4. Kooperation und Fairness - Universität Heidelberg Psycholog Grundlagen... · NoEx: Kein Beitrag...

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Kooperation u. Fairness 4. Kooperation und Fairness Vorlesung an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg WS 2007/2008 Prof. Dr. Lars P. Feld Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, ZEW Mannheim, Universität St. Gallen (SIAW-HSG), CREMA Basel und CESifo München

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Kooperation u. Fairness

4. Kooperation und Fairness

Vorlesung an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

WS 2007/2008

Prof. Dr. Lars P. FeldRuprecht-Karls-Universität Heidelberg,

ZEW Mannheim, Universität St. Gallen (SIAW-HSG), CREMA Basel und CESifo München

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Kooperation und Fairness

• Trittbrettfahrerverhalten• ‚Erzwungene‘ Kooperation• Fairness contra Eigennutz• Prozedurale Gerechtigkeit• Kleine Gruppe und große Gemeinschaft: Handeln

in zwei Welten• Die Gemeinschaft als Regelmechanismus• Kleinkostensituationen und moralisches Handeln• Anwendungsfall Steuerhinterziehung• Anwendungsfall Vertragsrecht

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Literatur• E. Fehr und G. Schwarz, Psychologische

Grundlagen der Ökonomie, Neue Zürcher Zeitung, Zürich 2003.

• L. P. Feld und J.-R. Tyran (2002), Tax Evasion and Voting: An Experimental Analysis, Kyklos55, S. 197 – 222.

• A. Falk (2003), Homo oeconomicus versushomo reciprocans: Ansätze für eine neues wirtschaftspolitisches Leitbild?, Perspektiven der Wirtschaftspolitik 4, S. 141 - 172.

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Trittbrettfahrerverhalten I

• Grundproblem bei der Vorhersage kooperativen Verhaltens

• Theorie öffentlicher Güter– Nicht-Rivalität im Konsum– Nicht-Ausschließbarkeit– Marktversagen aufgrund unkooperativen

individuellen Verhaltens

• Theorie externer Effekte– Beispiel: Umweltverschmutzung

• Wettbewerbstheorie– Beispiel: Kollusion und Kartell

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Bonnie

Gestehen Nicht-Gestehen

Gestehen 10 Jahre fürbeide

12 Jahre für BFreispruch für C

Clyde

Nicht-Gestehen Freispruch für B12 Jahre für C

2 Jahre für beide

Tabelle 1: Das Gefangenendilemma nach Luce undRaiffa (1957, S. 94ff.)

Trittbrettfahrerverhalten II

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Individuum 1

Strategie A1 Strategie B1

Strategie A2 (-10/-10) (-12/0)Individuum 2

Strategie B2 (0/-12) (-2/-2)

Tabelle 2: Auszahlungsmatrix des Gefangenendilemmasnach Kirchgässner (2001, S. 52)

Trittbrettfahrerverhalten III

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Trittbrettfahrerverhalten IV

• Etwa 30 Prozent ohne Free-Riding• Faktoren für die Stärke des Trittbrettfahrens

– Technologie des öffentlichen Gutes– Eigentumsrechte: Coase-Theorem– Identifikation und Kommunikation– Gruppengröße– Selektion in bestimmte Typen von Akteuren

• Economists free ride, does anyone else?– Marwell und Ames (1981)– Frank, Gilovich und Regan (1993)– Selektion vs. Ausbildung

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Erzwungene Kooperation I

• Lösung des Trittbrettfahrerproblems– staatliche Bereitstellung öffentlicher Güter– Finanzierung über Zwangsabgaben– Durchsetzung der Zahlung von Zwangsabgaben

über Strafen

• Ökonomische Analyse des Rechts– Strafen und Kontrollen als pekuniäre Anreize– Je höher die erwartete Strafe, um so weniger

Kriminalität.

• Kooperation lässt sich erzwingen.

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Erzwungene Kooperation II

Ei = ci + gi

πi = ci + a Σjgj = (Ei – gi) + a Σjgj

mit : i = Subjekte,

Ei = finanzielle Erstausstattung,

iπ = Auszahlung,

ci = Beiträge zum Privatkonto (0 ≤ ci ≤ 20),

gi = Beiträge zum Gruppenkonto (0 ≤ gi ≤ 20),

a = individueller Grenzertrag der Beiträge auf das Gruppen-konto, a = 0.5,

s = Sanktion bei Trittbrettfahrerverhalten.

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Erzwungene Kooperation IIIKeine Strafe(NoEx und

NoEnd)

Milde Strafe(MildEx und

MildEnd)

Harte Strafe(SevereEx und

SevereEnd)Gruppengröße (n) 3 3 3Erstausstattung (Ei) 20 Punkte 20 Punkte 20 PunkteGrenzertrag des privaten Gutes 1 Punkt 1 Punkt 1 PunktGrenzertrag des öffentlichen Gutes 0.5 Punkte 0.5 Punkte 0.5 Punktei’s Strafe für Trittbrettfahrerver-halten (gi < Ei)

0 Punkte 4 Punkte 14 Punkte

i’s Gleichgewichtsbeitrag gi 0 Punkte 0 Punkte 20 Punktei’s Auszahlung im Gleichgewichtπi

20 Punkte 16 Punkte inMildEx

20 Punkte inMildEnd

30 Punkte

Tabelle 3:Übersicht über Parameter und theoretische Gleich-gewichte auf der Beitragsstufe

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Erzwungene Kooperation IV

NoEx: Kein Beitrag zum öffentlichen Gut im Nash-Gleichgewicht

πi = Ei – gi + a Σjgj = Ei – gi + a gi + a G-i

mit: G-i = Beitrag der anderen Gruppenmitglieder zum öf-fentlichen Gut.

Da a = 0.5 < 1, folgt gi = 0.

SevereEx: Voller Beitrag zum öffentlichen Gut im Nash-Gleichgewicht

πi = Ei – gi + a Σjgj = Ei – gi + a gi + a G-i – ssevere

Da ssevere = 14 > Ei (1 – a) = 20 (1 – 0.5), folgt gi = Ei.

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Erzwungene Kooperation V

MildEx: Kein Beitrag zum öffentlichen Gut im Nash-Gleichgewicht

πi = Ei – gi + a Σjgj = Ei – gi + a gi + a G-i – smild

πi(full) = a Ei + a G-i,

πi(zero) = Ei + a G-i – smild

Voller Beitrag, iff πi(full) > πi(zero), i.e. wenn s > Ei (1 – a).

Da smild = 4 < Ei (1 – a) = 20 (1 – 0.5), folgt gi = 0.

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Erzwungene Kooperation VI

Milde Strafe(MILD)

Harte Strafe(SEVERE)

Gruppengröße (n) 3 3Beste Antwort des marginalentscheidenden Wählers

Nein Ja

Theoretisches Gleichge-wicht (Erste Stufe)

Ablehnung Annahme

Tabelle 4:Übersicht über Parameter und theoretische Gleich-gewichte auf der Abstimmungsstufe

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Erzwungene Kooperation VII

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

Keine Strafe Milde Strafe Harte Strafe

Beitrag zum öff. Gut (in %)

exogen

Abbildung 1: Beitragsraten bei exogenen Sanktionen (jeweils 42 Subjekte)

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Erzwungene Kooperation VIII

• Harte Strafen führen zu kooperativem Verhalten– Problem der Durchsetzung harter Strafen– Problem der Verdrängung moralischen

Verhaltens

• Typen von Strafen– endogene soziale Norm: Reziprozität– Prozedurale Fairness – Signalwirkung milder Strafen

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Fairness kontra Eigennutz I

• Reziprozität– Wie Du mir so ich Dir– Kant‘scher Imperativ: Was du nicht willst, dass man dir tu,

das füg auch keinem andern zu.– Goldene Regel– Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich

wollen kannst, dass sie allgemeines Gesetz werde.– Kooperation wird mit Kooperation beantwortet.– Tit-for-Tat: Axelrod (1984).– Rabin (1993): Sei nett zu denen, von denen Du nette

Behandlung erwartest.

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Fairness kontra Eigennutz II

• Reziprozität– Niemand will der Dumme sein.– Mehrheit von Individuen im Experiment belohnt faires und

bestraft unfaires Verhalten, selbst wenn dies mit Kosten verbunden ist.

– Die Fairness-Einschätzung hängt von den individuellen Intentionen ab: Wenn ein Individuum nichts für unfaires Verhalten kann, erfolgt keine Bestrafung.

– Reziprozität als bedingt kooperatives Verhalten.– Disziplinierung eigennütziger Individuen durch informelle

Strafen.

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Fairness kontra Eigennutz III

• Pro-Social Behavior– Indirekte Reziprozität: Wenn Individuen erwarten,

dass andere kooperieren, kooperieren sie ebenfalls.– Institutionelles Framing spielt eine Rolle.– Kulturelle Faktoren: Ockenfels und Weimann (1999)

• ostdeutsche Probanten kooperieren im Experiment signifikant weniger als westdeutsche Probanten.

– Kampf der Geschlechter: Nachgeben in der Hoffnung, dass man selbst einmal an der Reihe ist.

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Fairness kontra Eigennutz IV

Frau

Fußball Theater

Fußball (2/1) (-1/-1)Mann

Theater (-5/-5) (1/2)

Tabelle 5: Auszahlungsmatrix für den Kampf der Gesch-lechter nach Kirchgässner (2001, S. 54)

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Fairness kontra Eigennutz V

• Soziale Normen– Die Norm der ‚Gleichheit‘

• Aristoteles‘ Nikomachische Ethik: Gleich Gestellte sollen gleich behandelt werden, ungleich Gestellte ungleich‘.

– Die bedingte Norm der Gleichheit• Absolute Vorstellungen von Gleichheit werden mittels

verfügbarer Differenzierungskriterien spezifiziert.• Jeder bekommt so viel, wie ihm gemäß einem Merkmal Z

zusteht (Bohnet, 1997).• Psychologen/Soziologen: Intrinsische Motivation.• Ökonomen: Institutionelle Rahmenbedingungen.

– Befolgung von Normen und kognitive Dissonanz

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Fairness kontra Eigennutz VI

• Kooperation erster Ordnung– Begründungszwang bei Identifikation und Defektion– Kommunikation, Identifikation und soziale Interaktion als

Signal für die Existenz eines Gewissens (Frank, 1987).– Soziale Sanktionen als selektive Anreize.– Soziale Einbettung von Individuen in einer

Referenzgruppe.– Befriedigung der eigenen Nachfrage nach Identifikation

mit einem (religiösen, ethnischen usw.) Kollektiv (Sen, Rational Fools, 1979).

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Prozedurale Gerechtigkeit I

• Fairness und Prozeduren– Fairness-Einschätzung sozialer Ergebnisse durch die

Individuen hängt davon ab, ob diese durch einen ‚fairen‘ Entscheidungsprozess zustandekommen.

– Bsp. Arbeitsbeziehung und firmeninterne Entscheidung:

• Unparteilichkeit der Entscheidung• Mitarbeiterbeteiligung• Fakten vs. Persönliche Meinungen• Wird Arbeitnehmern Respekt entgegengebracht?• Berücksichtigung der persönlichen Situation der Arbeitnehmer.

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Prozedurale Gerechtigkeit II

• Hierarchie kontra Beteiligung?• Prozedurale Fairness und politischer Prozess

– Politische Entscheidungen erhalten eine höhere Akzeptanz, wenn der sie hervorbringende politische Prozess als fair empfunden wird.

– Bsp.: Internationale Geheimabsprachen– Bsp.: Einfluss von Geheimdiensten– Bsp.: Kompromissfindung hinter verschlossenen Türen

im Vermittlungsausschuss des Bundesrates– Bsp. Direkte Demokratie.

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Prozedurale Gerechtigkeit III

• Bedeutsamkeit prozeduraler Fairness für das Rechtssystem– Kooperatives Verhalten steigt, wenn milde Sanktionen

durch ein faires Entscheidungsverfahren zustandekommen.

– Milde Sanktionen genügen vielfach, obwohl kein Nash-Gleichgewicht.

– Soziale Ersparnisse, weil umfassende Kontrollen überflüssig werden.

– Bsp.: Steuerhinterziehungsexperiment (Feld und Tyran, 2002).

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Prozedurale Gerechtigkeit IV• Ökonomische Analyse des Rechts (Becker, 1968)

– Keine Erklärung, warum Individuen bereits bei milden Strafen kooperieren.

• Theorie des ‚expressiven‘ Rechts (Cooter, Sunstein, Posner):– Milde Strafen aktivieren soziale Normen und setzen

Anreize, sich moralisch zu verhalten.– Normen müssen dem Menschen bewusst sein, damit er

sich daran hält.– Ein Gesetz drückt auch bei milden Strafen aus, dass man

ein bestimmtes Verhalten unterlassen sollte, selbst wenn man bereit ist, eine Sanktion hinzunehmen.

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Prozedurale Gerechtigkeit V

• Strafen und prozedurale Gerechtigkeit– Konditionale Kooperation tritt auf, wenn Individuen

beobachten, dass sich andere kooperativ verhalten.– Unbeobachtbares Verhalten anderer: Möglichkeit, sich im

Gesetzgebungsprozess direkt zu beteiligen, kann eine Form glaubhafter Zusicherung sein.

– Wenn angenommen wird, dass diejenigen, die in einem Referendum für ein Gesetz stimmen, sich daran halten, erhöht die Annahme eines Gesetzes in einem Referendum die Kooperationsbereitschaft der anderen.

– Milde Sanktionen sind jedoch erheblich wirkungsvoller, wenn sie endogen in einem Referendum akzeptiert werden.

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Prozedurale Gerechtigkeit VI

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

Keine Strafe Milde Strafe Harte Strafe

Beitrag zum öff. Gut (in %)

endogen 45

36

39

Abbildung 2: Beitragsraten bei endogenen Sanktionen(Anzahl der Subjekte oberhalb der Balken)

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Prozedurale Gerechtigkeit VII

Tabelle 6: Beitragsraten der Befürworter und Gegnerder milden Sanktion

Befürworter Gegner

AnnahmeA

62%B

68%

AblehnungC

17%D

23%

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Prozedurale Gerechtigkeit VIII

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

0 1 2Anzahl Ja-Stimmen im Rest der Wahlbevölkerung

Erwartete Beteiligung anderer (in % der gesamten Bet.)

Harte Strafen Milde Strafen

1120

18 24

31 16

Abbildung 3: Unterstützung für ein Gesetz durch den Rest derWahlbevölkerung und erwartete Beteiligung anderer [E(G-i)

in % der gesamten Beteiligung, je 60 Subjekte]

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Prozedurale Gerechtigkeit IX• Ergebnis E1:

– Exogene milde Sanktionen erhöhen die Effizienz nicht.– Exogene harte Sanktionen erhöhen die Effizienz

erheblich.

• Ergebnis E2:– Subjekte akzeptieren milde Sanktionen in der

Mehrzahl der Fälle. – Die Effizienz ist bei endogenen milden Sanktionen

höher als ohne Sanktionen.

• Ergebnis E3:– Effizienz ist bei endogenen milden Sanktionen höher

als bei exogenen milden Sanktionen.

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Prozedurale Gerechtigkeit X• Ergebnis E4:

– Subjekte erwarten, dass andere Individuen durch ihre Wahlentscheidung ein Verhalten zusichern. Daher erwarten sie eine höhere Einhaltung des Rechts auch bei milden Strafen, wenn viele ihre Unterstützung für ein Gesetz durch die Abstimmung ausdrücken.

• Ergebnis E5:– Subjekte verhalten sich konditional kooperativ. Sie

halten sich auch bei milden Strafen an Gesetze, wenn sie erwarten, dass viele andere dies ebenfalls tun.

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Kleine Gruppe und große Gemeinschaft I

• Anonyme Märkte– Subjekte verhalten sich bei klar definierten

Eigentumsrechten in der Anonymität der Märkte entsprechend der Annahmen des ökonomischen Verhaltensmodells.

• Kleine Gruppen– Häufiges kooperatives Verhalten der Subjekte,

insbesondere wenn Identifikation oder Kommunikation möglich ist.

– Wirkung der Reziprozität

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Kleine Gruppe und große Gemeinschaft II

• Große Gruppen– Kooperatives Verhalten ist um so weniger

koordinierbar und durch soziale Normen aktivierbar, je größer die Gruppe.

– Die Rolle von Identifikation und Kommunikation.– Die Rolle von Reziprozität.– Unpersönlicher vs. Persönlicher Tausch– Austauschbarkeit der zwei Welten?

• Einführung sozialer Normen in anonyme Märkte schadet.

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Die Gemeinschaft als Regelmechanismus I

• Die anfängliche individuelle Kooperationsbereitschaft ist essentiell für das Funktionieren einer Volkswirt-schaft, da Verträge andernfalls durch das Zusammen-spiel von rechtlichen Instrumenten durchgesetzt werden müssen (Gerichtsurteile, Strafen, Kontrollen).– Hohe soziale Kosten.

• Individuelles ‚Sozialkapital‘: Sozialkompetenz.• Aggregiertes Sozialkapital: Ist individuelle Sozialkom-

petenz mit positiven Nettoexternalitäten verbunden?

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Die Gemeinschaft als Regelmechanismus II

• James Coleman (1988): Sozialkapital ist die Fähigkeit von Leuten, für gemeinsame Zwecke in Gruppen und Organisationen zusammenzuarbeiten.

• Zahlreiche Vorläufer v.a. aus der Soziologie, u.a. Weber (‚Kultur‘, ‚protestantische Ethik‘).

• Begriffsvielfalt in Anthropologie (‚Kultur‘), Wirtschafts-wissenschaften (‚goodwill‘, ‚credibility‘), Spieltheorie (Kooperation gegen Nash), Politologie, Psychologie usw.

• Sozialkapital als ‚Kapital‘: Zusammenfassung individuel-ler Kooperationsleistungen im Aggregat (Struktur individuellen Sozialvermögens, Paldam, 2000, S. 631).

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Die Gemeinschaft als Regelmechanismus III

• Vertrauen als Kernbestandteil des Sozialkapitals: Putnam (1993, 2000), Fukuyama (1995), Paldam (2000).

• Drei Gründe für Kooperation (Paldam, 2000, S. 633):– Gruppenmitglieder kooperieren von sich aus: Vertrauen,

Pflichtgefühl, moralische oder religiöse Gründe, allgemeine (Verhaltens-)Normen.

– Gruppenmitglieder kooperieren aufgrund des sozialen Drucks in der Gruppe.

– Ein dritte Partei ausserhalb der Gruppe (Gerichte, ‚Der Staat‘) setzt kooperatives Verhalten durch.

• Sozialkapital schliesst Gründe I und II ein.

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Die Gemeinschaft als Regelmechanismus IV

• Putnam (2002): Sozialkapital beschreibt soziale Netz-werke, in denen Reziprozitätsnormen gültig sind.

• Aber: Pro-soziales Verhalten, das über (die Erwartung von) Reziprozität hinausgeht (Frey und Meier, 2002).– Individuen verhalten sich kooperativ aus echtem Altruismus.

• Betonung der potentiell negativen Konsequenzen von Netzwerken: Mafia, Hells Angels usw.– ‚Bowling Alone‘: „The Oklahoma bombers met in a bowling

place. We would have liked them to bowl alone.“

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Die Gemeinschaft als Regelmechanismus V

• Die Kapitalidee (Paldam und Svendsen, 2000, S. 345):– Konnotation: Sozialkapital als Variable, welche die gesamtwirt-

schaftliche Produktion steigert.– Physisches Kapital, Humankapital und [...] Sozialkapital (soziale

Komponente des Humankapitals?).– Sozialkapital (wie jedes Kapital) als Bestandsgröße,

• die langfristig endogen, kurzfristig aber weitgehend exogen ist;• die zerstört werden kann;• die aufgrund technologischen Fortschritts redundant sein kann.

– Schwachstelle der Analogie in der Verbindung mit Stromgrößen• Wie Sozialkapital produziert wird, ist unklar.

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Die Gemeinschaft als Regelmechanismus VI: Messung

• Sozialkapital enthält mehr als bislang gemessen wird, etwa als Demokratie, ‚good governance‘ usw.

• Drei Messkonzepte:• ‚Putnams Instrument‘ nach Paldam (2000):

– Dichte freiwilliger Organisationen: In wie vielen freiwilligen Organisationen ist ein befragtes Individuum Mitglied?

– Doppelte Buchführung als Kontrolle: Befragung von Individuen und Organisationen.

– Häufigkeit des Kontakts.– Gewichtung der verschiedenen Gruppen für ein Gesamtmaß.

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Die Gemeinschaft als Regelmechanismus VII:Messung

• Direkte Befragungsmethode (WVS, Inglehart):– ‚Glauben Sie ganz allgemein, dass man den meisten Leuten trauen

kann oder kann man bei anderen Menschen nicht vorsichtig genug sein?‘

– ‚Wie viele Ihrer Freunde leihen Ihnen Ihrer Einschätzung nach Geld?‘ vs. ‚Wie vielen Ihrer Freunde würden Sie Geld leihen?‘

– Vertrauen gegenüber fremden vs. bekannten Menschen.– Aggregation individuellen Sozialkapitals auf solches in Gruppen.

• Experimente:– Vielzahl von Möglichkeiten zur Analyse der Gründe für

Kooperation (Fehr und Gächter, 2000).– Glaeser et al. (2000): Survey, Trust Game, Envelope Drop.

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Die Gemeinschaft als Regelmechanismus VIII: Daten

• Putnam (2000): Auf Basis von GSS-Daten lässt sich ein genereller Rückgang des Sozialkapitals, gemessen durch die Mitgliedschaft in Organisationen für die USA, feststellen.

• Anstieg von 1900 bis in die sechziger Jahre mit Ausnahme der Weltwirtschaftskrise.

• Stetiger Rückgang seit den Sechzigern bis heute auf Niveaus zur Zeit der Weltwirtschaftskrise.

• Nur Organisationen, keine individualisierten Kontakte, wie etwa Gasthausbesuche oder Kontakte am Arbeitsplatz.

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Die Gemeinschaft als Regelmechanismus IX: Daten

• Auswahl aus der Fülle von Beispielen:– Wahlbeteiligung bei Präsidentschaftswahlen 1960 62.8% und 1996

48.9% trotz allen Erleichterungen bei der ‚registration‘.– Rückgang der Bürgerbeteiligung in Gruppen (National chapter-

based organisations) auf das Niveau in den 1930ern.– Kirchenbesuche (in % der Erwachsenen) in 1999 auf dem Niveau

von 1940.– Vergleichbare Rückgänge bei Mitgliedschaften in Gewerkschaften,

Arbeitgeberorganisationen, sonstigen Berufsvereinigungen.– Private Kontakte (‚entertainment at home‘): 1975 14 pro Jahr,

1999 8 pro Jahr.

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Die Gemeinschaft als Regelmechanismus X: Daten

• Diese Trends weist Putnam auch für andere Freizeitaktivi-täten (Ausnahme Golf), gemeinsame Abendessen mit Freunden oder der Familie aus.

• Die Amerikaner sind offenbar immer stärker isoliert.• Alternative Daten von Costa und Kahn (2001) relativieren

dieses Bild etwas: Rückgang, aber weniger stark.• Vergleichbarer Trend in WVS-Vertrauensmaßen.• In Europa ist dieser Trend nicht ganz beobachtbar (insbe-

sondere bei Freizeitaktivitäten nicht), aber wird erwartet:– Putnam 2002: „Tony Blair told me that this is their future.“

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Die Gemeinschaft als Regelmechanismus XI: Daten

• Martin Paldam betreut ein vergleichendes Forschungspro-jekt für Europa; IMAD für Slowenien.

• Allgemeines Vertrauen in Dänemark doppelt so hoch wie in Russland.

• Vertrauen in staatliche Organisationen in Russland höchstens ein Fünftel desjenigen in Dänemark.

• Schweizer Studie mit einem eigenen Maß der Kontakt-häufigkeit von Freitag (2000) ist nicht vergleichbar.

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Die Gemeinschaft als Regelmechanismus XII: Bestimmungsfaktoren

• Experimente von Glaeser et al. (2000):– Vertrauen wird nicht durch demographische Merkmale oder eigene

Einschätzung, sondern durch früheres Verhalten erklärt.– Vertrauenswürdigkeit durch eigene Vertrauenseinschätzung

erklärt.– Soziale Bindungen erklären Vertrauenswürdigkeit aber nicht

Vertrauen.– Nationale und rassische Merkmale erklären gegenseitigen Betrug.– Finanzieller Erfolg im Trust Game lässt sich durch individuelle

Sozialkompetenz erklären.

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Die Gemeinschaft als Regelmechanismus XIII: Bestimmungsfaktoren

• Korrelationen von Putnam (Abh.: Putnams Instrument):– Negativ:

• Anstieg der Erwerbsbeteiligung von Frauen (auch Costa und Kahn).• Fernsehen.• Berufs- und Einkaufspendeln: 10‘ mehr Pendeln reduziert die sozialen

Aktivitäten um 20‘.– Positiv:

• Alter, aber: Kohorteneffekt.• Ausbildung (Helliwell und Putnam, 1999).

• Di Pasquale und Glaeser (1999) (WVS): Hauseigentümer.

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Die Gemeinschaft als Regelmechanismus XIV: Bestimmungsfaktoren

• Empirische Resultate von Alesina und Ferrara (2000) (gl. Abh.), bestätigt durch Costa und Kahn (2001):– Negativ:

• Einkommensungleichheit.• Ethnische Fragmentierung (nicht robust).

• Fallstudien von Paldam: Diktaturen zerstören Sozialkapital• Ein Teil der Faktoren begründbar in ‚Theorie des

Sozialkapitals‘ von Glaeser, Laibson, Sacerdote (2000):– Aber: Investition in Sozialkapital ist nicht sehr gut begründet.

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Die Gemeinschaft als Regelmechanismus XV: Auswirkungen

• Hypothesen bei höherem Sozialkapital:– Positive und negative Externalitäten von Sozialkapital.– Weniger schriftliche Verträge.– Weniger Durchsetzung von Verträgen durch dritte

Parteien.– Höhere Innovation.– Besserer Schutz von Verfügungsrechten.– Höhere Investitionen.– Höhere Produktivität.– Höheres Wirtschaftswachstum.

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Die Gemeinschaft als Regelmechanismus XVI: Auswirkungen

• Ergebnisse:– Putnam (2000): Rückgang des Sozialkapitals in den USA ist mit

einem massiven Anstieg der Anwaltsaktivitäten verbunden.– Coleman (1988): Rückgang des Sozialkapitals korreliert mit dem

Anstieg an Schulabbrüchen in den USA.– Knack und Keefer (1997): Höheres Vertrauen (WVS) führt zu hö-

herem Wirtschaftswachstum und privaten Investitionen (Länder).• Putnams Instrument liefert insignifikante Ergebnisse: Olson (1982)?

– La Porta et al. (1997) für Länder, Putnam (1993) für Italien: Höheres Sozialkapital führt alles in allem zu einem effizienteren öffentlichen Sektor, d.h. niedrigere Korruption, höhere büro-kratische und richterliche Effizienz usw. (ceteris paribus???).

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Die Gemeinschaft als Regelmechanismus XVI: Auswirkungen

• Ergebnisse:– Freitag (2000): Höheres Sozialkapital führt zu geringerer

Arbeitslosigkeit in der Schweiz (Kantone) (ceteris paribus ???).– Uphoff (1999): Höhere Effizienz von Bewässerungssystemen in Sri

Lanka.– Hjøllund, Paldam und Svendsen (2001): Höherer Individualein-

kommen in Russland und Dänemark, quantitativ etwa die Hälfte des Ausbildungseffekts.

– Vergleichbarer Effekt für Tansania in Narayan und Pritchett (1999).– Statistisch ‚sauberste‘ Studien aus der Medizin: Soziale Isolation hat

biochemische Effekte (Herzinfarktgefahr) und führt zu psychischen Erkrankungen (Depressionen).

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Die Gemeinschaft als Regelmechanismus XVII: Politikempfehlungen

• Zu früh für Politikempfehlungen:– Eine Reihe von Problemen bei der Messung.– Zu wenige international vergleichende Studien.

• Sozialkapital als Interaktion von Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit: Rolle von Reziprozität?

• Beeinflussung durch individuelle Sozialkompetenz, aber abhängig von Summe pos./neg. Externalitäten.

• Manche empirische Ergebnisse nicht überbewerten:– Homogenität in Gruppen (Nationalität, Rasse, Einkommen). – Kausalität?– Frauenerwerbstätigkeit: Keine Rückschritte bitte.

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Die Gemeinschaft als Regelmechanismus XVIII: Politikempfehlungen

• Diskussion um 9/11 im Vergleich zu Pearl Harbor:– Putnam (2002): „The spike of Pearl Harbor never disappeared.“– Zumindest: Ein ‚natürliches Experiment‘.

• Putnam weist darauf hin, dass sich Sozialkapital langsam aufbaut, auch wenn es schnell wieder zerstört wird.

• Schnelle Erfolge etwa durch Ausbildung (auch an den Hochschulen) können nicht erwartet werden.

• Besonders wichtig: Welche politischen Institutionen und welche Verfassungen begünstigen die Bildung von Sozialkapital?