die transcutane spinale Elektroanalgesie TSE stimuliertmit einer Pulsweite von 4 µSekunden bei 600 Hz und 120 Vwährend 60 Minuten (807). Diese hochfrequente Stimula-tionsart hat anscheinend den Vorteil, dass sie akuteSchmerzen nicht maskiert.

4.4 Schmerzbehandlung

4.5 Schienen- und Hilfsmittelversorgung

Hilfsmittel oder Schienen dienen der Ruhigstellung, derVermeidung dauernder Überdehnung und der Verhinde-rung von Kontrakturen sowie dem Ersatz verlorener Funk-tionen. Die Verwendung einer bestimmten Schienenart istvom individuellen Zweck, den sie erfüllen soll, abhängig.Die Auswahl einer geeigneten Schiene braucht viel Erfah-rung. Oftmals kommen die Patienten mit kompensatori-schen Trickbewegungen besser zurecht als mit dem Hilfs-mittel.

Das Schienenmaterial sollte leicht, genügend stabil undeinfach wiederverformbar sein. Gefährdete Stellen könnenmit Lammfell unterpolstert werden, um trophische Haut-schäden zu vermieden. Dank der verbesserten Verarbei-tungseigenschaft neuer Schienenmaterialien ist dies heutekaum mehr notwendig. Schienen werden immer individu-ell angefertigt und laufend auf die richtige Passform kon-trolliert und, wenn nötig, angepasst.

Schienen

Bei schmerzhaften Läsionen oder beginnenden sympathe-tischen Reflexdystrophien an der oberen Extremität, kom-men Lagerungsschienen zum Einsatz. Das Handgelenkwird in einer Stellung zwischen 0 und 30° Dorsalextension,60 bis 90° Flexion im Metacarpophalangealgelenk undbestmöglicher Streckung der Interphalangealgelenke (In-trinsic-Plus-Stellung) gelagert, der Daumen in der be-quemsten Stellung bzgl. Ab- und Adduktion (177).

Um bei einer Radialisläsion eine dauernde Überdehnungzu vermeiden, kommt eine Cock-up-Schiene mit einerHandgelenksextension von 20 bis 30° zum Einsatz. Gleich-zeitig verbessert sich durch die Stabilisation des Handge-lenks in Funktionsstellung die erhaltene Greiffunktion.

Eine Überdehnung bei einer Ulnarisläsion ist besondersdurch Beugung des Ellbogens ab 60° möglich. BesondereGefahr entsteht durch lange gehaltene Positionen imSchlaf, aber auch durch Computerarbeit (549, 1266). EineEllbogenschiene in 30° Flexion vermeidet diese Gefahr. Sie

sollte auch tagsüber getragen werden, wenn bei gewissenTätigkeiten Parästhesien auftreten. Die Verwendung dieserSchienenart ist eher selten und findet hauptsächlich beiEinklemmungsneuropathien Anwendung.

Hilfsmittel

Die Opponensschiene hilft Patienten mit einer Medianus-läsion, eine einigermaßen befriedigende Greiffunktion zuerlangen. Dazu wird der Daumen in Opposition und 40 bis45° palmarer Abduktion so fixiert, dass eine Daumen-Fin-gerspitzen Berührung zustande kommen kann. Auf einezusätzliche Schienung des Handgelenkes soll, wenn mög-lich, verzichtet werden, um durch die Bewegungsfreiheitbessere Greiffunktionen zu ermöglichen.

Bei traumatischen Läsionen im Bereich des Armplexuswelche lediglich einen segmentalen Markscheidenzerfallbewirken, sollte immer eine Handgelenksmanschette zurFixation des Handgelenks in Dorsalextension abgegebenwerden. Dadurch wird die Greiffunktion erleichtert. Dieswirkt sich in den ersten Wochen nach der Läsion positiv aufden Berufsalltag und die Aktivitäten des täglichen Lebensaus.

Schuheinlagen sind eine einfache und manchmal loh-nende Therapie bei nicht sehr ausgeprägten Beschwerdender Morton Metatarsalgie. Die Einlage sollte eine elasti-sche, nach lateral verlegte retrokapitale Pelotte haben undden begleitenden Spreizfuß korrigieren. Ob die Versorgungmit entsprechenden Schuheinlagen auch die Rezidivquotezu senken vermag, ist jedoch nicht bekannt.

Um bei der Fibularisläsion eine dauernde Überdehnungzu vermeiden und ein physiologisches Gangbild zu errei-chen, erfolgt die Versorgung mit einer Unterschenkel-Fuß-Orthese. Die neuen Modelle aus Polyäthylen haben denVorteil, dass sie die Ferse frei lassen und dadurch einenbesseren Halt im Schuh bieten. Auch seitlich wird der Fußetwas gestützt und auf die Fußplatte kann problemlos eineEinlage eingearbeitet werden.

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4.7 Grundsätzliches zur operativen Behandlung peripherer Nervenläsionen 95

Eine besondere Eigenschaft des peripheren Nervensystemsist die Fähigkeit, Längenveränderungen zu tolerieren. Peri-phere Nerven müssen sich den ausgeprägten Stellungsän-derungen der Gliedmassen bei Bewegungen im Alltagdurch Gleitbewegungen im Nervenbett anpassen. DieseAnpassungen erfolgen durch grosse undifferenzierte Bewe-gungen, indem der ganze Nerv entlang den angrenzendenStrukturen durch extraneurale Bewegung gleitet (178). Beiden intraneuralen Bewegungen gleitet ein Faszikel gegen-über einem anderen im Nerven selber. Pathologische Situa-tionen wie Blut im Epiduralraum, ein Ödem im Nervenbettoder Intraneuralraum sowie Fibrosen können diesen Bewe-gungsmechanismus stören. Extremitätenbewegungen be-wirken eine starke Zunahme der Spannung distal und pro-ximal der Verklebung. Der Nervendurchmesser nimmt abund der intraneurale Druck steigt an. Wenn der intraneura-le Druck denjenigen der epineuralen Arteriolen übersteigt,kommt es zu einer vorübergehenden Ischämie der Nerven-fasern. Dies kann zu einer vermehrten Ödembildung, Ver-

stärkung der Entzündungsreaktion, Zunahme der Adhäsionund weitere Verminderung der Gleitbewegung oder Zu-nahme der Spannung führen (199).

Zur Behandlung von extraneuralen Pathologien wird dasGewebe der angrenzenden Strukturen oder der Nerv durchBewegung im Nervenbett behandelt. Liegt der Prozess in-traneural, erfolgt die Behandlung am Ende der Beweglich-keit mit etwas Spannung.

Persistierende ausstrahlende Beinschmerzen und Arm-schmerzen können durch verminderte Mobilität neuralerStrukturen verursacht werden. Mobilisationen im Bereichdes Nervensystems mit Bezug auf seine longitudinaleGleitfähigkeit und Beweglichkeit gegenüber umliegendemGewebe kann zu einer Verbesserung der Symptome führen(199). Als passive physikalische Maßnahme wird verbreitetdie Quergalvanisation entlang des peripheren Nervendurchgeführt. Ein Hinweis auf die Effektivität dieser Be-handlungsmethode liegt jedoch nicht vor.

4.6 Nervengleitfähigkeit

4.7 Grundsätzliches zur operativen Behandlung peripherer Nervenläsionen

4.7.1 Allgemeine Bemerkungen

Das Ziel der Chirurgie der peripheren Nerven im weitestenSinne ist die Wiedererlangung der durch die Nervenläsionverloren gegangen Funktion.

Dies kann auf verschiedene Weise erreicht werden:1. Bei Kontinuitätsverlust: Wiederherstellung der Konti-

nuität, um den denervierten peripheren Teil des verletz-ten Nervs und damit die Erfolgsorgane zu neurotisieren.

2. Bei Verlust des proximalen Stumpfes (z. B. Wurzelausrissbei Plexus brachialis Läsion) Transfer von Nervenfasernvon einem Spendernerv, sei es durch End-zu-End oderEnd-zu-Seit Koaptation, um den peripheren Teil des ver-letzen Nervs zu neurotirieren.

3. Bei Verlust des distalen Stumpfes durch Einpflanzen einesEndes eines motorischen Nervs den denervierten Muskeldurch Nerven-Muskel Neurotisation zu neurotisieren.

4. Bei erhaltener Kontinuität des verletzten Nervs ist dasAusmaß der Schädigung festzustellen.a) Bei Zerstörung der wesentlichen Strukturen: Resekti-

on des betroffenen Segmentes und Wiederherstellungder Kontinuität.

b) Bei Erhaltung der wesentlichen Strukturen Schaffungvon Bedingungen, um die Regeneration durch das be-troffene Segment zu ermöglichen und die Leitfähig-keit wiederherzustellen.

5. Die Aussicht auf funktionelle Wiederherstellung kanndurch Muskelverlagerungen im Rahmen der Nervenope-ration verbessert werden.

6. Bei Teilregeneration kann die endgültige Funktion durchMuskelverlagerungen verbessert werden.

7. Besteht keine Aussicht, dass gelähmte Muskeln ihreFunktion wieder aufnehmen, z. B. nach zu langer Dener-vationszeit, sind die verloren gegangenen Funktionendurch Muskelverlagerungen zu ersetzen.

Es ist klar, dass man die Wiederherstellung des ursprüngli-chen Zustandes, wie unter 1. genannt, den Ersatzoperatio-nen 7. vorziehen wird. Die unter 2. und 3. genannten Mög-lichkeiten stellen Aushilfen bei sehr ausgedehnten Läsio-nen dar. Die Muskelverlagerung im Rahmen der Nerven-operation wird man bei Nerven mit ungünstiger Prognoseoder bei Patienten, bei denen das Alter einen ungünstigenFaktor darstellt, anwenden. Durch die unter 6. beschriebe-ne Vorgehensweise kann man ein Ergebnis verbessern.

Bei erhaltener Kontinuität 4. mündet der unter 4a be-schriebene Zustand in die Situation mit Verlust der Konti-nuität 1., während Zustände wie unter 4b beschrieben einebesondere Beachtung verdienen. Hier hängen Prognoseund Vorgangsweise in besonderem Maße vom Zustand desNervs ab, wie sie in der Einteilung traumatischer Nervenlä-sionen beschrieben und hier nochmals in Tab. 4.1 zusam-men gefasst werden soll.

Die Darstellung der operativer Behandlung periphererNerven wird sich im Folgenden auf Dinge beschränken, dievon allgemeinem Interesse sind. Wer Einzelheiten über dieoperative Technik und über die Entwicklung dieser Technikwissen möchte, wird auf ausführliche Publikationen zudiesem Thema verwiesen (130, 428, 459, 680, 809, 882,883, 1251, 1406).

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96 4 Allgemeines zur Therapie peripherer Nervenläsionen

4.7.2 Welche Methoden der PeripherenNervenchirurgie stehen zur Verfügung?

Hier ist zu unterscheiden, ob es sich um eine Läsion ohnebzw. um eine Läsion mit Defekt handelt. Beide Situationenentsprechen dem Punkt 1. in den grundsätzlichen Erwä-gungen.

Verlust der Kontinuität ohne Defekt

Bei Verlust der Kontinuität ohne Defekt ist die direkte Wie-derherstellung der Kontinuität die Methode der Wahl.Während man früher auf eine möglichst enge Wiederher-stellung der Kontinuität, wenn möglich mit wasserdichtemVerschluss des Epineuriums, größten Wert legte, um dasAberrieren der Axonsprossen zu vermeiden, haben sich inden letzten 10 Jahren ganz andere Gesichtspunkte ergeben.Wir wissen heute, dass die Nervenregeneration durch ver-

Autor Autor Autor Definition Spontanheilung Operation

Seddon Sunderland Millesi

Neurapraxie Blockierung der Nervenleitung, ja Keinekeine Waller’sche Degeneration

Neurapraxie Grad I I A Fibrose des epifaszikulären nein EpineuriotomieEpineuriums

Neurapraxie Grad I I B Fibrose des interfaszikulären nein EpifaszikuläreEpineuriums Epineuriektomie

Axonotmesis Grad II Unterbrechung der Axone, ja keineWaller’sche Degeneration

Axonotmesis Grad II II A Fibrose des epifaszikulären nein EpifaszikuläreEpineuriums Epineuriotomie

Axonotmesis Grad II II B Fibrose des interfaszikulären nein EpifaszikuläreEpineuriums Epineuriektomie

Neurotmesis Grad III Läsion des Endoneuriums, teilweisePerineurium und Faszikelstrukturintakt

Neurotmesis Grad III III A Fibrose des epifaszikulären teilweise EpifaszikuläreEpineuriums Epineuriotomie

Neurotmesis Grad III III B Fibrose des interfaszikulären teilweise EpifaszikuläreEpineuriums Epineuriektomie

Neurotmesis Grad III III C Fibrose des Endoneuriums nein Resektion undNerventransplantation

Neurotmesis Grad IV Perineurium durchtrennt,Faszikelstruktur verloren,Kontinuität nur durchepineurales Bindegewebe

Neurotmesis Grad IV IV N Bindegewebe mit Neurom minimal Resektion undNerventransplantation

Neurotmesis Grad IV IV S nur Bindegewebe nein Resektion undNerventransplantation

Neurotmesis Grad V Vollständiger Verlust der nein Anfrischen der Stümpfe Kontinuität und Wiederherstellung

der Kontinuität

Tabelle 4.1 Einteilung peripherer Nervenläsionen

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4.7 Grundsätzliches zur operativen Behandlung peripherer Nervenläsionen 97

schiedene Faktoren im Sinne des Neurotropismus, bzw. desNeurotrophismus gelenkt wird, und dass die Axonspros-sen, wenn man sie lässt, ihr Ziel zu finden wissen.

Leider kennt man noch viel zu wenige derartiger Fakto-ren. Es konnte aber gezeigt werden, dass durch neurotropeFaktoren z. B. motorische Fasern in eine bestimmte Rich-tung vorwachsen. Andererseits ist es so, dass durch neuro-trophe Faktoren z. B. motorische Fasern, die in die richtigeperiphere Bahn eingewachsen sind, gefördert werden,während sensible Fasern, die in eine motorische Bahn ge-langt sind, zugrunde gehen, und umgekehrt. Da jedes Axoneine Vielzahl von Axonsprossen aussendet und diese Axon-sprossen sich, vor allem dann, wenn sie auf Hindernissestoßen, teilen, kommen immer mehrere Sprossen dessel-ben Axons in diverse periphere Bahnen. Umgekehrt kom-men mehrere Axonsprossen in dieselbe periphere Bahn.Durch neurotrophe Faktoren wird eine entsprechendeSelektion erreicht, Brushart und Seiler (191) konnten zei-gen, dass in einer kontrollierten Studie in den ersten 2 Wochen ein zufälliges Aussprossen der Axone erfolgteund daher z. B. die motorischen Axonsprossen gleichmäßigüber den Querschnitt verteilt waren, während ab der 3. Woche eine deutliche Zunahme der motorischen Axonezu beobachten war, die in die richtige periphere Bahn ge-langt waren. Die Ergebnisse von Brushart (191) sprechendafür, dass man nach wie vor eine relativ enge Koaptationder Faszikel bzw. Faszikelgruppen ausführen soll, da ja dieAussprossung in der ersten Phase auf dem Zufallsprinzipberuht. Folgt man dagegen den Überlegungen von For-schern, die den neurotropen Faktoren mehr Bedeutungeinräumen, wäre eine zu enge Koaptation ungünstig. Mansollte dann eher einen Abstand zwischen den Stümpfeneinrichten, um so den Axonsprossen Gelegenheit zu geben,den neurotropen Einflüssen zu folgen. Ein Vertreter dieserRichtung ist Lundborg, der seit Jahren eine Wiederherstel-lung der Kontinuität durch End-zu-End Koaptation mit Abstand bevorzugt und damit gute Ergebnisse erzielenkonnte, obwohl diese Ergebnisse nicht besser sind als dieKontrollen, bei denen eine enge Koaptation durchgeführtwurde (790, 793, 795). Einer experimentellen Studie vonWeber und Mitarbeitern (1514a) zufolge, schneidet jedochdie Koaptation ohne Abstand besser ab. Neben diesen bei-den grundsätzlichen Verfahren gibt es noch Vorschläge,durch besondere Behandlung der Stümpfe eine Verbesse-rung der Ergebnisse zu erreichen (307, 308). Darauf wirdunten eingegangen werden.

In der Vergangenheit legte man das Hauptaugenmerkauf die Nahttechnik. Die Benennung der einzelnen Metho-den erfolgte nach dem Gewebe, in dem die Nähte veran-kert wurden, z. B. epineurale Naht, perineurale Naht. Heu-te spielen die Nähte keine wesentliche Rolle mehr. Wirsprechen auch nicht mehr von Nervennähten sondern ent-weder von Neurorrhaphie oder von Koaptation. Eine großeZahl verschiedener Methoden wird empfohlen, eine Eintei-lung kann danach erfolgen, wie die wesentlichen Schritteeiner Neurorrhaphie gelöst wurden. Diese sind:• Bereitung der Stümpfe,• Approximation,

• Koaptation,• Aufrechterhaltung der Koaptation.

Bereitung der Stümpfe. Die Anfrischung der Stümpfekann entweder durch scheibenförmige Resektion erfolgen,bis man in gesundes Nervengewebe gelangt. Die Alternati-ve dazu wäre die interfaszikuläre Präparation der Stümpfevon proximal bzw. distal her, wodurch die einzelnen Faszi-kel von einander isoliert werden. Es liegt dann nicht eineinheitlicher Stumpf mit mehreren oder vielen Faszikelnvor, sondern eine Reihe von Einzelfaszikeln. Die Wahl desVerfahrens hängt von der Faszikelstruktur des betroffenenSegmentes ab. Bei mono- oder oligofaszikulärer Strukturmit wenigen (2 bis 4) Faszikeln, ist die scheibenförmige Re-sektion die Methode der Wahl. Bei Vorliegen von mehreren(6 bis 8) großen Faszikeln wird man ggf. die Präparation inEinzelfaszikel vorziehen. Wenn bei polyfaszikulärer Struk-tur sich aus der Präparation ergibt, dass die Faszikel in vor-gegebenen Gruppen angeordnet sind, wird man durch in-terfaszikuläre Präparation diese Gruppen von einandertrennen und die einzelnen Gruppen als Proximalstümpfeheranziehen. Wenn dagegen viele Einzelfaszikel vorliegen,die keine Gruppenanordnung zeigen, wird man notwendi-gerweise wieder zur scheibenförmigen Resektion zurück-kehren müssen. Dieselbe Art der Präparation gilt auch fürden peripheren Stumpf.

Approximation. Die beiden Stümpfe müssen nun einan-der genähert werden. Dies kann in gestreckter Stellung derbetroffenen Gelenke erfolgen, bzw. durch eine entspre-chende Beugung der Gelenke unterstützt werden. Die Beu-gung der Gelenke führt zu einer entsprechenden Annähe-rung ohne Spannung, man muss aber bedenken, dass beiVorliegen eines Defektes eine Dehnung erfolgen muss. Ich(H. M.) halte es für wichtig, dass die Approximation in ge-streckter Stellung relativ leicht gelingt. Unabhängig davonkann dann natürlich die Operation selbst in gebeugter Stel-lung der betroffenen Gelenke ausgeführt werden. Aufjeden Fall sollte aber bei der Definition der Operation an-gegeben werden, in welcher Stellung die benachbarten Ge-lenke waren.

Koaptation. Darunter versteht man das Bestreben, dasfaszikuläre Gewebe der Stümpfe so gut wie möglich zu ko-aptieren. Dies gelingt bei einer monofaszikulären Struktursehr leicht. Die Koaptation sollte keinesfalls zu eng sein, daes dadurch zu einer Verwerfung der Nervenfasern kommt,die aufgrund des höheren Druckes in den Faszikeln vor-quellen. Es genügt eine lockere Koaptation mit Berührungdes vorquellenden endoneurialen Gewebes. Diese Koapta-tion kann die Stümpfe des Nervenstammes betreffen, siekann Einzelfaszikel betreffen nach faszikulärer Präparati-on, bzw. sie kann Faszikelgruppen betreffen. Naturgemäßhängt hier die Art des Vorgehens wiederum von der Faszi-kelstruktur des betroffenen Segmentes ab. Es ist ganz klar,dass bei Vorliegen einer polyfaszikulären Struktur mitGruppenbildung eine exakte Koaptation der Einzelfaszikelder Gruppe nicht möglich ist. Dies ist aber nicht unbedingt

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98 4 Allgemeines zur Therapie peripherer Nervenläsionen

notwendig, wie Untersuchungen gezeigt haben (884), hierhelfen offenbar Neurotropismus und Neurotrophismus.

Folgt man den Vorschlägen von Lundborg und Mitarbei-tern (790), sollte bei der Koaptation ein Abstand von meh-reren Millimetern aufrechterhalten werden. Da dieser Ab-stand zwischen den Stümpfen vor dem Einwachsen vonBindegewebe geschützt werden muss, ist es notwendig, diezu koaptierende Struktur, z. B. den ganzen Nervenstammoder Einzelfaszikel oder Gruppen, in einen Tubus einzu-führen. Lundborg verwendet Silikon-Röhren.

Aufrechterhaltung der Koaptation. Die erzielte Koaptati-on muss aufrechterhalten werden. Dazu können Nähte ein-gesetzt werden, die im interfaszikulären Epineurium, imepifaszikulären Epineurium oder auch im Perineurium zuverankern sind. Es sollen so wenig Nähte wie möglich ver-wendet werden. Hier beginnt die Spannung an der Naht-stelle eine Rolle zu spielen: wenn keinerlei Spannung vor-herrscht, genügt eine minimale Zahl von Nähten, ansons-ten müssen naturgemäß mehr Nähte gesetzt werden.

Die Koaptation kann aber auch durch einen Fibrinkleberaufrechterhalten werden. Auch die Verwendung von resor-bierbaren Tuben (Polyglykolsäure) wurde empfohlen, wo-bei dann Nähte zwischen den Enden der Tuben und demEpineurium des Nervs gesetzt werden. Folgt man den Vor-schlägen von Lundborg (790), so wird eine Silikon-Röhreverwendet, die ebenfalls mit dem Epineurium verbundenwird. Der Unterschied liegt lediglich darin, dass die beidenStümpfe nicht aneinander liegen, sondern ein Abstandzwischen den Stümpfen bestehen bleibt.

Postoperativ wird die betroffene Extremität in einer Pro-tektionsstellung, die die Koaptation entlastet, ruhig ge-stellt, und zwar für mindestens 3 Wochen.

De Medinaceli (308) hat vor Jahren dadurch Aufsehenerregt, dass er empfohlen hat, die Nervenstümpfe einzu-frieren, um so die zelluläre Integrität zu wahren. Er hat so-gar den Begriff cellular surgery geprägt. Die eingefrorenenStümpfe werden angefrischt und miteinander koaptiert.Durch ein resorbierbares Plättchen wird die Koaptationaufrechterhalten, wobei die Nähte zwischen dem Plättchenund dem Nervengewebe in einem solchen Abstand zur Ko-aptationsstelle erfolgen, dass die Koaptationsstelle entlas-tet wird. De Medinaceli und Merle (306) hat diese Metho-de nicht zur Defektüberbrückung, sondern anstelle einerEnd-zu-End Koaptation empfohlen. Diese Methode wurdeunter der Leitung von Merle in Nancy angewendet, und eswurde über Erfolge mit dieser Methode berichtet. Überra-schenderweise hat Merle (864) jetzt erklärt, dass das Ein-frieren nicht mehr empfohlen wird, weil offenbar die Stan-dardisierung der Abkühlung nicht gewährleistet ist, sodassdie Methode nach De Medinaceli auf das Anwenden der re-sorbierbaren Plättchen zurückgeschrumpft ist.

Wiederherstellung der Kontinuität beiVorliegen eines Defektes

Defekt und Distanz

Nach glatter Durchtrennung weichen die Stümpfe einesNervs aufgrund der Elastizität des Nervengewebes ausei-nander, und es ergibt sich dadurch ein Abstand oder Dis-tanz zwischen den Stümpfen, ohne dass ein Defekt vor-liegt. Dieser Abstand ist leicht durch eine Kraft zu überwin-den, die der elastischen Kraft des Nervengewebes ent-spricht, ohne dass eine kompensatorische Dehnung erfol-gen müsste. Kommt es durch eine Fibrose zu einem Verlustder Dehnbarkeit, kann die Distanz zwischen den Stümpfennur durch eine kompensatorische Dehnung von gesund ge-bliebenem Nervengewebe überwunden werden. Es istdementsprechend eine größere Kraft notwendig. Daher istes, wie oben erwähnt, bei der sekundären Versorgung vonNervenverletzungen häufiger notwendig, eine Nerven-transplantation auszuführen, auch wenn kein Defekt vor-liegt.

Wenn Nervengewebe durch den Unfall zerstört wurde,besteht ein echter Defekt und der Abstand zwischen denStümpfen wird um diesen Wert größer. Wenn Nervenge-webe an beiden Stümpfen durch das Trauma irreversibelgeschädigt wurde, muss ein entsprechend großes Stück beider Anfrischung reseziert werden, wodurch sich wiederumdie Länge des Defektes erhöht. Eine End-zu-End Koaptati-on kann nur durch kompensatorische Dehnung gesund ge-bliebenen Nervengewebes erreicht werden. Normalerwei-se ist Nervengewebe relativ gut dehnbar. Dies lässt sich fürdie Verlängerungsoperationen ausnützen (1500). DieseDehnung muss allerdings graduell erfolgen, denn bei zu ra-scher Dehnung gibt es zuerst einen reversiblen, später ei-nen irreversiblen Funktionsverlust. Es wäre falsch, dieseErkenntnisse auf die Dehnung von Nervengewebe im Rah-men von Verletzungen anzuwenden.

Bei den Verlängerungsoperationen wird gesundes Ner-vengewebe gedehnt, und die notwendige Verlängerungwird über die Gesamtlänge des Nervs verteilt, sodass jedeseinzelne Segment nur geringfügig gedehnt werden muss.Wenn ein Nerv im Rahmen eines Traumas gedehnt werdenmuss, steht nur ein begrenztes Segment zur Verfügung, so-dass jedes Teilstück entsprechend mehr gedehnt werdenmuss. Außerdem ist die Stelle der Verletzung adhärend, so-dass die im Rahmen der Dehnung auftretende Spannunghier besonders stark zum Tragen kommt. Die normaleDehnbarkeit jedes Nervs wird darüber hinaus durch dasVorhandensein von Ästen eingeschränkt. Da das Nervenge-webe durch das Paraneurium in den Gewebsverband ein-gebunden ist, benötigt man für die Dehnung eines Nerven-segmentes in situ wesentlich höhere Kräfte als für die Deh-nung desselben Nervenstückes nach Exzision. Es ist daherunstatthaft, Dehnungswerte, die am Kadavernerven außer-halb des Körpers gewonnen wurden, auf die Situation in situ zu übertragen.

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4.7 Grundsätzliches zur operativen Behandlung peripherer Nervenläsionen 99

Möglichkeiten der Defektüberwindung

Die Möglichkeit, einen vorhandenen Defekt durch kom-pensatorische Dehnung zu überwinden, wurde bereits er-wähnt. Diese Dehnung kann postoperativ erfolgen, in demSinne, dass die Koaptation des Nervs in Beugestellung derGelenke erfolgt und nach einer entsprechend langen Zeitder Ruhigstellung graduell durch allmählich zunehmendeStreckung eine Dehnung erreicht wird. Die Dehnung kannaber auch präoperativ im Sinne von Van Beek (1460) undWood und Mitarbeiter (1561) erfolgen. Es wird hiezu einExpander unter ein zu dehnendes Nervensegment einge-pflanzt und der Nerv durch Auffüllen des Expanders inLängsrichtung gedehnt. Der mit solchen Methoden zu er-zielende Längengewinn ist beschränkt, und die Expander-methode hat sich bisher nicht in größerem Maße durchge-setzt.

Da die Grenze der Dehnbarkeit von der Lokalisation derVerletzung, aber auch von individuellen Faktoren seitensdes Patienten abhängt, halte ich (H. M.) es für unstatthaft,Zahlenwerte anzugeben, bis zu welcher Grenze Defektedurch Dehnung überbrückt werden können. Hier muss sichder Operateur auf seine persönliche Erfahrung verlassen.Dazu kommt, dass Defekte mittlerer Länge sehr wohl er-folgreich durch Dehnung überwunden werden können,dass aber die Erfolgsquote deutlich sinkt. Nicholson undSeddon (970) konnten 1957 eindeutig nachweisen, dass beiMedianusläsionen im Bereich des Unterarmes die Erfolgs-quote 70 % betrug, wenn der Defekt unter 2,5 cm war, wäh-rend die Erfolgsquote auf unter 50 % absank, wenn der De-fekt über 2,5 cm ausmachte. Für den Patienten ist es sichernicht gleichgültig, ob er zu der Gruppe der Patienten mit70 % iger Erfolgsaussicht, oder zu der mit nur 50 %-iger Er-folgsaussicht gehört.

Unter bestimmten Umständen kann durch Verlagerungeines Nervs in ein kürzeres Bett ein Längengewinn erzieltwerden. Dies gilt vor allem für den N.ulnaris. Bei Volarver-lagerung des Nervs in die Ellenbeuge kann man bis zu 2 cm

Länge gewinnen, wenn man die Messung in gestreckterStellung vornimmt. Natürlich kann ein größerer Defektüberwunden werden, wenn gleichzeitig das Ellenbogenge-lenk gebeugt wird. In diesem Fall handelt es sich aber umeine Kombination eines Längengewinns durch Verlagerungplus postoperativer Dehnung, und es gilt alles das, wasoben über Dehnung gesagt wurde.

Die beste und einfachste Methode mit einem Defekt fer-tig zu werden, ist das Heranschaffen von zusätzlichem Ner-vengewebe durch Nerventransplantation. Innerhalb desNerventransplantates kommt es zu einer Axonolyse und ei-ner Wallerschen Degeneration. Das Nerventransplantatmuss von proximal nach distal durch Axonsprossen durch-wachsen werden, wenn es zu einer Regeneration kommensoll. Der Vorteil des vitalen Nerventransplantates liegt da-rin, dass die Schwann-Zellen die Transplantation überle-ben und für die durchwachsenden Axone optimale Bedin-gungen schaffen. Der Nachteil des Transplantates liegt dar-in, dass 2 Koaptationsstellen überwunden werden müssen.Die experimentelle und klinische Erfahrung hat jedoch er-wiesen, dass 2 optimal gebildete Koaptationsstellen besserdurchwachsen werden, als eine Koaptation, die unterSpannung erfolgte und bei der es zu einer Dehnung derNahtstelle und zu einer Narbenbildung in erhöhtem Aus-maß gekommen ist. Die Abb. 4.1 zeigt am Beispiel eines re-sezierten Neurom, wie im Operationsfeld ein solches Ka-beltransplantat erscheint.

Einteilung der Nerventransplantate

Nerventransplantate können nach folgenden Kriterien ein-geteilt werden:• Herkunft,• Transplantatspender,• maximale und minimale Länge der Transplantate,• Durchblutung der Transplantate.

Abb. 4.1a u. b Nervenchirurgische Behandlung eines Neu-roms. Der N. medianus ist partiell durchtrennt und es hat sicham proximalen Stumpf ein Neurom entwickelt (a). Nach Resek-

tion desselben ist durch ein Kabeltransplantat die Kontinuitätdieses Anteiles des Nerven mit dem distalen Stumpf wieder her-gestellt worden.

a b

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100 4 Allgemeines zur Therapie peripherer Nervenläsionen

Herkunft

Nerventransplantate können vom Patienten selbst stam-men (Autotransplantate). In diesem Fall gibt es keine Prob-leme. Es können aber auch Transplantate von einem einei-igen Zwilling (Isotransplantate) unter denselben Erfolgs-aussichten verpflanzt werden. Bei der Überpflanzung voneinem Individuum auf das andere (Allotransplantation)muss man mit immunologischen Problemen rechnen. EineAllotransplantation gelingt nur dann, wenn immunosup-pressive Substanzen (z. B. Cyclosporin-A) gegeben werden(810, 811, 1206a). Es hat den Anschein, als wenn das immu-nosuppressive Mittel FK 504 sogar einen förderlichen Ein-fluss auf die Nervenregeneration hätte (811a). Wie manvon Patienten, bei denen wegen einer stattgehabten Or-gantransplantation ohnedies eine immunosuppresive Be-handlung durchgeführt wurde, weiß, bleiben die Erfolgeder Allotransplantation von Nerven hinter denen der Auto-transplantation zurück (106a). Die Verpflanzung von Ner-ven einer anderen Spezies als vitale Transplantate (Xeno-transplantation) liegt derzeit noch im experimentellen Bereich.

Transplantatspender

Ein Nervenstamm eignet sich nicht für eine freie Nerven-transplantation, da das Verhältnis Gewebsmasse zu Ober-fläche zu ungünstig ist und im Inneren des Nervs sich be-reits eine Fibrose entwickeln würde, bevor die spontaneRevaskularation erfolgt. Außerdem stehen Nervenstämmenur unter besonderen Umständen als Transplantatspenderohne konsekutiven Funktionsverlust zur Verfügung, näm-lich dann, wenn eine Amputation vorliegt und daher über-flüssige Nervenstämme zur Verfügung stehen, oder nur einTeil der Nerven wiederhergestellt werden kann, wie dies z. B. bei ausgedehnten Plexusläsionen der Fall ist. Will maneinen Nervenstamm verpflanzen, muss entweder die Zir-kulation aufrechterhalten bleiben, oder unmittelbar wie-derhergestellt werden.

Nerven vom Kaliber eines Hautnerven eignen sich we-gen dem günstigeren Masse:Oberflächen-Verhältnis sehrgut zur Nerventransplantation (124). Unseres Wissens hatFörster im Ersten Weltkrieg als erster Hautnerven für dieNerventransplantation herangezogen. Das Problem bestehtjedoch darin, dass zur Abdeckung der Querschnittsflächeeines Nervenstammes mehrere Hautnervensegmente ein-gesetzt werden müssen. Seddon (1252) verwendete meh-rere solcher Hautnervensegmente, die durch Nähte oderKlebung miteinander verbunden wurden, als Nerven-stamm. Dieses Vorgehen wurde als „Kabeltransplantation“bezeichnet. Die Ergebnisse waren nicht sehr erfolgreichund Seddon hat diese Methode nur in begrenzter Zahl an-gewendet und in den frühen 1960er Jahren aufgegeben. DieUrsache hierfür liegt darin, dass durch das Aneinander fü-gen einer Gruppe von freien Transplantaten viel Oberflächefür die Herstellung des Kontaktes mit der Umgebung verlo-ren geht, und dadurch die rasche, spontane Revaskularisie-

rung nicht erfolgen kann. Erfolge mit der Verpflanzung vonHautnerven wurden erst erzielt, nachdem man dieseTransplantate einzeln verpflanzte, sodass die gesamteOberfläche für die Revaskularisation benutzt werdenkonnte und die Transplantation mit Faszikeln oder Faszi-kelgruppen des proximalen distalen Stumpfes direkt ver-band (883, 886).

Maximale und minimale Länge der Transplantate

Aus der falschen Vorstellung heraus, dass die Ergebnisseder Nerventransplantation umso schlechter werden, je län-ger die Transplantate sind, war man bestrebt (1251), mög-lichst kurze Transplantate zu verwenden. Es wurden daheralle Methoden ausgeschöpft, um die Nervenstümpfe maxi-mal einander zu nähern und einen minimalen Abstandzwischen den Stümpfen zu erzeugen. Dementsprechendwurden minimal lange Transplantate verwendet. Die Er-gebnisse waren unbefriedigend. Man versteht dies auch so-fort, da man bei dieser Methode die Nachteile der Nerven-transplantation (2 Koaptationsstellen) mit den Nachteileneiner Naht unter Spannung kombinierte.

Wesentlich bessere Ergebnisse kann man erzielen, wennman die notwendige Länge der Transplantate mit einer Re-serve von 10 bis 15 % in neutraler oder Streckstellung derbenachbarten Gelenke bestimmt, da man so an beidenNahtstellen ideal spannungslose Verhältnisse hat. Es wäreauch ein Fehler, nach der richtigen Wahl eines Transplanta-tes maximaler Länge nach Messung in Streckstellung desbenachbarten Gelenkes, eine Ruhigstellung in Beugestel-lung vorzunehmen. Das an sich genügend lange Transplan-tat würde dann in geschlängelter Stellung seine für dasÜberleben notwendige Adhäsionen bilden, und in dieserStellung fixiert werden. Wenn dann die Immobilisationaufgehoben wird, geraten die Koaptationsstellen trotz aus-reichender Länge des Transplantates unter Spannung, da esdurch die Adhäsionen fixiert ist, und nicht mehr ausge-streckt werden kann.

Durchblutung der Transplantate

Bei der freien Transplantation sprossen aus dem gut durch-bluteten Empfängerbett Gefäße in das Transplantat ein,und es erfolgt eine spontane Revaskularisation. Diesespontane Revaskularisation muss innerhalb von 1 bis 2 Ta-gen das ganze Transplantat erfassen. Dies geht naturgemäßnur, wenn das Verhältnis zwischen Oberfläche und Ge-websmasse günstig und nicht zu dick ist. Unter diesen Um-ständen überleben die Schwann-Zellen die Transplantationund es kommt zu keiner Fibrose. Erfolgt die Revaskularisa-tion verlangsamt, gehen die Schwann-Zellen teilweise zu-grunde, und es ergibt sich eine Fibrose (124). Nervenstäm-me sind daher für eine freie Transplantation ungeeignet.Versuche, Nervenstämme durch gestielte Transplantationzu verpflanzen (1357), haben keine wesentlichen Erfolge

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4.7 Grundsätzliches zur operativen Behandlung peripherer Nervenläsionen 101

gebracht. Taylor und Ham (1397) haben als erste Nerven-stämme mit einem entsprechenden Nervengefäßstiel wieeinen mikrovaskulären Lappen durch sofortige Wiederher-stellung der Zirkulation durch Arterien- und Venenanasto-mosen erfolgreich verpflanzt. Lange Zeit hat man gedacht,dass durch diese sog. vaskularisierten Transplantate einewesentliche Verbesserung der Ergebnisse erzielt werdenkann. Diese Hoffnungen sind jedoch enttäuscht worden.Die Ergebnisse der vaskularisierten und der freien Trans-plantate sind unter gleichen Umständen gleich. Vaskulari-sierte Transplantate sind daher im wesentlichen nur dannangezeigt, wenn das Empfängerbett für eine freie Trans-plantation ungeeignet ist, bzw. wenn man eben einen Ner-venstamm verpflanzen möchte. Im Lauf der Jahre wurdedie Gefäßversorgung der einzelnen Nervenabschnitte sorg-fältig studiert, und es wurden eine Reihe von Möglichkei-ten entwickelt, Nervenstämme an einem Gefäßstiel im Sin-ne eines Insellappens zu verlagern. Dies gilt insbesonderefür den N.ulnaris, der gestielt an der Arteria collateralis ul-naris superior z. B. in Richtung Plexus brachialis verlagertwerden kann. Hat man einen Nervenstamm als Transplan-tatspender zur Verfügung, will aber trotzdem keine vasku-larisierte Verpflanzung vornehmen, so besteht die Mög-lichkeit, den Nervenstamm durch mikrochirurgische Prä-paration in einzelne Faszikelgruppen zu zerlegen, und die-se Faszikelgruppen wie freie Hautnerventransplantate zuverwenden (Spaltnerventransplantate). Eberhard und Mil-lesi (371) konnten über eine größere Serie solcher, mit Er-folg verpflanzten Transplantate berichten.

Alternativen zur Nerventransplantation

In den 1960er und 70er-Jahren hat man versucht, konser-vierte Nervensegmente (Konservierung in Cialitlösung,Konservierung durch Bestrahlung, Konservierung durchEinfrieren, Konservierung durch Gefriertrocknung) zu ver-wenden. Es handelte sich dabei allerdings nicht um Trans-plantate, sondern um die Verpflanzung avitaler Gewebs-strukturen, die vom proximalen Stumpf von einem Neu-rom durchwachsen werden (neuromatöse Neurotisation,Schröder und Seiffert (1240)). Da die Implantate keineSchwann-Zellen enthalten, wachsen vom proximalenStumpf Axone, Fibroblasten, Schwann-Zellen und Kapilla-ren in Form von Minifaszikeln in das Transplantat ein. Beisehr kurzen Defekten kann durch die neuromatöse Neuro-tisation der distale Stumpf erreicht werden, sodass es zueiner Funktionsrückkehr kommen kann. Bei längeren De-fekten kommt jedoch das Vorwachsen zum Stillstand, undeine Neurotisation des distalen Stumpfes kommt nicht zu-stande. Lundborg und Hansson (792) konnte zeigen, dassin einer mesothelial ausgekleideten Gewebskammer Axon-sprossen vorwachsen und einen distalen Stumpf erreichenkönnen. Aus denselben Gründen wurden Silikon-Röhrchen(795), Millipore-Membranröhrchen (144, 206) Collagen-Röhrchen, resorbierbare Polyglykol-Röhrchen (325) sowieVenen (240) verwendet. Es handelt sich auch hierbei umdas Vorwachsen von Minifaszikeln, und damit also auch

um eine neuromatöse Neurotisation. Durch Einbringen vondie Regeneration fördernden Faktoren kann die Regenera-tion unterstützt werden (797).

Glasby und Mitarbeiter (488) haben für den selbenZweck parallelfasrige Muskelgewebe verwendet, bei denendurch Tieffrieren und Auftauen die Muskelsubstanz ent-fernt wurde, so dass nur das Bindegewebeskelett übrigblieb, welches als Leitschiene für das Vorwachsen von Mini-faszikeln diente. Allen diesen Methoden ist gemeinsam,dass die Länge der zu überbrückenden Defekte begrenzt ist,und die Qualität der Regeneration doch deutlich hinter dervon Autotransplantaten zurück bleibt. Eine Besserung derErfolgsaussichten könnte dadurch erreicht werden, dassman solche Strukturen mit kultivierten Schwann-Zellen ausdem wiederherzustellenden Nerv des Patienten bevölkert.

Diese Schilderung der verschiedenen Möglichkeiten derNerventransplantation sollte Informationen darüber lie-fern, dass zahlreiche verschiedene Möglichkeiten und Me-thoden in Verwendung sind. Der Vergleich einer beliebigenMethode mit der Nerventransplantation ohne nähere An-gabe der Transplantationsmethode ist unstatthaft.

Verhalten bei Fehlen des proximalenStumpfes

Wenn der proximalen Stumpf z. B. durch Wurzelausriss imRahmen einer Plexusläsion fehlt, kann der denervierte dis-tale Stumpf durch die Transferierung von Nervenfasern ausdem proximalen Stumpf eines anderen Nervs erreicht wer-den (Nerventransfer). Solche Nerventransfers spielen vorallem in der Chirurgie des Plexus brachialis bei Vorliegenvon Wurzelausrissen eine große Rolle. Es handelt sich da-bei i. d. R. um Nerven als Axonspender, die außerhalb desPlexus brachialis gelegen sind. Bei Teilläsionen des Plexusbrachialis können auch intraplexuale Nerventransfersdurchgeführt werden. Die Möglichkeit, denervierte NervenEnd-zu-Seit an einen innervierten Nerv anzuschließen undvon diesem Nervenfasern abzuzweigen, hat hier neueMöglichkeiten geschaffen, vor allem auch deshalb, weil indiesen Fällen der Nerventransfer ohne Verlust der Funk-tion des Spendernervs erfolgen kann.

Verhalten bei Fehlen des distalen Stumpfes

Wenn der distale, zu einem bestimmten Muskel führendeNervenstumpf fehlt, besteht die Möglichkeit, einen proxi-malen motorischen Nervenstumpf entweder direkt oderüber ein Nerventransplantat, in den denervierten Muskeleinzupflanzen (Nerv-Muskel Neurotisation). Der Nerven-stumpf oder das Transplantat wird dabei durch mikrochi-rurgische Präparation in einzelne Faszikel bzw. Faszikel-gruppen gespalten. Jede dieser Faszikelgruppen wird zwi-schen die einzelnen Muskelfasern in Höhe des eintreten-den Nervs, wo man die meisten motorischen Endplattenerwarten kann, eingepflanzt. Man kann damit in vielen Fäl-len sehr gute Ergebnisse erzielen (189).

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102 4 Allgemeines zur Therapie peripherer Nervenläsionen

Unter Neurotisation versteht man das Einbringen vonAxonsprossen in ein vorher denerviertes Gewebe. Ver-schiedene Möglichkeiten der Neurotisation sind in der Tab. 4.2 zusammengestellt.

Die Übertragung der Axonsprossen vom innerviertenMuskel zum denervierten Muskel erfolgt durch eingelegteNerventransplantate.

End-zu-Seit-Koaptation

Beim Nerventransfer wird ein innervierter proximalerStumpf mit einem denervierten distalen Stumpf End-zu-End oder über ein Nerventransplantat verbunden. Wennein distaler Stumpf seitlich an einen intakten Nerv ange-näht wird, und durch ein epineurales Fenster ein Kontaktmit Faszikeln hergestellt wird, sprossen aus dem innervier-ten Nerv Nervenfasern aus und neurotisieren den dener-vierten distalen Stumpf (1483). Diese Methode hat anfangsUnglauben hervorgerufen. Es wurde aber experimentellbestätigt, dass ein derartiges Aussprossen tatsächlich er-folgt.

Die Diskussion konzentriert sich derzeit auf die Frage, obauch ein Fenster im Perineurium angelegt werden muss,was zweifellos wegen der Protrusion des Endoneuriumsdurch das perineuriale Fenster einen stärkeren Eingriff indas Endoneurium des Spendernervs darstellt (1312), oderob ein epineurales Fenster genügt. Experimente haben er-geben (107), dass die Aussprossung bei End-zu-Seit Ko-aptationen an gemischte Nerven zwar erfolgt, die funktio-nellen Resultate aber zu wünschen übrig lassen. Ich (H. M.)habe diese Methode im Rahmen der Plexus brachialis Chi-rurgie mit sehr gutem Erfolg angewendet, allerdings beikleinen Nerven mit einer wohl definierten Funktion für an-dere kleine Nerven mit einer ebenfalls wohl definiertenFunktion. Bei diesen kleinen Nerven war naturgemäß dieAnlegung eines epineuralen Fensters bei den zarten Faszi-keln dieser Nerven ausreichend.

Tab. 4.3 zeigt am Beispiel der Wiederherstellung derFunktion des M. pectoralis dass mit der End-zu-Seit Koap-tation ausgezeichnete Ergebnisse erzielt werden können.Die Tab. zeigt, dass 7 von 9 Fällen ein Ergebnis von M 3 oderbesser erreichten. Die Verbindung zwischen Spender- undEmpfängernerv wurde durch Nerventransplantate, i. d. R.

Art der Neurotisation

Name Spender Zielgebiet

Nerv: Nerv-Neurotisation ein proximaler innervierter ein distaler denervierter NervenstumpfNervenstumpf

Nerv: Muskel-Neurotisation ein proximaler innervierter ein denervierter MuskelNervenstumpf

Muskel: Muskel-Neurotisation ein innervierter Muskel ein denervierter Muskel

Nerv: Muskel-Nerv-Neurotisation ein innervierter Muskel ein denervierter Muskel

Tabelle 4.2 Übersicht über Möglichkeiten der Neurotisation

Name Sex Alter in Zeitintervall zwischen Spendernerv Empfänger- Zeitintervall zwischen ErgebnisJahren Unfall und Operation nerv Operation und

(Monate) Nachuntersuchung(Monate)

BD m 16 5 PHR PLAT 27 M 4+DG m 38 6 DSC PLAT 24 M 4WG m 8 3 PHR PMED 24 M 4ZA m 19 4 PHR PLAT 10 M 3+

PMEDHB m 29 6 PHR PLAT 24 M 3MM m 23 5 PHR PLAT 14 M 3FP w 22 4 PHR PLAT 12 M 3LM m 23 3 PHR PLAT 13 M 2VP m 17 5 PHR PMED 10 M 2

Tabelle 4.3 Wiederherstellung der Funktion des M. pectoralis major durch End-zu-Seit Verbindung zwischen einem Spendernervund einem Nerventransplantat einerseits und einer End-zu-End Verbindung des Nerventransplantates mit einem oder beiden derNn. pectoralis. (N = 9)

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4.7 Grundsätzliches zur operativen Behandlung peripherer Nervenläsionen 103

aus dem N. suralis, von 8 bis 10 cm Länge hergestellt. DieNachuntersuchungszeit der beiden Fälle mit dem ErgebnisM 2 ist bedeutend kürzer als die durchschnittliche Nachun-tersuchungszeit der Patienten mit gutem Ergebnis, sodasszu hoffen ist, dass es hier noch im Lauf der Zeit zu einerBesserung kommen wird.

Besonders hervorzuheben ist, dass die End-zu-Seit Ko-aptation auch über ein Nerventransplantat funktioniert.Dies eröffnet ungeahnte Möglichkeiten, weil man in Zu-kunft in der Peripherie Nerventransfers wird durchführenkönnen ohne Spendernerven durchtrennen zu müssen.

Operationsvorgehen bei erhaltenerKontinuität

Die Schädigung eines Nervs ohne Kontinuitätsverlust führti. d. R. zur Verwachsung des Nervs mit seiner Umgebung.Da alle Nerven im Rahmen der Bewegungen der Extremitä-ten, Längsverschiebungen machen müssen, um sich derPosition der Extremität anzupassen, führen solche Ver-wachsungen früher oder später zusätzlich zu einem Trakti-onsschaden. Dasselbe gilt, wenn im Rahmen eines Kom-pressionssyndroms ein Nerv in einem Engpass kompri-miert wird und die Möglichkeit der Längsverschiebungverliert. Auch in diesem Fall besteht neben der Kompressi-on eine Schädigung durch Traktion. Im Rahmen von Verlet-zungen kann es zusätzlich durch Kompression, bzw. Irrita-tion eines Nervs durch Knochenfragmente, Narbensträngeu. dgl. zu einer Schädigung kommen. In dieser Situation istdie Durchführung einer Neurolyse angezeigt. Dabei wirddas betroffene Nervensegment freigelegt und die Verwach-sungen im Bereich des Paraneuriums gelöst. Schädigendeäußere Faktoren werden beseitigt.

Man kann diese Neurolyse der sog. Endo-Neurolyse oderInneren Neurolyse, oder Neurolysis interna gegenüberstel-len. Bei der sog. Inneren Neurolyse präpariert der Chirurgin den Nervenstamm hinein, d. h. er muss innerhalb desepifaszikulären Epineuriums präparieren. Curtis undEversman (282) haben die sog. Innere Neurolyse z. B. fürdas Karpaltunnelsyndrom empfohlen. Dabei wurde derNervenstamm durch Exzision des gesamten Bindegewebesin seine Faszikel zerlegt. Durch Mangeldurchblutung sol-cher, ihrer Blutversorgung beraubter Nervensegmente, unddurch die Durchtrennung von Verbindungen zwischen deneinzelnen Faszikeln ist es häufig zu Schmerzsyndromengekommen. Die sog. Innere Neurolyse ist dadurch in Verrufgeraten und wird von vielen Chirurgen nicht mehr ange-wendet. Es ist zweifellose richtig, dass man so weitgehen-de Eingriffe innerhalb eines Nervs nicht ausführen soll, d. h.aber nicht, dass man bei Vorliegen entsprechender Verän-derungen im Nerv resignieren muss. Man sollte vielmehrzielstrebig die entsprechenden Veränderungen beseitigenund dann aber sofort die Operation beenden. Das, was manunter Innerer Neurolyse versteht, muss daher schrittweisedurchgeführt werden und ich halte es für besser, den Be-griff Innere Neurolyse überhaupt fallen zu lassen und exaktdie einzelnen Operationsschritte, die durchgeführt werden

müssen, zu benennen. Das chirurgische Vorgehen hat etwafolgendermaßen zu verlaufen:1. Der Nerv wird freigelegt und durch Neurolyse aus seinen

Verwachsungen mit der Umgebung gelöst. Diese Lösungerfolgt in der Schichte des Paraneuriums. Findet man keineweiteren Veränderungen, ist damit der Eingriff beendet.

2. Besteht an der Oberfläche des Nervs eine beträchtlicheFibrose durch Verdickung und Fibrotisierung des am Nervverbliebenen Paraneuriums, ist eine Paraneuriotomiedurchzuführen. Findet man darunter normal aussehendesepifaszikuläres Epineurium, ist damit der Eingriff beendet.

3. Besteht auch eine Fibrose des epifaszikulären Epineuri-ums, entsprechend einer Fibrose vom Grad A, die durchSchrumpfung zu einer Kompression des Nervs geführthat, besteht die Indikation zur Durchführung einer epi-faszikulären Epineuriotomie zur Druckentlastung. Einesolche Fibrose vom Grad A kann bei einem Schaden vomGrad I, II, oder III auftreten. Der Nerv befindet sich dannunter Druck, wie in einem zu engen Strumpf. Nach derEpineuriotomie dehnt sich das Nervengewebe aus, unddie Operation ist damit beendet. In der klinischen Praxiskann man unter solchen Umständen Para- und Epineuri-um nicht mehr trennen, sondern beide Gewebsschichtensind zu einer einheitlichen fibrösen Schichte verschmol-zen.

4. Wenn die Fibrose auch das interfaszikuläre Epineuriumerfasst hat, genügt die Epineuriotomie nicht mehr, umeine ausreichende Druckentlastung zu erzielen. In die-sem Fall wird das fibröse Gewebe rund um den Nerv ent-fernt. Es handelt sich dann um eine epifaszikuläre Epi-neuriektomie.

5. Auch bei einer ausgedehnten interfaszikulären Fibrosewird durch den unter 4. beschriebenen Eingriff i. d. R. ei-ne allseitige Druckentlastung erzielt. Wenn jedoch dasinterfaszikuläre Gewebe so weit fibrös verändert ist,dass nicht alle Faszikel durch die epifaszikuläre Epineu-riektomie entlastet wurden, besteht die Indikation, auchdie interfaszikuläre Fibrose zu beseitigen (interfasziku-läre Epineuriektomie). Die Entfernung eines fibrösen Ge-websabschnittes zwischen den Faszikeln beeinträchtigtdie Durchblutung der Faszikel nicht, da in dem fibrösveränderten Abschnitt ohnedies keine wesentlichen Ge-fäße enthalten sind. Alles andere, nicht fibrös veränder-te interfaszikuläre Gewebe, wird belassen. Die interfas-zikuläre Epineuriektomie wird daher immer nur partiellund niemals so vollständig ausgeführt, dass die einzel-nen Faszikel völlig voneinander isoliert werden.

6. Die unter 4. und 5. genannten Situationen entsprechender Fibrose vom Grad B, und sie werden eben durch Epi-neuriektomie behandelt. Sie können sowohl bei Schädenvom Grad I, II, als auch Grad III vorkommen. Bei dem bis-her ausgeführten handelt es sich um Situationen ent-sprechend 4b der allgemeinen Bemerkungen.

7. Liegt eine Fibrose des Endoneuriums vom Grad C vor, hat man die Grenze der operativen Möglichkeiten zurDruckentlastung der Faszikel erreicht. Solche indurierteFaszikel, die auch keinesfalls mehr leiten, werden rese-ziert und durch Nerventransplantate überbrückt.

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104 4 Allgemeines zur Therapie peripherer Nervenläsionen

8. Zeigt die Spaltung des Para- bzw. Epineuriums, dass kei-ne Faszikelstruktur mehr vorhanden ist, handelt es sichum einen Schaden vom Grad IV. Unabhängig davon, obes sich um einen Schaden vom Grad IV-N oder vomGrad IV-S handelt, wird das betroffene Segment reseziertund damit der Schaden in einen Schaden vom Grad Vumgewandelt. Nach entsprechender Anfrischung wirddie Kontinuität durch Nerventransplantation wiederher-gestellt. Bei Punkt 6 und 7 handelt es sich um Situatio-nen im Sinne von 4a der allgemeinen Bemerkungen.

Zusammenfassend kann man sagen, dass eine Läsion beierhaltener Kontinuität ein Schritt weises Vorgehen erfor-dert, mit dem Ziel, die vorhandenen Faszikel, sofern sie einnormales Endoneurium aufweisen, zu entlasten, bzw.,wenn kein normales Endoneurium mehr vorhanden istoder die Faszikelstruktur verloren gegangen ist, die verän-derten Teile durch Resektion zu beseitigen und die Konti-nuität wiederherzustellen.

Zur Nomenklatur ist zu sagen: Die Wörter paraneural,perineural, epineural, endoneural sind topografische Begrif-fe. Ein Fremdkörper kann neben dem Nerv, d. h. paraneuralliegen. Eine Ligatur kann einen Nerv umgeben und damitperineural liegen. Ein Fremdkörper kann auch innerhalb ei-nes Faszikels, d. h. endoneural situiert sein.

Die Begriffe paraneurial, epineurial, perineurial und en-doneurial bezeichnen Dinge, die zum jeweiligen Gewebegehören. Eine Zelle des Perineuriums ist keine perineurale,sondern eine perineuriale Zelle, usw. Dementsprechendsollte man auch nicht Epineurotomie, sondern Epineurio-tomie sagen.

4.7.3 Operative Behandlung traumatischerNervenläsionen

Frische Verletzungen

Gilt es, einen Patienten mit einer frischen Verletzung, beidem Ausfälle des peripheren Nervs bestehen, zu beurtei-len, erhebt sich die Frage, ob es sich um eine offene oder ei-ne geschlossenen Verletzung handelt.

Offene Verletzung

Bei Vorliegen einer offenen Wunde ist eine Operationsindi-kation ohnehin gegeben. Die Wahrscheinlichkeit, dass essich um eine vollständige Durchtrennung im Sinne einesSchadens vom Grad V handelt, ist entsprechend groß. Manmuss allerdings bedenken, dass ein neurologischer Ausfallbei bestehender offenen Wunde entsprechend dem Ner-venverlauf kein Beweis für eine Durchtrennung ist, da derNerv auch indirekt geschädigt sein kann. Dies gilt vor allemfür Schussverletzungen, bei denen neben dem direktenDurchtrennen eines Nervs auch eine Schädigung durch dieDruckwelle des in der Nähe passierenden Geschosses ent-stehen kann.

Liegt ein Schaden mit erhaltener Kontinuität (Grad I bisIV) vor, kann die Aussicht auf spontane Regeneration zumZeitpunkt des Traumas nicht abgeschätzt werden. Einedurch das Trauma bedingte Fibrose hat sich ja noch nichtentwickelt. Man wird daher in diesen Fällen den Nerv nichtweiter schädigen, es sei denn, es lag ein schweres longitu-dinales Trauma vor, das zu einer Zerreißung einzelnerSchichten mit entsprechender Verdünnung führte, sodassder Nerv am Ende der traumatischen Einwirkung kurz vorder Ruptur gestanden hat. Nur dann besteht die Indikationzur Resektion des betroffenen Abschnittes mit Überbrü-ckung des Defektes durch Nerventransplantation. In allenanderen Fällen wird man die spontane Entwicklung abwar-ten und evt. einen sekundären Eingriff ausführen. Vor einerEpineuriotomie zur Inspektion der Faszikel ist zu warnen,da sie kaum zu Konsequenzen im Rahmen der Erstversor-gung führt und nur zu einer Vermehrung der zu erwarten-den Fibrose beiträgt.

Liegt ein Schaden mit Verlust der Kontinuität (Grad V)vor, hat man die Entscheidung zu treffen, ob die Kontinui-tätsunterbrechung primär oder sekundär versorgt werdensoll.

Unter primärer Versorgung versteht man eine Wieder-herstellung der Kontinuität des Nervs im Rahmen der Erst-versorgung, d. h. am Tage der Verletzung, aber auch wenneine Operation im Sinne der urgence différée besteht, eini-ge Tage nach der Operation. Eine solche aufgeschobeneDringlichkeit ergibt sich dann, wenn im Rahmen einerschweren Extremitätenverletzung eine globale Wiederher-stellung aller verletzten Strukturen einschließlich einer er-forderlichen Hautplastik in einer Sitzung durchgeführtwerden soll.

Unter sekundärer Wiederherstellung verstehen wir je-nes Vorgehen, bei dem primär die Hautwunde verschlos-sen wird und gleichzeitig alle anderen Maßnahmen für Ge-fäße, Haut und Knochen gesetzt werden, und die Nerven-wiederherstellung als Zweitoperation nach einem entspre-chenden Intervall geplant wird. Diese zweite Operationkann nach einigen Tagen oder Wochen, je nach dem Allge-meinzustand des Patienten und den lokalen Verhältnissen,erfolgen.

Die Vorteile der Primärversorgung liegen darin, dass nureine Operation notwendig ist. Man erspart dem Patienteneinen 2. Eingriff, die Zeit bis zum Wiederauftreten derFunktion bei erfolgreichem Verlauf wird verkürzt und eineeventuell durch Fibrose und Narbengewebe erschwerteZweitoperation vermieden. Der Hauptnachteil der Primär-versorgung liegt darin, dass zum Zeitpunkt der Verletzungdas Ausmaß des Schadens der Stümpfe nicht richtig beur-teilt werden kann. Nach 2 bis 3 Wochen hat sich im Bereichgeschädigter Segmente eine Fibrose entwickelt, die dasAusmaß des Schadens besser erkennen lässt. Die Anfri-schung wird daher adäquater durchgeführt werden. Weite-re Nachteile der Primärversorgung liegen in der Tatsache,dass nicht immer ein entsprechend erfahrener Operateurund nicht immer eine ausreichende Operationszeit zurVerfügung stehen. Dies gilt natürlich nicht für große Zent-ren. Es ist aber zweifellos besser, die Operation am Nerv im

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4.7 Grundsätzliches zur operativen Behandlung peripherer Nervenläsionen 105

Rahmen des normalen Programms mit einem ausgeruhtenOperationsteam und einem erfahrenen Operateur durch-zuführen als unter Akutbedingungen.

Bei einer Sekundärversorgung am Nerv können die Fol-gen der einen Wunde vermieden werden. Bei gleichzeitigerVerletzung von Sehnen und Nerven besteht bei primärerWiederherstellung aller Strukturen die Gefahr, dass Seh-nen und Nerven miteinander verwachsen. Diese Gefahrkann vermieden werden, wenn primär die Sehnen wieder-hergestellt werden und für die Nerven nur die Lage derproximalen und distalen Stümpfe definiert wird. Man kanndann im Rahmen einer Sekundäroperation von minimalenInzisionen aus die Nervenwiederherstellung durchführen,eventuell durch ein Endoskop unterstützt, ohne die Zoneder Sehnenoperation darstellen zu müssen. Ein weitererVorteil der Sekundärversorgung liegt darin, dass die Reak-tion der Neurone im Vorderhorn des Rückenmarks, bzw. inden Ganglien für die sensiblen Neurone, etwa in der 3. Wo-che einen Höhepunkt erreicht, sodass mit einer optimalenAktivität zu diesem Zeitpunkt zu rechnen ist. Außerdemwurde mehrfach bewiesen, dass eine Zweitanfrischung dieKapazität der Axonsprossung des proximalen Stumpfes er-höht.

Weitere Vorteile der Sekundärversorgung liegen in derTatsache, dass die Hautwunde inzwischen verheilt ist, dieGefahr vom Trauma herrührender Komplikationen seitenseiner Blutung, einer allgemeinen Komplikation, sei es eineInfektion oder Hautnekrose, nicht mehr besteht. Der Ope-rateur kann einen optimalen Zugang wählen. Dies gilt be-sonders für Verletzungen im Bereich des distalen Unterar-mes und des Handgelenkes. In diesem Bereich liegen dieOperationswunden i. d. R. quer zu den betroffenen Struktu-ren, und diese Lage bedingt häufig eine ungünstige Nar-benbildung mit entsprechender Schrumpfung. Bei der Se-kundäroperation kann von einem mitt-seitlichen Haut-schnitt an der Ulnarseite des Unterarmes eingegangenwerden, von dem aus alle Manipulationen am N. medianusund am N. ulnaris durchgeführt werden können, ohne dassdiese neue Narbe unmittelbar über den verletzten Struktu-ren liegt. Durch eine entsprechende Hauttransplantationan der Ulnarseite des Unterarmes kann man auch eine ent-sprechende Entlastung durch Integumenterweiterung er-zielen. Dies gilt natürlich nur dann, wenn der Zweiteingriffim Sinne der oben erwähnten Minimaloperation nichtmöglich ist.

Als Nachteil der Sekundäroperation muss angeführtwerden, dass eine zweite Operation mit entsprechendemZeitverlust notwendig ist, und dass die Nervenstümpfedurch die trauma-induzierte Fibrose ihre Dehnbarkeitweitgehend verloren haben. Diese Tatsache, zusammenmit der i. d. R. günstigeren ausgiebigeren Anfrischung, be-deutet, dass im Rahmen von Sekundäroperationen End-zu-End Koaptationen wesentlich schwieriger zu erreichensind und ungünstigere Aussichten haben als bei der Pri-märversorgung. Man muss daher im Rahmen von Sekun-däroperationen wesentlich häufiger Überbrückungendurch Nerventransplantate durchführen. Da wir der Mei-nung sind, dass Nerventransplantate gegenüber Nerven-

nähten unter Spannung keinen Nachteil darstellen, haltenwir diesen Befund in der Liste der Nachteile für relativ un-bedeutend. Vergleiche hierzu auch die Abb. 6.5.48.

Geschlossene Verletzung

Findet man nach einem stumpfen Trauma eine Nervenläsi-on ohne Hautwunde, kann man erfahrungsgemäß damitrechnen, dass in einem relativ hohen Prozentsatz eine Lä-sion vom Grad I bis IV mit erhaltener Kontinuität vorliegt.Die Aussicht auf spontane Regeneration ist daher entspre-chend groß. Man wird eine akute Operation als Notmaß-nahme nur dann in Erwägung ziehen, wenn der Verdachtbesteht, dass durch ein Hämatom, durch ein besondersstarkes Ödem oder durch Druck eines Knochenfragmentesauf den Nerv die Gefahr einer zusätzlichen Schädigung ge-geben ist. Eine Operationsindikation liegt auch dann vor,wenn durch Druckerhöhung in einem geschlossenen Kom-partment die Gefahr einer Druckschädigung der Muskula-tur und der dort verlaufenden Nerven gegeben ist. Manwird dann das entsprechende Kompartment durch einegroßzügige Fasziotomie entlasten. Bei schweren Handver-letzungen empfiehlt sich aus den selben Gründen auch ei-ne Spaltung des Retinaculum flexorum zur Druckentlas-tung des Karpalkanales. In allen anderen Fällen ergibt sicheine Operationsindikation erst dann, wenn die Regenerati-on nach einer entsprechenden Wartezeit ausbleibt.

Zusammenfassend kann man sagen, dass bei glatterDurchtrennung ohne Substanzverlust eine Neurorrhaphiemit End-zu-End Koaptation die Methode der Wahl dar-stellt. Dies hat auch noch zusätzlich den Vorteil, dass mandurch Vergleich der Strukturen an den Stümpfen, insbe-sondere der Gefäße an der Oberfläche, eine wesentlichexaktere Koaptation erreichen kann als im Rahmen einerSekundäroperation.

Bei Vorliegen eines Defektes und bei Vorliegen einesstumpfen Traumas, bei dem das Ausmaß der Schädigungder Stümpfe nicht beurteilt werden kann, halte ich (H. M.)eine frühe Sekundärversorgung für die bessere Methode.Die Stellungnahme zur Primär- bzw. Früh-Sekundäropera-tion erfolgt nicht immer nach rationalen Gesichtspunkten.Der Chirurg, der häufig Primärversorgungen durchführt,behält seine Erfolge in Erinnerung und beachtet die pro-zentuell wenigen Misserfolge nicht so sehr. Der Chirurg,der hingegen hauptsächlich sekundäre Wiederherstellun-gen ausführt, hat es immer wieder mit Patienten zu tun,bei denen erfolglose Primärversorgungen durchgeführtwurden und die nach einem wesentlich zu langen Intervallsich einer Sekundäroperation unterziehen. Es handelt sichdann nicht mehr um eine geplante früh-sekundäre Opera-tion, sondern um eine durch verspätete Indikationsstellungaufgezwungene späte Sekundärversorgung mit entspre-chend schlechteren Aussichten. Es kann daher auch nichtgestattet sein, Primärversorgungen mit Sekundärversor-gungen generell zu vergleichen. Ein statistischer Vergleichwäre nur zwischen Primärversorgung und geplanter früh-sekundärer Versorgung zulässig. Wie immer der Chirurg

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106 4 Allgemeines zur Therapie peripherer Nervenläsionen

sich im Augenblick der Operation entscheidet, so muss erdoch darauf hingewiesen werden, dass er im Falle einerPrimärversorgung moralisch die Verantwortung über-nimmt, den Patienten bei Ausbleiben einer adäquaten Re-generation innerhalb von 6 Monaten einer Sekundäropera-tion zuzuführen.

Bei partiellen Durchtrennungen eines Nervenstammesist es am besten, sei es primär oder sekundär, die durch-trennten Faszikel nach entsprechender Anfrischung in ih-rer Kontinuität durch Nerventransplantate wieder herzu-stellen.

4.7.4 Sekundäre Eingriffe nach Verletzun-gen bzw. geplante Operationen anNervenläsionen aus anderer Ursachewie Kompression, Irritation etc.

Der Hauptunterschied zur Versorgung frischer Verletzun-gen ergibt sich aus der Tatsache, dass diese Operationengeplant durchgeführt werden können. Es liegen dahergrundsätzlich optimale Bedingungen vor. Die Freilegungkann durch Inzisionen der Wahl erfolgen, wobei Inzisionenbevorzugt werden, die nicht unmittelbar über dem darzu-stellenden Nerv liegen. Da man mit Fibrose, bzw. Narben-bildung im Bereich der ursprünglichen Verletzung bzw. derchronischen Irritation rechnen muss, empfiehlt sich dieDarstellung des betroffenen Nervs proximal, bzw. distal imGesunden, mit Präparation in Richtung auf die Läsionsstel-le. Aus diesem Grund sind auch Ratschläge, bei der Primär-versorgung die Nervenstümpfe durch Nähte oder andereMittel zu markieren, relativ wertlos, weil man ohnehinvom Gesunden her präpariert. Die Indikation zur Operati-on ergibt sich bei Zustand nach Trauma, wenn man von dergeplanten früh-sekundären Versorgung absieht, aus demAusbleiben der erwarteten Regeneration. Bei nichttrauma-tischen Läsionen ergibt sich die Indikation aus der Ätiolo-gie, bzw. Pathogenese der Grunderkrankung und der Tatsa-che, dass mit konservativen Verfahren eine Besserung nichtzu erreichen war.

Grundsätzlich hat man es auch in diesem Zusammen-hang mit Läsionen mit erhaltener Kontinuität und mit Lä-sionen mit Verlust der Kontinuität zu tun. Je nach demSchweregrad der Läsion, bzw. je nachdem, ob ein Defektvorliegt oder nicht, werden die verschiedenen Möglichkei-ten der peripheren Nervenchirurgie zum Einsatz gebracht.

Zusammenfassend ist zur Indikationsstellung für die Ex-ploration folgendes zu sagen: Bei sekundärer Explorationnach Trauma kann das Ausbleiben der Regeneration imNerv durch das Nicht-Fortschreiten des Tinel-Hoff-mann’schen Zeichens klinisch festgestellt werden. In man-chen Fällen zieht sich ein Tinel-Hoffmann’sches Zeichen,das bereits in die Peripherie vorgerückt war, wieder auf dieStelle der Läsion zurück, wenn dort z. B. durch eine Nar-benstriktur die Regeneration behindert wird. Mit dieserMöglichkeit muss man auch bei der Nerventransplantationrechnen. Es kann sein, dass durch Narbenbildung an der

peripheren Koaptationsstelle die regenerierenden Axonevom Transplantat nicht in den peripheren Stumpf eindrin-gen können, bzw. dass solche Axone, die bereits in den pe-ripheren Stümpfen vorgerückt sind, durch Kompression ander Koaptationsstelle zugrunde gehen. In diesem Fall ist dieperiphere Koaptationsstelle zu explorieren und gegebe-nenfalls zu exzidieren und durch eine End-zu-End Koapta-tion zu ersetzen. Eine Indikation zur Operation ergibt sichauch, wenn die elektrophysiologische Untersuchung nacheinem entsprechenden Zeitintervall keine Zeichen der Re-generation zeigt. Es gibt naturgemäß auch Fälle, bei denenwohl eine Regeneration einsetzt, diese Regeneration abernach einer gewissen Zeit zum Stillstand kommt. Auch dieskann durch mehrere elektrophysiologische Untersuchun-gen belegt werden. Grundsätzlich gilt für einen Zustandnach Trauma, dass die Revision spätestens innerhalb von 6Monaten nach der Verletzung erfolgen soll.

Eine solche Revision hat an einem Zentrum zu erfolgen,wo alle Voraussetzungen für eine erfolgreiche periphereNerven-Chirurgie gegeben sind. Bei Kompressions- bzw. Ir-ritationssyndromen ergibt sich die Indikation klinisch auseinem Funktionsausfall, sowohl was Motorik und/oderSensibilität betrifft, und aus Schmerzen und Paraesthesien.Auch hier hilft der elektrophysiologische Befund, die Indi-kation zu untermauern. Probleme ergeben sich dann, wennbei eindeutiger klinischer Symptomatik der elektrophysio-logische Befund negativ ausfällt, was durchaus möglich ist,da ja nicht immer alle Fasern des Nervs in gleicher Weisebetroffen werden. In diesen Fällen gibt der klinische Be-fund den Ausschlag.

4.7.5 Zur Darstellung peripherer Nerven

Viele der in der Vergangenheit gebrauchten Inzisionen ha-ben sich als ungünstig erwiesen. Entweder liegen diese In-zisionen unmittelbar über den durch das Trauma geschä-digten Abschnitt, dann besteht häufig eine zu starke Span-nung und es kann zu Adhäsionen zwischen Narbe undOperationsgebiet am Nerv kommen. Längsnarben an Ex-tremitäten-Abschnitten, auch wenn sie zick-zack-förmigoder wellenförmig angelegt wurden, führen immer zuschlechten Narben. Die günstigsten Narben werden dannerzielt, wenn man die Hautschnitte in die Mitt-Seiten-Linieverlegen kann.

Von solchen mitt-seitlichen Inzisionen an der Radial-oder Ulnarseite des Ober- und Unterarmes können alleNerven aufgesucht und übersichtlich dargestellt werden.Man muss diese Inzisionen nur lang genug machen. Dortwo mitt-seitliche Inzisionen nicht in Frage kommen, emp-fehlen sich multiple quere Inzisionen, da auch diese vielbessere Ergebnisse liefern und die Querinzisionen so ge-wählt werden können, dass das Operationsgebiet am Nervnicht unmittelbar unter einer Narbe liegt. Diese multiplenqueren Inzisionen mit Unterminierung der Haut zwischenden einzelnen Inzisionen erlauben eine gute Darstellungdes Nervs. Beim Vorliegen einer gleichzeitigen Verletzungder Beugesehnen und der Nerven, im Rahmen der Sekun-

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4.7 Grundsätzliches zur operativen Behandlung peripherer Nervenläsionen 107

däroperation, wird eine neuerliche Freilegung der Sehnenund dadurch die Provokation von Verwachsungen zwi-schen Nerventransplantat und Sehnen vermieden. In die-sem Fall weiß man allerdings bereits ziemlich genau, wodie Nervenstümpfe liegen. Daher hält sich die Explorationin Grenzen. Dort, wo man aber in ausgedehntem Narben-gewebe explorieren muss, halte ich (H. M.) die weite Frei-legung nach wie vor für unabdingbar. Inzisionen, habenbereits den gegenwärtigen Trend zu möglichst kleinen In-zisionen und wenig freizulegen vorweg genommen. Die-ser Trend führt zur endoskopischen Operation, z. B. desKarpaltunnelsyndroms, oder des Irritationssyndroms desN. ulnaris, wie dies auch empfohlen wurde. Die Vorteilesolcher rein endoskopischer Operationen sind noch offen.

Erfahrene Operateure sehen keinen wesentlichen Un-terschied im Ergebnis hinsichtlich endoskopischer und offener Methoden, wenn man eine Hautbrücke über demKarpalkanal intakt lässt. Auch beim Sulcus nervi ulnarisSyndrom hat sich bisher kein signifikanter Vorteil derendokospischen Methoden abgezeichnet. Dort, wo tatsäch-lich eine endoskopische Dekompression von Vorteil wäre,nämlich beim Tarsaltunnelsyndrom, gibt es aber techni-sche Schwierigkeiten, genügend Raum für die endoskopi-sche Manipulation zu schaffen. Ein anderes Anwendungs-gebiet endoskopischer Methoden kann darin bestehen, beisekundär durchzuführenden Nerventransplantationen, beidenen man die Lage der Stümpfe genau kennt, die Nerven-transplantation von 2 minimalen Inzisionen mit Tunnelie-rung des Transplantatbettes zwischen den Inzisionen aus-führen zu können.

4.7.6 Muskelverlagerungen im Rahmen derNervenoperation zur Verbesserungder Prognose

Die Prognose des N. peroneus nach einer Nervenwieder-herstellung bei Bestehen eines Defektes ist ungünstig. Eskommt i. d. R. zu einer elektromyographisch nachweisba-ren Muskelregeneration, die aber nicht stark genug ist, denSpitzfuß zu überwinden und eine befriedigende Dor-salextension zu erzielen. Wenn man dagegen gleichzeitigoder kurz nach der Nervenoperation eine Verlängerung derAchillessehne durchführt, und durch den Transfer des M.tibialis posterior zur Dorsalseite des Fußskelettes diePlantarflektoren schwächt und die gelähmten Muskeln derDorsalseite vor Überdehnung schützt, kann man eine sehrgute Reinnervation des Tibialis anterior und auch der lan-gen Zehenstrecker erzielen. Hier wirkt also der Muskel-transfer nicht nur im Sinne der Korrektur des Spitzfußesund der aktiven Dorsalflexion, sondern im Sinne einerFunktionsverbesserung aller geschädigten Muskeln, ein-schließlich des Peroneus longus und brevis, sodass weitereMaßnahmen zur Stabilisierung der Sprunggelenke nichtnotwendig sind. In ähnlicher Weise kann eine gleichzeitigmit der Nervenoperation durchgeführte Verlagerung desM. pronator teres auf die Sehne des Extensor carpi radialisbrevis die Aussicht auf Funktionsrückkehr aller vom N.

radialis versorgten Unterarmmuskeln verbessern. Da diePrognose der Radialisparese an sich gut ist, wenden wirdiese unterstützende Maßnahme nur dann an, wenn un-günstige Verhältnisse vorliegen, z. B. wenn der Patient das40. Lebensjahr überschritten hat.

4.7.7 Muskelverlagerung zur Funktions-verbesserung bei Teilregeneration

Bei ausgedehnten Nervenläsionen kommt es häufig zu be-friedigender Regeneration, jedoch nicht immer zur Rege-neration der wichtigen Muskeln. Wenn beispielsweise beieiner Läsion des Plexus brachialis der M. biceps brachii undder M. brachialis nicht befriedigend regenerieren, derM. triceps brachii aber eine gute Funktion wiedererlangthat, kann man den Triceps brachii zur Ellenbogengelenks-beugung verlagern. Die Ellenbogenstreckung muss dannallerdings durch die Schwerkraft erfolgen. Der Wegfall derEllenbogenstreckung ist für einen gut funktionierendenArm ein beträchtlicher Verlust. Für einen Patienten, der ei-ne komplette Plexusläsion erlitten hat und der eine Abduk-tion und eine Elevation über ein Mindestmaß hinaus nichtzustande bringen wird, spielt dies jedoch keine wesentli-che Rolle. Die gleiche Maßnahme ist indiziert, wenn Co-Kontraktionen zwischen Biceps und Triceps bestehen unddie Behandlung mit Botox zur Trennung der Funktion kei-nen Erfolg gebracht hat.

4.7.8 Vorgehen bei irreversibler Läsion peripherer Nerven

Grundsätzliches zu den Möglichkeiten

Die Regenerationsfähigkeit der peripheren Nerven ist imAllgemeinen sehr gut.

Häufig ist sie zu gut, wie man sich anhand der Behand-lung von schmerzhaften Neuromen überzeugen kann. DerFunktionsrückkehr sind allerdings Grenzen gesetzt. Diesebetreffen vor allem die Muskulatur, die nach längerer kom-pletter Denervierung nicht mehr regeneriert. Die Regene-rationsfähigkeit kann aber über lange Zeit erhalten blei-ben, wenn nur eine partielle Denervierung vorliegt und zu-mindest trophische Impulse den Muskel erreichen. Hin-sichtlich der sensiblen Funktionen tritt eine Irreversibilitäterst nach langer Zeit ein, wenn es um die Schutzsensibili-tät geht. Die stereognostische Sensibilität wird allerdingsnach längerer Denervierung schwer zu erreichen sein.

Verloren gegangene motorische Funktionen könnendurch Heranziehen anderer Muskeln für bestimmte Bewe-gungen ersetzt werden. Auch eine verloren gegangene Sen-sibilität kann man ersetzen. Die sog. Ersatzoperationen be-nützen normale Muskeln nicht geschädigter Nerven, umdie verloren gegangene Funktion bestimmter Muskeln ei-nes denervierten Nerven zu imitieren.

Steht kein Muskel zum Ersatz der verloren gegangenenMuskelfunktion zur Verfügung, verfügt man aber über ei-

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108 4 Allgemeines zur Therapie peripherer Nervenläsionen

nen motorischen Nerv, kann man an eine freie Muskel-transplantation zur Wiederherstellung einer bestimmtenFunktion denken.

Prinzipien der Ersatzoperationen

Um eine bestimmte Muskelfunktion zu ersetzen, eignetsich am besten ein synergistisch verwendeter Muskel einesanderen Nervs. Als Beispiel kann man die Verbindung vonHandgelenksstreckern zur Wiederherstellung der Beuge-funktion der Finger erwähnen, da die Handgelenksstreckernormalerweise synerg mit den Handgelenksbeugern arbei-ten. Umgekehrt, kann man zur Verbesserung der Finger-streckung am besten einen der beiden Handgelenksbeugerheranziehen, da auch diese Muskeln Synergisten sind. Derzum Ersatz einer Muskelfunktion heranzuziehende Muskelsoll über annähernd normale Kraft verfügen, da man rech-nen muss, dass durch den Transfer ein Grad in der Kräfte-skala verloren geht. Ein Muskel mit einer Funktion von M 3wird nach dem Transfer aller Voraussicht nach zu schwachsein, um die erwartete Funktion zu erfüllen. Es soll einMuskel gewählt werden, der in seiner ursprünglichenFunktion eine ähnliche Zugrichtung aufweist wie der zu er-setzende Muskel, da bei Änderung der Zugrichtung eben-falls mit einem Kraftverlust zu rechnen ist und dort, wo dieRichtungsänderung durch ein Hypomochlion erzeugt wird,Abnützungserscheinungen auftreten und sich Adhäsionenentwickeln können.

Wenn kein synergistisch wirkender Muskel zur Verfü-gung steht, gelingt es bei jungen Patienten aufgrund derPlastizität der Gehirnfunktionen, auch einen antagonisti-schen Muskel erfolgreich heranzuziehen, man muss aller-dings dann mit einer längeren Umlernphase rechnen.

Zeitpunkt. Nur in den seltensten Fällen führe ich (H. M.)primär eine Ersatzoperation aus, da ich mit einer gutenNervenregeneration rechne. Auf die Möglichkeit der Teiler-satzoperation, um bestimmte Funktionen sofort wieder-herzustellen und nicht auf die Nervenregeneration wartenzu müssen, wurde bereits hingewiesen. Wenn nach1 1⁄2 Jahren nach der Wiederherstellung eines Armnervenkeine Nervenregeneration vorhanden ist, wird man sichzur Ersatzoperation entschließen. Eine Ersatzoperationkann auch zur Verstärkung einer zwar regenerierten, aberzu schwachen Funktion eines ursprünglich gelähmtenMuskels herangezogen werden.

Arthrodesen

An eine Arthrodese oder Tenodese wird man dann denken,wenn zu wenig Muskeln für die notwendigen Funktionenzur Verfügung stehen und Muskeln eingespart werden sol-len. Wenn man beispielsweise beide Handgelenksbeugerfür andere Funktionen verwenden muss, wird eine Arthro-dese des Handgelenkes in Funktionsstellung notwendigsein, da der Patient sonst die Kontrolle über das Handge-

lenk verliert. Operationen mit Einschränkung der norma-len Beweglichkeit empfehlen sich auch im Rahmen von Ul-narisparesen, um die Überstreckbarkeit der Fingergrund-gelenke zu beheben. Wenn durch eine Kapsulorrhaphie derGrundgelenke nach Zancolli (1586) die Überstreckbarkeitder Grundgelenke aufgehoben wurde, wirken die langenStrecksehnen auch auf die Interphalangealgelenke, was siebei vorhandener Überstreckbarkeit nicht tun.

Amputationen

Man hat früher z. B. bei Plexusläsionen empfohlen, eineAmputation in Höhe des Unterarmes auszuführen, da manmit einer Funktionsrückkehr im Bereich der Unterarm-und Handmuskeln nicht rechnete. Der Patient hat dann ei-ne durch das fehlende Gewicht von Hand- und Unterarmverbesserte Ellbogengelenksbeugung und kann mit einerProthese versorgt werden. Ein solches Vorgehen kommtheute nicht mehr in Frage, man bemüht sich vielmehr,auch bei kompletten Plexusläsionen eine minimale Hand-funktion zu erreichen und hat in dieser Richtung bereitsbeträchtliche Erfolge erzielt.

Vorgehen bei sensiblen Ausfällen

Für die Funktion der Hand ist eine gute taktile Sensibilitätim Bereich des Daumens und des Zeigefingers von ent-scheidender Bedeutung. In einer Zeit, in der man mit einerbefriedigenden Sensibilitätsrückkehr nach Medianusver-letzungen nicht rechnen konnte, wurden sensible Ersatz-operationen entwickelt. Die halbe Fingerbeerenhaut deskleinen Fingers oder des ulnaren Teils des Ringfingers wur-de am Nervengefäßstiel zum Daumen und zum Zeigefingerals Insellappen verlagert und dort in den Fingerbeerenbe-reich eingenäht. Diese Operationen haben sich nach mei-ner Erfahrung nicht bewährt. Es besteht zwar dann eineausreichende, oder eine sehr gute Sensibilität an den Fin-gerbeeren der ursprünglich anaesthetischen Finger. Häufigentsteht sogar eine Überempfindlichkeit durch Ausspros-sen von Nervenfasern aus dem Hauttransplantat in die be-nachbarte Haut. Für die Patienten bleibt die Haut am Dau-men, bzw. am Zeigefinger nach wie vor Haut des Ulnaris-innervierten Ring-und Kleinfingers. Ein Umlernen gelingtin den seltensten Fällen. Diese Operationen werden seitJahren nicht mehr angewandt.

Es wurde auch vorgeschlagen bei Läsionen des N. media-nus den R. superficialis nervi radialis zu transferieren undmit dem peripheren Stumpf des Medianus zu verbinden,sodass man eine Sensibilitätsrückkehr im Medianusgebieterreicht. Diese Operation führte in den seltensten Fällen zueinem wirklich guten Ergebnis. Es wird intakte Sensibilitätgegenüber einer fragwürdigen neuen Sensibilität im Me-dianusgebiet geopfert. Die zunehmende Verbesserung derFunktionsrückkehr nach Nervenwiederherstellung hat da-zu geführt, dass sensible Ersatzoperationen kaum mehrangewendet werden. Die End-zu-Seit Koaptation ohne die

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4.7 Grundsätzliches zur operativen Behandlung peripherer Nervenläsionen 109

ursprüngliche Funktion des Nervs opfern zu müssen wirdhier neue Möglichkeiten schaffen.

Eine andere Form der sensiblen Ersatzoperation hat sichbei partiellen Plexusläsionen mit erhalten gebliebeneroder wiederhergestellter Greiffunktion, jedoch fehlenderSensibilität im Daumen und Zeigefinger, bewährt. Es kanneine Verbindung zwischen den zum Daumen und Zeigefin-ger führenden Faszikeln des N. medianus und einem N. in-tercostobrachialis hergestellt werden, um die denerviertenFaszikel des N. medianus für Daumen und Zeigefinger mitsensiblen Fasern zu neurotisieren.

4.7.9 Vorgehen bei Schmerzsyndromen

Schmerzen stellen Symptome bei verschiedenen Nervenlä-sionen dar. So gehören die nächtlichen Schmerzen nebenParaesthesien, Anaesthesie der betroffenen Finger undAtrophie der Thenarmuskeln zum Symptomenbild des Kar-paltunnelsyndroms. Das Karpaltunnelsyndrom kann aberauch ohne Schmerzen verlaufen. Wurde eine Dekompressi-on des Karpalkanales erreicht und liegen noch keine weite-ren Veränderungen vor, verschwinden die Schmerzen. ImGegensatz dazu stehen bei einem Schmerzsyndrom im en-geren Sinne die Schmerzen als alles beherrschendes Symp-tom im Vordergrund. Schmerzen und Paraesthesien verur-sachen einen enormen Leidensdruck. Der Entstehungs-mechanismus solcher Schmerzsyndrome ist nach wie vorungeklärt. Wir wissen nicht, warum viele durchtrennteNerven ein symptomloses oder symptomarmes Regenera-tionsneurom bilden, während bei anderen Patienten durchden vom Regenerationsneurom ausgehenden Schmerz einechtes Schmerzsyndrom ausgelöst wird. Die Erfahrungzeigt, dass Kinder selten betroffen sind, während Erwach-sene, besonders Frauen, zu Schmerzsyndromen neigen.Zweifellos ist bei diesen Patienten die Schmerzschwellestark herabgesetzt. Schmerzen, die ursprünglich durch einlokales Geschehen bedingt werden, können nach einigerZeit so fixiert werden, dass das Schmerzsyndrom mit dercharakteristischen Symptomatik bestehen bleibt, obwohldie lokale Ursache behoben ist. Eine Reihe der Mechanis-men, die zu Schmerzsyndromen führen, können nicht voll-ständig beseitigt werden, sodass das Auftreten von Rezidi-ven vorprogrammiert ist. Die Resektion eines Regenera-tionsneuromes muss wiederum zu einer Neubildung einesRegenerationsneuroms führen. Die Auslösung eines Nervsaus einem fibrös veränderten Bett mit Lösung aller Ad-häsionen ist zwangsläufig mit der Lagerung des Nervs ineinem neuen Bett und der Bildung von neuen Adhäsionenverbunden. Die Erfolge der chirurgischen Behandlung vonSchmerzsyndromen beruhen auf der Hoffnung, dass dieFibrose im neuen Bett weniger ausgeprägt sein wird unddie neuen Adhäsionen die notwendigen passiven Bewe-gungen des Nervs weniger behindern werden. Natürlichkann der Rezidivbildung durch Heranschaffung von Gleit-gewebe, bzw. Erweiterung des Integuments zur Schaffunggünstiger Bedingungen entgegen gewirkt werden. Trotz-dem wird man mit Rezidiven rechnen müssen. Man wird

es aber als Erfolg werten können, wenn man einen unterstarken Schmerzen leidenden Patienten durch eine Opera-tion zumindest 4 oder 5 Jahre schmerzfrei machen konnte.Bei Auftreten eines Rezidivs wird man, wenn konservativeSchmerzbehandlungen ohne Erfolg geblieben sind, nacheiner genauen Analyse eine neuerliche Operationsindika-tion stellen.

Der Schmerzpatient, der dem Chirurgen zu einer opera-tiven Behandlung am Nerven selbst zugewiesen wird, hat i. d. R. bereits eine lange Geschichte hinter sich. Es beste-hen starke Schmerzen mit Paraesthesien und Hyperaesthe-sien, der Patient hat bereits verschiedene konservativeSchmerztherapien ohne bleibenden Erfolg hinter sich.Liegt dem Schmerzgeschehen eine nicht heilbare Erkran-kung zugrunde, wie dies bei malignen Tumoren der Fall ist,wird man eine zentral schmerzausschaltende Operation inErwägung ziehen. Da in einem solchen Fall funktionelle Er-wägungen in den Hintergrund treten, wird man bei Befalleines klar definierten peripheren Nerven durch einen Tu-mor eine Neurotomie proximal der Läsion in Erwägungziehen.

Bei einem anderen Patienten wird man sich zuerst fra-gen, welcher Nerv betroffen ist, was durch die klinischeUntersuchung eindeutig festzustellen ist, da sich dieSchmerzen entsprechend dem Versorgungsgebiet desNervs lokalisieren, und i. d. R. ein Tinel-Hoffmann’schesZeichen auslösbar ist. Die klinische Untersuchung ergibtauch Hinweise auf die Lokalisation. Man wird zwischen ei-nem peripheren Nervenschmerz und einem radikulärenSchmerz unterscheiden (s. S. 58).

Man wird sich fragen, ob die Lokalisation des Schmerz-geschehens einem der bekannten Engpass-Syndrome ent-spricht (Thoracic outlet syndrome, Hyperabduktions-Syn-drom, Processus supra condylicus, Ulnaris-Irritationssyn-drom am Ellenbogen, Pronator teres-Syndrom, Karpaltun-nel Syndrom, Syndrom der Loge de Guyon, RadialistunnelSyndrom, Tarsaltunnel Syndrom, usw.).

Wichtig ist die Klärung eines allfälligen Zusammenhangsmit einem stattgefundenen Trauma oder einer vorange-gangenen Operation, da viele der Schmerzsyndrome aufäußere Einwirkungen auf den Nerv zurückgehen. Die Ope-rationsindikation ergibt sich, wenn eine gut lokalisierbareLäsion gefunden wird und man mit hoher Wahrscheinlich-keit eine chirurgisch behebbare Ursache erwartet. Da dielokale Sanierung als Voraussetzung auch für andere Thera-pien gelten kann, wird man sich auch im Zweifelsfall beientsprechend starken Beschwerden für die Operation ent-schließen. Da die Gefahr der zentralen Fixierung derSchmerzen besteht, sollte man sich relativ rasch zu einerOperation entschließen. Eine Blockade des betroffenenNervs gibt einen Hinweis, ob die Schmerzreize tatsächlichüber den vermuteten Weg verlaufen. Die Kausalgie wirdauf Seite 60 abgehandelt. Aus dem dort Gesagten geht hervor, dass nach dem derzeitigen Stand des Wissens dieKausalgie keine Indikation für eine Operation am Nervendarstellt, wenn man von rekonstruktiven Eingriffen im All-gemeinen absieht.

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110 4 Allgemeines zur Therapie peripherer Nervenläsionen

Freilegung

Der betroffene Nervenabschnitt wird von einer Inzisionfreigelegt, die abseits vom Verlauf des Nervs gelegen ist. Anden Extremitäten bewähren sich am besten mitt-seitlicheInzisionen. Auch multiple quere Inzisionen über dem be-troffenen Nerv eignen sich zur Darstellung gut, wenn mandie dazwischen gelegene Haut als doppeltgestielten Lap-pen hebt. Sie geben gute Narben, und die Gefahr der Adhä-sion zwischen Narbe und Nerv ist minimal, vor allem dann,wenn die benachbarten Inzisionen proximal und distal derLäsionsstelle liegen und nicht gerade über der Läsion. Fürbesondere Fälle eignet sich die endoskopische Darstellungz. B. zur Inspektion des N. supraorbitalis, bzw. frontalis.Wenn zwischen 2 Inzisionen eine zu lange Strecke gegebenist, kann man die Darstellung durch endoskopische Präpa-ration unterstützen.

Eine wichtige Regel ist es, dass der Nerv im Gesunden aneiner typischen Stelle aufzusuchen ist und in Richtung aufdie Läsionsstelle verfolgt werden muss. Im wesentlichenkann man 2 grundsätzlich verschiedene Befunde erwarten:a) Läsion mit Durchtrennung des Nervs,b) Läsion mit erhaltener Kontinuität.

Läsion mit Durchtrennung des Nervs

Der im Gesunden aufgesuchte Nerv ist dort intakt. Er wirdin Richtung auf die Läsionsstelle verfolgt und endet mit ei-nem Regenerationsneurom. Dieses Neurom wird im Ge-sunden reseziert. Naturgemäß wird sich hier wieder einRegenerationsneurom bilden. Die beste Möglichkeit zurVermeidung eines Rezidivs ist die Wiederherstellung derKontinuität, sei es in seltenen Fällen durch End-zu-End Ko-aptation, sei es, wie in der Mehrzahl der Fälle, durch Ner-ventransplantation. Das Regenerationsneurom kann dannentlang der Transplantate nach peripher wachsen, und esbesteht kein Grund für die Axonsprossen, ziellos und irre-gulär auszusprossen, da ihnen ein Ziel vorgegeben ist. Auchviele Jahre nach dem Trauma bewährt sich diese Methodeund manchmal erlebt man sogar eine Überraschung inso-fern, als im Versorgungsgebiet Schutzsensibilität zurück-kehrt. Wenn man bei einem relativ unwichtigen Nerv keinautologes Nerventransplantat opfern will, kann man dieKontinuität mit Hilfe eines Venentransplantates herstellen.

Schwierig ist das Problem, wenn kein peripherer Stumpfzur Verfügung steht. In diesem Fall gehen wir folgender-maßen vor:

Der proximale Stumpf des neuromtragenden Nervs wirdso weit wie möglich nach proximal zurückverfolgt, undzwar bis in den Subfascialraum. Hier wird der Nerven-stumpf auf einer längeren Strecke verschorft und im Sub-fascialraum belassen. Rezidive treten viel häufiger dannauf, wenn die Rückkürzung nur im subkutanen Gewebe er-folgt. Natürlich ist darauf zu achten, dass die neue Positiondes Nervenendes so gewählt wird, dass es keiner mechani-schen Belastung ausgesetzt ist. Über die Koaptation dereinzelnen Faszikel des Nervenstumpfes mit sich selbst und

sekundärer Durchtrennung und Naht nach Samii liegen po-sitive Berichte vor. Als Alternativen werden Versenkungdes Nervenstumpfes durch ein Bohrloch in eine Knochen-markhöhle, oder in einen Muskel empfohlen.

Nerven kleineren Kalibers, wie der N.ileoinguinalis oderN. ileohypogastricus, enden mitunter in einer Narbenplat-te, ohne dass ein Neurom definiert werden kann. Da die Be-schwerden bei diesen Nerven z. T. dadurch bedingt sind,dass der im Narbengewebe fixierte distale Stumpf unter ei-ner gewissen Spannung steht und der Nerv sich der mecha-nischen Beanspruchung beim Durchtritt durch die einzel-nen Schichten der Bauchmuskeln nicht so gut anpassenkann, empfehle ich (H. M.) in solchen Fällen die hohe Neu-rotomie innerhalb des Beckens.

Läsion bei erhaltener Kontinuität

Man kann folgende Situationen antreffen, die allerdingsauch gemeinsam vorliegen können, bzw. ineinander über-gehen können:1. Der Nerv liegt in einem engen Knochenkanal und steht

dadurch unter einem erhöhten Druck. Solche Schmerz-syndrome kommen beim N. alveolaris inferior vor, undsind mit quälenden Schmerzen verbunden. Man stelltden N. mentalis am Foramen mentale dar, öffnet denKnochenkanal des N. alveolaris inferior durch schicht-weises Abtragen der Knochenlamellen bis man in gesun-des Gewebe kommt. Gelingt dies nicht, sucht man den N.alveolaris inferior vor seinem Eintritt in den Kanal auf,durchtrennt ihn hier, schließt ein Nerventransplantat an,das man zum peripheren Stumpf des N. mentalis führt.Die 2. Methode kann auch dann angewendet werden,wenn das 1. Verfahren nicht zum erwarteten Erfolg ge-führt hat.

2. Der Nerv liegt in einem Subfascialraum unter erhöhtemDruck. Es bestehen Adhäsionen. Dies ist die Situation,wie sie durch ein Kompartmentsyndrom entsteht. DurchAbtragung der Faszie wird das Kompartment entlastet.Es wird eine äußere Neurolyse ausgeführt. Wenn derNerv keine Veränderungen aufweist, ist damit das Vorge-hen beendet, wenn Veränderungen bestehen, wird wieunter 5. dargestellt weiterverfahren.

3. Der Nerv ist in fibröses Gewebe im Bereich einer poten-tiellen Engpassstelle eingehüllt und hat Adhäsionen ent-wickelt, sei es mit der Wand des Engpasses, sei es mitanderen enthaltenen Strukturen wie z. B. Sehnen. In die-sen Fällen kommt zur Kompression noch die Irritationdes Nervs durch Mitbewegung mit den Muskelkontrak-tionen dazu. In solchen Fällen wird eine Neurolyse aus-geführt. Bei den Patienten, die ein Schmerzsyndrom ent-wickeln, entwickeln sich aber wieder Adhäsionen, da dieGesamtsituation nicht verändert wurde. Es entsteht einCirculus viciosus. Eine neuerliche Neurolyse führt nur zuneuem Narbengewebe und bringt nur sehr kurzfristigErleichterung. Ich kenne Patienten, die bis zu 5-mal einesolche Neurolyse über sich ergehen lassen mussten. DasBehandlungsziel bei diesen Fällen muss es sein, die bio-

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4.7 Grundsätzliches zur operativen Behandlung peripherer Nervenläsionen 111

logischen Bedingungen für den Nerv entscheidend zuverändern. Dies kann dadurch geschehen, dass manWeichteilgewebe heranbringt und den Nerv so einhüllt,dass die neuerlich entstehenden Adhäsionen zu keinermechanischen Irritation führen. Wenn der Nerv selbstverändert ist, muss auch hier wie unter 5. dargestelltverfahren werden. Umso wichtiger ist es aber dann, füreine entsprechende Einhüllung des Nervs mit gut durch-blutetem Gewebe zu sorgen. Für den N. medianus imKarpaltunnelsyndrom stehen folgende Verfahren zurVerfügung: Bei einer kurzen Strecke genügt die Verlage-rung des M. palmaris brevis. Bei längeren Strecken kannman einen der kurzen Handmuskeln heranziehen, ent-weder den Abductor digiti minimi brevis oder einen M. lumbricalis. Bei längeren Strecken empfiehlt sich dieVerpflanzung von Gleitgewebe. Wir haben nach demVorschlag von Kob Wintsch (1544) das Gleitgewebe un-terhalb der Scapula, gestielt an der A. und V. thoracodor-salis zur Hand verpflanzt. Auch die Verpflanzung vonOmentum majus wurde empfohlen. Natürlich wirddurch eine solche Verpflanzung die Gewebsmasse inner-halb des gegebenen Hautschlauches erhöht und es be-steht die Gefahr, dass das Integument zu eng wird. Mansollte daher eine solche Operation mit einer Integument-erweiterung kombinieren. Bei Läsionen des N. ulnaris imBereich des Sulcus nervi ulnaris kann man durch weit-streckige submuskuläre Verlangerung des Nervs nachLearmonth (742) eine Transposition des Nervs in norma-les Gleitgewebe erreichen. Für den Plexus brachialis bie-tet sich der subpectoral gestielte Gleitgewebslappen zurEinhüllung an. Dieser Lappen hat sich bei Schmerzsyn-dromen nach TOS-Operationen, aber auch nach Bestrah-lung wegen Lymphogranulomatose bewährt. BeiSchmerzsyndromen nach Mastektomie wegen Mamma-karzinom kann der Lappen naturgemäß nicht angewen-det werden, da er im Bestrahlungsfeld liegt. In diesenFällen empfiehlt sich die Verpflanzung von Omentummajus. Auch die Einhüllung des N. ischiadicus nach Bestrahlung im Beckenbereich ist manchmal notwen-dig, für solche Fälle wurde der M. semimembranosusnach Denervierung am Gefäßstiel verlagert. Bei einemSchmerzsyndrom des N. femoralis im Bereich der Lacu-na musculorum kann ein an der A. circumflexa ilium su-perficialis gestielter Hautfettlappen verwendet werden.In der Kniekehle wurden Schmerzsyndrome durch einzu enges Integument beobachtet, die den N. fibularis und den N. tibialis betrafen (s. 4. unten). Der N. fibu-laris ist in seinem Kanal unterhalb des Fibulaköpfchensund beim Durchtritt durch das laterale Kompartment in das vordere Kompartment betroffen. Hier genügt i. d. R. die Exzision von Faszie, Septum intermusculareund Muskelgewebe, um genügend Platz zu schaffen.Schwerste Schmerzsyndrome haben wir im Bereich desN. tibialis im Sulcus retromalleolaris medialis und fürden N. tibialis, bzw. seine Verzweigung im Bereich desTarsalkanals beobachtet. Auch für diese Fälle wurden gestielte oder freie Gleitgewebslappen verpflanzt. Grö-ßere Bedeutung hat allerdings hier die Integumenter-weiterung.

4. Der gesamte Hautschlauch ist zu eng. Millesi und Mitar-beiter (881) konnten an der Leiche nachweisen, dass ei-ne Verengung des Integuments zu einer Druckerhöhungführt, die sich naturgemäß auf im Hautschlauch befind-liche Nerven auswirkt, wenn die Dehnbarkeit des Gewe-bes durch eine entsprechende Fibrose verloren gegangenist. Eine solche Integumenterweiterung ist im Bereichdes Handgelenkes relativ leicht zu erreichen, wenn mitt-seitlich, an der Ulnaseite des Handgelenkes und des Un-terarmes inzidiert wird und die ganze palmare Haut ab-gehoben wird, um einen entsprechenden Zugang zum N. ulnaris und N. medianus zu erhalten. Ein allfälligerGleitgewebslappen kann von diesem Hautschnitt ausdurchgeführt werden. Wenn die Veränderungen weitnach distal reichen, empfiehlt sich auch eine Y-förmigeInzision nach Millesi (887) zur Darstellung der Hohl-hand. Während die Y-förmige Inzision direkt verschlos-sen wird, bleibt die mitt-seitliche Inzision offen. Da sieweitab von dargestellten Nerven bzw. Gefäßen liegt, undder Wundgrund hier vom M. flexor carpis ulnaris, bzw.der Faszie gebildet wird, kann man diesen Defekt leichtmit Spalthauttransplantaten decken. Man kann dadurcheine Integumenterweiterung um ca. 3 cm erreichen.Im Bereich der Kniekehle haben wir Schmerzsyndromenach Läsionen des N. ischiadicus mit unvollständiger Re-generation beobachtet, die nur durch Integumenterwei-terungen zu beherrschen waren. Die hierfür angelegtenInzisionen liegen abseits der Nerven, die durch die Inzi-sionen entstandenen Wundflächen werden mit Spalt-hauttransplantaten gedeckt.Besondere Bedeutung kommt der Integumenterweite-rung in der Gegend des Tarsalkanales zu. Die Haut kau-dal und dorsal des Malleolus internus muss sich den Be-wegungen des Sprunggelenkes anpassen können. Siewird i. d. R. bei Dorsalextension gespannt, und bei Plan-tarflexion entspannt (369, 370). Da Haut und Subkutisvon den darunter liegenden Nerven und Gefäßen durchdie tiefe Faszie und das Retinaculum flexorum getrenntsind, wirken sich diese Bewegungen auf das Nervenge-fäßbündel nicht aus. Wenn nach einer Operation einesTarsaltunnelsyndroms die Hautwunde komplikationslosverheilt und in der Subkutis eine neue Verschiebeschichtentsteht, ergeben sich diesbezüglich keine Folgen. Wennjedoch das subkutane Gewebe fibrös verändert wird undstärker vernarbt, wird jede Bewegung an der Haut aufdas Nervengefäßbündel übertragen, das jetzt nicht mehrdurch das Retinaculum flexorum und die tiefe Faszie ge-schützt ist. Es ist daher notwendig, in diesen Fällen neu-es Gewebe heranzuschaffen und vor allem eine Integu-menterweiterung zu erreichen. Dies kann dadurch ge-schehen, dass die Inzision zur Darstellung des N. tibialisund seiner Verzweigung am Unterschenkel beginnendan der Dorsomedialseite des Sprunggelenkes zum Fuß-rücken und von dort zum Fußgewölbe geführt wird. Eswird ein Hautlappen von dorsal her gehoben, und manerhält sehr gut den Zugang zum Tarsalkanal und kanndort alle notwendigen Maßnahmen treffen. Anschlie-ßend deckt die Haut den Tarsalkanal vollständig. Ein pri-

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märer Wundverschluss ist grundsätzlich möglich. Wennman aber auf den primären Wundverschluss verzichtet,und den dadurch entstandenen Defekt mit einem Spalt-hauttransplantat deckt, hat man eine Integumenterwei-terung um 2 bis 3 cm erreicht. Diese Vorgangsweise hatsich so bewährt, dass sie jetzt auch bei unkompliziertenFällen zur Behandlung von Tarsaltunnelsyndromenverwendet wird.

5. Der Nerv ist selbst verändert. Die Veränderungen in ei-nem irritierten Nerv bestehen im wesentlichen aus einerFibrose, die, wie schon bei den posttraumatischen Ver-änderungen geschildert, das epifaszikuläre Epineuriumaber auch das interfaszikuläre Epineurium betreffenkann.

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