48990634 Fraser Widerspenstige PraktikenMacht DiskursGeschlecht

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Gender Studies Vom Unterschied der Geschlechter

Die bekannte Philosophin Nancy Fräser untersucht eine Reihe von neue-ren Ansätzen kritischer Gesellschaftstheorie in Frankreich, Amerika und Deutschland und im Hinblick auf Theorie und Praxis der Frauenbewe-gung. Ziel ist die Ausarbeitung einer kritischen Theorie, die als Reflexion der politischen Praxis an praktischen Eingriffsmöglichkeiten orientiert ist. Eine solche Gesellschaftstheorie definiert Fräser als »Selbstverständigung der Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche«, wobei der Kampf gegen die Unterdrückung der Frau im Mittelpunkt steht. Getreu der Prämisse, daß sich eine kritische Gesellschaftstheorie von den traditionellen Denkgebäu-den durch ihre Orientierung an der politischen Praxis (und nicht durch ein epistemologisches Merkmal) unterscheidet, arbeitet Fraser sowohl die me-thodisch und inhaltlich relevanten Einsichten neuerer Gesellschaftstheo-rien als auch ihre systematischen Grenzen, blinden Flecke und Leerstellen heraus. Ihre Arbeiten situieren sich einerseits in der Nachfolge der sogenannten »Poststrukturalisten« und sind andererseits der Kritischen Theorie von Jürgen Habermas verbunden. Beide Positionen werden einer kritischen Lektüre hinsichtlich des Geschlechterverhältnisses unterzogen. Nancy Fräser ist Associate Professor für Philosophie, vergleichende Lite-ratur und Literaturtheorie und für Frauenforschung an der Northwestern University in Chicago.

Nancy Fraser Widerspenstige Praktiken

Macht, Diskurs, Geschlecht

Aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann

Suhrkamp

edition suhrkamp 1726 Neue Folge Band 726

Erste Auflage 1994 © 1989 by the Regents of the University of Minnesota

der deutschen Übersetzung Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main Deutsche Erstausgabe

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere des öffentlichen Vortrags

sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Satz: Hümmer, Waldbüttelbrunn Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden

Umschlagentwurf: Willy Fleckhaus Printed in Germany

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Inhalt

Danksagungen 7

Einleitung: Apologie für akademische Radikale 9

I. Macht, Norm und Vokabular der Auseinandersetzung

1. Foucault über die moderne Macht: Empirische Einsichten und normative Unklarheiten 31

2. Michel Foucault: Ein »Jungkonservativer« ? 56

3. Foucaults Sprache des Körpers: Eine posthumanistische politische Rhetorik? 86

II. Über das Politische und das Symbolische

4. Die französischen Derridarianer: Die Dekonstruktion politisieren oder das Politische dekonstruieren? 107

5. Solidarität oder Singularität? Richard Rorty zwischen Romantik und Technokratie 143

III. Die Geschlechterdimension und die Politik der

Bedürfnisinterpretation

6. Was ist kritisch an der Kritischen Theorie? Habermas und die Geschlechterfrage 173

7. Die Frauen, die Wohlfahrt und die Politik der Bedürfnisinterpretation 222

8. Der Kampf um die Bedürfnisse: Entwurf für eine sozialistisch-feministische kritische Theorie der politischen Kultur im Spätkapitalismus 249

Danksagungen

Während des langen und oft schwierigen Prozesses der Arbeit an diesem Buch habe ich von verschiedenen Seiten vielfältige Unter-stützung erfahren. Dafür möchte ich an dieser Stelle Dank sagen.

Von vier Institutionen erhielt ich großzügige finanzielle Unter-stützung. Die University of Georgia Research Foundation ermög-lichte 1982 eine Forschungsreise nach Frankreich. Ohne diese Unterstützung hätte ich Kapitel 4 dieses Buchs nicht schreiben können. Das Stanford Humanities Center gab mir 1984-1985 eine Mellon Fellowship und schenkte mir dadurch ein Jahr fern ab von den gewöhnlichen Sorgen des akademischen Lebens. Ian Watt und Mort Sosna schufen eine kongeniale und anregende Atmosphäre, in der meine interdisziplinären Interessen gedeihen konnten. Das Mary Ingraham Bunting Institute of Radcliffe College gewährte mir für 1987-1988 eine Bunting Fellowship und auf diese Weise zusätzliche, wertvolle Zeit und Gelegenheit zum Denken und Schreiben. Es freut mich besonders, Ann Bookman und Elizabeth McKinsey für ihre Arbeit zur Aufrechterhaltung dieser einzig-artigen Institution, eines Forschungs- und Arbeitszentrums für Frauen, danken zu können. Die Northwestern University ge-währte mir während der beiden Stipendienjahre zusätzliche fi-nanzielle Unterstützung, ein Quartal bezahlten Urlaub 1983 und reduzierte zum Teil in schwierigen Arbeitsphasen meine Lehrver-pflichtungen. Ich bin dem ehemaligen Dean of Arts und Sciences Rudolph Weingartner und dem Associate Dean Robert Sekuler für diese Unterstützung dankbar.

In jeder dieser Institutionen war ich auf das berufliche Können und das persönliche Entgegenkommen der Sekretariatsmitarbeite-rinnen angewiesen. Ich bedanke mich ausdrücklich bei Lucile Epperson, Dee Marquez, Marina Rosiene und Audrey Thiel, mit deren Hilfe den Gedankenfetzen Gestalt verliehen wurde.

Außer auf Institutionen war ich auch auf die Unterstützung informeller Netze und Gemeinschaften angewiesen. Ich ver-brachte viele Stunden anregender Diskussionen auf Zusammen-künften der Society for Women in Philosophy (besonders der SWIP des Mittelwestens), der Radical Philosophy Association und der sozialtheoretischen Arbeitsgruppe des Center for Psychosocial

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Studies. Ich lernte auch sehr viel in den Diskussionsgruppen zur Frauenforschung an der Northwestern University.

Viel schwieriger ist es aber, die vielen einzelnen Kollegen zu nennen, deren allgemeines Interesse, anregende Gespräche und konkrete Hinweise eine große Rolle für dieses Buch gespielt ha-ben. Wo es möglich war, habe ich versucht, intellektuelle Anleihen in den Fußnoten jedes Kapitels kenntlich zu machen. Einige Per-sonen verdienen gleichwohl besondere Erwähnung.

Sandra Bartky, Jerry Graff, Tom McCarthy, Linda Nicholson und Judy Wittner sind lange Jahre hindurch intellektuelle Wegge-fährten und gute Freunde gewesen. Wie an anderer Stelle war ich auch hier darauf angewiesen, daß sie mir bereitwillig meine hete-rodoxen Neigungen nachsahen und daß sie gewillt waren, die wildesten Auswüchse meiner Einbildungskraft einzudämmen.

In anderer Weise schulde ich den Kollegen Dank, deren an-haltende Ermutigung und deren Interesse an meiner Arbeit be-stärkend und inspirierend waren. An dieser Stelle möchte ich Jonathan Arac, Seyla Benhabib, Hubert L. Dreyfus, Jürgen Ha-bermas, David Hoy, Alison Jaggar, Martin Jay, Richard Rorty, Terry Winant und Iris Young danken.

Den anderen Freunden und Kollegen gebührt Dank für eine Unterstützung, die sich der Unterscheidung zwischen dem Intel-lektuellen und dem Persönlichen entzieht. In diesem Sinne muß ich Barbara Brenzel, Arlene Kaplan Daniels, Jean E. Friedman, Maria Herrera, Paul Mattick, Susan Reverby, Robert Roth, Anto-nia Soulez, Sue Weinberg und Karl Werckmeister hervorheben. Ein besonderes Wort des Dankes muß ich dafür sagen, daß es mir vergönnt war, die liebe und von mir sehr vermißte Barbara Rosen-blum zu kennen.

Schließlich gebührt mein Dank Terry Cochran von der Univer-sity of Minnesota Press. Er sah ein Buch, wo ich noch keines sehen konnte. Für die hervorragende redaktionelle Bearbeitung danke ich Mary Caraway. John Thompson von der Polity Press gilt meine Anerkennung für seine Unterstützung und seine Geduld.

Zuletzt will ich meinen Eltern Ed und Freida Shapiro danken, denen dieses Buch gewidmet ist. All die Jahre hatten sie in ihrem Heim und ihren Herzen stets Platz für eine manchmal eigenwillige und oft schwierige Tochter. Ihnen verdanke ich, was immer ich an politischer Leidenschaft und intellektueller Ernsthaftigkeit in die-ses Buch einfließen lassen konnte.

Einleitung Apologie für akademische Radikale

Es ist heutzutage üblich, politisches Engagement und akademi-sche Tätigkeit voneinander zu trennen. Die Neokonservativen meinen, es komme einem Verrat an professionellen Prinzipien gleich, Kritik zu üben, während man bei einer Bildungseinrich-tung beschäftigt ist. Auf der anderen Seite beharren unabhängige, linksgerichtete Intellektuelle darauf, daß Lehrer oder Professor zu werden die Imperative der Kritik zu verraten heiße. Und schließ-lich zweifeln viele politisch Aktive außerhalb der Universität am Engagement und der Verläßlichkeit der Akademiker.

Keine, die sich in den Vereinigten Staaten bemüht hat, politisch kritische Akademikerin zu sein, kann solche Einwände einfach abtun. Ungeachtet der von Mißtrauen erzeugten Übertreibungen weist jeder dieser Einwände auf einen Strang in dem Geflecht ech-ter Spannungen und Widersprüche hin, die unsere Situation aus-machen. Die Radikalen im Wissenschaftsbetrieb sind dem Druck konkurrierender und gegensätzlicher Erwartungen ausgesetzt. Wir haben tatsächlich mehrere unterschiedliche und miteinander unvereinbare Erwartungen verinnerlicht. Und wir erleben wirk-lich Identitätskonflikte, wenn wir versuchen, gleichzeitig auf ver-schiedenen Hochzeiten zu tanzen. Gleichwohl sollten wir nicht unverzüglich in den Chor derer einstimmen, die auf linksgerich-tete Professoren einprügeln. Ungeachtet der wirklichen Wider-sprüche unseres Lebens, ist die radikale Wissenschaftlerin nicht schon begrifflich ein Widerspruch.

Die hier zusammengefaßten Aufsätze wurden nicht ausdrück-lich in der Absicht geschrieben, diese These zu belegen. Sie vermit-teln vielmehr die verschiedensten politischen und gesellschafts-theoretischen Debatten der achtziger Jahre. Trotzdem kann diese Aufsatzsammlung durchaus als ein Beitrag zu den anhaltenden Auseinandersetzungen um die gesellschaftliche Rolle und politi-sche Funktion der Intellektuellen gelesen werden. Sie ist auch die Aufzeichnung des Versuches einer sozialistisch eingestellten Femi-nistin und früheren Aktivistin der Neuen Linken, eine politisch en-gagierte, kritische Intellektuelle innerhalb der Universität zu sein.

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Ich zitiere in einem Aufsatz die Marxsche Definition der Kritik als »die Selbstverständigung der Zeit über ihre Kämpfe und Wün-sche«. Diese Definition könnte dem Band als Motto voranstehen. Sie verknüpft drei Vorstellungen über das Verhältnis zwischen kri-tischer Theorie und politischer Praxis: Erstens bewertet sie histo-risch spezifische, krisenhaft auftretende Kämpfe als die Kräfte, die einer kritischen Theorie die Aufgabenstellung vorgeben. Zweitens bestimmt sie soziale Bewegungen als die Subjekte der Kritik. Und drittens schließt sie ein, daß politische Praxis letztlich die Feuer-probe der kritischen Theorie ist.

Dieser Nexus von Vorstellungen liefert dem vorliegenden Band gleichsam die existentiellen und politischen Grundlagen. Gleich-zeitig verleiht ihm die politische und intellektuelle Geschichte einer ganzen Generation eine unverwechselbare Physiognomie. Die Kämpfe und Wünsche unserer Zeit haben in den Bewegungen für soziale Gerechtigkeit Ausdruck gefunden, die von den Bewe-gungen für Bürgerrechte und für soziale Rechte, über den Antiim-perialismus bis zur Ökologiebewegung, zum Feminismus und zur Schwulen- und Lesbenbewegung reichen. Während die radikalen Impulse, die diese Bewegungen prägten, im Zuge ihrer Verbrei-tung abgeschwächt wurden, fanden zahlreiche Veteranen und Sympathisanten dieser Kämpfe ihren Weg an die Hochschulen. Diese Wissenschaftler arbeiten daran, das intellektuelle Erbe des amerikanischen Radikalismus, das in der McCarthy-Ära brutal unterdrückt wurde, wiederzuentdecken und weiterzuführen. Auf Grund dessen erleben wir trotz der abflauenden Massenaktivität und der Ausbreitung eines ungünstigen Zeitgeistes* die Entste-hung einer vitalen linken, akademischen Gegenkultur. Eine der Folgen davon ist eine wahre Explosion neuer theoretischer Para-digmen für die politische und kulturelle Kritik, die von den Varianten des westlichen Marxismus, über einen Foucaultschen Neuen Historismus und der Theorie der Basisdemokratie bis hin zum Dekonstruktivismus, Postmodernismus und den vielen Va-rianten feministischer Theorie reichen.

Die Aufsätze des vorliegenden Buches sind aus dieser besonde-ren Geschichte einer Generation erwachsen. Dementsprechend sind sie um zwei Schwerpunkte zentriert: Sie gehen zugleich auf politische Bedingungen und auf intellektuelle Entwicklungen ein.

* Hier und im Folgenden mit * gekennzeichnete Worte sind im Original deutsch [Anm. d. Übers.].

Welches Thema auch immer zur Diskussion stand, ich legte das Augenmerk jederzeit sowohl auf die theoretische Debatte als auch auf die tatsächliche oder mögliche politische Praxis. Mit anderen Worten: Ich habe versucht, die unterschiedlichen Standpunkte der Theoretikerin und der politisch Handelnden gleichzeitig im Blick zu behalten, statt das eine auf das andere zu reduzieren. Als Par-teigängerin und Teilnehmerin der feministischen Bewegung habe ich zum Beispiel darauf bestanden, neue theoretische Paradigmen zu vertreten, die den Erfordernissen der politischen Praxis Rech-nung tragen. Zugleich habe ich als kritische Sozialtheoretikerin versucht, die Lebensfähigkeit realisierter Alternativen im Licht der Ergebnisse theoretischer Reflexion zu beurteilen.

Diese doppelte Zielsetzung spiegelt sich in Charakter und Stil meiner Arbeiten wider. Die Aufsätze sind abstrakt und theore-tisch, legen aber den Akzent auf Dringlichkeit, die Engagement verrät. Einerseits schreibe ich als Sozialtheoretikerin, die als Phi-losophin geschult ist und die von neueren Entwicklungen in der Literaturtheorie, der feministischen Theorie und der Kulturfor-schung beeinflußt ist. Andererseits schreibe ich als demokratische Sozialistin und Feministin. Im allgemeinen habe ich versucht, das schwierige, aber nicht unmögliche Kunststück fertigzubringen, den Abstand zwischen einem akademischen Beruf und einer sozia-len Bewegung zu überbrücken. Infolgedessen sind selbst die uner-schrockensten theoretischen Teile Reaktionen auf Probleme, die in der politischen Praxis erzeugt wurden und auch nur durch sie lösbar sind. Selbst die scheinbar unpersönlichsten Aufsätze er wuchsen aus existentiellen Dilemmata und persönlich/politischen Konflikten.

Die ersten drei Kapitel - die Aufsätze zu Foucault - sind ein typisches Beispiel. Was mich an Foucault faszinierte, war die Be-trachtung des Komplexes »Macht/Wissen«. Dies war ein unwider-stehliches Thema für eine frisch Promovierte mit politischer Vergangenheit, die sich als »professionelle Philosophin« etablieren wollte. In der Tat las ich bei Foucault eine theoretische Reflexion meines eigenen gespaltenen Bewußtseins: Zum einen erfuhr ich eine neue Art der institutionellen Kritik am akademischen Be-trieb; zum anderen nahm ich eine Stimme und Haltung wahr, die eine alternative intellektuelle Praxis veranschaulichen konnte. Das war eine unwiderstehliche Verbindung für jemanden, der einst gegen die Kriegsforschung der »Neuen Mandarine« protestiert

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und versucht hatte, Arbeiter in Arbeitsgruppen über marxistische politische Ökonomie zu locken, nun aber Studenten benoten sollte und entweder publizierte oder untergehen würde.

Es waren die großen Arbeiten aus Foucaults mittlerer Schaffens-phase, die mich am meisten beeindruckten. Hier lag ein Ansatz zu einer »Politik der Wahrheit« vor, der einiges zu vertrauten theore-tischen und politischen Paradigmen beitrug und sie zugleich er-weiterte. Überwachen und Strafen zum Beispiel eröffnete neue Wege zum Verständnis dessen, was die marxistische Tradition als »die Bildung der professionellen Führungsklasse«, »die zuneh-mende gesellschaftliche Trennung von Hand- und Kopfarbeit« und »die Verbreitung des Taylorismus« gefaßt hatte. Indem Fou-cault solche Prozesse auch über die Grenzen der offiziellen Öko-nomie1 hinaus zurückverfolgte, revidierte er auch das, was die Weberianer und die Kritische Theorie als »gesellschaftliche Ratio-nalisierung« und »Bürokratisierung« verstanden.

Viele der großen Themen Foucaults kehren in den Aufsätzen dieses Bandes wieder. Immer wieder komme ich auf das Problem der Politik des Wissens zurück, insbesondere auf das Verhältnis der Intellektuellen und der Sachverständigen zu sozialen Bewegungen und zum Staat. Insofern verbindet das Problem der Beziehung des Fachwissens zur Institutionalisierung der »sozialen Dienste« die Texte über Foucault im ersten Teil des Buches mit jenen Texten über »die Politik der Bedürfnisinterpretation« im dritten.

Obwohl ich Foucaults thematischen Schwerpunkt aufgegriffen habe, hat mich seine eigene Standortbestimmung verwirrt. Die Aktivistin in mir fragte sich wiederholt nach den Quellen seines Engagements. Welche praktische Arbeit und welche politische Bindung hatte er? Auf der einen Seite scheint seine Darstellung des »kapillaren« Charakters der modernen Macht die möglichen Orte des politischen Kampfes zu vervielfachen und die Ausbreitung neuer sozialer Bewegungen aufzuwerten; dadurch unterstützt sie als Theorie die Kritik der Neuen Linken am Ökonomismus sowie eine Erweiterung dessen, was als politisch gilt. Auf der anderen Seite ist schwer zu sagen, was man von Foucaults Zurückhaltung in normativen und programmatischen Fragen, was von seiner Ab-neigung dagegen, zu überlegen, wie all diese unterschiedlichen Kämpfe koordiniert werden könnten und was für einen Wandel sie erreichen könnten, und schließlich, was von seiner viel diskutier-ten archäologischen »Kälte« zu halten ist.

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»die Bildung der professionellen Führungsklasse«, »die zunehmende gesellschaftliche Trennung von Hand- und Kopfarbeit« und »die Verbreitung des Taylorismus« gefaßt hatte.
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Auf der einen Seite scheint seine Darstellung des »kapillaren« Charakters der modernen Macht die möglichen Orte des politischen Kampfes zu vervielfachen und die Ausbreitung neuer sozialer Bewegungen aufzuwerten

Von diesen und ähnlichen Lücken in Foucaults Werk ratlos ge-macht, habe ich in den drei Aufsätzen des ersten Teils versucht, der normativen politischen Orientierung seiner Schriften nachzuspü-ren. Ich habe nach den Maßstäben für eine Kritik gesucht, nach dem Entwurf einer Alternative, nach einer Rhetorik des Wider-stands, die die Kämpfe und Wünsche gegenwärtiger sozialer Be-wegungen befördern könnten. Kurz, ich habe versucht, Foucaults Analyse des »disziplinierenden Macht/Wissens« vom Standpunkt der Erfordernisse politischer Praxis aus zu verstehen und zu beur-teilen.

Eine Reihe verwandter Fragestellungen verbindet die Aufsätze des zweiten Teils. Der Schwerpunkt wechselt hier vom »spezifi-schen Intellektuellen« zum »universellen Intellektuellen«, vom Sozialwissenschaftler zum Philosophen und zum universalen Kul-turkritiker. Folglich verschiebt sich das Problem von »Macht/ Wissen« auf die Konstruktion und Dekonstruktion elitärer Tradi-tionen; und die Politik des Wissens nimmt die Gestalt von Kämp-fen um die Grenze zwischen »dem Philosophischen« und »dem Politischen«, zwischen »Politik« und »Kultur«, zwischen »dem Öffentlichen« und »dem Privaten« an.

Im vierten Kapitel, Die französischen Derridarianer, werfe ich einen politisch-theoretischen Blick auf die Dekonstruktion. Der äußere Anlaß für diesen Essay war der Aufschwung dieser er-staunlich energischen, neuen Strömung der Literaturwissenschaft in den USA. Aufgrund meiner politischen Vergangenheit faszi-nierte mich das Bild des Intellektuellen als Dekonstrukteur, als akademischer Virtuose, dessen Rhetorik linksgerichtet ist, dessen Praxis aber an esoterischen Formalismus grenzt. Und einmal mehr wunderte ich mich über die Quellen dieser vitalen zeitgenössi-schen Kritik. Warum sahen die Dekonstruktivisten in der Kritik an der Metaphysik der Präsenz ein apolitische Handlung? Warum glaubten sie mit Hilfe der Auflösung binärer Gegensätze in den Texten der hohen Literatur zu sozialer Veränderung beizutragen? Wie konnten sie ihr Beharren auf der durchgehenden »Abgeschlos-senheit des Westens« mit ihrer Opposition gegen bestimmte histo-rische Ungleichheiten und Unterdrückungen vereinbaren?

Während eines Aufenthaltes in Paris suchte ich Antworten auf diese Fragen in den ausdrücklicheren und reflektierteren politi-schen Schriften einer Gruppe französischer, dekonstruktivisti-scher Philosophen. Es überraschte mich zu erfahren, daß ihrer

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dem Entwurf einer Alternative, nach einer Rhetorik des Widerstands, die die Kämpfe und Wünsche gegenwärtiger sozialer Bewegungen befördern könnten. Kurz, ich habe versucht, Foucaults Analyse des »disziplinierenden Macht/Wissens« vom Standpunkt der Erfordernisse politischer Praxis aus zu verstehen und zu beurteilen.
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dem Entwurf einer Alternative, nach einer Rhetorik des Widerstands, die die Kämpfe und Wünsche gegenwärtiger sozialer Bewegungen befördern könnten. Kurz, ich habe versucht, Foucaults Analyse des »disziplinierenden Macht/Wissens« vom Standpunkt der Erfordernisse politischer Praxis aus zu verstehen und zu beurteilen.
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das Bild des Intellektuellen als Dekonstrukteur, als akademischer Virtuose, dessen Rhetorik linksgerichtet ist, dessen Praxis aber an esoterischen Formalismus grenzt.
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Warum sahen die Dekonstruktivisten in der Kritik an der Metaphysik der Präsenz ein apolitische Handlung? Warum glaubten sie mit Hilfe der Auflösung binärer Gegensätze in den Texten der hohen Literatur zu sozialer Veränderung beizutragen?

Ansicht nach der kritische Intellektuelle eine auffallende Ähnlich-keit mit dem transzendentalen Philosophen aufweist. Einerseits zogen sie den Archäologen der Bedingungen der Möglichkeit des »Politischen« dem Teilnehmer an politischen Kämpfen vor. Ande-rerseits hofften sie, ein Ethos des politischen Engagements direkt aus ihrer Philosophie ableiten zu können, ohne den »Umweg« über empirische Soziologie oder normative politische Theorie ma-chen zu müssen. Im allgemeinen wollten sie »das Politische« unter Ausschluß der »Politik«, und ersparten sich so die Anstrengung, ihre theoretischen Reflexionen mit den Kämpfen und Wünschen der Zeit zu verbinden.

Das Kapitel Die französischen Derridarianer legt einige der Di-lemmata offen, die dieser »reinen« dekonstruktivistischen Weltan-schauung* innewohnen. Es spricht jedoch nicht gegen eine be-grenzte und gezieltere Verwendung der Dekonstruktion als einer Technik der Ideologiekritik* für politische Projekte wie den Femi-nismus. Dennoch scheint mir dieser Aufsatz im Gefolge der Ent-hüllungen über die politische Vergangenheit von Martin Heidegger und Paul de Man rechtzeitig neue Aktualität gewonnen zu haben. Das Problem »des Politischen« und »des Philosophischen« steht im Zentrum der Kontroversen über diese Autoren; auch in ihren Nachkriegsschriften findet man eine verächtliche Einstellung ge-genüber dem »bloß ontischen« Charakter von Politik, Geschichte und Gesellschaft. Selbstverständlich mit dem Unterschied, daß diese Haltung bei Heidegger und Paul de Man in der unbewältigten Vergangenheit ihrer Verwicklung in den Faschismus gründet.

Eine Antwort auf das verquere Verhältnis einiger europäischer Intellektueller zur Politik ist die Feier des nüchternen, reformisti-schen Ethos des amerikanischen Pragmatismus. Dieser Kurs, den Richard Rorty einschlägt, ist Thema des fünften Kapitels, Solida-rität oder Singularität? Rorty war für meine intellektuelle Ent-wicklung eine zentrale Figur, denn es war seine brillante imma-nente Kritik der analytischen Tradition in Der Spiegel der Natur: Eine Kritik der Philosophie, die in der amerikanischen Philosophie den Raum schuf, in dem sich die ehemaligen Neuen Linken dem europäischen Kontinent zuwenden konnten.

Wie mein Aufsatz zeigt, ist meine Reaktion auf Rortys späteres Werk zutiefst gespalten. Auf der einen Seite entspricht mein eige-ner Holismus, Historismus und Antiessentialismus seinem Prag-matismus. Ein eleganter formuliertes Mißtrauen gegenüber den

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Das Kapitel Die französischen Derridarianer legt einige der Dilemmata offen, die dieser »reinen« dekonstruktivistischen Weltanschauung* innewohnen.
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Dennoch scheint mir dieser Aufsatz im Gefolge der Enthüllungen über die politische Vergangenheit von Martin Heidegger und Paul de Man rechtzeitig neue Aktualität gewonnen zu haben. Das Problem »des Politischen« und »des Philosophischen« steht im Zentrum der Kontroversen über diese Autoren; auch in ihren Nachkriegsschriften findet man eine verächtliche Einstellung gegenüber dem »bloß ontischen« Charakter von Politik, Geschichte und Gesellschaft. Selbstverständlich mit dem Unterschied, daß diese Haltung bei Heidegger und Paul de Man in der unbewältigten Vergangenheit ihrer Verwicklung in den Faschismus gründet.
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Richard Rorty einschlägt, ist Thema des fünften Kapitels, Solidarität oder Singularität? Rorty war für meine intellektuelle Entwicklung eine zentrale Figur, denn es war seine brillante immanente Kritik der analytischen Tradition in Der Spiegel der Natur: Eine Kritik der Philosophie, die in der amerikanischen Philosophie den Raum schuf, in dem sich die ehemaligen Neuen Linken dem europäischen Kontinent zuwenden konnten.

universalistischen Prätentionen traditioneller Philosophie wird man kaum erwarten können, auch kein gründlicheres Beharren auf dem Vorrang der Praxis, auf dem kontingenten, geschichtlich bedingten Charakter von Subjektivitäten und Rationalitäten und auf der entscheidenden Bedeutung der Wahl des Vokabulars bei politischen Streitfragen. Dies sieht gewiß nach einem »benutzer-freundlichen« Ansatz aus, der offenbleibt für die potentiell umge-staltenden Stimmen und Bestrebungen der unterlegenen sozialen Gruppen. Von Rortys politischen Ansichten bin ich erheblich we-niger beeindruckt: von den wiederkehrenden, antimarxistischen Einzeilern, den selbstgefällig zelebrierten Bezugnahmen auf die Herrlichkeit der »reichen, nordatlantischen, bürgerlichen Demo-kratien« und von den bequemen Versicherungen, daß die radikale, metaphilosophische Kritik den gewöhnlichen Gang der Politik nicht bedrohe. Ich hege keinerlei Sympathie für eine Stimme, die dem »postmodernen bürgerlichen Liberalismus« ihre Loyalität bekundet, und bin auch dann nicht umzustimmen, wenn sie sich als Stimme der »Sozialdemokratie« vorstellt.

Bei einer derart gespaltenen Reaktion kann ich mich nur wun-dern: Was ist das für ein Verhältnis zwischen Rortys Philosophie und seiner Politik? Wie können solche kritischen, metaphiloso-phischen Ansichten mit solchen selbstgefälligen, politischen Hal-tungen zusammengehen? Gibt es irgendeine tiefe Verbindung zwischen Pragmatismus und »bürgerlichem Liberalismus«? Oder ist ihre Verknüpfung bei Rorty nur zufällig? Kann eine demokra-tisch-sozialistische Feministin Rortys Metaphilosophie akzeptie-ren, seine politischen Ansichten hingegen ablehnen? Oder wird sie, wenn sie sich das eine zu eigen macht, unweigerlich auch vom anderen in Beschlag genommen?

In Solidarität oder Singularität? unterziehe ich Richard Rortys Dichotomisierung »öffentlicher« und »privater« Intellektueller ei-ner genauen Prüfung. Ich argumentiere gegen eine kulturelle Ar-beitsteilung, die einerseits die theorielose Praxis liberaler Sozialar-beiter und Sozialingenieure und andererseits die unpolitische Theorie radikaler Ironiker und Ästheten zuläßt, die jedoch keinen Platz hat für die radikale politische Theorie kritischer Intellektuel-ler. In diesem Aufsatz versuche ich die Möglichkeit eines anderen Pragmatismus zu retten - eines demokratisch-sozialistisch-femi-nistischen Pragmatismus - mit einem anderen Verständnis des Verhältnisses von Theorie und Praxis.

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Gibt es irgendeine tiefe Verbindung zwischen Pragmatismus und »bürgerlichem Liberalismus«? Oder ist ihre Verknüpfung bei Rorty nur zufällig?

Einige Themen kehren in den Aufsätzen, über die ich soeben gesprochen habe, immer wieder. Eines davon ist das Beharren darauf, daß aus einer Erkenntnistheorie keine Politik zu gewinnen ist, selbst dann nicht, wenn diese Epistemologie eine radikale An-tiepistemologie ist wie Historismus, Pragmatismus oder die De-konstruktion. Im Gegenteil benötigt Politik eine Art kritischer Theoriebildung, die normative Argumentation und empirische, soziokulturelle Analyse zu einer »Zeitdiagnose« verbindet. Damit bekräftige ich eine klassische linke Sichtweise, wie sie sich bei Marx und der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule findet. Zugleich wende ich mich gegen die Tendenz bei Teilen der akade-mischen Linken, sich in einer Art zu engagieren, die nur als esoterische Form des Diskurses erscheinen kann, solange nicht die Verbindung zur Praxis durch eine soziopolitische Analyse ausge-arbeitet oder tatsächlich zustande gebracht wird.

Dies soll jedoch nicht eine traditionelle Definition »des Politi-schen« gutheißen. Ein zweites, eng mit dem ersten verbundenes Thema, das in diesen Aufsätzen ständig wiederkehrt, ist gerade die Erweiterung dieses Begriffs, so daß Bereiche, die üblicherweise als »kulturell«, »privat«, »ökonomisch«, »häuslich« und »persön-lich« betrachtet wurden, darin aufgenommen werden. Interessan-terweise ist gerade die Frage nach den Grenzen des Politischen eine politische Frage. Zudem liefert sie ein ausgezeichnetes Beispiel für den Prozeß, durch den praktische Erfordernisse Anlaß zu theoretischen Überlegungen geben. Diese politische Problematik wurde von den Neuen Linken, der feministischen, Schwulen- und Lesbenbewegung auf die Tagesordnung kritischer Theoriebildung gesetzt, Bewegungen, die dafür eintraten, bislang marginalisierten Auseinandersetzungen, wie die um Sexualität, Medizin, Erzie-hung und Hausarbeit, zu ihrem Recht zu verhelfen. In dieser Hinsicht folgen sie der Tradition der Arbeiterbewegung, die darum kämpfte, in »ökonomischen« Problemen »politische« zu erkennen.

Mein eigener Ansatz im vorliegenden Band besteht darin, die erweiterte Konzeption von Politik zu verteidigen. Darüber hinaus wollte ich konkreter als viele linke Akademiker bestimmen, in welcher Hinsicht Kulturkritik politisch ist. Ich habe eine quasi Gramscianische Sichtweise entwickelt, in der die Auseinanderset-zungen um kulturelle Bedeutungen und soziale Identitäten Kämpfe um kulturelle Hegemonie sind, das heißt um die Macht,

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soziale Bedürfnisse verbindlich zu definieren und Interpretatio-nen sozialer Verhältnisse zu legitimieren. Solche Auseinanderset-zungen - trotz gegenteiliger Auffassung einiger linker Kritiker der akademischen Linken - können sich an Universitäten ebenso ent-wickeln wie in der außerakademischen Öffentlichkeit. In beiden Fällen rührt ihre politische Schärfe von der Bindung an oppositio-nelle Bewegungen her, deren Bedürfnisse und Identitäten, deren Kämpfe und Wünsche auf dem Spiel stehen.

Die Frage nach den Berührungspunkten zwischen linken Aka-demikern und sozialen Bewegungen ist ein anderes zentrales Thema dieses Buchs. Mit ihr beschäftigen sich vor allem die Kapi-tel des dritten Teils. Dort stelle ich mein eigenes Engagement als Feministin in den Mittelpunkt. In meinem Fall verdanken die Kämpfe und Wünsche rund um die Geschlechterproblematik sich den schmerzlichen Erfahrungen des Sexismus innerhalb der Neuen Linken, an der Universität, eigentlich in allen Bereichen des kulturellen und sozialen Lebens. Aber sie sind auch von gegenläufigen, bestärkenden Erfahrungen geprägt, Erfahrungen der Bewußtmachung, der Schwesterlichkeit und der Mitwirkung bei der Entwicklung feministischer Theorie. Die Texte dieses Teils sind von persönlichem Einsatz geprägt. Sie spiegeln das Zusam-mentreffen der individuellen Bedürfnisse einer radikalen Aka-demikerin mit den historischen Bedürfnissen einer politischen Bewegung wider. Daher sind diese Aufsätze Übungen in situa-tionsbezogener Theoriebildung. Hinzu kommt, daß sie Einmi-schungen sind. Sie sollen den Mythos zerstören, der von kritischen Intellektuellen behauptet, sie seien im Hinblick auf die Schaltstel-len sozialer Macht einerseits und auf die dieser Macht widerstrei-tenden Bewegungen andererseits ähnlich situiert.

Das sechste Kapitel, Was ist kritisch an der Kritischen Theorie ist dafür ein typisches Beispiel. Ich untersuche dort die Sozialtheo-rie von Jürgen Habermas in feministischer Hinsicht. Diese Theo-rie zog aus zwei Gründen meine Aufmerksamkeit auf sich. Erstens steht Habermas als Erbe der Kritischen Theorie in der Tradition der Frankfurter Schule. Deshalb hatte seine Arbeit prima facie Anspruch auf die Beachtung durch eine ehemalige Neue Linke, die einst vom Denken Herbert Marcuses unmittelbar angeregt wor-den war. Zweitens ist seine Gesellschaftstheorie der anspruchs-vollste neuere Versuch, für die kapitalistischen Gesellschaften des späten 20. Jahrhunderts das zu leisten, was Das Kapital für die

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Das sechste Kapitel, Was ist kritisch an der Kritischen Theorie ist dafür ein typisches Beispiel. Ich untersuche dort die Sozialtheorie von Jürgen Habermas in feministischer Hinsicht

Gesellschaften des späten 19. Jahrhunderts leistete. Sie beabsich-tigt, die strukturelle Dynamik, die Krisentendenzen und die Kon-fliktformen zu identifizieren, die für diese Gesellschaften kenn-zeichnend sind. Überdies ist die Theorie in der »praktischen Absicht« entwickelt worden, emanzipatorische soziale Verände-rungen zu fördern. Sie ist bestrebt, die Situation und Aussichten derjenigen sozialen Bewegungen zu klären, deren Praxis zu einer solchen Veränderung beitragen könnte. Folglich haben Intellektu-elle mit Bindungen an diese sozialen Bewegungen keine andere Wahl, als sich mit dieser Theorie auseinanderzusetzen.

Mein Aufsatz beurteilt die empirische und politische Angemes-senheit der Theorie von Habermas aus der Perspektive einer femi-nistischen Theorie und Praxis. So habe ich politische Fragen - nicht metatheoretische Streitpunkte beispielsweise um »Totalität« oder »Fundamentalismus« [foundationalism] - zum Ausgangspunkt genommen.2 Infolgedessen habe ich, statt archimedische Neutra-lität vorzutäuschen, versucht, aus einer soziologisch spezifischen, ausdrücklich geschlechtlich bestimmten Situation und prakti-schem Engagement heraus zu sprechen. Indem ich das tue, nehme ich die erklärt »praktische Absicht« von Habermas ernst, das »emanzipatorische Potential« heutiger Auseinandersetzungen zu bestimmen. Ebenso nehme ich seine offen bekundete Unterstüt-zung für die Sache der Frauenbewegung ernst. Meine Strategie besteht generell darin, ihn beim Wort zu nehmen und den Wert seiner Theorie unter dem Aspekt ihrer Fähigkeit zu bemessen, zur »Selbstverständigung über die Kämpfe und Wünsche« der Frauen in der Gegenwart beizutragen.

Bedauerlicherweise sind die Ergebnisse nicht befriedigend. Es stellt sich heraus, daß Habermas' Arbeit, wie diejenige vieler männlicher Linker, von der jüngsten ungeheuren Kreativität in der feministischen Theorie verhältnismäßig unberührt bleibt. Dar-um reproduziert seine Sozialtheorie androzentrische Voreinge-nommenheiten schon in ihrer Grundbegrifflichkeit. Sie setzt dualistische und ideologische Oppositionen von »Familie« und »Ökonomie«, »Privatsphäre« und »Öffentlichkeit«, »symboli-scher Reproduktion« und »materieller Reproduktion«, »System« und »Lebenswelt« voraus, statt sie in Frage zu stellen. Diese Dicho-tomien machen es schwierig, wichtige Dimensionen der männ-lichen Vorherrschaft in den spätkapitalistischen Gesellschaften überhaupt zu sehen, geschweige denn zu analysieren. Sie verbergen

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zum Beispiel Formen häuslicher Unterdrückung, die nicht nur »normativ«, sondern auch »systemisch« und »ökonomisch« sind. Desgleichen verschleiern sie Formen der Geschlechterungleich-heit in der offiziellen Ökonomie und im Staat, die nicht nur »systemisch«, sondern auch »symbolisch« und »normativ« sind. Eine Folge davon ist, daß Habermas' Theorie empirische Charak-teristika der spätkapitalistischen Gesellschaften falsch deutet. Eine andere, daß sie den Kämpfen und Wünschen der Frauen nicht gerecht wird.

Trotz all dieser Probleme bleibt Habermas' Sozialtheorie wich-tig. Aufgrund ihrer weitreichenden Ambitionen und ihrer grund-sätzlichen politischen Ernsthaftigkeit enthält sie eine ganze Reihe guter und schlechter Lehren für sozialistisch-feministische kriti-sche Theoretikerinnen. Eine dieser Lehren ist, daß sich hinter offenkundiger Gleichgültigkeit gegenüber der Geschlechterpro-blematik häufig eine implizite männliche Voreingenommenheit verbirgt. Eine andere, daß Ideologien Dichotomien lieben. Dar-aus folgt, daß kritische Theoretiker geschlechtsbezogene, binäre Gegensätze problematisieren müssen, wenn ihre Theorien nicht der Krankheit erliegen sollen, die sie diagnostizieren wollen.

Die letzten beiden Aufsätze in diesem Band fassen meine Versu-che zusammen, diese und ähnliche Lehren bei der Entwicklung einer sozialistisch-feministischen kritischen Theorie zu beherzi-gen. Es ging mir darum, den Worten Taten folgen zu lassen - und meine kritische Arbeit über Foucault, die Dekonstruktion, Rorty und Habermas für eine konstruktive Sozialtheorie fruchtbar zu machen. Im Grunde genommen habe ich versucht, einen Ansatz zu entwickeln, der die nützlichen Seiten jedes dieser kritischen Pa-radigmen integriert, ihre jeweiligen Schwächen aber vermeidet.

Der in diesen letzten zwei Texten ausgearbeitete Ansatz ist als eine Alternative zur »Theorie der zwei Systeme« gedacht. Unter dieser Theorie ist ein sozialistisch-feministischer Theorietypus zu verstehen, der in den späten 70er und frühen 80er Jahren populär war. Er postulierte die Existenz von zwei »Systemen« der Unter-drückung - Kapitalismus und Patriarchat -, und versuchte dann ihren Zusammenhang zu verstehen. Die Theorie zweier Systeme war eine der ersten feministischen Bemühungen, Modelle mit ei-ner »einzigen Variablen« zu vermeiden, indem sie die Überschnei-dung von Geschlecht und Klasse (und in manchen Fällen auch Rasse) thematisierte. Abgesehen von diesem lobenswerten Ziel ge-

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Das sechste Kapitel, Was ist kritisch an der Kritischen Theorie ist dafür ein typisches Beispiel. Ich untersuche dort die Sozialtheorie von Jürgen Habermas in feministischer Hinsicht
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meine kritische Arbeit über Foucault, die Dekonstruktion, Rorty und Habermas für eine konstruktive Sozialtheorie fruchtbar zu machen. Im Grunde genommen habe ich versucht, einen Ansatz zu entwickeln, der die nützlichen Seiten jedes dieser kritischen Paradigmen integriert, ihre jeweiligen Schwächen aber vermeidet.
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Er postulierte die Existenz von zwei »Systemen« der Unterdrückung - Kapitalismus und Patriarchat -, und versuchte dann ihren Zusammenhang zu verstehen. Die

langte sie aber sehr bald in eine Sackgasse: Da von Beginn an eine grundlegende Trennung von Kapitalismus und Patriarchat, Klasse und Geschlecht unterstellt worden war, wurde niemals klar, wie sie wieder zusammengebracht werden sollten.

Einige sozialistische Feministinnen haben angesichts dieser Sackgasse vorgeschlagen, die Theorie zweier Systeme durch eine Theorie zu ersetzen, in der mit einem »einzigen System« operiert wird. In dieser Theorie wären Klasse und Geschlecht, Kapitalis-mus und Patriarchat durch eine Analyse, die mit einem einzigen Satz von Kategorien auskommt, von Anfang an integriert.3 Ob-wohl das eine Verbesserung gegenüber der Theorie zweier Systeme ist, habe ich einen anderen Weg eingeschlagen. Wie Foucault und Habermas wollte ich objektivistische, funktionalistische Modelle vermeiden, die zu zeigen vorgeben, wie »Systeme sich selbst repro-duzieren«. Diese Modelle blenden »dysfunktionale« Handlungen aus, die sich den herrschenden sozialen Praktiken widersetzen, sie anfechten und stören, und zudem die Selbstdeutungen der sozialen Akteure vernachlässigen. Im allgemeinen ignorieren funktionali-stische Ansätze sämtliche aktiven Aspekte sozialer Prozesse, die Formen, in denen selbst die routinisierteste Praxis sozialer Ak-teure die Herstellung und Auflösung sozialer Realität beinhaltet. Bedauerlicherweise bleibt die »Theorie des einen Systems« impli-zit funktionalistisch, und ich beschloß, sie zu vermeiden. Ich habe statt dessen versucht, einen Ansatz auszuarbeiten, der imstande ist, menschliches Handeln, sozialen Konflikt und die Konstruk-tion und Dekonstruktion kultureller Bedeutungen darzustellen.

Das siebte Kapitel, Die Frauen, die Wohlfahrt und die Politik der Bedürfnisinterpretation, ist ein Versuch in diese Richtung. Er folgt Habermas in der methodologischen Aufgabenstellung, strukturale und interpretative Ansätze zur Erforschung des sozia-len Lebens miteinander in Verbindung zu bringen. Aber er wird um die feministische politische Aufgabe erweitert, die Existenz und den Charakter einiger spezifisch spätkapitalistischer Formen männlicher Vorherrschaft aufzuzeigen. Diese Formen der männ-lichen Herrschaft, die manchmal (etwas irreführend) »öffentliches Patriarchat« genannt worden sind, entstehen im Gefolge einer umfassenderen, staatlichen Regulierung der Ökonomie. In cha-rakteristischer Weise sind sie unter anderem in den sozialstaat-lichen Programmen zu finden.

Der Aufsatz analysiert die Fortdauer und Verschärfung des Se-

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Wie Foucault und Habermas wollte ich objektivistische, funktionalistische Modelle vermeiden, die zu zeigen vorgeben, wie »Systeme sich selbst reproduzieren «.

xismus »mit anderen Mitteln« innerhalb des Systems der sozialen Sicherung in den USA. Er zeigt, daß dieses System zur Zeit in zwei geschlechtsspezifische Subsysteme eingeteilt ist: Ein implizit »maskulines« Sozialversicherungs-Subsystem, das die »elemen-tare« Einbindung in die Erwerbsarbeit voraussetzt und auf (weiße, männliche) »Ernährer« abgestimmt ist, und ein implizit »femini-nes« Fürsorge-Subsystem, das an ein Haushaltseinkommen ge-bunden und auf Hausfrauen-Mütter und ihre »unvollständigen« Familien (in denen Frauen den Haushaltsvorstand stellen) ausge-richtet ist. Derart auf der kontrafaktischen Annahme von »separa-ten Sphären« aufbauend, unterscheiden sich die Subsysteme deut-lich im Ausmaß der gewährten Autonomie und Rechte sowie in dem mutmaßlichen Verdienst, den sie den Leistungsbeziehern zu-schreiben, wie auch in ihrer Finanzierungsgrundlage, ihrer Ver-waltung und in der Art und Höhe der Sozialleistungen. Mit anderen Worten, sie sind voneinander getrennt und ungleich.

Die in diesem Kapitel gegebene Beschreibung ist zugleich struk-tural und interpretativ. Sie begreift Dinge, die gewöhnlich als »ökonomische« Phänomene aufgefaßt werden, als »institutionali-sierte Deutungsmuster«. Entscheidend ist, daß sozialstaatliche Programme mehr als nur materielle Hilfen bereitstellen: Sie liefern ihren Klienten und der Allgemeinheit eine implizite, aber mäch-tige interpretative Topographie normativer, unterschiedlich be-werteter Geschlechterrollen und geschlechtsspezifischer Bedürf-nisse. Meine Analyse zeigt, wie die Praktiken des Wohlfahrtsstaats sexistische und androzentrische Interpretationen der Bedürfnisse von Frauen kodieren, Interpretationen, die auf ideologischen, ge-schlechtergebundenen Dichotomien wie »häuslich« versus »öko-nomisch«, »Heim« versus »Arbeit«, »Mutter« versus »Ernährer«, »erstrangige« versus »zweitrangige« Arbeit aufbauen.

Obwohl diese sexistischen Bedürfnisinterpretationen mächtig und institutionell sanktioniert sind, bleiben sie nicht unangefoch-ten. Im achten Kapitel erweitere ich den Blickwinkel, damit der Konflikt um die Bedürfnisse in den spätkapitalistischen Gesell-schaften in seiner ganzen Bandbreite einbezogen werden kann. Dabei sind die in die Praktiken des Sozialstaats eingebetteten In-terpretationen nur eine von mehreren Formen des Diskurses über Bedürfnisse. Sie vermischen sich - oft polemisch - mit konkur-rierenden Interpretationen, die mit oppositionellen sozialen Be-wegungen, sozialwissenschaftlichen Experten oder Neokonser-

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vativen verbunden sind. Auch repräsentieren die Akteure auf staatlicher Seite nur einen Typ von Akteuren, die daran beteiligt sind, die Bedürfnisse der Menschen zu interpretieren. Sie inter-agieren, oft konfliktär, mit den Klienten der Sozialhilfe, profes-sionellen Wissensproduzenten, Aktivisten der Bewegungen, Ge-werkschaftern, Parteipolitikern und anderen.

Der Kampf um die Bedürfnisse ist eine theoretische Darstellung dieser »Politik der Bedürfnisinterpretation«. Der Text stellt mei-nen bislang ehrgeizigsten Versuch dar, eine sozialistisch-feministi-sche kritische Theorie zu entwickeln. Indem ich die Konkurrenz-kämpfe zwischen rivalisierenden Diskursen über Bedürfnisse analysiere, erstelle ich eine topographische Karte der spätkapitali-stischen Sozialstruktur und politischen Kultur. Ich verknüpfe die Politisierung von Bedürfnissen mit den Verschiebungen der Gren-zen, die »politische«, »ökonomische« und »häusliche« Lebens-sphären trennen. Ich zeige auch, wie die Bedürfnispolitik in der Konstitution gegensätzlicher sozialer Identitäten einerseits und in der Bildung von Berufsgruppen andererseits impliziert ist. Außer-dem identifiziere ich drei Hauptarten der »bedürfniszentrierten Rede« in den wohlfahrtsstaatlichen Gesellschaften: »oppositio-nelle Diskurse«, »Reprivatisierungsdiskurse« und »Expertendis-kurse«. Schließlich umreiße ich mit einer Serie von Beispielen zwei gegenläufige und gleich starke gesellschaftliche Tendenzen: Die eine überführt die Politik der Bedürfnisinterpretation in die admi-nistrative Verwaltung der Befriedigung von Bedürfnissen; die an-dere verläuft von der Verwaltung zum Widerstand und potentiell zurück zur Politik.

In Der Kampf um die Bedürfnisse habe ich aus mehreren Grün-den den Diskurs ins Zentrum gestellt. Indem ich mich auf »die Politik der Interpretation« konzentrierte, habe ich erstens ver-sucht, eine Alternative zu den Standardtheorien über Bedürfnisse, die nur der Zuteilung von Bedarfsdeckungen Beachtung schenken, zu liefern. Zweitens wollte ich die Spaltung von Kultur und Gesell-schaft, von Geistes- und Sozialwissenschaften überbrücken, in-dem ich Ideen aus literaturwissenschaftlichen Untersuchungen auf Sozialtheorie und politische Theorie übertrage. Drittens habe ich es unternommen, zu den derzeit gängigen Diskurstheorien, die eine einzige monolithische »symbolische Ordnung« voraussetzen, eine Alternative zu entwickeln, indem ich an einer Pluralität der Handelnden und der Diskurse festhalte.

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Ich habe stets angenommen, daß es vielfältige Dimensionen der Macht in den spätkapitalistischen Gesellschaften gibt. Deshalb habe ich versucht, sowohl diagonale Schichtungen als auch kom-plexe Prozesse der Gruppenbildung zu berücksichtigen. Desglei-chen habe ich angenommen, daß Gruppen und Individuen in einer Reihe verschiedener »Öffentlichkeiten« handeln. Daher habe ich mich bemüht, allzu einfache dichotomische Konzeptionen des Öffentlichen und des Privaten zu vermeiden. Schließlich habe ich eine allgemeine Theorie der spätkapitalistischen politischen Kul-tur angestrebt. Deshalb war ich bemüht, eine umfassende Dia-gnose, wie sie zur Orientierung der politischen Praxis benötigt wird, zu liefern und dabei historische Eigenheiten, gesellschaft-liche Differenzierungen und kulturelle Vielfalt zu berücksichti-gen. Kurz gesagt, ich habe versucht, einen neuen Typus soziali-stisch-feministischer kritischer Theorie zu entwickeln, der die Grenzen der derzeit verfügbaren Alternativen überschreitet.

Vor allem anderen beabsichtigt Der Kampf um die Bedürfnisse zur »Selbstverständigung der Zeit über ihre Kämpfe und Wün-sche« beizutragen. Der Text benennt einige Probleme, denen sich fortschrittliche Bewegungen in den Auseinandersetzungen mit »Bedürfnisexperten« des Sozialstaats gegenübersehen. Dabei schenke ich der institutionellen Erzeugung des Expertentums und seiner Arbeitsweise besondere Aufmerksamkeit. Ich prüfe die Diskurse über Bedürfnisse, die in den Universitäten, Denkfabri-ken, Berufs- und Wohlfahrtsverbänden entwickelt werden. Ich analysiere sie als Brücken-Diskurse, die zwischen den sozialen Bewegungen und dem Staat vermitteln. Ich zeige, wie Experten-diskurse diese vermittelnde Rolle spielen, indem sie die von den oppositionellen Bewegungen vertretenen politisierten Bedürfnisse in potentielle Gegenstände staatlicher Administration überset-zen.

Dadurch ermöglicht dieser letzte Aufsatz noch einen anderen Zugriff auf das Problem der sozialen Rolle und politischen Funk-tion der Intellektuellen. So schließt sich der Kreis bei den Fragen, von denen ich ausgegangen war. Was für ein Licht wirft diese Dis-kussion auf die radikalen Akademiker?

Auch wir, meine ich, nehmen eine vermittelnde Position ein. Dementsprechend sind auch wir damit befaßt, Brücken zu bauen. Im Verhältnis zu unseren akademischen Disziplinen fungieren wir als oppositioneller Flügel einer Expertenöffentlichkeit. Im Ver-

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hältnis zu den außerakademischen sozialen Bewegungen dagegen fungieren wir als Expertenflügel einer oppositionellen Öffentlich-keit. Viele von uns bewegen sich außerdem noch in anderen Öf-fentlichkeiten. Als Lehrer und Betreuer versuchen wir eine ent-stehende pädagogische Gegenkultur zu fördern und radikalen Studenten in der Universität die Orientierung zu erleichtern und Legitimität zu verschaffen. Letztlich wollen wir als kritische öf-fentliche Intellektuelle unsere Perspektiven in alle kulturellen oder politischen öffentlichen Bereiche hineintragen, zu denen wir Zu-gang haben. Entscheidend ist, daß wir unsere Funktion in mehre-ren, unterschiedlich institutionalisierten Öffentlichkeiten aus-üben. Deshalb sprechen wir zwangsläufig mit mehreren Stimmen. Insofern wir uns sowohl mit Experten als auch mit Aktivisten im Gespräch befinden, stehen wir zwischen Protestbewegung und Profession.

Man kann sich diese Zwischenstellung als einen Punkt denken, an dem sich oppositionelle Diskurse und Expertendiskurse über-schneiden. Das, was kritische Intellektuelle also tun - abgesehen von Gesprächen mit den Protestbewegungen einerseits und mit Experten andererseits - ist, Wege zu finden, um deren disparate Diskurse miteinander zu verflechten. Mit anderen Worten, wir engagieren uns bei der Bildung brückenschlagender Diskurse und bei der Eröffnung neuer, hybrider Öffentlichkeiten und Kampf-schauplätze.

Die Aufsätze, die ich vorgestellt habe, illustrieren die Vielfältig-keit dieses Engagements. In einigen dominiert die Stimme der Aktivistin. Ich wende mich dann typischerweise als eine Art Au-ßenseiterin an eine Expertenöffentlichkeit und bringe eine Sensi-bilität und eine Tagesordnung zur Geltung, die andernorts ihren Ursprung haben. So in Was ist kritisch an der Kritischen Theorie?, wo ich einen feministischen Streifzug in das maskuline Kernland der Kritischen Theorie unternehme. Ein anderes Beispiel ist Soli-darität oder Singularität?, wo ich eine sozialistisch-feministische Perspektive in die Debatten um Pragmatismus und Liberalismus einführe.

In anderen Aufsätzen ist die Stimme der Expertin tonangebend. In ihnen trage ich einer oppositionellen Öffentlichkeit, die mei-nem politischen Anliegen bereits verpflichtet ist, theoretische Re-flexionen vor. Das ist in Die Frauen, die Wohlfahrt und die Politik der Bedürfnisinterpretation der Fall: Gestützt auf Fachkenntnisse,

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die ich infolge der sozialen Arbeitsteilung erworben habe, zeige ich, wie die bestehenden sozialstaatlichen Programme die Unter-ordnung der Frauen perpetuieren. Als Reaktion darauf schlage ich den feministischen Wissenschaftlerinnen und Aktivistinnen eine theoretisch informierte, aber praktisch orientierte Art der Refle-xion über soziale Sicherung vor.

Im Gegensatz dazu sind andere Aufsätze dieser Sammlung we-der an ein Publikum von Experten noch an ein Publikum von Aktivisten gerichtet, vielmehr an eine eher vage definierte Öffent-lichkeit, die beide umfaßt. Dies ist bei Foucaults Sprache des Körpers und bei Die französischen Derridarianer der Fall, wo ich die allgemeine Perspektive einer linken Intellektuellen einnehme, um Neuen Historismus und Dekonstruktion als kulturelle Phäno-mene zu untersuchen.

Schließlich gibt es einige Aufsätze, die auf mehrere verschiedene Leserschaften zugleich abzielen, in denen ich die Stimme der Ex-pertin und die Stimme der Aktivistin fast ausgewogen zu Wort kommen lasse. In der vorliegenden Sammlung sind diese Aufsätze die reflektiertesten Übungen im Brückenschlagen. Hier füge ich disparate Diskurse zusammen, um zur Schaffung einer neuen, grö-ßeren, gemischten Öffentlichkeit beizutragen. So in Der Kampf um die Bedürfnisse, wo ich versuche, unterschiedliche wissen-schaftliche Öffentlichkeiten - Sozialtheorie und politische Theo-rie, Frauenforschung und feministische Theorie, Literaturtheorie und Kulturforschung - mit einer breiten oppositionellen Öffent-lichkeit zu verschmelzen, die sich aus Teilnehmern eines weiten Spektrums sozialer Bewegungen zusammensetzt. In diesem Text richte ich gleichzeitig verschiedene Botschaften an verschiedene Gruppen. Ich ermutige beispielsweise die Literaturwissenschaft-ler, Diskurse im sozial-institutionellen Kontext zu untersuchen. Außerdem dränge ich die Sozial- und Politikwissenschaftler, die Geschlechterdimension in ihr analytisches Instrumentarium zu in-tegrieren. Gleichzeitig schlage ich den feministischen Theoretike-rinnen Wege vor, die Geschlechterdimension als eine Dimension der Ungleichheit unter anderen zu behandeln. Schließlich emp-fehle ich den Aktivisten und Teilnehmern aller oppositionellen sozialen Bewegungen ihr Verhältnis zum Staat zu überdenken.

Naturgemäß ist die Bildung von überbrückenden Diskursen und gemischten Öffentlichkeiten eine verzwickte Angelegenheit. Es ist verständlich, daß einige Radikale der Meinung sind, die Risi-

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ken würden den Nutzen aufwiegen. Ich bin mir im klaren darüber, daß beispielsweise einige Feministinnen die in vielen meiner Auf-sätze vorhandene Bereitschaft, mit und von Männern zu sprechen, in Frage stellen werden. Ich möchte die Schwierigkeiten dieser Art von Praxis nicht verharmlosen. Der Definition nach ist jeder Brük-ken-Diskurs dem Zugriff von wenigstens zwei Seiten zugänglich. Folglich ist es jederzeit relevant zu fragen: Was geht in dem Prozeß verloren, was wird darin verändert? Wie wirkt sich - gebrochen durch die Einwirkung der Profession auf die soziale Bewegung -die soziale Bewegung auf die Profession aus ? Wie ist das Verhältnis von Kosten und Nutzen beim Versuch, sie zusammenzubringen?

Dennoch möchte ich darauf bestehen, daß diese Fragen nicht als Grundsatzfragen, sondern als situationsgebundene, strategische Fragen behandelt werden - und darauf, daß es prinzipiell keine Alternative zum Bau von Brücken gibt. Eine einzelne unter-drückte Gruppe kann unmöglich von sich aus einen signifikanten strukturellen Wandel erreichen, und es kann auch keinem anver-traut werden, die Interessen anderer zu wahren. Gesellschaftliche Veränderungen verlangen darüber hinaus den Kampf im Sinne der Auseinandersetzung mit den Gegnern. Auf akademischem Terrain bedeutet das ideologische Verzerrungen, die in die vorherrschen-den Sichtweisen eingebaut sind, anzufechten und ihre Vertreter, soweit es geht, zur Reaktion zu zwingen. Dies ist keine Alterna-tive dazu, Gegeninstitutionen innerhalb der Universitäten zu schaffen, sondern vielmehr eine zusätzliche, parallel laufende und höchst wichtige Aufgabe. Das ist eines der Ziele der folgenden Aufsätze.

Anmerkungen

Ich danke Seyla Benhabib, Barbara Brenzel, Paul Mattick, Tom McCarthy, Susan Reverby, Robert Roth und Judy Wittner für hilfreiche Kommentare und Anregungen. Dankbare Erwähnung verdient die großzügige Kollegia-ten-Unterstützung des The Mary Ingraham Bunting Institute, Radcliffe College.

1 Zu meiner Verwendung des Ausdrucks >offizielle Ökonomie< siehe Ka-pitel 6, Anmerkung 13.

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2 Ich bin im allgemeinen nicht davon überzeugt, daß der poststrukturali-stische »Totalitätsverdacht« - der wohlbegründet ist, wenn es um ahisto-rische philosophische »Metaerzählungen« geht - gegen Versuche spricht, »große« empirische Theorien über historisch spezifische Gesell-schaftsformationen auszuarbeiten. Ich nehme vielmehr an, daß eine umfassende Diagnose sowohl erkenntnistheoretisch möglich als auch politisch von Nutzen ist. Ebenso glaube ich nicht, daß Habermas' eigen-ständige Gesellschaftstheorie erster Ordnung von seinen unnötigen und erfolglosen Bemühungen, sie in »quasi-transzendentale« Metatheorien der »sozialen Evolution« und »Universalpragmatik« zu begründen, un-tergraben wird. Ich nehme statt dessen an, daß es möglich ist, die zwei Analyseebenen voneinander abzulösen und getrennt zu beurteilen. Kurz, wenn sich die Gesellschaftstheorie von Habermas als unhaltbar herausstellen sollte, dann weder deswegen, weil sie eine große Theorie ist, noch weil ihr eine unvertretbare, fundamentalistische Metainterpre-tation aufgebürdet wird, sondern weil sie empirisch und/oder politisch unzulänglich ist. Zu einer Diskussion der Beziehung zwischen »Metaer-zählung« und »großer empirischer Erzählung« siehe Nancy Fraser/ Linda Nicholson, Social Criticism without Philosophy: An Encounter between Feminism and Postmodernism, in: Theory, Culture, and Society 5, Nr. 2-3/Juni 1988, S. 373-394.

3 Zur Debatte über die Theorie zweier Systeme siehe die Beiträge in: Ly-dia Sargent (Hg. ) , Women and Revolution: A Discussion of the Unhappy Marriage of Marxism and Feminism, Boston 1981. In diesem Band findet sich auch der Vorschlag für eine feministische Theorie, die auf dem Kon-zept der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung aufbauend nur noch ein einziges System veranschlagt: Iris Young, Beyond the Unhappy Mar-riage: A Critique of the Dual Systems Theory.

I Macht, Norm und Vokabular

der Auseinandersetzung

Kapitel 1

Foucault über die moderne Macht: Empirische Einsichten und normative

Unklarheiten

Bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1984 arbeitete Michel Foucault an einer neuen Form politisch engagierter Reflexion über die Ent-stehung und das Wesen moderner Gesellschaften. Diese Form der Reflexion, Foucault nannte sie »Genealogie«, hat wertvolle Er-gebnisse erbracht. Sie erschloß der Forschung neue Gebiete und problematisierte Dimensionen der Moderne. Sie ermöglichte poli-tische Probleme auf fruchtbare Weise zur Sprache zu bringen. Foucaults Werk steckt jedoch auch voller Schwierigkeiten. Es wirft eine Reihe philosophischer Fragen auf, zu deren Beantwor-tung es selbst nicht gerüstet ist. Dieser Aufsatz soll einen Uber-blick über die wesentlichen Stärken und Unzulänglichkeiten des Foucaultschen Werkes geben und eine ausgewogene Einschätzung versuchen.

Grob gesagt behaupte ich, daß Foucaults wertvollste Leistung in der ergiebigen empirischen Darstellung von einigen unverwech-selbar modernen Modalitäten der Macht in ihren Entstehungssta-dien liegt. Diese Darstellung gewährt wichtige Einsichten in das Wesen moderner Macht, die wiederum politische Bedeutung ha-ben - sie ermöglichen, einige ziemlich verbreitete politische Orientierungen auszuschließen, die gemessen an der Komplexität der Macht in modernen Gesellschaften, unzureichend sind.

Foucault weist zum Beispiel nach, daß die moderne Macht eher »produktiv« als prohibitiv ist. Dies reicht aus, um jene Arten der Befreiungspolitik auszuschließen, die voraussetzen, daß Macht wesensmäßig repressiv sei. Ebenso zeigt Foucaults Darstellung, daß die moderne Macht »kapillar«, das heißt schon auf niedrigster Ebene des sozialen Körpers in den alltäglichen sozialen Praktiken wirksam ist. Damit scheidet eine staatszentrierte und ökonomisti-sche politische Praxis aus, die voraussetzt, daß Macht allein im Staat oder in der Ökonomie ihren Sitz habe. Foucaults Genealogie der modernen Macht erweist letztlich, daß die Macht das Leben

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Diese Form der Reflexion, Foucault nannte sie »Genealogie«, hat wertvolle Ergebnisse erbracht.
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Foucault weist zum Beispiel nach, daß die moderne Macht eher »produktiv« als prohibitiv ist.
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Ebenso zeigt Foucaults Darstellung, daß die moderne Macht »kapillar«, das heißt schon auf niedrigster Ebene des sozialen Körpers in den alltäglichen sozialen Praktiken wirksam ist.

der Menschen fundamentaler durch ihre sozialen Praktiken als durch ihre Uberzeugungen berührt. Das wiederum reicht für den Ausschluß politischer Orientierungen, die vorrangig auf die De-mystifizierung ideologisch verzerrter Überzeugungssysteme ab-zielen.

Dabei soll nicht der Eindruck entstehen, Foucaults Darstellung des Wesens und der Entstehung moderner Machtformen habe al-lein die negative Bedeutung eines Ausmusterns ungeeigneter poli-tischer Orientierungen. Foucault ermöglicht es uns, Macht ebenso umfassend wie detailliert als eine Macht zu verstehen, die in viel-fältigen »Mikropraktiken« verankert ist, also in den sozialen Handlungsweisen, die das Alltagsleben der modernen Gesell-schaften ausmachen. Diese positive Konzeption der Macht bein-haltet die allgemeine, doch unmißverständliche Implikation einer Forderung nach einer »Politik des Alltagslebens«.

Im großen und ganzen halte ich das für die wesentlichen Bei-träge Foucaults zum Verständnis moderner Gesellschaften. Wie es scheint, wurden sie durch seine einzigartige genealogische Me-thode sozialer und historischer Beschreibung möglich. Diese Me-thode beinhaltet unter anderem die Suspendierung des herkömm-lichen modernen, liberalen, normativen Begriffsrahmens, der zwischen legitimer und illegitimer Ausübung der Macht unter-scheidet. Foucault klammert diese Begriffe und die Fragen, zu denen sie Anlaß geben, aus, und konzentriert sich statt dessen darauf, in welcher Weise Macht tatsächlich arbeitet.

Wie ich bereits sagte, war Foucaults Suspendierung der Legitimi-tätsproblematik ohne Zweifel fruchtbar. Eben diese Suspendie-rung ermöglichte es ihm, das Phänomen der Macht auf interessante Art neu zu sehen und neue Dimensionen moderner Gesellschaften zutage zu fördern. Gleichzeitig aber führte sie - oder führt sie sehr wahrscheinlich - zu ernsten Schwierigkeiten. Es kann beispiels-weise angenommen werden, daß Foucault uns eine wertneutrale Darstellung der modernen Macht gegeben hat. Oder daß er, da dies mit dem offensichtlich politisch engagiertem Charakter seines Schreibens nicht in Einklang steht, irgendeinen anderen normati-ven Kontext als Alternative zu dem suspendierten evoziert hat. Oder daß er, da ein normativer Rahmen nicht offensichtlich ist, einen Weg gefunden hat, politisch engagierte Kritik zu üben, ohne irgendwelche normativen Voraussetzungen zu machen; oder, all-gemein gesagt, daß er sich der Notwendigkeit irgendeiner norma-

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Foucault ermöglicht es uns, Macht ebenso umfassend wie detailliert als eine Macht zu verstehen, die in vielfältigen »Mikropraktiken« verankert ist, also in den sozialen Handlungsweisen, die das Alltagsleben der modernen Gesellschaften ausmachen.

tiven Grundlage zur Anleitung der politischen Praxis ganz entle-digt hat.

Einige dieser Annahmen sind miteinander unvereinbar. Doch Foucaults Werk scheint zu allen gleichzeitig einzuladen. Foucault neigt zu der Annahme, seine Beschreibung moderner Macht sei politisch engagiert und dabei normativ neutral. Zugleich läßt er im unklaren, ob er alle normativen Gehalte oder nur die liberalen Normen von Legitimität und Illegitimität suspendiert. Zu allem Übel scheint Foucault die liberalen Normen zuweilen überhaupt nicht suspendiert zu haben, sondern sie im Gegenteil vorauszuset-zen.

Diese Aspekte halte ich denn auch für die gravierendsten Schwierigkeiten in Foucaults Werk. Sie scheinen in einem merk-würdigen Verhältnis zu den Stärken zu stehen, die ich erwähnt habe, denn es sieht so aus, als ob gerade die methodologischen Strategien, die eine empirisch und politisch wertvolle Beschrei-bung der Macht ermöglichen, eng an die normativen Mehrdeutig-keiten geknüpft sind.

Ich schlage vor, diesen Fragen systematisch nachzugehen. Als erstes werde ich Foucaults genealogische Methode, einschließlich seiner Suspendierung des liberalen normativen Rahmens der Legi-timität, im Umriß darstellen. Daran anschließend werde ich seine historischen Einsichten in das Wesen und den Ursprung moderner Macht beschreiben, die von der genealogischen Methode ermög-licht wurden. Danach werde ich kurz die wichtigen politischen Implikationen dieser Betrachtung der entstehenden modernen Macht erörtern. Im vierten und letzten Abschnitt schließlich werde ich Schwierigkeiten diskutieren, die die normativen Di-mensionen von Foucaults Werk betreffen.

1. Die genealogische Methode und die Ausklammerung der Legitimitätsproblematik

Foucault nennt die Form seiner Reflexion über das Wesen und die Entwicklung der modernen Macht in Anlehnung an Nietzsche »Genealogie«.1 Dem, was er damit meint, kann man sich am be-sten ex negativo, im Kontrast zu anderen Ansätzen in der Erfor-schung kultureller und historischer Phänomene nähern. Die Ge-nealogie repräsentiert zunächst einen Bruch mit der Semiologie

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Foucault nennt die Form seiner Reflexion über das Wesen und die Entwicklung der modernen Macht in Anlehnung an Nietzsche »Genealogie«.1 Dem, was er damit meint, kann man sich am besten ex negativo, im Kontrast zu anderen Ansätzen in der Erforschung kultureller und historischer Phänomene nähern.

und dem Strukturalismus, die die Kultur in Begriffen von Zei-chensystemen analysieren.2 Statt dessen versucht sie, Kultur als Praktiken aufzufassen. Überdies ist die Genealogie nicht mit der Hermeneutik zu verwechseln, die Foucault (zweifellos anachroni-stisch) als die Suche nach tiefen, verborgenen Bedeutungen unter-halb der Sprache, nach dem Bezeichneten hinter dem Bezeichnen-den versteht. Die Genealogie behauptet axiomatisch, daß alles Interpretation ist3, oder, um es weniger bildlich auszudrücken, daß kulturelle Praktiken historisch institutionalisiert und darum kontingent und unbegründet sind - außer in Begriffen anderer, früherer, kontingenter, historisch institutionalisierter Praktiken. Foucault behauptet außerdem, daß die Genealogie der Ideologie-kritik entgegengesetzt ist. Auch hier ist sein Verständnis dieses Unternehmens etwas grob, denn er meint, die Genealogie befasse sich nicht mit der Beurteilung wissenschaftlicher Inhalte oder mit den Wissenssystemen, noch mit Überzeugungssystemen über-haupt. Sie sei vielmehr mit den Prozessen, Prozeduren und Appa-raten befaßt, von denen Wahrheit, Wissen und Überzeugungen hervorgebracht werden, mit dem, was er die »Politik des diskursi-ven Regimes« nennt.4 Außerdem will Foucault die Genealogie von der Ideengeschichte unterschieden wissen. Sie beabsichtige nicht, die kontinuierliche Entwicklung der diskursiven Gehalte oder Praktiken chronologisch zu dokumentieren. Im Gegenteil sei sie auf Diskontinuitäten gerichtet. Wie Thomas Kuhn geht Foucault von der Existenz einer Vielzahl inkommensurabler diskursiver Regimes aus, die einander im historischen Verlauf ablösen. Er setzt auch voraus, daß jedes dieser Regimes von einer eigenen kor-relierten Matrix von Praktiken unterstützt wird. Jedes umfaßt seine eigenen charakteristischen Untersuchungsobjekte, eigene Kriterien für die Wohlgeformtheit von Aussagen, die als Kandida-ten für wahre und falsche Aussagen zugelassen werden, eigene Prozeduren zur Hervorbringung, Lagerung und Anordnung von Daten, eigene institutionelle Sanktionen und Matrizen.5

Foucault will mit dem Begriff >Macht/Wissen-Regime< den ge-samten Nexus solcher Objekte, Kriterien, Praktiken, Prozedu-ren, Institutionen, Apparate und Operationen bezeichnen. Dieser Begriff deckt deshalb mit einem einzigen Konzept alles das ab, was bei Kuhn unter die beiden getrennten Konzepte des Paradigmas und der disziplinären Matrix fällt. Anders als Kuhn gibt Foucault diesem Komplex jedoch einen ausdrücklich politischen Charak-

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Überdies ist die Genealogie nicht mit der Hermeneutik zu verwechseln, die Foucault (zweifellos anachronistisch) als die Suche nach tiefen, verborgenen Bedeutungen unterhalb der Sprache, nach dem Bezeichneten hinter dem Bezeichnenden versteht. Die Genealogie behauptet axiomatisch, daß alles Interpretation ist3, oder, um es weniger bildlich auszudrücken, daß kulturelle Praktiken historisch institutionalisiert und darum kontingent und unbegründet sind -
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Außerdem will Foucault die Genealogie von der Ideengeschichte unterschieden wissen. Sie beabsichtige nicht, die kontinuierliche Entwicklung der diskursiven Gehalte oder Praktiken chronologisch zu dokumentieren. Im Gegenteil sei sie auf Diskontinuitäten gerichtet.

ter. Der Gebrauch des Begriffs >Macht< wie auch der des Begriffs >Regime< vermitteln diese politische Färbung.

Foucault behauptet, daß das Funktionieren diskursiver Regimes grundsätzlich Formen sozialen Zwangs beinhaltet. Solche Zwänge und die Art und Weise ihrer Auferlegung variieren selbstverständ-lich je nach Regime. Typischerweise enthalten sie jedoch solche Phänomene wie die Wertschätzung einiger Aussageformen und die damit einhergehende Entwertung anderer; die institutionelle Autorisierung einiger Personen, autoritative Wissensansprüche vorzubringen, und den damit einhergehenden Ausschluß anderer; Verfahren der Informationsbeschaffung von und über Personen, wobei verschiedene Formen des Zwangs eingeschlossen sind; schließlich die Ausbreitung von Diskursen über Forschungsob-jekte, die gleichzeitig Ziele im Anwendungsbereich der Sozialpoli-tik sind.6 Trotz ihrer offenkundigen Heterogenität sind dies alles Beispiele dafür, wie der soziale Zwang oder, wie Foucault sagt, »Macht«, sich bei der und durch die Produktion von Diskursen innerhalb der Gesellschaften verbreitet.

Woran Foucault interessiert ist, wenn er beansprucht, die Ge-nealogie der Macht/Wissen-Regimes zu untersuchen, sollte nun klar sein: Er befaßt sich mit der holistischen und historisch relati-ven Untersuchung der Herausbildung und der Funktionsweise inkommensurabler Netze sozialer Praktiken, einschließlich der wechselseitigen Beziehung von Zwang und Diskurs.

Die Foucaultsche Genealogie eröffnet ganz offensichtlich einen einzigartigen und originellen Zugang zur Kultur. Sie faßt Phäno-mene zusammen, die zumeist auseinander gehalten werden, und trennt solche, die gewöhnlich zusammengebracht werden. Die Genealogie leistet dies, indem sie an einer Reihe methodologischer Strategien, die mit Ausklammerungen verglichen werden können, festhält oder vorgibt, daran festzuhalten.7

>Ausklammerung< ist natürlich kein Begriff von Foucault. In Anbetracht der Assoziation mit der phänomenologischen Tradi-tion, der Foucault so feindlich gegenübersteht, hätte er ihn zwei-fellos zurückgewiesen. Dennoch verdeutlicht der Begriff jene Art der vorsätzlichen Suspendierung maßgeblicher Kategorien und Problematiken, die Foucault praktiziert. Beispielsweise sollte schon klar geworden sein, daß Foucaults Ansatz zur Untersu-chung der Macht/Wissen-Regimes die Kategorien von Wahrheit/ Falschheit oder Wahrheit/Ideologie suspendiert. Das heißt, der

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Ansatz klammert die Problematik der epistemischen Rechtferti-gung ein. Foucault geht auf die Frage nicht ein, ob die verschiede-nen, von ihm untersuchten Regimes, Wissen bereitstellen, das in irgendeinem Sinne wahr oder verbürgt, angemessen oder unver-zerrt ist. Statt epistemische Inhalte zu beurteilen, beschreibt er die Prozeduren der Wissensproduktion, ihre Praktiken, Apparate und Institutionen.8

Diese Ausklammerung der Problematik epistemischer Recht-fertigung kann ganz verschieden ausgelegt werden. Sie kann als strikt heuristisch und vorläufig angesehen werden, als ließe sie die Frage offen, ob eine solche Rechtfertigung möglich ist, und wenn ja, worin sie bestünde. Sie kann aber auch weniger minimalistisch als eine substantielle, prinzipielle Festlegung auf irgendeine Ver-sion des epistemologischen Kulturrelativismus angesehen werden. Die Evidenzen im Text widersprechen sich, obwohl sie stärker auf die zweite, substantielle Auslegung hinweisen.

Wie dem auch sei: Foucaults Sichtweisen epistemischer Recht-fertigung sind nicht mein hauptsächliches Anliegen. Eine andere Art der Ausklammerung, welche die Problematik der normativen Rechtfertigung betrifft, kommt der Sache näher. Foucault be-hauptet, eine solche Rechtfertigung bei seiner Untersuchung der Macht/Wissen-Regimes zu suspendieren. Er sagt, er nehme die Frage nicht auf, ob die verschiedenen, zwangsgeladenen Prakti-ken, Institutionen, Prozeduren und Apparate, die er untersucht, legitimiert sind oder nicht: Er unterläßt die Problematisierung der normativen Gültigkeit von Macht/Wissen-Regimes.9

Am Wesen und am Ausmaß von Foucaults Ausklammerung des Normativen entzünden sich einige sehr wichtige Fragen. Wie weit soll diese Ausklammerung reichen? Beabsichtigt Foucault, nur ei-nen besonderen normativen Theorierahmen zu suspendieren, nämlich den Rahmen der modernen, liberalen politischen Theo-rie, deren zentrale Kategorien die des Rechts, der Grenze, der Souveränität, des Vertrags und der Unterdrückung sind? Diese Grundbegrifflichkeit unterscheidet zwischen legitimer Ausübung souveräner Macht, die innerhalb der rechtlich definierten Grenzen bleibt und illegitimer Ausübung solcher Macht, die jene Grenzen überschreitet, die Rechte verletzt und daher tyrannisch ist.10

Glaubt Foucault nur diese liberalen Normen auszuschließen, wenn er die Konzepte Legitimität und Illegitimität aus der Genea-logie ausschließt? Oder ist die Ausklammerung des Normativen

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breiter angelegt? Beabsichtigt er, nicht nur die liberale Grundbe-grifflichkeit auszusetzen, sondern jeden normativen Theorierah-men überhaupt? Hat er vor, die Problematik der normativen Rechtfertigung schlechthin auszuklammern? Wie passen in jedem der Fälle Foucaults erklärte Absichten zu seiner tatsächlichen Ver-wendung der Genealogie? Suspendiert sein Werk, was auch immer er zu tun beansprucht, wirklich alle politischen Normen - oder nur die liberalen?

Welche Reichweite die Ausklammerung auch haben mag - wie läßt sie sich überdies charakterisieren? Ist Foucaults Ausklamme-rung des Normativen bloß eine methodologische Strategie, eine zeitweilige Heuristik, die es ermöglichen soll, Phänomene auf un-verbrauchte Art neu zu sehen? Wenn es so wäre, ließe sie die Mög-lichkeit einer nachfolgenden, normativen Bewertung der Macht/ Wissen-Regimes offen. Oder stellt Foucaults Ausklammerung des Normativen alternativ dazu eine substantielle, prinzipielle Festle-gung auf den ethischen Kulturrelativismus dar, auf die Unmög-lichkeit normativer Rechtfertigung, jenseits von Macht/Wissen-Regimes?

Diese Fragen sind von enormer Wichtigkeit für die Interpreta-tion und Bewertung von Foucaults Werk. Allerdings liegen die Antworten nicht schon in seinen Schriften bereit. Um sie heraus-zufiltern, wird es notwendig sein, den konkreten Gebrauch seiner genealogischen Methode genauer zu betrachten.

2. Die Genealogie moderner Macht

Foucaults empirische Untersuchung moderner Gesellschaften konzentriert sich auf die Frage nach dem Wesen und der Entste-hung der charakteristisch modernen Formen der Macht. Seine These ist, daß das Moderne zumindest teilweise in der Entwick-lung und Anwendung eines radikal neuen Regimes von Macht/ Wissen liegt. Dieses Regime umfaßt Prozeduren, Praktiken, For-schungsobjekte, institutionelle Gebilde und vor allem Formen des sozialen und politischen Zwangs, die sich von denen vorhergehen-der Regimes deutlich unterscheiden.

Nach Foucault unterscheidet sich moderne Macht von früheren Formen, weil sie lokal, kontinuierlich, produktiv, kapillar und erschöpfend ist. Zum Teil ist dies eine Folge der Umstände, unter

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denen sie entstand. Foucault behauptet, daß das moderne Macht/ Wissen-Regime nicht von oben aufgezwungen wurde, sondern sich im späten 18. Jahrhundert allmählich, lokal und schrittweise in dem, was er »disziplinierende Institutionen« nennt, zu entwik-keln begann. Eine Vielzahl von »Mikrotechniken« wurde von unbekannten Ärzten, Aufsehern und Schulmeistern in unbekann-ten Hospitälern, Gefängnissen und Schulen, fernab der Macht-zentren des ancien régime perfektioniert. Erst später wurden diese Techniken und Praktiken aufgegriffen und in die von Foucault so genannten »globalen oder Makrostrategien der Beherrschung« in-tegriert."

Die disziplinierenden Institutionen gehörten zu den ersten, die vor dem Problem der Organisation, des Managements, der Uber-wachung und Kontrolle einer großen Anzahl von Personen stan-den, jenem Problem, das schließlich zum grundlegenden Problem moderner Regierungsformen werden würde. Daher sind für Fou-cault die Taktiken und Techniken, denen diese Institutionen Bahn brachen, bestimmend für die moderne Macht.

Foucault beschreibt eine Vielzahl neuer disziplinierender Mi-krotaktiken und Praktiken. Bekannt geworden ist vor allem le regard oder »der Blick«. Als eine Macht/Wissen-Technik versetzte der Blick die Administration in die Lage, die Insassen der Anstal-ten durch neu hergestellte und genutzte Sichtbarkeit zu verwalten. Die Administration entwickelte ein System, das es ermöglichte, die Insassen zu sehen, zu identifizieren, zu überwachen und so zu beherrschen. Laut Foucault war es eine Sichtbarkeit in zweierlei Hinsicht: synoptisch und individualisierend.

Die synoptische Sichtbarkeit gründete in architektonischen und organisatorischen Neuerungen, die einen klaren Überblick über die Insassen und ihre Beziehungen untereinander ermöglichten. Das wird deutlich am Entwurf von Gefängnissen nach dem Vor-bild von Benthams Panopticon (rückwärtig erhellte Zellen, die einen Wachturm ringförmig umgeben), an der Zusammenlegung der Patienten nach ihren Krankheiten in den Hospitälern sowie an der Anordnung der Schüler in einem Klassenraum, die eigens nach ihrem Rang und ihren Fähigkeiten eingerichtet ist.

Die individualisierende Sichtbarkeit zielte andererseits auf er-schöpfende, detaillierte Beobachtung von Individuen, ihrer Ge-wohnheiten und Lebensgeschichten. Foucault behauptet, daß es dieser Sichtbarkeit zu verdanken ist, daß das Individuum erstmals

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als ein »Fall«, als Gegenstand der Nachforschungen und zugleich als neues Zielobjekt der Macht erkannt wurde.12

Beide Arten des Blicks verknüpften als synoptisch und indivi-dualisierend wirkende Mikropraktiken die neuartigen Produk-tionsprozesse von neuartigem Wissen mit neuen Formen von Macht. Sie verbanden die wissenschaftliche Beobachtung von Be-völkerungen und Individuen, eine neue »Wissenschaft vom Men-schen« also, mit Überwachung. Diese Verbindung beruhte auf dem asymmetrischen Charakter des Blicks: er war einseitig - der Wissenschaftler oder Aufseher konnte den Insassen sehen, aber nicht umgekehrt. Am auffälligsten ist das im Fall des Panopticons. Da die Einseitigkeit des Blicks den Insassen das Wissen verwehrte, ob und wann sie eigentlich beobachtet wurden, waren sie gezwun-gen, den Blick zu internalisieren und sich de facto selbst zu überwachen.13 Die wissenschaftlichen Beobachtungsverfahren in anderen Institutionen objektivierten ihre Zielscheiben weniger of-fenkundig und spionierten deren Erfahrung nicht so unerbittlich aus.

Foucault würde uns jedoch nicht den Schluß erlauben, daß die objektivierenden Verhaltenswissenschaften ein Monopol auf die Nutzung des Blicks als einer Mikrotechnik des modernen Macht/ Wissens haben. Er zeigt das vergleichbare Funktionieren dessen, was er die »Hermeneutik der Psyche« nennt. Verfahren wie die Psychoanalyse, die das Individuum eher als ein sprechendes Sub-jekt, denn als ein sich verhaltendes Objekt konstituieren, beinhal-ten ebenfalls eine asymmetrische, einseitige Sichtbarkeit, vielleicht sollte man sagen, Hörbarkeit. Der Produzent des Diskurses ist per Definition zu dessen Entzifferung unfähig und abhängig von einer schweigenden hermeneutischen Autorität.14 Hier gibt es ebenfalls eine charakteristische Verwendung von Zwang, um Wissen zu er-langen, und von Wissen, um Zwang auszuüben.

Die Bedeutung, die Foucault Mikropraktiken wie etwa dem Blick beimißt, geht über ihren Stellenwert in der Geschichte der frühen disziplinierenden Institutionen hinaus. Wie ich schon sagte, zählten sie zu den ersten Antworten auf die Probleme des Bevölkerungsmanagements, die später die moderne Regierungs-form definieren sollten. Sie wurden schließlich Teil umfassender politischer Strategien und Zielsetzungen, aber schon in ihrer frühen Form als Mittel der Disziplinierung weisen sie Merkmale einer unverwechselbar modernen Macht auf.

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Weil sie die Macht veranlassen, fortwährend zu wirken, nehmen die disziplinierenden Taktiken spätere Entwicklungen in der Ge-nealogie der modernen Macht vorweg. Die panoptische Überwa-chung unterscheidet sich in dieser Hinsicht sehr von vormodernen Machtmechanismen. Letztere arbeiteten diskontinuierlich, traten periodisch auf und benötigten die Anwesenheit eines Vertreters der Macht für die Ausübung von Zwang. Die moderne Macht, wie sie zuerst in den disziplinierenden Mikropraktiken entwickelt wurde, benötigt dagegen diese Präsenz nicht, sie ersetzt Brutalität und Waffengewalt durch den »sanfteren« Zwang einer ununter-brochenen Sichtbarkeit. Die moderne Macht ist also dadurch charakterisiert, daß sie sich bedeckt hält. Sie braucht keine spekta-kulären Zurschaustellungen, wie sie für die Machtausübung im ancien régime typisch sind. Sie ist billiger im Unterhalt, sowohl ökonomisch, weil sie weniger Arbeitsaufwand benötigt, als auch sozial, weil sie nicht so leicht zur Zielscheibe des Widerstands wird, und ist doch wirksamer. Wegen ihrer Verbindung mit den Sozialwissenschaften ist der modernen Macht nach Foucault eine erschöpfende Analyse ihrer Objekte, sogar des gesamten sozialen Körpers möglich. Sie ist weder ignorant noch blind, noch schlägt sie blindlings zu wie frühere Regimes. Weil sie sich auf das Detail konzentriert, ist sie durchdringender als frühere Formen der Macht. Sie ergreift ihre Objekte auf niedrigster Ebene - in ihren Gesten, Gewohnheiten, Körpern und in ihrem Begehren. Die vor-moderne Macht konnte auf ihre Objekte hingegen nur äußerlich und von weitem wirken. Außerdem ist die moderne Macht, so wie sie zuerst in den disziplinierenden Mikropraktiken entwickelt wurde, nicht in wenigen zentralen Personen oder Institutionen wie König, Souverän, herrschender Klasse, dem Staat oder der Armee lokalisierbar, sondern vielmehr überall. Wie bei der Schil-derung der panoptischen Selbstüberwachung vorgeführt, ist sie sogar in den Bewachten selbst, in ihren Körpern, Gesten, Begeh-ren und Gewohnheiten präsent. Die moderne Macht ist, wie Foucault sagt, kapillar. Sie geht nicht von irgendeiner zentralen Quelle aus, sondern zirkuliert durch den gesamten sozialen Kör-per bis selbst in die kleinsten und anscheinend belanglosesten Glieder.15

Diese Charakteristika definieren in ihrer Kombination die Wir-kungsweise der modernen Macht als das, was Foucault »Selbster-weiterung« nennt. Auch in dieser Hinsicht unterscheidet sie sich

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von der Macht des ancien régime. Diese arbeitete sozusagen mit einem fixen Betrag an Gewalt, der ihr zur Verfügung stand. Sie verausgabte diese Gewalt durch, wie Foucault sagt, »Abzug« (pré-lèvement). Sie stellte sich widerstrebenden Kräften einfach entge-gen und versuchte, sie zu vernichten oder zu dezimieren. Dagegen vermehrt und steigert die moderne Macht ihre Kraft mit der Zeit. Sie tut es, indem sie gegnerische Kräfte nicht verneint, sondern benutzt, sie als Übertragungspunkte in ihren eigenen Kreislauf integriert.16 Deshalb bezieht der panoptische Mechanismus die Zelleninsassin in die Ökonomie der Disziplin mit ein und bringt sie dazu, sich selbst zu überwachen. Er zielt nicht darauf ab, sie zu unterdrücken, sondern darauf, sie umzuformen. Er versucht, wie Foucault sagt, »unterwürfige und nützliche Körper« zu erzeu-gen.17 Mit einer Anleihe bei der Marxschen Begrifflichkeit könnte man sagen, daß die vormoderne Macht als ein auf die einfache Reproduktion eingestelltes System funktionierte, während die moderne Macht auf die erweiterte Reproduktion ausgerichtet ist.

Foucaults Beschreibung des Ursprungs moderner Macht aus den Formen der Disziplinierung ist äußert reichhaltig und kon-kret. Weniger detailliert schrieb er über die Prozesse, durch die die lokalen, unsystematischen Mikrotechniken in globale Makrostra-tegien integriert wurden. Die ausführlichste Darstellung dieser Prozesse findet sich im ersten Band von Sexualität und Wahrheit. Dort erörtert Foucault die moderne Makrostrategie der »Bio-Macht«. Die Bio-Macht befaßt sich mit dem Management von Produktion und Reproduktion des Lebens in den modernen Ge-sellschaften. Sie ist auf solche für Macht/Wissen neuen Gegen-stände wie Bevölkerung, Gesundheit, städtisches Leben und Sexualität gerichtet. Sie objektiviert diese als Ressourcen, die ver-waltet, kultiviert und kontrolliert werden müssen. Sie verwendet neue quantitative sozialwissenschaftliche Techniken, um zu zäh-len, zu analysieren, Vorhersagen zu treffen und Vorschriften zu machen. Auch die verbreiteten nicht-quantitativen Diskurse über Sexualität macht sie sich zunutze, deren Anfänge Foucault auf die Selbstdeutung und Selbstbestätigung der Mittelklassen des 19. Jahrhunderts zurückführt.18

In den »Tanner Lectures« von 1979 verknüpfte Foucault seine Arbeit über die Bio-Macht mit dem Problem politischer Rationali-tät.19 Tatsächlich bezieht sich seine Einschätzung der Entwicklung

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und Nutzung der Sozialwissenschaften zur Verwaltung der Bevöl-kerungsressourcen und als Instrument sozialer Kontrolle erkenn-bar auf die üblichen Interpretationen der Modernisierung als Rationalisierungsprozeß. Doch es gibt einen auffälligen und sehr wichtigen Unterschied. Während die Konzepte Rationalität und Rationalisierung für andere Autoren einen zweiseitigen, normati-ven Charakter haben, gilt dies für Foucaults Verwendung dieser Konzepte nicht. In der Theorie von Jürgen Habermas zum Bei-spiel beinhaltet der Begriff Rationalisierung einen Gegensatz von Instrumentalisierung - d. h. einer einseitigen, partiellen und unge-nügenden Rationalisierung - und vollständiger, praktisch politi-scher Rationalität. Daher beinhaltet die Rationalisierung einen normativen Standard für die Kritik moderner Gesellschaften. Foucaults Diskussion der politischen Rationalität in den »Tanner Lectures« hingegen enthält keinen solchen Kontrast und keinen positiven normativen Pol. Rationalität ist für ihn entweder ein neutrales Phänomen oder (häufiger) ein Herrschaftsinstrument tout court,2°

3. Die politischen Implikationen der Genealogie

Foucaults Bild einer unverwechselbar modernen Macht, die auf einer kapillaren Ebene mittels einer Vielzahl alltäglicher Mikro-praktiken funktioniert, birgt bedeutsame politische Implikatio-nen, sowohl strategischer als auch normativer Art.

Foucaults Analyse setzt voraus, daß die moderne Macht das Individuum eher mittels der unterschiedlichen, für soziale Prakti-ken konstitutiven Formen des Zwangs berührt als durch eine Beeinträchtigung seines Denkens. Foucault dramatisiert dies, in-dem er behauptet, die Macht befände sich in unseren Körpern, nicht in unseren Köpfen. Er meint, weniger paradox ausgedrückt, daß die Praxis fundamentaler als Überzeugungssysteme den Ein-fluß verstehen hilft, den die Macht auf uns hat.

Aus dieser Sicht folgt, daß die Analyse und Kritik bestimmter Praktiken den Vorrang hat vor der Analyse und Kritik der Ideolo-gie. Foucaults Einsichten deuten darauf hin, daß zumindest eine grobe Version der Ideologiekritik als der sozialen Realität der mo-dernen Macht strategisch unangemessen auszuschließen ist. Das heißt, sie erklären eine Auffassung für unzureichend, nach der bei

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passenden, objektiv gegebenen materiellen Bedingungen das ein-zige oder wesentliche Hindernis sozialer Veränderung darin liegt, daß die Menschen ihre eigenen Bedürfnisse und Interessen ideolo-gisch verzerrt wahrnehmen. Wenn man es so knapp ausdrückt, erscheint zweifelhaft, ob überhaupt irgend jemand dieser Auffas-sung anhängt. Dennoch ist Foucaults eindringliche Erinnerung an den Vorrang der Praktiken ein nützliches Korrektiv der potentiel-len Einseitigkeit selbst scharfsinnigerer Versionen von ideologie-kritischer Strategie.21

Eine zweite strategische Implikation der Einsicht Foucaults in den kapillaren Charakter moderner Macht betrifft die Unzuläng-lichkeit staatszentrierter oder ökonomischer politischer Orientie-rungen. Solche Orientierungen gehen davon aus, daß die Macht entweder dem Staat oder der Ökonomie als den zentralen Stellen in der Gesellschaft entspringt oder auch beiden zugleich. Aber Foucaults Beschreibung der vielgestaltigen, unaufhörlichen Zir-kulation der Macht in den Mikropraktiken widerlegt diese Voraus-setzung. Sie zeigt vielmehr, daß die Macht überall und in jedem ist. Sie zeigt, daß die Macht in den scheinbar belanglosesten Einzelhei-ten und Verhältnissen des Alltagslebens ebenso gegenwärtig ist wie in den Chefetagen der Großindustrie, an den Montagebändern der Industrie, in den Parlamenten und in militärischen Einrichtungen. Foucaults Sichtweise läßt daher staatszentrierte und/oder ökono-mistische politische Orientierungen nicht zu. Das heißt, die Auf-fassung, das Ergreifen und Umgestalten staatlicher und/oder ökonomischer Macht genüge, um das moderne Machtregime zu beseitigen oder zu verändern, scheidet von vornherein aus.22

Man kann diese beiden strategisch-politischen Implikationen der empirischen Untersuchungen Foucaults miteinander verbin-den und positiver formulieren. Foucault kann so verstanden wer-den, daß er mit der Enthüllung des kapillaren Charakters moder-ner Macht eine grobschlächtige Ideologiekritik sowie Etatismus und Ökonomismus ausschließt und dadurch das eingeführt wird, was man die »Politik des Alltäglichen« nennt. Denn wenn die Macht in den banalen sozialen Praktiken und Beziehungen verkör-pert ist, dann müssen die Versuche, das Regime zu beseitigen oder umzugestalten, bei diesen Praktiken und Beziehungen ansetzen.

Das ist wahrscheinlich der wichtigste Einzelaspekt von Fou-caults Denken. Foucault stellt eine empirische und konzeptuelle Grundlage zur Verfügung, auf der Phänomene wie Sexualität, Fa-

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milie, Schule, Psychiatrie, Medizin, Sozialwissenschaft und an-dere als politische Phänomene behandelt werden können. Dies gestattet es, mit Problemen auf diesen Gebieten politisch umzuge-hen. Dadurch wird der Bereich erweitert, in dem sich die Men-schen kollektiv mit ihrer Lebensweise auseinandersetzen, sie verstehen und vielleicht auch sie zu ändern versuchen. Zweifellos setzte im Westen in den sechziger Jahren ein neuer Schub ein, die Grenzen des Politischen zu erweitern. Foucault ist offensichtlich davon beeinflußt worden und hat selbst wiederum geholfen, dies empirisch und konzeptuell zu unterstützen.

In den bisherigen Überlegungen zur politischen Strategie wurde als selbstverständlich vorausgesetzt, daß das moderne Machtre-gime unerwünscht ist und der Demontage und Umgestaltung bedarf. Aber jene Annahme gehört zu den wesentlichen normati-ven politischen Implikationen von Foucaults genealogischer Be-schreibung. Gerade diese Implikationen müssen nun thematisiert werden.

Ich habe verschiedentlich darauf hingewiesen, daß moderne Macht in Foucaults Analyse nicht vom Staat oder Souverän von oben herab gegen Individuen eingesetzt wird. Vielmehr zirkuliert sie überall, selbst noch in den winzigsten Kapillargefäßen des so-zialen Körpers. Für Foucault ergibt sich daraus die Konsequenz, daß der klassisch liberale, normative Gegensatz von legitimer und illegitimer Macht dem Wesen der modernen Macht nicht gerecht wird. Die liberale Grundbegrifflichkeit versteht Macht als eine vom Souverän ausgehende und sich den Subjekten aufzwingende. Sie versucht, eine machtfreie Zone des Rechts zu definieren, in den einzudringen illegitim ist. Die illegitime Macht wird als Unter-drückung verstanden und diese selbst als Überschreitung einer Grenze aufgefaßt.

Wenn aber die Macht überall ist und nicht von einer Quelle ausgeht oder in nur eine Richtung wirkt, dann ist die liberale Grundbegrifflichkeit nicht anwendbar. In Anbetracht dieser Tat-sache, behauptet Foucault weiterhin, funktioniere das Überhand-nehmen eines Diskurses, der vom liberalen Begriffsrahmen be-herrscht wird, möglicherweise selbst als Teil des kapillaren Dispositivs moderner Macht. Mit anderen Worten, dieser Diskurs dient vielleicht dazu, den wirklichen Charakter moderner Macht zu maskieren und Herrschaft auf diese Weise zu verbergen.23

Mit dieser letzten Behauptung überschreitet Foucault die

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Grenze zwischen konzeptueller und - in der Substanz - normati-ver Analyse. Mit der Verwendung des Begriffs >Herrschaft< in Verbindung mit der Preisgabe liberaler normativer Begriffe scheint es, als setze er irgendeinen alternativen Begriffsrahmen voraus. (Ich werde die Frage, um die es sich dabei handeln könnte, im nächsten Abschnitt dieses Kapitels diskutieren.) Falls Foucaults empirische These, daß die moderne Macht kapillar sei, zutrifft, schreibt sie noch nicht die Übernahme eines bestimmten normati-ven Begriffsrahmens vor, eher unterhöhlt sie eine traditionelle Grundlage des liberalen Begriffsrahmens.

Eine ähnliche Situation ergibt sich hinsichtlich der normativen politischen Implikationen von Foucaults Einsicht in den produkti-ven und sich selbst erzeugenden Charakter der modernen Macht, ihre Orientierung auf das, was ich »erweiterte Reproduktion« ge-nannt habe. Diese Einsicht widerspricht dem, was Foucault »die Repressionshypothese« nennt. Sie besagt, daß Macht wesensmäßig negativ durch solche Operationen wie Untersagung, Zensur und Verweigerung funktioniere. Dieser Auffassung zufolge ist Macht bloße Verneinung. Sie sagt Nein zu den als unerlaubt definierten Wünschen, Bedürfnissen, Handlungen und Sprechweisen. Aber wenn Foucault recht hat, ist die moderne Macht gleichzeitig daran beteiligt, alle diese Dinge zu produzieren. Seine empirische Dar-stellung läßt die Repressionshypothese und die von ihr gestützte politische Orientierung auf Befreiung nicht zu. Diese Orientie-rung, die heute im Westen weit verbreitet ist, zielt auf die Befreiung dessen ab, was die Macht unterdrückt. Sie macht »unerlaubte« Sprechweisen, Wünsche und Handlungen zu Äußerungen der poli-tischen Revolte. Foucault lehnt das nicht nur ab, weil es der wahren Beschaffenheit moderner Macht unangemessen ist, sondern gibt erneut zu verstehen, daß es ein typischer Zug des Einsatzes moder-ner Macht sei, befreiende Diskurse vermehrt hervorzubringen, um die wirkliche Funktionsweise der Herrschaft zu maskieren.24

Indem er die Repressionshypothese verwirft, schließt Foucault jene radikal normative Theorie aus, die den liberalen Gegensatz von Legitimität versus Illegitimität durch den Gegensatz »Unter-drückung versus Befreiung« ersetzt. Er verknüpft beide Begriff-lichkeiten mit der Funktionsweise von dem, was er als Herrschaft erkennt. Deshalb sieht es so aus, als ob Foucault irgendeine ei-gene, alternative normative Grundbegrifflichkeit voraussetze. Was für eine Begrifflichkeit könnte das sein?

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4. Offene Fragen zu normativen Dimensionen von Foucaults Genealogie

Meine These ist, daß Foucaults Werk - abgesehen von den wichti-gen Beiträgen zur Erforschung moderner Gesellschaften - auf Fragen hinausläuft, zu deren Beantwortung es nicht in der Lage ist. Eine kurze Vergegenwärtigung meines Argumentationsgangs zu diesem Punkt wird klären, was ich mit diesem Vorwurf meine.

Ich habe behauptet, daß Foucault zumindest das minimale heu-ristische Prinzip übernimmt, wonach Machtregimes als neutrale Phänomene thematisiert und beschrieben werden sollen und nicht sofort, beispielsweise vom liberalen Standpunkt aus, auf ihre Legi-timität oder Illegitimität hin befragt werden sollen. Weiter habe ich behauptet, die Verwendung dieser methodologischen Strategie er-laube ihm eine einleuchtende Darstellung der Entstehung des modernen Machtregimes, die wiederum einige vernachlässigte Wirkungsweisen der Macht im modernen Leben zutage fördere. Außerdem habe ich behauptet, daß Foucaults Darstellung moder-ner Macht gute Gründe beibringt, einige sehr weit verbreitete strategische und normative politische Orientierungen abzulehnen und statt dessen den Standpunkt einer »Politik des Alltäglichen« zu übernehmen.

Gleichzeitig habe ich offengelassen, auf welche Art und in wel-chem Ausmaß Foucault die Problematik einer normativen Recht-fertigung von Macht/Wissen-Regimes ausklammert. Ich habe einige Anzeichen dafür gefunden, daß seine Beschreibung der mo-dernen Macht tatsächlich nicht normativ neutral ist, bin ihnen aber nicht systematisch nachgegangen. Ich möchte diese Frage nun wieder aufgreifen, indem ich das politische Engagement von Fou-caults Werk näher betrachte.

Beginnen möchte ich mit der Bemerkung, daß Foucaults Schrif-ten überreich sind an Ausdrücken wie >das Zeitalter der Bio-Macht<, >die disziplinierende Gesellschafts >das Gefängnisarchi-pel<-Ausdrücke mit bedrohlichem Unterton. Außerdem muß ich festhalten, daß Foucault nicht vor dem häufigen Gebrauch von Begriffen wie >Herrschaft<, >Unterjochung< und >Unterwerfung< zurückschreckt, um das moderne Macht/Wissen-Regime zu be-schreiben. Demnach können die wichtigsten Züge seiner Be-schreibung ganz aufschlußreich folgendermaßen wiedergegeben

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werden: In der frühen Moderne vervollkommneten geschlossene disziplinierende Anstalten wie die Gefängnisse eine Vielzahl von Mechanismen zur Fabrikation und Unterjochung von Individuen als Objekte von Erkenntnis und Macht. Diese Techniken sollten abweichende Individuen umformen, um sie als unterwürfige und nützliche Körper wieder in die soziale Maschine einzubauen. Später wurden diese Techniken über die Grenzen ihrer institutio-nellen Geburtsstätten hinaus zur Grundlage globaler Strategien der Beherrschung, die die totale Verwaltung des Lebens zum Ziel hatten. Verschiedene Diskurse, die sich diesem Regime zu wider-setzen schienen, unterstützten es in Wirklichkeit, teilweise indem sie dessen wahren Charakter verbargen.

So ausgedrückt, wird deutlich, daß Foucaults Darstellung der Macht in den modernen Gesellschaften alles andere als neutral und distanziert ist. Wie kam er aber von der Suspendierung der Frage nach der Legitimität moderner Macht zu dieser engagierten Kritik der Bio-Macht?

Viele Erklärungen sind möglich. In einer ersten Lesart könnte Foucaults Kritik politisch engagiert und doch noch normativ neu-tral sein. Das heißt, seine Ausklammerung des Normativen könnte so interpretiert werden, daß sie sich nicht bloß auf die liberalen, sondern auf alle politischen Normen erstreckt. In einer Vielzahl von Interviews übernimmt Foucault selbst diese Interpre-tation. Er behauptet, er habe sich der Macht strategisch und militärisch angenähert, nicht normativ. Die Perspektive des Rechts, mit ihrem Gegensatz von Legitimität und Illegitimität habe er durch die des Kriegs, mit ihrem Gegensatz von Kampf und Unterwerfung ersetzt.25 In dieser Interpretation wäre Foucaults Verwendung der Begriffe >Herrschaft<, >Unterjochung< und U n -terwerfung« normativ neutral: diese Begriffe würden lediglich die strategischen Bündnisse und die Wirkungsweisen der verschiede-nen gegnerischen Kräfte in der modernen Welt beschreiben.

Eine solche Interpretation läßt jedoch eine Reihe von Fragen offen. Gewöhnlich identifizieren strategisch-militärische Analy-sen die verschiedenen gegnerischen Seiten des Kampfs. Sie spezifi-zieren, wer wen beherrscht oder unterjocht und wer sich wem widersetzt oder unterwirft. Das tut Foucault nicht. Er verwirft es sogar als unmöglich. Er behauptet, es sei irreführend, von der Macht als einem Eigentum zu denken, das von wenigen Personen oder Klassen besessen wird und von anderen nicht. Macht sei als

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ein komplexes, veränderliches Feld der Verhältnisse aufzufassen, in dem jeder ein Element ist.26

Diese Behauptung steht genaugenommen nicht in Einklang da-mit, daß Foucault zuweilen die Bio-Macht mit Klassenherrschaft verbindet und die sie begleitende marxistische ökonomische Inter-pretation (oder zumindest Elemente daraus) implizit akzeptiert. Auch seine Tendenz, kapillare Akteure wie die Sozialwissenschaft-ler, Verhaltenstechnologen und Hermeneutiker der Psyche mit den »Kräften der Herrschaft« zu identifizieren, paßt nicht dazu.

Ob er die Kräfte der Herrschaft und die von ihnen Beherrschten identifizieren kann oder nicht - die Behauptung, daß seine norma-tiv klingende Terminologie nicht normativ sei, sondern militä-risch, stößt auf eine zweite Schwierigkeit: Der militärische Ge-brauch von >Herrschaft<, >Kampf< und >Unterwerfung< allein kann jemandes Präferenz oder Engagement für eine der gegenüberste-henden Seiten weder erklären noch rechtfertigen. Foucault ruft ganz eindeutig zum Widerstand gegen Beherrschung auf. Aber warum? Warum ist der Kampf der Unterwerfung vorzuziehen? Warum soll der Herrschaft Widerstand geleistet werden? Erst nach Einführung irgendeiner Art von normativen Begriffen könnte Foucault mit der Beantwortung solcher Fragen beginnen. Nur mit normativen Vorstellungen könnte er daran gehen, uns zu sagen, was an dem modernen Macht/Wissen-Regime falsch ist und warum wir ihm entgegentreten sollen.

Die Annahme, Foucaults Kritik sei engagiert, aber nicht norma-tiv, bereitet ernsthafte Schwierigkeiten. Es wäre vielleicht besser, anzunehmen, daß er nicht jede normative Grundbegrifflichkeit ausgeklammert hat, sondern nur den liberalen, auf Legitimität be-ruhenden Begriffsrahmen. In diesem Fall wird es ausschlagge-bend, herauszufinden, welchen alternativen normativen Begriffs-rahmen er voraussetzt. Könnte die Sprache von Herrschaft, Unterjochung, Kampf und Widerstand als das Skelett einer alter-nativen Grundbegrifflichkeit interpretiert werden?

Obwohl das gewiß theoretisch möglich ist, bin ich nicht in der Lage, es konkret vorzuführen. Ich finde weder Hinweise auf alter-native Normen in Foucaults Schriften, noch Anhaltspunkte dafür, wie >Herrschaft<, >Unterjochung<, >Unterwerfung< etc. in einer vollkommen neuen, »postliberalen« Weise interpretiert werden sollen. Ich will nicht leugnen, daß diese Begriffe in hohem Maß neuen, empirischen Gehalt aus Foucaults Schilderung der diszipli-

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nierenden Macht beziehen. >Herrschaft< beispielsweise wird zu einem Begriff, der dressage einschließt, wobei dressage den Ge-brauch gewaltlosen physischen Zwangs bei der Produktion von »normalen«, konformen, ausgebildeten Individuen umfaßt. Aber solche wichtigen neuartigen Bedeutungserweiterungen stehen nicht per se für die Ausarbeitung eines gänzlich neuen normativen Begriffsrahmens. Mit anderen Worten, sie reichen nicht aus, um uns in Begriffen, die von den liberalen Normen unabhängig sind, genau zu sagen, was an der Disziplinierung falsch ist. Im Gegen-teil, ihre normative Kraft scheint vom stillschweigenden Bezug auf Vorstellungen von Recht, Grenzen und ähnlichem abzuhängen.

Ich deutete bereits an, daß Foucault manchmal vorauszusetzen scheint, die Makrostrategien globaler Beherrschung wie die Bio-Macht seien mit Klassenherrschaft verknüpft, die Marxsche Dar-stellung der letzteren also im Grunde richtig sei. Setzt er womög-lich den Marxschen normativen Begriffsrahmen voraus ? Für diesen ist, nach einer weithin akzeptierten Lesart charakteristisch, daß er nicht alle liberalen Normen vollends suspendiert. Vielmehr setzt er zumindest einige von ihnen in der Kritik der kapitalistischen Ge-sellschafts- und Produktionsverhältnisse voraus. Marx zeigt bei-spielsweise, daß der vertragliche Tausch von Arbeitskraft gegen Lohn, obwohl dem Anschein nach symmetrisch und frei, in Wahr-heit asymmetrisch und erzwungen ist. Er gibt demnach die bürger-lichen Normen von Gegenseitigkeit und Freiheit nicht völlig preis. Vielleicht könnte Foucault in einer ähnlichen Weise gelesen wer-den. Vielleicht suspendiert er die liberalen Normen nicht im gan-zen, sondern setzt genau die Normen, die er kritisiert, voraus. Seiner Schilderung solcher disziplinierenden Mikrotechniken wie beispielsweise des Blicks käme dann die Kraft einer Veranschau-lichung zu, daß die moderne Sozialwissenschaft, wie sehr sie auch vorgibt, neutral und machtfrei zu sein, in Wirklichkeit ebenfalls Asymmetrie und Zwang beinhaltet.

Ich bin sicher, Foucault hätte diese Lesart seines Werks zurück-gewiesen. Sie gewinnt aber einiges an Plausibilität, wenn man die disziplinierende oder internierende Gesellschaft berücksichtigt, die in Überwachen und Strafen beschrieben ist. Wenn man sich fragt, was genau an dieser Gesellschaft falsch ist, kommen einem augenblicklich Begriffe Kants in den Sinn. Damit konfrontiert, daß Personen ausschließlich als Mittel, die der Manipulation ver-schiedener Institutionen unterliegen, behandelt werden, kann

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man nur mit Begriffen wie der Verletzung der Würde und Autono-mie Einspruch erheben. Aber diese Kantischen Begriffe sind wie-derum erkennbar auf die liberalen Normen der Legitimität und Illegitimität bezogen, die als Grenzen und Rechte definiert sind.

Vorausgesetzt, keine andere normative Grundbegrifflichkeit ist in den Schriften Foucaults zu finden, kann man annehmen, daß der liberale Begriffsrahmen nicht ganz aufgegeben wurde. Wenn dem so ist, befindet sich Foucault in einem regelrechten Wider-spruch. Denn er ist noch mehr als Marx bestrebt, diesen Begriffs-rahmen als Herrschaftsinstrument zu behandeln.

Nicht genug, daß Foucault sich selbst widerspricht. Er tut dies auch deswegen, weil er - wenn es um seinen eigenen Standort geht - mißversteht, wie Normen in der sozialen Beschreibung funktionieren. Er glaubt, daß er die Darstellung moderner Macht von allen Spuren des Liberalismus freihalten kann, indem er jeden ausdrücklichen Bezug auf Vorstellungen von Legitimität und Ille-gitimität, die nur die Spitze des Eisbergs sind, vermeidet. Mit anderen Worten, er geht davon aus, diese Normen säuberlich von der größeren kulturellen und linguistischen Matrix, in der sie an-gelegt sind, isolieren und entfernen zu können. Er unterschätzt das Maß, in dem das Normative auf allen Ebenen der Sprache eingelagert ist und sie erfüllt, und in welchem Maß seine eigene Kritik, von den Formen der Beschreibung, der Interpretation und der Beurteilung Gebrauch machen muß, die innerhalb der moder-nen normativen Tradition des Westens gebildet wurden.27

Es scheint also, als entließe keine der hier aufgebotenen Lesar-ten Foucault gänzlich aus den Schwierigkeiten. Ob wir nun davon ausgehen, er suspendiere jede normative Grundbegrifflichkeit oder nur die liberale oder sogar, er behalte jene bei, immer wird er von unbeantworteten und vielleicht unbeantwortbaren Fragen be-helligt. Da er es versäumt, irgendeine konsistente normative Stra-tegie zu entwerfen und sie zu verfolgen, endet er bei einer seltsamen Mischung aus amoralischer militärischer Beschreibung, Marxschem Jargon und Kantischer Moralität. Trotz der vielen wertvollen, empirischen Aspekte, muß ich den Schluß ziehen, daß Foucaults Werk normativ verworren ist.

Ich glaube, daß diese Verwirrung auf einige konzeptuelle Mehr-deutigkeiten von Foucaults Begriff der Macht zurückgeführt wer-den muß. Dieses Konzept ist selbst eine Mischung aus Neutralität

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und Engagement. Nehmen wir zum Beispiel seinen Anspruch, daß Macht produktiv und nicht repressiv sei. In diesem Aufsatz bin ich von der Annahme der empirischen Behauptung der sich erweiternden Natur einer unverwechselbar modernen Macht aus-gegangen. Aber Foucault behandelt die Produktivität zugleich als konzeptuelles Charakteristikum jeder Macht, was widersprüch-lich ist. Er behauptet, daß nicht nur das moderne Regime, sondern jedes Machtregime bestimmte kulturelle Praktiken hervorbringt, formt und aufrechterhält, einschließlich solcher, die auf die Pro-duktion von Wahrheit gerichtet sind. Jedes Regime schafft, gestal-tet und fördert eine typische Lebensform als ein positives Phäno-men. Kein Regime verneint einfach nur. Foucault stellt auch die umgekehrte Behauptung auf, daß keine positive Lebensform ohne Macht existieren kann. Machtfreie Kulturen, machtfreie soziale Praktiken und machtfreies Wissen sind prinzipiell unmöglich. Daraus folgt aus seiner Sicht, daß niemand nur deshalb etwas ge-gen eine Lebensform einwenden kann, weil sie machtbeladen ist. Die Macht ist produktiv, unaufhebbar und darum normativ neu-tral.28

Wie ist diese Auffassung zu beurteilen? Mir scheint sie auf eine Verbindung von drei ziemlich harmlosen Aussagen hinauszulau-fen: 1. Soziale Praktiken sind notwendig normengeleitet. 2. Die praxisleitenden Normen beschränken und ermöglichen zugleich. 3. Diese Normen ermöglichen nur insoweit sie beschränken. Zu-sammen implizieren diese drei Aussagen, daß soziale Praktiken nicht ohne Zwänge zu haben sind und daß daher die bloße Tatsa-che einer Beschränkung keiner einzelnen Praktik vorgehalten wer-den kann. Diese Auffassung ist in der Philosophie des 20. Jahr-hunderts geläufig. Sie ist beispielsweise in Habermas' Darstellung, wie die gelingende Performanz jedes Sprechakts die Normen der Wahrheit, der Verständlichkeit, der Wahrheitstreue und der Ange-messenheit voraussetzt, enthalten. Solche Normen ermöglichen die Kommunikation, aber nur indem sie denkbare und tatsäch-liche Äußerungen entwerten und ausschließen: Sie ermöglichen uns das Sprechen in genau dem Maße, wie sie uns einschränken.

Wenn Foucaults These von der generellen Produktivität und Untilgbarkeit der Macht das besagt, dann ist die Macht in der Tat ein normativ neutrales Phänomen. Aber stimmt diese Interpreta-tion mit Foucaults Verwendungsweise überein? In gewisser Hin-sicht, ja. Unter dem Sammelbegriff Macht/Wissen bringt er solche

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Phänomene wie die Kriterien für die Wohlgeformtheit von Wis-sensansprüchen, die einige Aussageformen positiv und andere negativ bewerten, und zugleich solche Phänomene wie die soziale oder institutionelle Autorisierung derer, die Wissensansprüche er-heben, eine Autorisierung, die bestimmte Sprecher dazu berech-tigt, bestimmte spezialisierte Wissensansprüche zu stellen, und zugleich andere davon ausschließt. Wenn das die Art von Dingen ist, die mit Macht gemeint sind, dann ist gegen die These, wonach die Macht produktiv, untilgbar und daher normativ neutral ist, nichts einzuwenden.

Aber Macht/Wissen-Regimes enthalten nach Foucault auch Phänomene anderer Art. Für die subtilere Durchführung ihrer Politik schließen sie Formen offenen und verdeckten Zwangs ein, durch die Kenntnisse von und über Personen gewonnen und Ziel-objekte oder -personen eingekreist werden. Diese Phänomene sind bei weitem bedrohlicher. Daß sie im Prinzip nicht zu beseiti-gen sind, ist nicht unmittelbar einleuchtend. Wenn sie mit Macht gemeint sind, dann ist der Anspruch, Macht sei produktiv und untilgbar und deshalb normativ neutral, höchst fragwürdig.

Wie bereits bemerkt, deckt Foucaults Vorstellung von einem Macht/Wissen-Regime eine höchst heterogene Sammlung von Phänomenen ab. Nun zeigt sich, daß die Schwierigkeiten, die sein Werk in der normativen Dimension betreffen, zumindest teilweise von dieser Heterogenität herrühren. Das Problem besteht darin, daß Foucault zu viele Dinge Macht nennt. Zugegeben, alle kultu-rellen Praktiken beinhalten Zwänge - aber diese Zwänge sind verschiedenartig und verlangen daher eine Vielfalt unterschied-licher normativer Antworten. Zugegeben, ohne Macht kann es keine sozialen Praktiken geben - aber daraus folgt weder, daß alle Formen der Macht normativ gleichwertig sind, noch, daß be-stimmte soziale Praktiken genauso gut sind wie andere. Für Fou-caults eigenes Projekt ist es in der Tat wesentlich, daß er in der Lage ist, bei den Praktiken und den Formen des Zwangs bessere von schlechteren zu unterscheiden. Dies erfordert aber größere normative Ressourcen als die, über die er verfügt.

Worauf es ankommt, kann auch so gefaßt werden: Foucault schreibt, als ob er sich der Existenz des ganzen Korpus der Sozial-theorie Max Webers mit ihren sorgfältigen Unterscheidungen von Begriffen wie Autorität, Zwang, Gewalt, Herrschaft und Legiti-mation nicht bewußt wäre. Phänomene, die mit solchen Begriffen

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unterschieden werden könnten, werden unter dem Sammelbegriff Macht zusammengefaßt.29 Auf die Möglichkeit einer weiten Bandbreite normativer Nuancen wird verzichtet. Das Ergebnis ist normativ eindimensional.

Ich erwähnte oben, daß, obgleich auch Foucaults Genealogie der modernen Macht auf die Erforschung der Modernisierung und Rationalisierung bezogen ist, es dennoch einen sehr wichtigen Unterschied gibt: Das Fehlen eines zweipoligen normativen Ge-gensatzes bei Foucault, der mit Habermas' Gegensatz von partiel-ler und einseitiger instrumenteller Rationalität einerseits und vollständigerer, praktischer politischer Rationalität andererseits vergleichbar wäre. Die Konsequenzen dieses Mangels werden nun voll sichtbar. Weil Foucault keine Grundlage hat, um beispiels-weise Machtformen, die Herrschaft beinhalten, von solchen, die keine beinhalten, zu unterscheiden, scheint es, als heiße er eine pauschale Ablehnung der Moderne gut. Er tut dies, ohne ein Kon-zept von dem zu haben, was die Moderne ersetzen könnte.

Tatsächlich schwankt Foucault zwischen zwei gleichermaßen unzulänglichen Haltungen. Einerseits folgt er einem Machtkon-zept, das ihm die Verurteilung inakzeptabler Seiten der modernen Gesellschaften verbietet. Gleichzeitig verrät aber seine Rhetorik die Überzeugung, daß modernen Gesellschaften nichts zugute ge-halten werden kann. Was Foucault offensichtlich fehlt, sind nor-mative Kriterien zur Unterscheidung der annehmbaren von den unannehmbaren Formen der Macht. Wie die Dinge jetzt liegen, sind die originellen und wertvollen Dimensionen seines Werks in Gefahr, auf Grund des Fehlens einer adäquaten normativen Per-spektive mißverstanden zu werden.

Anmerkungen

1 Foucault übernahm den Begriff >Genealogie< erst in Verbindung mit seinen späteren Schriften; siehe insbesondere Nietzsche, die Genealo-gie, die Historie, in: ders., Von der Subversion des Wissens, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1982. Früher nannte er seinen Ansatz >Archäologie<; siehe insbesondere Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frank-furt a.M. 1981. Diesen Wechsel erläutert Foucault in dem Interview

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Wahrheit und Macht mit A. Fontana und P. Pasquino, in: Dispositive der Macht. Michel Foucault über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Ber-lin 1978.

2 Foucault, Wahrheit und Macht, a. a. O., S. 29. 3 Foucault, Nietzsche, Freud, Marx, in: Nietzsche. Cahiers de Royau-

mont, Paris 1967, S. 183-200. 4 Foucault, Wahrheit und Macht, a .a .O. , S. 34. 5 Ebenda, S. 25 f., S. 51, S. 53f. 6 Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a. M./Berlin/Wien

1977; Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: ders., Von der Sub-version des Wissens, a. a. O., S. 95 ff.; Discipline and Punish: The Birth of the Prison, New York 1979, S. 17-19, S. io i f . , S. 170-173, S. 192.

7 Daß Foucaults Projekt mit Hilfe eines Konzepts der Ausklammerung verstanden werden kann, wurde mir erst bei Hubert L. Dreyfus und Paul Rabinow deutlich. Was ich im folgenden die Ausklammerung der Problematik epistemischer Rechtfertigung nenne (obwohl sie die Ausklammerung der Problematik normativer Rechtfertigung nicht an-sprechen), diskutieren sie in: dies., Michel Foucault: jenseits von Struk-turalismus und Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1987.

8 Foucault, Wahrheit und Macht, a. a. O., S. 26; und Discipline and Pun-ish, a.a. O., S. 184f.

9 Foucault, Die Machtverhältnisse durchziehen das Körperinnere, in: Dispositive der Macht, a. a. O.; und Recht der Souveränität/Mechanis-mus der Disziplin, in: ebenda, S. 75, S. 78.

10 Foucault, Historisches Wissen der Kämpfe und Macht, in: Dispositive der Macht, a. a. O., S. 73.

11 Foucault, The Eye of Power, in: Colin Gordon (Hg.), Power/Know-ledge: Selected Interviews and Other Writings, 1972-1977, New York 1980, S. 158f.; und Räderwerke des Überwachens und Strafens, in: Mikrophysik der Macht. Michel Foucault über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin 1976, S. 32 f.

12 Foucault, The Eye of Power, a .a .O. , S. 146-165; und Discipline and Punish, a. a. O., S. 191-194, S. 201-209, S. 252.

13 Foucault, Discipline and Punish, a. a. O., S. 202f. 14 Foucault, Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, Der Wille zum Wissen,

Frankfurt a. M. 1977, S. 85 f. 15 Foucault, Mächte und Strategien, in: Dispositive der Macht, a .a .O. ,

S. 2ioff. ; Wahrheit und Macht, a .a .O. , S. 35, S. 42f.; The Eye of Power, a .a .O. , S. 151 f.; Recht der Souveränität/Mechanismus der Disziplin, a .a .O. , S. 90f.; Discipline and Punish, a .a .O. , S. 201-209.

16 Foucault, The Eye of Power, a. a. O., S. 160; Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1977, S. i62f.; und Discipline and Punish, a. a. O., S. 170.

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17 Foucault, Discipline and Punish, a. a. O., S. 136-138. 18 Foucault, Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, a .a .O. , S. 37-40, S. 147-

155, S. 161-173. 19 Foucault, Omnes et singulatim: Towards a Criticism of >Political Rea-

son<, in: Sterling McMurrin (Hg.), The Tanner Lectures on Human Values II (1981), Salt Lake City 1981, S. 225 ff., (dt.: Für eine Kritik der politischen Vernunft, in: Lettre International 1, Sommer 1988, S. 58-66).

20 Ebenda. 21 Foucault, Wahrheit und Macht, a .a .O. , S. 34, S. y 3 f. 22 Foucault, Wahrheit und Macht, a .a .O. , S. 38f.; Historisches Wissen

der Kämpfe und Macht, in: Dispositive der Macht, a .a .O. , S. 69f.; Macht und Körper, in: Mikrophysik der Macht, a. a. O., S. 110.

23 Foucault, Recht der Souveränität/Mechanismus der Disziplin, a. a. O., S. 78 f.

24 Foucault, Mächte und Strategien, a .a .O. , S. 207-210; Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, a .a .O. , S. 17-23; Wahrheit und Macht, a .a .O. , S. 34f.; Macht und Körper, a. a. O., S. 108.

25 Foucault, Historisches Wissen der Kämpfe und Macht, a .a .O. , S. 71-74.

26 Dazu Foucaults Vorlesungen Historisches Wissen der Kämpfe und Macht und Recht der Souveränität/Mechanismus der Disziplin, a. a. O., sowie Mächte und Strategien, S. 2ioff .

27 Diese Formulierung verdankt sich Anregungen von Richard Rorty und Albrecht Wellmer.

28 Foucault, Discipline and Punish, a. a. O., S. 27; Mächte und Strategien, a. a. O., S. 210-212; Wahrheit und Macht, a. a. O., S. 51-54; Recht der Souveränität/ Mechanismus der Disziplin, a .a .O. , S. 75 f.

29 Für diese Hinweise bin ich Andrew Arato zu Dank verpflichtet.

Kapitel 2

Michel Foucault: Ein »Jungkonservativer«?

In einer neueren Diskussion des Postmodernismus sprach Jürgen Habermas von Michel Foucault als einem »Jungkonservativen«.1

Dieser Beiname spielte auf die »konservativen Revolutionäre« im Zwischenkriegsdeutschland der Weimarer Republik an, eine Gruppe radikaler, antimodernistisch eingestellter Intellektueller, zu deren Mitgliedern Martin Heidegger, Ernst Jünger, Carl Schmitt und Hans Freyer zählten. Die Etikettierung »Jungkonser-vativer« lief auf den Vorwurf hinaus, Foucault entwickele eine, wie Habermas sagt, »totale Kritik der Moderne«. Nach Habermas ist eine solche Kritik theoretisch paradox und politisch suspekt zu-gleich. Sie ist theoretisch paradox, weil sie nicht umhin kann, unterschwellig eine Reihe von den modernen Kategorien und Ein-stellungen vorauszusetzen, deren Uberwindung sie beansprucht. Und sie ist politisch suspekt, weil sie nicht so sehr auf eine dialek-tische Auflösung der Probleme moderner Gesellschaften, sondern auf eine radikale Ablehnung der Moderne überhaupt abzielt. Kurz, Habermas behauptet, daß Foucaults Kritik der heutigen Kultur und Gesellschaft bestenfalls modern und schlimmstenfalls antimodern ist, obwohl sie vorgibt, postmodern zu sein.2

Aus Habermas' Sicht dreht sich der Streit zwischen ihm und Foucault um die Einstellung gegenüber der Moderne. Habermas stellt sich in die Tradition der dialektischen Gesellschaftskritik zwischen Marx und der Frankfurter Schule. Diese Tradition analy-siert die Modernisierung als einen zweiseitigen historischen Pro-zeß und beharrt darauf, daß die Rationalität der Aufklärung, obwohl sie vormoderne Formen der Herrschaft und Unfreiheit auflöste, zu ihren eigenen, neuen und heimtückischen Herr-schaftsformen führt. Was Habermas an dieser Tradition interes-siert und was sie von der rivalisierenden Tradition absetzt, in der er Foucault sieht, ist, daß sie die modernen Ideale und Bestrebungen, deren zweiseitige Realisierung sie kritisiert, nicht in toto verwirft. Statt dessen ist sie bemüht, den »emanzipatorischen Impuls« der Aufklärung und den realen Erfolg dieser Bewegung hinsichtlich der Überwindung vormoderner Herrschaftsformen zu bewahren

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und weiterzutreiben - selbst wenn sie die schlechten Seiten der modernen Gesellschaften kritisiert.

Dies sei jedoch nicht die Haltung von Foucault, behauptet Ha-bermas. Er gehöre vielmehr in die Tradition der ablehnenden Kritik der Moderne, die Nietzsche, Heidegger und die französi-schen Poststrukturalisten umfaßt. Diese Autoren strebten, anders als die Dialektiker, mit denen sich Habermas identifiziert, einen totalen Bruch mit der Aufklärung an. In ihrem Eifer, so radikal wie möglich zu sein, »totalisieren« sie die Kritik, so daß sie sich gegen sie selbst wende. Nicht zufrieden mit der Kritik des Wider-spruchs zwischen der modernen Norm und der Wirklichkeit der Moderne, kritisierten sie auch die konstitutiven Normen der Mo-derne und lehnten genau die Verpflichtungen auf Wahrheit, Ratio-nalität und Freiheit ab, die Kritik überhaupt möglich machen.

Was sollen wir von diesem stark aufgeladenen Rundumschlag gegen den politischsten der französischen Poststrukturalisten durch den führenden Vertreter der deutschen Kritischen Theorie halten?

Auf der einen Seite lenkt die Kritik von Habermas an Foucault unsere Aufmerksamkeit auf einige sehr wichtige Fragen: Wie steht Foucault zu den politischen Idealen der Aufklärung? Verwirft er das Projekt, die Praktiken und Institutionen im Hintergrund, die die Möglichkeiten des sozialen Lebens strukturieren, zu untersu-chen, um sie unter die bewußte, kollektive Kontrolle der Men-schen zu bringen? Lehnt er die Konzeption von Freiheit als Autonomie ab, die dieses Projekt vorauszusetzen scheint? Ist er auf einen totalen Bruch mit der seit langem bestehenden west-lichen Tradition aus, Emanzipation durch rationale Reflexion zu erreichen?

Auf der anderen Seite tendiert die Kritik von Habermas, selbst wenn sie unsere Aufmerksamkeit auf solche Fragen lenkt, nicht dazu, sich um die Art Untersuchung zu bemühen, die zur Beant-wortung dieser Fragen nötig ist. Eigentlich ist seine Formulierung zu tendenziös, um eine faire Beurteilung dieser Streitfragen zu erlauben. Sie übersieht die Möglichkeit, daß die Zielscheibe von Foucaults Kritik vielleicht nicht die Moderne schlechthin ist, son-dern nur eine ihrer besonderen Komponenten: Ein System der Praktiken und Diskurse, das Foucault »Humanismus« nennt. Au-ßerdem weicht sie einer wichtigen Frage aus, da sie voraussetzt, man könne den Humanismus nicht ablehnen, ohne auch die Mo-

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derne abzulehnen. Schließlich ist sie voreilig mit der alarmieren-den Vermutung, daß Foucault die humanistischen Konzepte und Werte im ganzen zurückweisen muß, wenn er eine »universalisti-sche« oder fundamentalistische Metainterpretation dieser Kon-zepte und Werte ablehnt.

Insgesamt gesehen erhöht Habermas den Einsatz vorschnell und verspielt damit die Möglichkeit, Foucault eine Reihe von nu-ancierteren und analytisch präziseren Fragen zu stellen: Vorausge-setzt, Foucault zielt tatsächlich auf den »Humanismus« ab, was ist dann genau der Humanismus, und wie ist allgemeiner gefaßt das Verhältnis zwischen Humanismus und Moderne? Will Foucault wirklich den Humanismus verwerfen und wenn ja, aus welchen Gründen? Lehnt er ihn beispielsweise aus rein konzeptuellen und philosophischen Gründen ab? Besteht das Problem darin, daß das humanistische Vokabular noch einer überkommenen cartesiani-schen Metaphysik verhaftet ist? Oder lehnt Foucault den Huma-nismus aus strategischen Gründen ab? Ist er anders gesagt der Uberzeugung, daß eine humanistische politische Haltung einst emanzipatorische Kraft gehabt haben mag, als es darum ging, den vormodernen Herrschaftsformen des ancien régime entgegenzu-treten, daß aber dies nicht länger der Fall ist? Ist er daher aus einem strategischen Motiv der Meinung, daß Appelle an humanistische Werte in der gegenwärtigen Situation scheitern müssen, neue, we-sensmäßig moderne Herrschaftsformen zurückzudrängen - ja, im Gegenteil, daß diese Appelle solche Herrschaftsformen fördern müssen? Oder verwirft Foucault den Humanismus aus normati-ven Gründen? Ist er der Ansicht, daß das humanistische Projekt an sich nicht wünschenswert ist? Ist der Humanismus nach seiner Meinung einfach eine Formel für die Herrschaft?

Wenn an Habermas auszusetzen ist, daß er es versäumt, solche Fragen zu stellen, dann muß Foucault dafür kritisiert werden, daß er daran scheitert, sie zu beantworten. Seine Position ist tatsäch-lich höchst zweideutig: Einerseits spricht er sich nie direkt für die Negation als eine Alternative zur dialektischen Gesellschaftskritik aus. Andererseits aber sind seine Schriften voll mit rhetorischen Kunstgriffen, die negierende Haltungen vermitteln. In Anbe-tracht seiner allgemeinen Unwilligkeit, die theoretischen Grund-annahmen zu benennen, von denen seine Arbeit zehrt, ist es außerdem nicht verwunderlich, daß Foucault die verschiedenen Arten der Ablehnung, die ich soeben umrissen habe, nicht unter-

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scheidet. Er tendiert im Gegenteil dazu, die konzeptuellen, strate-gischen und normativen Argumente gegen den Humanismus zu verbinden.

Diese Zweideutigkeiten haben unter Foucaults Interpreten zu einer interessanten Meinungsverschiedenheit geführt, die sich di-rekt auf die Kontroverse bezieht, die von Habermas ausgelöst wurde. Da Foucaults Texte streckenweise philosophische, histori-sche und politische Überlegungen enthalten, welche die verschie-densten negativistischen Interpretationen zulassen, und weil de-ren konzeptuelle, strategische und normative Dimensionen nicht unterschieden werden, neigen die Interpreten dazu, das eine oder andere dieser Elemente als den Schlüssel zum Ganzen aufzugrei-fen. David Hoys Interpretation zufolge verwirft Foucault den Humanismus aus, wie ich es nennen würde, konzeptuellen oder philosophischen Gründen.3 Andere Interpreten haben die Auffas-sung vertreten, daß Foucault - wiederum in meinen Begriffen -den Humanismus nur aus strategischen Gründen zurückweist. Von allen Interpreten haben Hubert L. Dreyfus und Paul Rabinow Foucault am meisten zugemutet, denn sie lesen ihn als einen Au-tor, der - in meinen Begriffen - die humanistischen Werte substan-tiell, normativ ablehnt.4 Ich glaube, das sind die gegenwärtig wichtigsten, prototypischen Interpretationen Foucaults. Nur in-dem wir sie näher untersuchen, können wir hoffen, die Kontro-verse um den »Jungkonservativen« zu verstehen.

Im folgenden werde ich jede dieser drei Interpretationen unter-suchen. Ich werde mich jedoch nicht mit der Frage beschäftigen, wer Foucault richtig verstanden hat. Ich glaube nicht, daß Fou-cault eine einzige konsistente Position vertritt, sondern daß es in den Texten für jede Lesart Evidenzen gibt. Es soll hier nicht darum gehen, wo die Übereinstimmung solcher Evidenzen liegt. Mein primäres Anliegen sind die wesentlichen Streitfragen zwischen Foucault und Habermas. Ich werde versuchen, diese strittigen Fragen präziser und überzeugender zu formulieren, als es Haber-mas meiner Meinung nach getan hat, und ich werde eine erste Beurteilung versuchen. Im Mittelpunkt wird das folgende Pro-blem stehen: Welche, wenn überhaupt irgendwelche, der verschie-denen Arten der Negation, die Foucault zugeschrieben werden können, sind wünschenswerte und vertretbare Alternativen zu der Art dialektischer Gesellschaftskritik, wie sie sich Habermas vor-stellt?

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I

Eine einflußreiche Lesart von Foucault baut auf der Prämisse auf, daß die Ablehnung - pace Habermas - einer fundamentalistischen oder universalistischen metaphilosophischen Interpretation der humanistischen Ideale der Moderne nicht notwendig die Ableh-nung der Moderne insgesamt bedeutet. In dieser Lesart, die neben anderen David Hoy vorgelegt hat, ist die Ablehnung bei Foucault bloß philosophisch: Foucault verwirft nur einen bestimmten phi-losophischen Begriffsrahmen, nicht notwendig die Werte und Le-bensformen, zu deren Abstützung und Legitimierung dieser Rahmen gedient hat.5 Überdies kann dieser Lesart zufolge eine solche Position vertreten werden: Foucault ist vollkommen konsi-stent, wenn er das Cartesianische Vokabular, in dem die humani-stischen Ideale artikuliert worden sind, nicht anerkennt, während er an so etwas wie der Substanz der Ideale selbst festhält.

Diejenigen, die Foucault so lesen, folgen Dreyfus und Rabinow, indem sie in Foucault so etwas wie einen Heideggerianer sehen, der angeblich Heideggers Programm zur Destruktion des Cartesi-anismus vervollständigt und konkretisiert.6 Heidegger argumen-tierte, daß das Subjekt und das Objekt, die von der modernen Philosophie (auch der politischen Philosophie) für unabdingbare, universelle und ahistorische Fundamente gehalten wurden, eigent-lich kontingente, historisch zu situierende Produkte einer moder-nen Interpretation der Bedeutung des Seins sind.7 Als solche gehörten sie nur einer »Epoche« innerhalb der »Seinsgeschichte« an (z. B. der westlichen Zivilisation), einer Epoche, die ihre Mög-lichkeiten erschöpft hatte, die zu Ende ging. Daß diese Cartesiani-schen Interpretationen des Seins kontingent und abgeleitet waren, war evident im Blick auf ihre Relativität zu und Abhängigkeit von einem älteren, ermöglichenden Hintergrund, der von ihnen zwangsläufig »ungedacht« blieb. Aus verschiedenen logischen, hi-storischen und quasi politischen Gründen dachte Heidegger, daß dieser Hintergrund nur mittelbar und metaphorisch über Worte wie Lichtung* evoziert werden könne.

Entsprechend wird Foucault als jemand gesehen, der Heideg-gers Begrenzung des Cartesianismus fortsetzt und konkretisiert, indem er genau erklärt, was Heidegger mit dem Hintergrund oder mit Lichtung gemeint haben könnte oder gemeint haben sollte. Der Hintergrund ist ein historisch spezifisches System normenge-

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leiteter sozialer Praktiken (anfangs »Episteme« genannt, später das »Macht/Wissen-Regime«), das die unverwechselbaren Sub-jekte und Objekte von Wissen und Macht jeder Epoche definiert und produziert. Eine neue Art der Geschichtsschreibung (erst »Archäologie«, später »Genealogie« genannt) kann das Auftreten und das Verschwinden solcher Systeme der Praktiken aufzeichnen und ihr spezifisches Funktionieren beschreiben. Eine solche Hi-storiographie kann den vergänglichen Charakter jeder gegebenen Episteme oder jeden Macht/Wissen-Regimes erhellen, einschließ-lich und besonders des modernen, humanistischen. Sie vermag als eine Art Kulturkritik* zu fungieren, die heutige Praktiken und Objekte entdinglicht, sie ihrer traditionellen, ahistorischen, fun-damentalistischen Legitimation beraubt, ihnen den Anschein von Willkür und sogar Niederträchtigkeit gibt und ihre potentielle Of-fenheit für Änderungen andeutet. Sie kann zum Beispiel zeigen, daß die Cartesianischen Konzepte der Subjektivität und Objekti-vität, die dazu gedient haben, humanistische Werte zu legitimie-ren, »Fiktionen« sind und daß diese Fiktionen und die ihnen entsprechenden Werte wiederum der Legitimierung von Praktiken gedient haben, die widerwärtig erscheinen, sobald ihnen ihre Aura der Legitimität entzogen ist.

In dieser Lesart folgt Foucault Heidegger insofern als er eine Konstellation zum Gegenstand der genealogischen Kritik und Be-grenzung macht, die beide »Humanismus« nennen. Nach Heideg-ger wurde im Zuge der Entwicklung der modernen westlichen Kultur seit Descartes eine komplexe und verhängnisvolle Kompli-zenschaft zwischen Subjektivität und Objektivität ausgebildet, die der Humanismus vereinfachend gegeneinanderstellt.8 Auf der ei-nen Seite haben die moderne mathematische Wissenschaft und die Maschinentechnik alles, was ist, objektiviert (erstere hält nur das für real, was in eine festgelegte Forschungsstruktur eingepaßt wer-den kann, die zweite behandelt alles, was ist, als »stehende Re-serve« oder als Ressource, die innerhalb eines technischen Versor-gungsnetzes mobilisierbar ist). Auf der anderen Seite hat zugleich das »Zeitalter der Anthropologie« ein Reich der Subjektivitäten geschaffen. Es hat zu solchen Entitäten geführt wie »Repräsenta-tionen«, »Werte«, »kulturelle Ausdrücke«, »Objektivationen des Lebens«, »ästhetische und religiöse Erfahrung«, zu dem Geist, der den Forschungsplan und dessen Objekte ersinnt, sowie dem Wil-len, der die Mobilisierung der festen Reserve will. Diese Objekti-

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vierung und diese Subjektivierung sind nach Heidegger zwei Seiten der gleichen Medaille. Die Humanisten sind bestenfalls naiv, schlimmstenfalls komplizenhaft, wenn sie denken, sie könn-ten die Probleme der modernen Kultur lösen, indem sie die Domi-nanz der Subjektseite über die Objektseite geltend machen. Onto-logisch sind beide auf genau der gleichen (nicht-»primordialen« und der »vergeßlichen«) Ebene; ethisch - schon allein die Vorstel-lung von Ethik ist Teil des Problems. Aber, sagt Heidegger, nichts davon ist von ihm so gemeint, daß es die Glorifizierung des Inhu-manen fördern soll. Es zielt vielmehr darauf ab, einen höheren Sinn von der Würde des »Menschen« zu finden, als denjenigen Sinn, den sich der Humanismus vorstellt.9

Diejenigen, die Heideggers Einfluß betonen, legen den Akzent auf Foucaults Darstellung der modernen diskursiven Formation des Humanismus. Der Humanismus, behauptet Foucault, ist eine politische und wissenschaftliche Praxis, die auf ein charakteristi-sches Objekt gerichtet ist, das als »Mensch« bekannt ist.10 Die Existenz des Menschen begann erst im späten 18. oder frühen 19. Jahrhundert mit dem Aufkommen eines neuen Macht/Wissen-Regimes. Innerhalb und mittels der sozialen Praktiken, die das Regime beinhaltet, wurde und wird der Mensch als das epistemi-sche Objekt der neuen »Humanwissenschaften« konstituiert und auch als das Subjekt eingeführt, das Ziel und Instrument einer neuen Art normalisierender Macht ist. Als epistemisches Objekt und als Subjekt der Macht ist der Mensch eine seltsame, instabile zweiseitige Entität oder »Dublette«. Er besteht aus einer unmög-lichen Symbiose von zwei gegeneinander arbeitenden Polen, der eine objektiv, der andere subjektiv. Jeder dieser Pole ist bestrebt, den anderen auszuschalten, schafft es aber dabei nur, ihn zu akti-vieren und zu verstärken, weil in Wirklichkeit jeder Pol den ande-ren braucht. Der Humanismus ist also das widersprüchliche, unaufhörliche, unsinnige Projekt, dieses Problem des Menschen zu lösen.

In Die Ordnung der Dinge erstellt Foucault ein Raster für die Spielarten des Humanismus, indem er drei Formen der Menschen-Dublette identifiziert. Erstens gibt es das Doppel »transzenden-tal/empirisch«, in welchem der Mensch die Welt der empirischen Objekte konstituiert und selbst konstituiert wird: ein empirisches Objekt wie jedes andere in der Welt. Zweitens gibt es das Doppel »cogito/ungedacht«, in welchem der Mensch von ihm unbekann-

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ten Kräften deteminiert wird und sich bewußt ist, daß er derart determiniert wird. Er ist auf diese Weise mit der Aufgabe betraut, sein eigenes Ungedachtes zu denken und dadurch sich selbst zu befreien. Schließlich ist da das Doppel Zurückweichen und Wie-derkehr des Ursprungs, in welchem der Mensch beides ist: der ursprüngliche Anfang, von dem aus sich die Geschichte entfaltet und ein Objekt mit einer ihm vorausliegenden Geschichte.

Jedes dieser drei Doppel enthält einen Subjektpol, der die Auto-nomie, die Rationalität und den unendlichen Wert des Menschen unterstellt. Der Mensch als derjenige, der die Welt transzendental konstituiert, ist einer, der Bedeutungen verleiht und Gesetz gibt. Als Denker seines eigenen Ungedachten wird er sich selbst trans-parent, der Entfremdung enthoben und frei. Und als ermög-lichender Horizont der Geschichte ist er deren Maß und Bestim-mung. Aber der Subjektpol stattet den Menschen nicht eher mit diesem Privileg und diesem Wert aus, als er den entgegenstehenden Objektpol definiert, der sie verneint. Als empirisches Objekt ist der Mensch der Vorhersehbarkeit und Kontrolle unterworfen. Sich selbst unbekannt, ist er durch fremde Mächte determiniert. Und als ein Wesen mit einer Geschichte, die ihm vorhergeht, ist er mit einem Opaken belastet, das ihm nicht wirklich gehört.

Das humanistische politische Projekt besteht also darin, das Problem des Menschen zu lösen. Es ist das Projekt, den Subjekt-pol über den Objektpol triumphieren zu lassen, Autonomie zu gewinnen durch die Meisterung des Anderen in der Geschichte, in der Gesellschaft, in sich selbst, die Substanz zum Subjekt zu ma-chen. In Die Ordnung der Dinge und sämtlichen folgenden Schrif-ten behauptet Foucault, daß dieses Projekt, so wie es auf der Prämisse der »unterworfenen Souveränität« des Menschen auf-baut, unsinnig und widersprüchlich ist und in der Praxis nur zur Herrschaft führen kann. Nur eine vollkommen neue Konfigura-tion - eine posthumanistische Konfiguration, die nicht mehr diese groteske Menschendublette erzeugt, sondern ein vollständig an-deres Objekt - bietet einen Ausweg.

In der Lesart, die Foucaults negierende Haltung als eine bloß philosophische Negation auffaßt, werden die auf Die Ordnung der Dinge folgenden Schriften als Texte verstanden, welche die sozialen Implikationen der philosophischen Kritik des Humanis-mus herausarbeiten. Überwachen und Strafen wird als eine Schil-derung der Fabrikation der Objektseite des Menschen gesehen.

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Der erste Band von Sexualität und Wahrheit und kürzere Texte wie Truth and Subjectivity zeichnen die Herstellung der Subjektseite nach.11 Während von einem Humanisten erwartet wird, die Ob-jektivierung des Menschen im Namen der Subjektivität zu kritisie-ren, will Foucaults Arbeit über die Sexualität zeigen, daß die Subjektivität so problematisch ist wie die Objektivität. In zwei anderen Arbeiten, Pierre Riviere und Herculine Barhin12, wird die Komplizenhaftigkeit und Symmetrie der zwei Pole dramatisch enthüllt. In jedem dieser Bücher stellt Foucault den subjektiven Diskurs eines Individuums in der 1. Person (im ersten Fall eines Muttermörders im Frankreich des 19. Jahrhunderts, im zweiten eines französischen Hermaphroditen des 19. Jahrhunderts) neben die zeitgenössischen objektiven Diskurse der Medizin und des Rechts über ihn oder sie. Obwohl Foucault seine Intentionen in diesen Büchern niemals ausdrücklich klärte, kann wohl mit einiger Sicherheit angenommen werden, daß er nicht das humanistische Ziel verfolgt, den subjektiven Diskurs gegenüber dem objektiven zu verteidigen. Im Gegenteil, es muß das antihumanistische Ziel sein, die zwei Diskurse gleichzustellen, zu zeigen, daß sie vonein-ander abhängig und aufeinander angewiesen sind, daß sie gemein-sam innerhalb der diskursiven Formation des modernen Huma-nismus erzeugt werden und für diesen beispielhaft sind.

Wenn Foucaults Arbeiten in dieser Weise gelesen werden, ist es möglich, seine Ablehnung des Humanismus als eine lediglich kon-zeptuelle oder philosophische zu behandeln. So wie Heideggers Begrenzung des Humanismus die menschliche Würde erhöhen sollte, statt sie zu untergraben, so ist Foucaults Kritik, pace Habermas, an sich kein Angriff auf die Begriffe Freiheit und Ver-nunft. Es handelt sich vielmehr um die Ablehnung eines kontin-genten, überkommenen philosophischen Idioms oder einer dis-kursiven Formation, in der jene Werte unlängst ihren Ausdruck gefunden hatten. Was in dieser Lesart an Foucaults Sozialkritik neu und wichtig ist, ist nicht ihr impliziter normativer Gehalt - der ist praktisch genommen in einem unbestimmten Sinn »humani-stisch«. Das Neuartige liegt vielmehr im Verzicht auf die klassisch-modernen philosophischen Abstützungen dieses Gehalts. Fou-cault ist es gelungen, eine Art von Kulturkritik hervorzubringen, die sich nicht auf die Subjekt-Objekt-Begrifflichkeit in all ihren bekannten Spielarten verläßt - ja, die diese sogar ausdrücklich zu-rückweist. Er verwirft den Begriff des Fortschritts - nicht nur in

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seiner sich selbst beglückwünschenden liberalen whiggistischen Form, sondern auch in der kritischeren und scharfsinnigeren Form, in der er im Marxismus und in einigen Versionen der deut-schen Kritischen Theorie vertreten ist. Auf diese Weise trägt er ernsthafte Anklagen gegen fragwürdige Aspekte der modernen Kultur vor, ohne eine Hegelianische Teleologie und ein einheit-liches Subjekt der Geschichte vorauszusetzen. Ebenso lehnt er die Unterscheidung zwischen »wirklichen« und »verordneten« Be-dürfnissen oder Interessen ab, derzufolge den wirklichen Bedürf-nissen und Interessen unterstellt wird, daß sie in etwas begründet sind, das mehr ist als ein kontingentes, historisches Macht/Wis-sen-Regime oder als ein Hintergrund sozialer Praktiken. Infolge-dessen ist er fähig, fragwürdige Praktiken zu verurteilen, ohne den Begriff der autonomen Subjektivität vorauszusetzen. So behandelt David Hoy die explizit politischen Arbeiten von Foucault- Über-wachen und Strafen und den ersten Band von Sexualität und Wahrheit - als Demonstrationen der Entbehrlichkeit dieser ana-chronistischen und zweifelhaften Begriffe.13 Foucault hat gezeigt, daß man keinen Humanismus braucht, um Gefängnisse, Sozial-wissenschaften, Pseudoprogramme zur sexuellen Befreiung und so weiter zu kritisieren, und daß der Humanismus in der kriti-schen sozialen und historischen Literatur nicht das letzte Wort ist, daß es ein Leben — und eine Kritik - nach dem Cartesianismus gibt. Es muß nicht befürchtet werden, daß mit dem Verzicht auf die paradoxe und aporetische Subjekt-Objekt-Begrifflichkeit auch und zwangsläufig auf die Möglichkeit engagierter politischer Reflexion verzichtet wird.

Diese Lesart, die Foucault eine lediglich philosophische Nega-tion zuschreibt, ist attraktiv. Sie deutet die Möglichkeit an, so etwas wie Heideggers und Foucaults Postmodernismus in der Phi-losophie mit so etwas wie dem Modernismus von Habermas in der Politik zusammenzuführen. Dadurch hält sie das verlockende Ver-sprechen aufrecht, daß man den Kuchen essen und behalten kann. Man gibt die fundamentalistische Metainterpretation der humani-stischen Werte auf: Die Ansicht, daß solche Werte in der Natur von etwas gründen (dem Menschen, dem Subjekt), das von histo-risch sich wandelnden Regimen sozialer Praktiken unabhängig ist und auch dauerhafter ist als diese. Ebenso gibt man das Idiom auf, in dem die humanistischen Werte ihren klassisch modernen Aus-druck fanden: Die Begriffe >Autonomie<, »Subjektivität« und

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>Selbstbestimmung< verlieren ihr Privileg. Aber der substantielle, kritische Kern des Humanismus wird nicht aufgegeben. Was Ha-bermas als dessen »emanzipatorische Kraft« bezeichnen würde, bleibt bestehen. Man gebraucht einfach andere rhetorische Kunst-griffe und Strategien, um im wesentlichen die gleiche kritische Arbeit zu tun, die der Humanist tun wollte - nämlich diejenigen Formen des modernen Diskurses und der modernen Praktiken zu identifizieren und zu verurteilen, die unter dem Vorwand, die Freiheit zu fördern, die Herrschaft ausdehnen.

Abgesehen von der Frage nach der Plausibilität dieser Lesart -ist denn das Vorhaben, das sie Foucault zuschreibt, vertretbar und wünschenswert? Ich bin der Ansicht, daß eine bloß philosophi-sche Ablehnung des Humanismus im Prinzip verteidigt werden kann und zu wünschen ist. Sie wird im Kontext der aktuellen politisch-philosophischen Themen vertreten, wie das bei einer breiten Vielfalt neuerer Arbeiten erkennbar wird: Beispiele sind die analytischen Darstellungen der Autonomiekonzepte von John Rawls und Gerald Dworkin14, die Rekonstruktionen des Libera-lismus durch Richard Rorty und Michael Walzer15, die von Louis Althusser inspirierten antihumanistischen Versionen des Marxis-mus und die von Derrida beeinflußten dekonstruktiven Rekon-zeptualisierungen »des Politischen« durch französische Philoso-phen.17 Selbst Teile des Habermasschen Werkes können als eine (gemäßigte) Version dieses Projekts gesehen werden: Seine kom-munikative Rekonstruktion der Kantischen Ethik ist beispiels-weise ein Versuch, dem humanistischen Begriff der Autonomie einige seiner Cartesianischen Insignien (seines »Monologismus« und seines ahistorischen Formalismus) zu nehmen und gleichwohl seine Effizienz als ein Instrument der Sozialkritik zu erhalten. Seine Unterscheidung zwischen Evolution und Geschichte ist ein Versuch, den Humanismus von der Hegelianischen Prämisse eines metakonstitutiven Subjekts der Geschichte zu entlasten. Und seine »linguistische Wende« ist ein Versuch, den Humanismus vom Standpunkt einer Bewußtseinsphilosophie loszulösen.

Das allgemeine Programm der Ent-Cartesianisierung und Ent-Hegelianisierung des Humanismus prinzipiell gutzuheißen be-deutet aber noch nicht, eine Menge sehr wichtiger und schwieriger Probleme zu lösen. Es bedeutet lediglich einen Anfang bei der genauen Klärung jener Aufgaben und Maßstäbe, nach denen eine Foucaultsche, rein philosophische Ablehnung des Humanismus

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beurteilt werden muß. Ich glaube, unter diesen befindet sich als ein Maßstab die Adäquatheit dessen, was Foucault auf die fol-gende, gewissermaßen metaethische Frage zu sagen hat: Ange-nommen, man läßt eine fundamentalistische Begründung der humanistischen Werte fallen, was für eine nichtfundamentalisti-sche Rechtfertigung dürfen solche Werte dann beanspruchen? Das ist jedoch eine Frage, der sich Foucault niemals direkt gestellt hat. Er hat vielmehr versucht, sie zu verdrängen, indem er andeutete, weder könnten Werte gerechtfertigt werden, noch würden sie ir-gendeine Rechtfertigung brauchen. Allerdings hat er für die Ein-nahme dieser extremen, metaethischen Position keine zwingenden Gründe beigebracht.

Das bringt Foucault in die paradoxe Lage, daß er für die Sorte normativer, politischer Urteile, die er beständig fällt - zum Bei-spiel, daß »Disziplin« eine schlechte Sache ist -, keine Rechen-schaft ablegen oder Rechtfertigung geben kann. Zudem stellt sich die Frage, ob die Werte, die in seinen unverhohlen evaluativ be-frachteten Beschreibungen der sozialen Realität implizit enthalten sind, eine kohärente und konsistente normative Perspektive erster Ordnung bilden würden, wenn sie explizit gemacht werden wür-den. Diese Frage ist besonders dringlich; denn Foucault hat trotz wiederholter Andeutungen nie erfolgreich dafür argumentiert, daß eine kohärente normative Perspektive erster Ordnung in der Sozialkritik entbehrlich ist (siehe Kap. 1 dieses Bandes).

Aber die Probleme, die entstehen, wenn wir Foucault lesen, als trage er eine bloß philosophische Ablehnung des Humanismus vor, reichen viel tiefer. Selbst wenn wir ihm die Forderung erlas-sen, eine annehmbare Moraltheorie auszuarbeiten, könnten wir immer noch fragen, ob er eine befriedigende nicht-humanistische politische Rhetorik entwickelt hat. Eine Rhetorik, die das kriti-sche Werk, das die humanistische Rhetorik vollbringen wollte, tatsächlich und besser vollbringt. Wir könnten zum Beispiel fra-gen, ob Foucaults Rhetorik wirklich die Aufgabe bewältigt, bes-sere von schlechteren Regimes sozialer Praktiken zu unterschei-den, ob sie wirklich die Aufgabe bewältigt, Herrschaftsformen zu identifizieren (oder ob sie einige übersieht und/oder andere ver-kennt), ob sie wirklich die Aufgabe bewältigt, erfolgreiche von nutzlosen, annehmbare von nicht akzeptablen Widerstandsfor-men gegenüber der Beherrschung zu unterscheiden, und zuletzt auch, ob sie die Aufgabe bewältigt, nicht einfach darauf hinzuwei-

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sen, daß Wandel möglich ist, sondern auch anzugeben, welche Art des Wandels wünschenswert ist (siehe Kap. 3 dieses Bandes). Ich gehe davon aus, daß diese Aufgaben zu den Hauptaufgaben der Sozialkritik zählen und daß damit verglichen Foucaults Sozialkri-tik durchaus als defizitär beurteilt werden kann.

Es lohnt sich, in Erinnerung zu rufen, daß die Lesart von Foucault als Theoretiker, der den Humanismus lediglich philoso-phisch verwirft, den Anspruch einschloß, Foucault sei es gelun-gen, einen Typus der Kulturkritik ohne Cartesianische Untermau-erungen hervorzubringen. Aber dieser Anspruch scheint nun fragwürdig zu sein. Wir sollten also, wie lobenswert das allge-meine Projekt auch sein mag, den Schluß ziehen, daß Foucaults Version der bloß philosophischen Negation oder die Version, die ihm von Lesern wie David Hoy zugeschrieben wurde, unvollstän-dig und demnach unbefriedigend ist. Sie hat tendenziell den Ef-fekt, der Annahme Vorschub zu leisten, daß man es in Foucaults Werk mit einer massiven Art der Ablehnung zu tun hat.

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In einer zweiten Lesart tritt bei Foucault zur Ablehnung des Hu-manismus aus philosophischen Gründen die Ablehnung aus stra-tegischen Gründen hinzu. Diese Lesart offeriert ein entsprechen-des Verständnis der Foucaultschen Position: Nach ihr sieht Foucault den Humanismus als eine politische Rhetorik und Praxis an, die sich zu Beginn der modernen Ära entwickelte, um den wesensmäßig vormodernen Formen der Herrschaft und Unter-drückung entgegenzuwirken. Gegenstand der Kritik waren der monarchische Absolutismus, Praktiken wie der Gebrauch der Folter, um Kriminellen Geständnisse abzupressen, oder spekta-kuläre, grausame öffentliche Exekutionen. Im Widerstand gegen solche Praktiken war der Humanismus bestrebt, den Angriffen auf den menschlichen Körper Grenzen zu setzen. Er propagierte einen neuen Respekt für Innerlichkeit, Persönlichkeit, Mensch-lichkeit und Rechte. Das Ergebnis war jedoch nicht die Aufhe-bung der Herrschaft, sondern die Ersetzung vormoderner durch neue, typisch moderne Herrschaftsformen. Das neue Interesse an der >Humanität< mündete in die Entwicklung einer ganzen Samm-lung durchgreifender sozialwissenschaftlicher Techniken, die den

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Funktionsbereich der sozialen Kontrolle enorm erweiterten und ihre Durchsetzung massiv veränderten. Das erstaunliche Wachs-tum und die nahezu allgegenwärtige Verbreitung dieser Techniken kam einer Revolution des Wesens der Macht in der modernen Kultur gleich. Die Wirkungsweise der Macht wurde so gründlich transformiert, daß sie den Humanismus irrelevant und unzeitge-mäß werden ließ: Die demokratischen Absicherungen, die im Kampf gegen den vormodernen Despotismus geschmiedet wur-den, sind wirkungslos gegen die neuen Herrschaftsmethoden. Die Rede von Rechten und von der Unverletzlichkeit der Person ist nutzlos, wenn der Gegner nicht der Despot, sondern der psychia-trische Sozialarbeiter ist. Eigentlich macht eine solche Rede und die mit ihr verbundene Reformpraxis die Dinge nur schlimmer. Der Humanismus muß also aus strategischen wie aus philosophi-schen Gründen abgelehnt werden. In der gegenwärtigen Situation ist er ohne emanzipatorische Kraft.

Diese Lesart verleiht der Argumentation in Überwachen und Strafen ein großes Gewicht. Darin zeichnet Foucault die Entste-hung der »Norm« nach und wie die Norm das »Gesetz« als das Hauptinstrument der modernen sozialen Kontrolle ersetzt. Die-ser Wandel ergab sich, behauptet er, infolge der Entwicklung eines neuen Macht/Wissen-Regimes, das ein neues Subjekt und Objekt des Wissens und einen neuen Gegenstand der Macht, den Men-schen nämlich, hervorbrachte. Während das frühere Regime eine Kenntnis der offen zutage liegenden Handlungen (Verbrechen und Sünden) und eine Macht erzeugte, die auf den Körper abzielte, war das neue Regime bestrebt, den Charakter oder die »Seele« zu kennen und zu disziplinieren. Dieses neue Macht/Wissen-Objekt lag tiefer: Es war die Sensibilität oder Persönlichkeit, die den ma-nifesten Handlungen unterlag, das Selbst oder ein Satz von Dispo-sitionen, die den Grund oder die Ursache für jene Handlungen abgaben. Sogar die Temporalität des Objekts war eine andere. Es überdauerte die kurzlebigeren Handlungen, die nur sein äußerer Ausdruck waren. Damit hatte die Kenntnis dieses Objekts eine grundlegend andere Struktur, und die Produktion solchen Wis-sens verwandte grundlegend andere Techniken. Mit dem Men-schen wurden auch die »Humanwissenschaften« geboren. Diese Wissenschaften erforschten die Gesetze, von denen die Herausbil-dung, Beständigkeit und Änderung der Sensibilität beherrscht ist. Sie brachten Charaktertypologien und Klassifikationen der »See-

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len« hervor. Sie konstituierten Individuen als »Fälle« und behan-delten ihre offenen Handlungen als manifeste Zeichen latenter Realitäten. Solche Zeichen mußten entziffert werden, so daß die besondere »Natur« des fraglichen Individuums bestimmt werden konnte - dann konnten seine und ihre Taten durch diese Natur erklärt werden. Außerdem konnten, sobald die Gesetze bekannt waren, die eine besondere Natur beherrschen, Vorschriften zu ihrer Änderung ausgearbeitet werden. Das Selbst konnte umpro-grammiert werden, alte Gewohnheiten konnten abgeschliffen wer-den und neue an ihre Stelle treten. Zudem wurden individualisie-rende durch synoptische Kenntnisse vervollständigt. Statistische Methoden zur Beobachtung und Einschätzung von Bevölke-rungsmassen wurden entwickelt. Es wurden Normwerte formu-liert, die es ermöglichten, Individuen auf einer Skala mit Ver-gleichswerten zu lokalisieren. Vom Standpunkt der sozialen Kontrolle aus waren die relevanten Kategorien nicht mehr die alt-modischen juristischen Kategorien von Schuld und Unschuld. An deren Stelle traten die sozialwissenschaftlichen Kategorien von Normalität und Abweichung. Künftig war die Welt weniger von Übeltätern als von »Abweichlern«, »Perversen« und »Delinquen-ten« bevölkert.

Überwachen und Strafen beschreibt daher die Entstehung und den Charakter einer neuen, unverwechselbar modernen Form der Macht: die normalisierend-disziplinierende Macht. Es ist diejenige Art von Macht, die dem bürokratischen Wohlfahrtsstaat besser eig-net als den despotischen Regimes, gegen die der Humanismus antrat. Es ist eine Macht, die still und unspektakulär und gleich-wohl kontinuierlich, durchdringend und allgegenwärtig wirkt. Sie hat kein leicht identifizierbares Zentrum, sondern ist »kapillar«, ist im gesamten sozialen Körper verteilt .Ihre typischen Vertreter sind Sozialwissenschaftler, Sachverständige, Sozialarbeiter, Psychiater, Lehrer, progressive Strafrechtler und der engagierte Laie, der ihre Kategorien und Werte internalisiert hat. Vor allem ist es eine Macht, gegen die der Humanismus wehrlos ist.

Diese nun zu prüfende Lesart Foucaults geht also davon aus, daß Foucault den Humanismus aus strategischen wie auch aus philosophischen Gründen ablehnt. Laut Foucault, so wird be-hauptet, sind die Begriffe der Subjektivität, Autonomie und Au-thentizität, an die der Humanist appelliert, in Wirklichkeit inte-grale Bestandteile des disziplinierenden Regimes. Weit davon

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entfernt, wirklich kritische, Opposition übende Ideale mit eman-zipatorischer Kraft zu sein, sind sie eigentlich gerade die Normen und Objekte, mit denen die Disziplin arbeitet. Das Selbst und das Subjekt im eigentlichen Sinn fingen erst an zu existieren, als das moderne Macht/Wissen-Regime zu existieren begann. Der huma-nistische Kritiker, der an sie appelliert, ist deshalb nicht in der Lage, diesem Regime effektiv zu begegnen. Im Gegenteil, sie oder er ist in der verdoppelnden Bewegung gefangen, die das »Zeitalter des Menschen« definiert.

Ist diese Sicht plausibel? Das Argument von Überwachen und Strafen besteht aus einem einzigen ausgedehnten historischen Bei-spiel: der europäischen Strafrechtsreformbewegung des 18. Jahr-hunderts. Diese Bewegung wollte der Folterpraxis des ancien regime ein Ende setzen und sie gegen eine Strafpraxis auswechseln, die anstatt auf den Körper auf den Geist des Kriminellen abzielte. Diese Strafpraxis hätte die geistigen Vorstellungen des Straffälligen neu zu ordnen, um Selbstreflexion und Aufklärung zu provozie-ren und dadurch den Übeltäter als Handelnden und Subjekt zu rehabilitieren. Aber die humanistische Reform, behauptet Fou-cault, materialisierte sich nie. Sie wurde unmittelbar in eine nor-malisierende, disziplinierende Bestrafungsmethode umgesetzt, in welcher der Kriminelle zum Objekt einer Technologie der kausal erzeugten Gegenkonditionierung wurde.

Es gibt offenkundig logische Gründe, die bezweifeln lassen, ob dieses Argument ausreicht, den Humanismus aus strategischen Gründen abzulehnen. Es leitet aus einem Fall, der über 100 Jahre alt ist, den allgemeinen Schluß ab, daß die humanistische Konzep-tion von Freiheit als Autonomie heutzutage ohne kritische Kraft gegenüber disziplinierenden Institutionen ist.

Ein genauer Blick auf diesen Fall enthüllt außerdem einen wich-tigen neuen Kniff. Foucaults Darstellung impliziert, daß der hu-manistischen Strafrechtsreformbewegung eine bezeichnende Zweideutigkeit anhaftete. Es war unklar, ob das neue Objekt der Bestrafung: »der Geist« oder »die Humanität« des Kriminellen die Fähigkeit, rational und frei zu wählen, meinte (in etwa die Kapazi-täten, die Kant dem noumenalen Selbst zuschreibt), oder ob es den kausal bedingten Sitz oder Inbegriff der Vorstellungen bedeutete (in etwa das von der Assoziationspsychologie postulierte Selbst mit den Eigenschaften, die Kant dem empirischen Selbst zu-schreibt). Im Ergebnis blieb es unklar, ob das Ziel, das juridische

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Subjekt wiederherzustellen, bedeutete, einen Prozeß der Selbstre-flexion zu provozieren, wodurch der Kriminelle einen Selbstwan-del durchlaufen würde, ein Ziel, daß es erfordern würde, dem Kriminellen gegenüber, wie Habermas sagt, »die Einstellung kommunikativen Handelns« (oder dialogischen Überzeugens) einzunehmen, oder ob es bedeutete, die Assoziation der Ideen über kognitive Konditionierung zu erneuern, ein Ziel, das der Einnahme einer, wie Habermas sagt, »Einstellung strategischen Handelns« (oder technologischer Kontrolle) entspricht. Foucaults Darstellung suggeriert, daß die Strafrechtsreformbewegung diese zwei Gegenstände und die ihnen entsprechenden Zielsetzungen und Handlungsorientierungen verschmolz und damit praktisch in sich selbst die Disziplin keimhaft enthielt. Sie postulierte, zumin-dest im Ansatz, den objektivierten, vorhersagbaren und manipu-lierbaren Menschen, wodurch sie im Effekt den Verhaltensinge-nieuren und Sozialtechnologen Tür und Tor öffnete.

Aber wenn dem so ist, dann ist das, was von der Argumentation in Überwachen und Strafen diskreditiert wird, überhaupt kein richtiger Humanismus, sondern eine hybride Form, die dem Uti-litarismus ähnelt. (Dies sollte nicht überraschen, wenn man be-denkt, daß der größte Bösewicht des Buches Jeremy Bentham ist, der Erfinder des Panopticons.) Deshalb folgt daraus nicht, daß einem nicht-utilitaristischen, Kantischen oder quasi-Kanti-schen Humanismus die kritische Kraft gegen psychologische Kon-ditionierung und geistige Manipulation fehlt, die ja die wahren Ziele von Foucaults Kritik der Disziplinarmacht sind. Man erin-nere sich daran, daß Habermas eine Version des Kantischen Hu-manismus ausgearbeitet hat, die zumindest teilweise die philo-sophischen Einwände entkräftet, die im vorigen Abschnitt dieses Kapitels berücksichtigt wurden.18 Er hat eine pragmatistische Neuinterpretation der Kantischen Ethik ausgearbeitet, die den Autonomie-Heteronomie-Gegensatz von den Spuren der bei Kant noch bewahrten fundamentalen Subjekt-Objekt-Ontologie löst und ihn statt dessen in der pragmatischen Unterscheidung zwi-schen kommunikativem Handeln und strategischem Handeln lo-kalisiert. Dieser Schritt stärkt die normative, kritische Kraft des Autonomiebegriffs gegen die Disziplin. Die strategische Hand-lung wird praktisch wirksam verurteilt, ungeachtet dessen, ob das Objekt der Bestrafung nun ein Körper oder eine »Seele« oder ein »Selbst« ist.

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Mir erscheint es plausibel, der Argumentationslinie von Haber-mas zu folgen und doch zuzulassen, daß Foucault mit Recht behaupten kann, im Kontext der Bestrafung sei das Ergebnis der Aufklärerischen Strafreform nicht bloß kontingent. In der Tat ist das Vorhaben zweifelhaft, mit einem Kriminellen Ubereinstim-mung zu erzielen, ihn oder sie als ein autonomes Subjekt des Gesprächs zu postulieren, daß es wirklich jemals etwas anderes als Manipulation und Kontrolle des sprachlichen Verhaltens sein kann, da es ex hypothesi in der wesensmäßig nicht »idealen Sprech-situation« unfreiwilliger Einkerkerung ausgeführt werden muß. Das gleiche mag auf Frauen in der bürgerlichen patriarchalen Fa-milie, auf Schüler in den Institutionen der Pflichtschule, auf Pa-tienten in psychiatrischen Anstalten, auf Soldaten beim Militär zutreffen - praktisch auf alle Situationen, in denen die Macht, die die Diskurse strukturiert, hierarchisch und asymmetrisch ist und in denen einige Personen durch offenen oder verdeckten Zwang oder durch solche strukturellen Merkmale wie das Fehlen eines geeigneten Vokabulars zur Interpretation ihrer Bedürfnisse, daran gehindert werden, ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen.

Aber der Umstand, daß das humanistische Ideal der autonomen Subjektivität in solchen »disziplinierenden« Kontexten nicht zu verwirklichen ist, ja, sogar kooptierbar ist, muß nicht als ein Ar-gument gegen das Ideal gesehen werden. Er könnte vielmehr als ein Argument gegen hierarchische, asymmetrische Macht gesehen werden. Man muß nicht mit Foucault den Schluß ziehen, daß hu-manistische Ideale aus strategischen Gründen zurückgewiesen werden müssen. Statt dessen kann man wie Habermas schließen, daß eine Vorbedingung für die Verwirklichung jener Ideale ist, daß die den Diskurs strukturierende »Macht« symmetrisch, nicht-hierarchisch und mithin reziprok sein muß. Praktisch ließe sich der Autonomiebegriff dahingehend reinterpretieren, diese Ein-sicht einzuschließen, wie Habermas es getan hat. Für ihn bezieht sich Autonomie nicht mehr auf einen »monologischen« Prozeß der Willensbildung, in dem ein isoliertes Individuum alle empiri-schen Bedürfnisse, Wünsche und Motive ausschließt und nur das berücksichtigt, was von der rein formalen Vernunft gefordert wird. Autonomie bezieht sich auf einen idealen »dialogischen« Prozeß, in dem Individuen mit dem gleichen Recht und der glei-chen Macht, vorherrschende Normen in Frage zu stellen, durch das Gespräch Konsens darüber erzielen wollen, welche ihrer au-

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genscheinlich individuellen empirischen Bedürfnisse und Interes-sen wirklich verallgemeinerbar sind. Nach dieser Interpretation sind die von Foucault in Überwachen und Strafen beschriebenen Fälle disziplinierender Beherrschung genau deswegen keine Bei-spiele für Autonomie, sondern für Heteronomie, weil sie Weisen der Diskurserzeugung einbeziehen, die nicht die von der »idealen Sprechsituation« angegebenen prozeduralen Anforderungen er-füllen.

Außerdem ist zu beachten, daß jedes strategische Argument gegen den Humanismus von komplexen empirischen Überlegun-gen abhängt. Der Antihumanist muß zeigen, daß die Welt, so wie sie heute tatsächlich beschaffen ist, den Humanismus wirklich be-langlos und überholt sein läßt. Er oder sie muß zum Beispiel zeigen, daß es wirklich der moderne bürokratische Wohlfahrts-staat - und nicht andere Formen der Repression oder Unterdrük-kung - ist, der in unserer Ära die größte Bedrohung für die Freiheit darstellt. Denn selbst ein »utilitaristischer Humanist« kann argumentieren, mitsamt all ihrer Probleme sei die in Über-wachen und Strafen beschriebene »internierende« Gesellschaft besser als die Diktatur des Parteienstaates, der Junta oder des Imam; das reformierte Gefängnis, pace Foucault, sei dem Gulag, der südafrikanischen oder salvadorenischen Folterzelle und der islamischen »Gerechtigkeit« vorzuziehen; und in dieser Welt - die eine reale Welt ist - habe der Humanismus noch immer eine ge-wisse kritische, emanzipatorische Schlagkraft.

Für nicht-utilitaristische Humanisten wie Habermas, reicht die fortdauernde strategische Bedeutung des Humanismus noch wei-ter. Der Humanismus ist nicht auf die Kritik vormoderner Herr-schaftsformen beschränkt, sondern ist auf modernere, »diszipli-nierende« Formen der Macht ebenso anzuwenden.

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Es gibt noch eine andere Lesart von Foucault, die zu berücksichti-gen ist. Sie geht davon aus, daß Foucault den Humanismus nicht einfach aus konzeptuellen oder strategischen, sondern aus sub-stantiellen normativen Gründen ablehnt. Demnach glaubt Fou-cault, der Humanismus sei an sich nicht wünschenswert, die Konzeption von Freiheit als Autonomie sei ganz einfach eine For-

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mel für Herrschaft. Einige Vertreter dieser Interpretationslinie wie Hubert L. Dreyfus und Paul Rabinow behaupten, Foucault habe recht mit seiner Zurückweisung des Humanismus aus normativen Gründen.19 Diese Interpretation ist das eigentliche oder sollte das eigentliche Ziel der Kritik für Habermas sein, denn sie verneint, daß seine pragmatische, dialogische Rekonzeptualisierung der Autonomie Foucaults Einwände entkräftet. Habermas' springen-der Punkt würde dann ins Gewicht fallen - so wird behauptet -, wenn Foucault lediglich argumentieren würde, daß Disziplinie-rung die Verwendung der Sozialwissenschaft in utilitaristischen Programmen ist, die in Kontexten asymmetrischer oder hierarchi-scher Machtverteilung darauf ausgerichtet sind, Devianz zu nor-malisieren, und daß der Humanismus dagegen wirkungslos ist. Tatsächlich jedoch vertritt Foucault eine viel stärkere These. Er behauptet, selbst eine vollkommen verwirklichte, autonome Sub-jektivität würde eine Form der normalisierenden, disziplinieren-den Herrschaft sein.

Diese Lesart muß sich stark auf Foucaults jüngeres Werk stüt-zen: auf den ersten Band von Sexualität und Wahrheit und auf die Vorlesung Truth and Subjectivity, die einen Ausblick auf die nach-folgenden Bände von Sexualität und Wahrheit gestattet.20 Diese Texte werden so interpretiert, als leisteten sie für die Subjektseite der Menschendublette das, was Überwachen und Strafen für die Objektseite tat. Sie liefern eine genealogische Darstellung der Herstellung des hermeneutischen Subjekts, eines Subjekts, das nicht der empirische, kausal bedingte Träger von Vorstellungen ist, sondern das vermeintlich freie, quasi-noumenale Subjekt des kommunikativen Handelns. Foucault zeige, so wird behauptet, daß die Fabrikation dieses Subjekts, weit davon entfernt, einen Ausgangspunkt für die Emanzipation abzugeben, die Beherr-schung des Menschen nur besiegelt. Die Subjektivierung des Men-schen ist in Wirklichkeit seine Unterwerfung.

Diese Lesart bemerkt ganz richtig, daß sich Foucaults späteres Werk auf eine ganze Menge subjektivierender Praktiken konzen-triert. Dabei sind die wesensmäßig humanistischen Formen des Diskurses zentral, die auf Befreiung und Selbstbeherrschung durch die Thematisierung und die Kritik der bislang nicht thema-tisierten, nicht kritisierten Gehalte des Selbsts abzielen: unartiku-lierte Begehren, Gedanken, Wünsche und Bedürfnisse. Foucault sucht nach den Ursprüngen der Vorstellung, daß man mittels der

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hermeneutischen Entzifferung der tiefen, verborgenen Bedeutun-gen solcher Gehalte eine Klarsichtigkeit über das Andere in sich selbst zu erlangen vermag und es auf diese Weise auch beherrschen und frei werden kann. Er verfolgt die Karriere dieser Vorstellung von ihren Anfängen in der stoischen Selbstprüfung und in der frühen christlichen Buße bis zu ihren modernen Varianten in der Psychoanalyse und in der angeblich pseudoradikalen Politik der sexuellen Befreiung. Foucault will zeigen, daß »die Wahrheit nicht von Natur aus frei ist«, daß es Jahrhunderte des Zwangs und der Einschüchterung brauchte, bis »der Mensch ein Geständnistier« geworden ist.21

Die frühen Formen der hermeneutischen Subjektivierung bein-halteten sicherlich eine asymmetrische, hierarchische Machtver-teilung, in der eine schweigende Autorität den Diskurs des Geständnisses anordnete, beurteilte, entzifferte und gegebenen-falls dessen Autor Absolution erteilte. Aber in der hier zu begut-achtenden Lesart wird behauptet, daß für Foucault die Asym-metrie und die Hierarchie nicht von entscheidender Bedeutung für die disziplinierende Macht sind. Foucault glaube auch nicht, daß sie das Verwerflichste an ihr sind. Im Gegenteil, es ist eine perfektionierte Disziplinargeseilschaft vorstellbar, in der die nor-malisierende Macht so allgegenwärtig, so fein abgestimmt, so durchdringend, verinnerlicht und subjektiviert und deshalb so un-sichtbar ist, daß ein Bedarf an Beichtvätern, Psychoanalytikern, Aufsehern und dergleichen gar nicht mehr besteht. In dieser voll-ständig »panoptisierten« Gesellschaft wäre die hierarchische, asymmetrische Beherrschung einiger Personen durch andere über-flüssig, alle würden sich selbst beobachten und überwachen. Die disziplinierenden Normen wären so gründlich internalisiert, daß sie nicht als von außen auferlegt erlebt werden würden. Die Mit-glieder dieser Gesellschaft wären deshalb autonom. Sie hätten sich das Andere als ihr Eigenes angeeignet und die Substanz zum Sub-jekt gemacht. Die Klassenherrschaft wäre dem Reich der Zwecke gewichen. Die ideale Sprechsituation wäre verwirklicht. Doch, so wird behauptet, wäre dies keine Freiheit.

Dieses Bild eines totalen, triumphierenden Panoptismus wird nicht als empirisch gehaltvoll angesehen - als eine Vorhersage über den zukünftigen Verlauf der historischen Entwicklung -, es wird eher konzeptuell für bedeutsam gehalten - bedeutsam wegen des Lichts, das es auf die humanistischen Ideale der Autonomie und

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der Reziprozität wirft. Es legt nahe, daß diese Ideale letztlich nicht als genuin Opposition übende Ideale angesehen werden können, weil sie die eigentlichen Ziele der disziplinierenden Macht sind. Umgekehrt wird zu verstehen gegeben, daß die Hierarchie und die Asymmetrie nicht wie die Humanisten annehmen, für diese Macht wesentlich sind, sondern nur Unzulänglichkeiten sind, die sich durch weitere Verfeinerung beseitigen lassen. Das Bild läßt daher den Schluß zu, daß selbst Habermas' Version der humanistischen Ideale dem disziplinierenden Regime zuzurechnen ist und in Hin-sicht auf dieses Regime keine kritische, emanzipatorische Kraft hat. Deshalb müssen solche Ideale aus normativen Gründen abge-lehnt werden.

Ist diese Position vertretbar? Was würde eine scharfsinnige Habermasianische Humanistin auf den soeben skizzierten Gedan-kengang erwidern? Nehmen wir an, sie würde für sich in An-spruch nehmen: daß dasjenige, was sich Foucault als die Verwirk-lichung autonomer Subjektivität vorstellt, keineswegs Autonomie sei, sondern nur eine Pseudoautonomie unter den Bedingungen der Pseudosymmetrie; daß entgegen dem äußeren Anschein die Subjektseite und die Objektseite nicht wirklich koinzidierten; daß der internalisierte Andere immer noch der Andere bleibe; daß Selbstüberwachung nichtsdestoweniger Überwachung sei und die hierarchische Beherrschung einer Kraft durch eine andere impli-ziere; daß die Tatsache, daß jeder oder jede die Herrschaft über sich selbst in gleicher Weise ausübt, sie nicht zu genuin symmetri-scher Selbstbeherrschung eines autonomen Subjekts mache.

Eine Habermasianische Humanistin hätte große Schwierigkei-ten, solche Behauptungen aufrechtzuhalten. Der Annahme zu-folge befinden sich die Mitglieder der vollständig panoptischen Gesellschaft in einer idealen Sprechsituation, so daß dieser Begriff hier keine kritische Kraft entfalten kann. Es wird notwendig sein, sich auf irgendein anderes Kriterium zu berufen, um zwischen »wirklicher« und »Pseudo«-Autonomie unterscheiden zu kön-nen, und es ist nicht klar, worin ein solches Kriterium mög-licherweise bestehen könnte.

Nehmen wir dennoch an, daß die Habermasianische Humani-stin einen anderen Kurs einschlägt und Foucault dessen Vorausset-zung einer »realen« Autonomie und Symmetrie zubilligt. Ange-nommen, sie hakt einfach ein und sagt, »wenn das Disziplin ist, bin ich dafür«. Das hieße zugestehen, daß diese humanistischen

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Begriffe in bezug auf die vollständig panoptische Gesellschaft keine kritische Kraft haben. Aber es hieße auch zu beanspruchen, daß dies kein Einwand gegen diese Begriffe ist, denn es gibt keinen guten Grund, sich gegen eine solche Gesellschaft zu stellen, die nur anstößig erscheint, weil Foucault sie in einer Weise beschrieben hat, die zu einem genetischen Trugschluß einlädt: er gibt sie als Ergebnis eines historischen Prozesses der hierarchischen, asymmetrischen Zwangsausübung aus, in dem die Menschen, wie Nietzsche sagt, für die Autonomie »aufgezogen« wurden. Das ist eine äußerst ten-denziöse Beschreibung. Warum sollte eine solche Gesellschaft statt dessen nicht als eine Lebensform beschrieben werden, die auf der Grundlage neuer, emergenter kommunikativer Kompetenzen ent-wickelt wird, Kompetenzen, die, obwohl sie vielleicht nicht in die eigentliche Evolutionslogik eingebaut sind, nichtsdestoweniger zum ersten Mal in der Geschichte eine Sozialisation der Individuen erlauben, die an der dialogisch politischen Praxis orientiert ist? Warum sollte sie nicht als eine Lebensform beschrieben werden, die wünschenswert ist, weil sie die menschlichen Bedürfnisse und Wünsche nicht mehr als rohe, gegebene Fakten begreift, die befrie-digt oder unterdrückt werden müssen, sondern Bedürfnisse und Wünsche so begreift, daß sie für die intersubjektive, sprachliche Neuinterpretation und Transformation zugänglich sind? Ein sol-cher Ansatz würde letzten Endes die Sphäre praktischer politischer Befreiung erweitern und die Sphäre instrumenteil technischer Kontrolle und Manipulation schmälern.

Diese Antwort bürdet Foucault wieder die Beweislast auf. Mit der These, die panoptische Autonomie sei nicht das Schreckenssze-narium, für das Foucault sie hält, fordert ihn die Habermasianische Humanistin auf, in einer vom Vokabular des Humanismus unab-hängigen Begrifflichkeit zu erklären, was an dieser hypothetischen Gesellschaft im einzelnen falsch ist und warum gegen sie ange-kämpft werden sollte. Zu diesem Zweck würde es nicht genügen, daß Foucault sich schlicht auf solche Begriffe wie »Unterwerfung« und »Normalisierung« beruft. Zu sagen, eine solche Gesellschaft sei inakzeptabel, weil sie normalisierend sei, ist gleichbedeutend da-mit zu sagen, sie sei konformistisch oder repräsentiere die Regeln des Man: Dies würde praktisch an so etwas wie Authentizität appellieren, was (wie für Derrida und vielleicht sogar für den späten Heidegger) einfach eine andere, obgleich enttranszendentalisierte Version von Autonomie ist.

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Letztlich wird eine normative Ablehnung des Humanismus, ir-gendein alternatives, posthumanistisches, ethisches Paradigma heranziehen müssen, das in der Lage ist, die nicht akzeptablen Züge einer voll verwirklichten autonomen Gesellschaft zu identi-fizieren. Mit anderen Worten, sie erfordert nichts Geringeres als ein neues Paradigma der menschlichen Freiheit. Nur vom Stand-punkt eines solchen Paradigmas aus kann Foucault oder seine Interpreten eine normative Ablehnung des Humanismus begrün-den.

Foucault stellt jedoch kein alternatives ethisches Paradigma zur Verfügung. Er schlägt gelegentlich vor, daß ein im Namen der Lüste unserer Körper vorgebrachter Protest ein größeres emanzi-patorisches Potential haben könnte als ein Protest im Namen des Autonomieideals. Aber dieser Vorschlag wird von ihm weder ge-rechtfertigt noch ausgearbeitet. Er gibt uns auch keine überzeu-genden Gründe dafür, zu glauben, daß Forderungen, die in irgendeiner neuen »Sprache des Körpers« formuliert sind, weniger der Mystifikation und dem Mißbrauch ausgesetzt wären, als es humanistische Forderungen gewesen sind (siehe Kap. 3 dieses Bandes).

Es sieht deshalb so aus, als ob die Lesart, die Foucault eine normative Negierung des Humanismus zuschreibt, uns dazu drängt, zwischen einem bekannten ethischen Paradigma und ei-nem unbekannten Paradigma x zu wählen. Solange wir die Dis-kussion auf dieser moralphilosophischen Ebene belassen, sind wir berechtigt, uns auf eine Seite mit Habermas zu stellen. Wir müssen uns gegen die Ablehnung der Autonomieidee zumindest so lange sperren, bis die Foucaultianer ihr x ausfüllen. Aber ich glaube, es wird einträglicher sein, diesen Schluß noch eine Weile aufzuschie-ben und die Debatte auf eine hermeneutische und soziologische Ebene zu verlagern. Ich ziehe es vor, der Auseinandersetzung noch einmal eine andere Form zu geben und sie als Alternative zwischen zwei Komplexen von Befürchtungen oder zwei Konzep-tionen von Gefährdungen zu bestimmen.

Erinnern wir uns an Foucaults Alptraum einer vollständig pa-noptisierten Gesellschaft. Bedenken wir, daß auch Habermas ein mögliches »brave-new-world«-Szenario für die Zukunft be-schreibt - allerdings ist seine Version der von Foucault diametral entgegengesetzt. Habermas fürchtet »das Ende des Individuums«, eine Lebensform, in der die Menschen nicht mehr dafür soziali-

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siert sind, der sozialen Autorität rationale, normative Legitimatio-nen abzuverlangen.22 In dieser dystopischen Version machen sie eben nur aus privatistischen, strategischen Überlegungen heraus zynisch weiter, und die Einstellung des kommunikativen Han-delns stirbt praktisch aus.

Anstelle der Frage, welche dieser »brave new worlds« die gute und welche die schlechte ist, könnten wir fragen, welche unsere schlimmsten Befürchtungen angesichts der gegenwärtigen sozia-len Entwicklungen am besten einfängt. Aber diese Frage ist zu komplex, als daß sie mit ausschließlich moralphilosophischen Mitteln beantwortet werden könnte. Zum Teil ist es eine Frage nach den empirischen Tendenzen innerhalb der heutigen west-lichen Gesellschaften und zum Teil eine nach den Ängsten und damit nach den sozialen Identitäten und historischen Selbstdeu-tungen der Mitglieder solcher Gesellschaften. Es ist daher eine Frage mit einer irreduzibel hermeneutischen Dimension: Sie ver-langt, daß wir alternative Formen, in denen wir uns zu unserer Geschichte in Bezug setzen, abwägen und daß wir uns selbst im Horizont verschiedener Möglichkeiten der Zukunft verstehen, zum Beispiel als politisch Handelnde und potentielle Teilnehmer an oppositionellen sozialen Bewegungen. Die Streitfrage so zu stellen bedeutet, einzugestehen, daß es einer größeren interdiszi-plinären hermeneutischen Anstrengung bedarf - eines Unterneh-mens, das alle Mittel der historischen, soziologischen, literari-schen, philosophischen, politischen und moralischen Reflexion aufbietet, um die Lebensfähigkeit unserer stark verformten und polyvalenten Traditionen und die Möglichkeiten der oppositionel-len sozialen Bewegungen zu beurteilen. Gesteht man dies aber einmal zu, dann gibt es keine Garantie, daß ein solches Unterneh-men in den Grenzen gehalten werden kann, die uns bei der Einen-gung auf eine Wahl zwischen Habermas und Foucault gezogen sind.

Dieser letzte Punkt tritt dann besonders hervor, wenn wir be-denken, daß gerade eine solche interdisziplinäre Neubewertung des Humanismus heute von einer sozialen und intellektuellen Be-wegung unternommen wird, die weder mit Habermas noch mit Foucault eng verbunden ist. Ich beziehe mich auf die interdiszipli-näre Gemeinschaft feministischer Wissenschaftlerinnen und Akti-vistinnen, die das Autonomiekonzept als einen zentralen Wert der männlich dominierten modernen Kultur des Westens untersu-

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chen. Innerhalb dieser Bewegung wird eine Anzahl verschiedener Perspektiven auf die Autonomie debattiert. Am einen Ende des Spektrums befinden sich jene, die wie Simone de Beauvoir die Frauenbewegung gerade als Sicherung unserer Autonomie im klassisch humanistischen Sinne verstehen.23 Am anderen Ende stehen jene, die wie Alison M. Jaggar die Autonomie deshalb ab-lehnen, weil sie ein intrinsisch maskuliner Wert ist, der auf der Prämisse eines Dualismus von Geist-Körper, Verstand-Gefühl, Wille-Natur aufbaut, mit einer abschätzigen männlich-weiblich Dichotomie verbunden ist und die Frau (Natur, Gefühl, Körper) als das zu meisternde und zu unterdrückende Andere postuliert.24

Dazwischen gibt es etliche vermittelnde Positionen. Da sind dieje-nigen, die wie Carol Gould dafür argumentieren, daß die Autono-mie nur die eine Hälfte einer vollständigen humanen Konzeption der Freiheit und des guten Lebens ist und daß sie von den »femini-nen« Werten der Fürsorge und der Verbundenheit ergänzt werden muß, die die humanistische Ideologie verunglimpft und unter-drückt hat.25 Dann gibt es die von Carol Gilligan Beeinflußten, die behaupten, wir müßten anerkennen, daß heute zwei (gegenwärtig geschlechtergebundene) Arten der Moral mit zwei verschiedenen Autonomiekonzepten gelten, die jeweils mit dem öffentlichen Le-ben und dem Privatleben korrelieren.26 Und es gibt jene, die wie Iris Young darauf beharren, die Aufgabe sei vielmehr, die Spaltung zwischen den beiden Arten der Moral zu überwinden und den Gegensatz zwischen Autonomie und »Weiblichkeit« oder Huma-nismus und Antihumanismus aufzuheben.27

Wir können die Ergebnisse dieser Debatten jetzt nicht vorweg-nehmen, aber wir können ihr Potential erkennen, die normative Dimension des Habermas-Foucault Streits neu zu bestimmen, wenn nicht sogar insgesamt zu verdrängen. Denn die feministische Überprüfung der Autonomie ist die theoretische Zuspitzung einer Bewegung, die die sozialen Identitäten und geschichtlichen Selbst-deutungen einer großen Zahl von Frauen und einiger Männer erneuert. Insofern der normative Streit zwischen Habermas und Foucault letztlich eine hermeneutische Frage nach solchen Identi-täten und Deutungen ist, kann er nicht umhin, von diesen Ent-wicklungen berührt, vielleicht sogar verändert zu werden.

Hat uns Foucault nun gute Gründe gegeben, den Humanismus aus normativen Gründen abzulehnen? Offen gesagt, nein. Aber in bezug auf die weitere Frage nach der Entwicklungsfähigkeit des

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Humanismus als normatives Ideal sind die Ergebnisse noch abzu-warten; noch wurden nicht alle Seiten gehört.

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Ist Michel Foucault ein »Jungkonservativer«? Hat er die Überle-genheit einer ablehnenden Kritik an der Moderne gegenüber einer dialektischen Kritik nachgewiesen? Der Vergleich fällt in aller Kürze so aus:

Erstens, wenn Foucault so gelesen wird, als lehne er den Huma-nismus aus nur konzeptuellen und philosophischen Gründen ab, läuft Habermas mit seinem Vorwurf ins Leere. Foucault strebt nicht notwendig einen totalen Bruch mit den modernen Werten und Lebensformen an, nur weil er eine fundamentalistische Meta-interpretation für sie zurückweist. Denn eigentlich ist das Vorha-ben einer Ent-Cartesianisierung des Humanismus grundsätzlich zu begrüßen. Umgekehrt ist es verständlich, daß Habermas die eingeschlagene argumentative Richtung nehmen mußte, denn Foucault hat konzeptuell nicht die Arbeit geleistet, die zur Entfal-tung und Vollendung einer lediglich philosophischen Verneinung des Humanismus erforderlich gewesen wäre.

Zweitens, wenn Foucault so gelesen wird, als lehne er den Hu-manismus aus strategischen Gründen ab, trifft Habermas mit seinem Vorwurf ins Schwarze. Foucault hat es versäumt zu be-gründen, warum ein pragmatischer, entcartesianisierter Humanis-mus in der heutigen Welt keine kritische Kraft besitzt. Im Gegen-teil, es gibt Gründe, anzunehmen, daß ein solcher Humanismus weiterhin effizient, sogar doppelt effizient ist. Zum einen wendet er sich gegen noch vorhandene Formen der vormodernen Herr-schaft, zum anderen wendet er sich gegen die in Überwachen und Strafen beschriebenen Formen administrativ rationalisierter Herr-schaft. Foucault hat also die strategische Ablehnung nicht wirklich begründet.

Wenn Foucault schließlich so gelesen wird, als negiere er den Humanismus aus normativen Gründen, unterstützen moralphilo-sophische Überlegungen die Position von Habermas. Ohne ein nicht-humanistisches ethisches Paradigma kann Foucault sein normatives Argument gegen den Humanismus nicht durchbrin-gen. Er hat keine Antwort auf die Frage: Warum sollten wir gegen

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eine vollständig panoptisierte, autonome Gesellschaft sein? Und doch könnte sich herausstellen, daß es Gründe gibt, das Autono-mieideal abzulehnen oder zumindest abzuändern und neu anzule-gen. Sollten die Feministinnen unsere Geschichte mit Erfolg in einer Weise neu interpretieren, wonach dieses Ideal mit der Unter-ordnung der Frauen verknüpft ist, dann wird Habermas' eigenes normatives Paradigma nicht ungeschoren davonkommen. Die all-gemeinere Frage nach der normativen Entwicklungsfähigkeit des Humanismus ist noch immer offen.

Alles in allem ist Michel Foucault also kein »Jungkonservati-ver«. Aber es ist ihm auch nicht gelungen, die Überlegenheit der ablehnenden gegenüber der dialektischen Kritik an modernen G e -sellschaften nachzuweisen.

Anmerkungen

1 Jürgen Habermas, Modernity versus Postmodernity, in: New German Critique 22/Wmter 1981, S. 3-14.

2 Habermas, ebenda, und Die Verschlingung von Mythos und Aufklä-rung. Bemerkungin zur >Dialektik der Aufklärung< - nach einer erneu-ten Lektüre, in: K. H. Bohrer (Hg.), Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion, Frankfurt a. M. 1983.

3 David C. Hoy, Power, Repression, Progress: Foucault, Lukes, and the Frankfurt School, in: Triquarterly 52/Herbst 1981, S. 43-63; und The Unthought and How to Think It (American Philosophical Association,

Western Division, 1982). 4 Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow, Michel Foucault: Jenseits von

Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1987. 5 Hoy, Power, Repression, Progress und The Unthought and How to

Think It, a. a. O. 6 Dreyfus/Rabinow, Michel Foucault, a .a .O. 7 Martin Heidegger, Überwindung der Metaphysik, in: ders., Vorträge

und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 71-99 und Die Zeit des Weltbildes, in: ders., Holzwege, Frankfurt a.M. 1950, S. 69-104.

8 Heidegger, Überwindung der Metaphysik; Die Frage nach der Technik, beide in: ders., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954; Die Zeit des Weltbildes, a .a .O. und Über den Humanismus, Frankfurt a.M. 1975.

9 Heidegger, Über den Humanismus, a. a. O. 10 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Hu-

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manwissenschaften, Frankfurt a. M. 1971; und Überwachen und Stra-fen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1976.

11 Foucault, Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, Der Wille zum Wissen, Frankfurt a.M. 1977; und Truth and Subjectivity = »Howison Lec-ture«, University of California, Berkeley 20./21. 10. 1980 [im Centre Foucault unter der Registratur D 2 , Anm.d.U.].

12 Foucault (Hg.), Der Fall Rivière. Materialien zum Verhältnis von Psychiatrie und Strafjustiz, Frankfurt a.M. 1975; und Herculine Bar-bin, dite Alexina B. présenté par Michel Foucault, Paris 1978.

13 Hoy, Power, Repression, Progress und The Unthought and How to Think It, a. a. O.

14 John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1979 und Kantian Constructivism in Moral Theory, in: Journal of Philosophy 77, Nr. 9/September 1980, S. 505-572; und Gerald Dworkin, The Nature and Value of Autonomy, Typoskript 1983 [vgl. ders., The Theory and Practice of Autonomy, Cambridge 1988, Kapitel 1 und 2, Anm. d. U.].

15 Richard Rorty, Postmodern Bourgeois Liberalism, in: Journal of Philo-sophy 8o/Oktober 1983, S. 583-589 und Solidarität oder Objektivität in: ders., Solidarität oder Objektivität? Drei philosophische Essays, Stuttgart 1988, S. 11-37; und Michael Walzer, Spheres of Justice: A De-fense of Pluralism and Equality, New York 1983. Vgl. Kap. 5 dieser Arbeit.

16 Louis Althusser, Für Marx, Frankfurt a. M. 1968. 17 Siehe zum Beispiel die Aufsätze von Philippe Lacoue-Labarthe und

Jean-Luc Nancy in: Rejouer le politique, Paris 1982. Vgl. Kap. 4 dieser Arbeit.

18 Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, 5. Aufl., Frankfurt a.M. 1979.

19 Dreyfus/Rabinow, Michel Foucault, a .a .O. 20 Foucault, Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1977, Bd. 2,

Der Gebrauch der Lüste, Frankfurt a.M. 1986, Bd. 3, Die Sorge um sich, Frankfurt a.M. 1986.

21 Foucault, Sexualität und Wahrheit, 1. Bd., Frankfurt am Main 1977, S. 77f.

22 Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, a. a. O. 23 Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau,

Reinbek b. Hamburg 1968. 24 Alison M. Jaggar, Feminist Politics and Human Nature, Totowa, N.J.

1983. 25 Carol Gould, Private Rights and Public Virtues: Women, the Family,

and Democracy, in: C. Gould (Hg.), Beyond Domination, Totowa, N.J. 1983.

26 Carol Gilligan, Die andere Stimme. Lebenskonflikte und Moral der Frau, München 1988.

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27 Iris Young, Humanism, Gynocentnsm, and Feminist Palmes, in: Hy patbia: A Journal of Feminist Philosophy 3, (Sonderheft von Women's Studies International Forum 8, Nr. 3/1985), S. 173-85.

Kapitel 3

Foucaults Sprache des Körpers: Eine posthumanistische politische Rhetorik?

Du packst das Mädchen am Arm. »Schluß jetzt mit den Verkleidungen, Lotaria! Wie lange willst du dich noch von so einem autoritären Polizeiregime manipulieren lassen!«

Diesmal kann Sheila-Ingrid-Corinna eine gewisse Ver-legenheit nicht verbergen. Sie befreit ihren Arm aus dei-nem Griff. »Ich verstehe nicht, wen du da anklagst. Ich weiß nichts von deinen Geschichten. Ich verfolge eine sehr klare Strategie. Die Gegenmacht muß sich in die Me-chanismen der Macht einschleichen, um sie zu stürzen.«

»Und sie dann genau so wieder aufzubauen! Es ist zwecklos, daß du dich verkleidest, Lotaria. Wenn du eine Uniform aufknöpfst, ist darunter immer wieder nur eine andere Uniform!«

Sheila sieht dich herausfordernd an. »Aufknöpfen . . . ? Na, probier's doch mal. . .«

Du hast dich zum Kampf entschieden, du kannst jetzt nicht mehr zurück. Mit fliegenden Fingern knöpfst du den weißen Kittel der Programmiererin Sheila auf und findest darunter die Polizeiuniform Alfonsinas, du reißt ihr die goldenen Knöpfe ab und entdeckst den Anorak von Corinna, du ziehst den Reißverschluß auf und er-blickst die Kragenspiegel von Ingrid.. .

Die restlichen Kleider reißt sie sich selber vom Leib: Es erscheinen zwei feste, melonenförmige Brüste, ein leicht konkaver Magen, ein tiefliegender Nabel, ein leicht kon-vexer Bauch, die vollen Hüften einer Scheinmageren, eine stolze Scham, zwei kräftige lange Schenkel...

»Und das?« triumphiert Sheila. »Ist das auch eine Uni-form?«

»Nein«, murmelst du verwirrt, »das nicht...« »Eben doch!« schreit sie. »Der Körper ist eine Uni-

form! Der Körper ist bewaffneter Kampf! Der Körper ist gewalttätige Aktion! Der Körper fordert die Macht! Der Körper führt Krieg! Der Körper erklärt sich zum Sub-jekt! Der Körper ist Ziel und nicht Mittel! Der Körper ist Ausdruck! Der Körper spricht! Kommuniziert! Schreit! Rebelliert! Macht Revolution!«

Italo Calvino, Wenn ein Reisender in einer Winternacht

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Es hat sich eine lange und angesehene Tradition moderner Sozial-kritik und normativ-historischer Interpretation um die humanisti-schen Begriffe von Autonomie, Gegenseitigkeit, wechselseitiger Anerkennung, Würde und Menschenrechte herum entwickelt. Diese Begriffe wiederum hängen in der Regel von einer Metaphy-sik der Subjektivität ab. Das sozialtheoretische Denken von Kant, Hegel, Marx, Husserl, Sartre und Habermas bezieht seine norma-tive Kraft eindeutig aus solchen Begriffen und (vielleicht mit Ausnahme von Marx und Habermas) aus einer solchen Metaphy-sik. In jüngster Zeit hat Michel Foucault dagegen eine andere, eine »posthumanistische« Art von Sozialkritik und historischer Inter-pretation vorgelegt, die ausdrücklich die Metaphysik der Subjekti-vität zurückweist. Für Foucault ist das Subjekt lediglich das Folgeprodukt eines bestimmten kontingenten, historisch spezifi-schen Gefüges sprachlich durchtränkter sozialer Praktiken, die Machtverhältnisse in Körper einschreiben. Daher gibt es nach Foucault keine Grundlage für eine Kritik, die sich an den Begriffen der Autonomie, Gegenseitigkeit, wechselseitigen Anerkennung, Würde und der Menschenrechte orientiert. Tatsächlich lehnt Fou-cault diese humanistischen Ideale als Herrschaftsinstrumente ab, die innerhalb des gegenwärtigen »disziplinierenden Macht/Wis-sen-Regimes« eingesetzt werden.

Woher bezieht dann Foucaults Arbeit, zum Beispiel seine Be-schreibung »der internierenden Gesellschaft«, ihre kritische Kraft? Wie schafft es Foucault, diese Gesellschaft so abstoßend und bedrohlich erscheinen zu lassen, ohne an die mit dem Kon-zept des Subjekts verbundenen humanistischen Ideale zu appellie-ren? Setzt er irgendeinen alternativen, posthumanistischen nor-mativen Standpunkt voraus, und wenn ja, was rechtfertigt diesen Standpunkt? Setzt er irgendeine alternative Metaphysik, sagen wir, eine Metaphysik des Körpers voraus? Oder ist seine Kritik radikal antifundamentalistisch, und wenn dem so ist, welche Art der Rechtfertigung kann sie beanspruchen?

Foucault selbst ist weit davon entfernt, eine einzige, konsistente Position zu diesen Fragen zu haben. Aber in einer Reihe von Punk-ten besteht dennoch Klarheit. Faktisch hat er keinerlei selbständige normative Alternativen zum Humanismus ausgearbeitet. Wie man-che Mitglieder der Frankfurter Schule verhehlt er überhaupt nicht sein Mißtrauen gegenüber den Versuchen, eine positive theoreti-sche Grundlage für Kritik zu formulieren. Er nimmt an, daß solche

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Bemühungen implizit totalitär, weil totalisierend sind, und daß sie normalisierend sein müssen, weil sie normativ sind.1 Aber gera-deso wie er das Projekt einer neuen, posthumanistischen Moral-theorie verwirft, meldet Foucault praktisch den Bedarf an einem neuen Vokabular oder einer neuen Rhetorik der Sozialkritik an.2

Das moderne humanistische Vokabular und die humanistische Rhe-torik weiter zu verwenden hieße, so behauptet er, gerade die Lebens-form zu verstärken und zu perpetuieren, die er zu bekämpfen be-absichtige. Daher der Bedarf eines neuen kritischen Paradigmas.

Es ist dieses Projekt einer Kritik ohne traditionelle normative Grundlagen, das ich hier untersuchen will, das Projekt einer Kri-tik, die eher in einer postmodernen Rhetorik als in einer postmo-dernen Theorie wurzelt. Ich werde dies anhand einiger recht unsystematischer Bemerkungen von Foucault tun. Es handelt sich um Bemerkungen, die in der Tat einige Anforderungen an ein neues kritisches Paradigma skizzieren und die, obgleich in einer sehr vorläufigen und abstrakten Weise, andeuten, wie ein solches Paradigma aussehen könnte. Mit anderen Worten, ich werde den Schwerpunkt auf die Dimension seines Denkens legen, in der es sich nicht einfach damit begnügt, der dem Humanismus zugehö-rige, immanente Gegendiskurs zu sein - sozusagen dessen kriti-sches, selbstreflexives Bewußtsein -, sondern in der es anstrebt, den Humanismus zu »überschreiten« oder zu transzendieren und ihn durch etwas Neues zu ersetzen.3 Um das Ende vorwegzuneh-men, das Ergebnis dieser Betrachtungen besteht darin, daß im Licht all der freigelegten Schwierigkeiten der gute, altmodisch moderne Humanismus oder eine im richtigen Sinn enttranszen-dentalisierte Version davon, zunehmend attraktiver erscheint.

Gleich zu Beginn möchte ich bemerken, daß es eine Sache ist, ein fest verwurzeltes politisches Vokabular zu kritisieren, und eine andere, auf dieses Vokabular zu verzichten. Foucault arbeitet nicht nur keine selbständige postmoderne Alternative zum Humanis-mus aus, er fährt fort, dieselbe humanistische Rhetorik still-schweigend zu verwenden, von der er behauptet, daß er sie ablehnt und entlegitimiert. Überwachen und Strafen zum Beispiel ist in seiner eigenen kritischen Kraft auf die Vertrautheit des Lesers mit den modernen Idealen der Autonomie, der Reziprozität, der Würde und der Menschenrechte und auf die Bindung des Lesers an diese Ideale angewiesen, obwohl es humanistische Reformen der Komplizenschaft mit der Disziplinarmacht beschuldigt.4 Was

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sonst, wenn nicht das Festhalten an solchen Begriffen - zumindest als den Idealen der eigenen Kultur, wenn nicht sogar als den unab-dingbaren fundamentalen Kategorien der moralischen Reflexion an sich - erklärt die Abscheu, die hervorgerufen wird durch Fou-caults plastische Illustration der Prozesse, in denen »unterwürfig-nützliche« Körper hergestellt werden?

Nun muß Foucault die Tatsache, daß er fortfährt, die Sprache des Humanismus zu sprechen (oder zumindest zu murmeln) nicht vorgeworfen werden. Jeder gute Derridarianer wird zugestehen, daß es, wenigstens zur Zeit, keine andere Sprache gibt, die er sprechen könnte. Mißtrauisch gegenüber den Gefahren des »blin-den Ausgangs«5, gibt Foucault selbst zu, daß er nicht schlichtweg und sofort die normativen Vorstellungen, die mit der Metaphysik der Subjektivität verbunden sind, nach Belieben fallenlassen kann: »Will man den Disziplinen und sämtlichen Macht- und Wissens-wirkungen, die mit ihnen verbunden sind, etwas entgegensetzen, was tut man dann konkret, [ . . . ] als sich auf genau dieses Recht berufen, dieses berühmte, formale, sogenannte Bürgerliche Recht, das in Wirklichkeit das Recht der Souveränität ist?«6 Ob-wohl Foucault nicht umhin kann, vor der Disziplin Zuflucht bei der Rhetorik des »Rechts« zu nehmen, ist er mit dieser Rhetorik nicht zufrieden. Er behauptet, sie sei aus verschiedenen Gründen unzulänglich. Erstens sei die Sprache der Rechte fundamentali-stisch. Sie erwecke den Anschein, die Sprache der Moral zu sein, um Richard Rorty zu paraphrasieren, d. h. in »der Natur der Per-sonen, wie sie wirklich an sich sind«, begründet zu sein, unabhän-gig von deren Teilhabe an kontingenten, historisch spezifischen Regimes sozialer Praktiken. Diese Unzulänglichkeit könnte kor-rigierbar sein, wenn nicht - was nach Foucault aber der Fall ist -die Sprache der Rechte in der heutigen Gesellschaft als eine mysti-fizierende Sprache fungierte, die die eigentlichen Prozesse der sozialen Herrschaft verdeckt und die mit dazu beiträgt, die Sub-jekte dieser Prozesse hervorzubringen.

Foucaults Darstellung der mystifizierenden Funktionsweise der humanistischen Rhetorik hängt von einigen Voraussetzungen über die historische Zeit ab, die sein eigenes Projekt einer posthumani-stischen politischen Rhetorik definieren helfen. Diese Vorausset-zungen treten in dem merkwürdigen Sachverhalt zutage, daß er gegen die Rhetorik des Rechts zwei offensichtlich miteinander unvereinbare Vorwürfe richtet.

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Einerseits ist das Recht nicht der richtige normative Maßstab für die kritische Thematisierung der Disziplin, weil es anachronistisch ist. Es geht auf einen früheren Zeitabschnitt zurück, in der die Macht noch nicht durch die alltäglichen disziplinierenden Mikro-praktiken im gesamten sozialen Körper fein verteilt worden war. So ist Foucault der Ansicht, daß die psychoanalytische Kritik des Faschismus, wie bewundernswert sie auch sei, »letztlich nur eine nostalgische Rückwendung in die Geschichte ist«, weil sie in den Kategorien von Gesetz, Recht und Souveränität formuliert wurde.7

Andererseits lehnt Foucault den Maßstab des Rechts (oder der »Souveränität«, wie er manchmal sagt) auch deshalb ab, weil das Recht mit dem disziplinierenden Regime zeitlich einhergeht und daher zu ihm in einer internen und komplizenhaften Beziehung steht: »Die Wirkungen der Disziplinarmacht können nicht da-durch eingeschränkt werden, indem man die Souveränität zu Hilfe nimmt und sie gegen die Disziplin wendet, da Souveränität und Disziplin, Recht der Souveränität und Disziplinarmechanismen zwei absolut konstitutive Bestandteile der allgemeinen Machtme-chanismen in unserer Gesellschaft sind.«8

Es gibt keinen Zweifel, daß diese Ablehnung der zeitgenössi-schen Kritik im Spiel ist, wenn Foucault andeutet, der Marxismus könnte unzulänglich sein, weil er sich gegen das Regime der »Bio-Macht« in dessen eigenen Begriffen, im Namen des »Lebens« nämlich, ausspreche.9

Genaugenommen kann Foucault nicht beides haben; er kann nicht zugleich behaupten, das Recht sei anachronistisch gegen-über der Disziplin und das Recht gehe mit der Disziplin zeitgleich einher. Tatsächlich versöhnt er den augenscheinlichen Wider-spruch, indem er behauptet, die moderne Macht operiere gerade mit dieser Heterogenität zwischen den disziplinierenden Prakti-ken und der atavistischen ideologischen und juristischen Organi-sation des Rechts. Anders gesagt, das Recht hat genau deshalb heute die ideologische Funktion, die disziplinierende Flerrschaft zu maskieren und dadurch zu unterstützen, weil es anachroni-stisch ist.

Wie auch immer, worauf es hier ankommt, ist, daß Foucault im Prinzip jedes kritische Paradigma verdrängen will, sei es anachro-nistisch oder synchron zu dem Regime, das es kritisieren will. Weder das Vokabular der Vergangenheit noch das der Gegenwart 90

ist angemessen. Dann bleibt nur noch das Vokabular der Zukunft. Foucault scheint anzunehmen, daß eine angemessene Kritik der Disziplin das Erscheinen einer vollständig neuen politischen Rhe-torik abwarten muß - was in seinem Schema einer neuen morali-schen Vision gleichkommt.

»Um also bei der Suche nach einer nicht disziplinären Macht oder vielmehr um im Kampf gegen die Disziplinarmacht gegen die Disziplinen vorgehen zu können, [ . . . ] müßte [man] auf ein neues Recht zugehen, das nicht nur von den Disziplinen, sondern zu-gleich auch vom Prinzip der Souveränität befreit wäre.«10 Dies versetzt Foucault in eine Position, die der des späten Heideggers gleicht. Es ist die Position, ein Ereignis* abzuwarten, das einen neuen Verlauf der kulturellen Entwicklung enthüllt, der einen völ-ligen Bruch mit der absterbenden Kultur des modernen Humanis-mus darstellt. Da Foucault aber nicht Heideggers Kritik des Willens teilt, besteht das für ihn typische »Warten« nicht in einer wesensmäßig passiven Rezeptivität (»Nur ein Gott kann uns noch retten«), sondern in vielfachen lokalen Widerständen im Namen eines nicht artikulierbaren positiven Ideals. Es scheint so zu sein, daß Foucaults Annahmen über die historische Zeit und die Kritik ihn zu einer Politik der Negation verurteilen.

Aber während Foucault auf das Heraufdämmern eines neuen postdisziplinären, posthumanistischen Maßstabes des Rechts war-tet, macht er Anstalten, über diese Haltung eines platzhalterischen Widerstands hinauszugehen. Er gibt gelegentlich einen Hinweis, wie ein solcher Maßstab aussehen könnte oder zumindest, wo es angebracht wäre, einen solchen Maßstab zu suchen. Diese Hin-weise sind jedoch rätselhaft, weil die Alternative, die sie vorschla-gen, für genau die Sorte von Einwänden anfällig zu sein scheint, die in Foucaults Augen den Humanismus zunichte machten: Sie scheint einen Rückzug vom Antifundamentalismus und eine Hin-wendung zu einer neuen Metaphysik - einer Metaphysik des Körpers - zu beinhalten, und sie mag nicht weniger der Koopta-tion und Mystifikation unterworfen werden, als Foucault dies von der humanistischen Kritik behauptet.

Foucault schließt den ersten Band von Sexualität und Wahrheit mit der folgenden Empfehlung ab: »Gegen das Sexualitätsdisposi-tiv kann der Stützpunkt des Gegenangriffs nicht das Sex-Begehren sein, sondern die Körper und die Lüste.«11 Die Gründe für die Zurückweisung des »Sex-Begehrens« sind die einschlägigen de-

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konstruktiven und demystifizierenden Gründe. »Sex« ist nach Foucault ein fiktiver Gegenstand, der im späten 18. Jahrhundert erfunden wurde und im Regime der Bio-Macht als ein Herr-schaftsinstrument fungiert. Er existierte nicht, bis es das moderne Macht/Wissen-Regime möglich machte, » [ . . . ] anatomische Ele-mente, biologische Funktionen, Verhaltensweisen, Empfindun-gen und Lüste in einer künstlichen Einheit zusammenzufassen und diese fiktive Einheit als ursächliches Prinzip, als allgegenwär-tigen Sinn und allerorts zu entschlüsselndes Geheimnis funktio-nieren zu lassen«.12

Der Sex spielt in dem modernen Regime die Rolle eines episte-mischen Objekts und einer Zielscheibe der Macht. Er rechtfertigt asymmetrische Prozeduren des Zwangs und der Einschüchterung und veranlaßt die Herausbildung der Selbstbeobachtung und Selbstüberwachung als Gewohnheiten. Aber dem Sex entspricht nichts, abgesehen von dieser Rolle. Er ist einfach diese Rolle, ein Objekt-in-einer-Reihe-von-Praktiken.

Selbstverständlich ist der Sex in dieser Hinsicht nicht anders als irgend etwas sonst in Foucaults Schema. In seiner Sicht ist absolut alles sozial konstruiert. Aber nicht alles ist derart »fiktiv«, wie es der Sex ist. Was den Sex unterscheidet, ist, daß er anders als andere Objekte-in-Praktiken vorgibt, sich auf eine transzendente Entität zu beziehen, die getrennt von jedweden sozialen Praktiken exi-stiert und unabhängig von ihnen identifizierbar ist. >Sex< ist also der Name, den ein einzelnes historisches Machtregime einem illu-sorischen Gegenstand verleiht, von dem es postuliert, daß er außerhalb aller Machtregime existiert und daß er der Unterdrük-kung und Entstellung durch sie unterworfen ist. Der Sex ist deshalb ein illusorischer Gegenstand, durch den das derzeitige Regime den Protest kanalisiert, um diesen Protest in die Mecha-nismen seiner eigenen Funktionsweise zu integrieren und einzu-speisen. Proteste im Namen des Sex fahren lediglich fort, die Organisation der Sexualität regimegerecht zu artikulieren. »Glau-ben wir nicht, daß man zur Macht nein sagt, indem man zum Sex ja sagt; man folgt damit vielmehr dem Lauf des allgemeinen Sexuali-tätsdispositivs.«13

In einer Weise, die mit seiner Behandlung des »Menschen« und des Subjekts vergleichbar ist, weist Foucault das »Sex-Begehren« als eine normative Kategorie in zwei analytisch unterschiedenen, aber funktional zusammenhängenden Punkten zurück: (1) Es ist

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fundamentalistisch und (2) es ist ein Herrschaftsinstrument. Wie im Fall des »Menschen« und des Subjekts nimmt Foucault auch diesmal an, Sex sei ein Herrschaftsinstrument, das dem derzeitigen Regime gegenüber keine kritische, emanzipatorische Kraft ent-wickeln könne.

Statt dessen schlägt Foucault Widerstand im Namen von »Kör-pern und Lüsten« vor. Aber wie entgeht dieser Maßstab den Schwierigkeiten, die das Sex-Begehren plagten? Entweder indem der Begriff der Körper-Lust nicht in der Weise fiktiv ist wie der Sex, oder indem er nicht als ein Herrschaftsinstrument innerhalb des derzeitigen Sexualitätsdispositivs fungiert.

Was bedeutet es zu sagen, Körper seien nicht in der Weise fiktiv, wie es der Sex ist? Könnte es sein, daß Foucault die Körper von seiner Generalthese ausnimmt, wonach alles durchgehend Inter-pretation ist? Mit anderen Worten, könnte es sein, daß er die Ansicht vertritt, der Körper sei nicht einfach ein Objekt-in-einem-Regime-der-Praktiken, sondern ein transzendental Be-zeichnetes?

Für diese Lesart spricht Foucaults Behauptung in Überwachen und Strafen, daß es in Wirklichkeit stets der Körper ist, der be-straft wird, gleichgültig wie verschiedene Strafpraktiken ihre je-weiligen Objekte konstituieren oder instituieren. Wenn der Sou-verän die Körper von Missetätern foltert, wenn die Reformer juridische Subjekte resozialisieren, wenn die Anwälte der Diszi-plin Abweichende normalisieren, richtet sich praktisch alle Ge-walt gegen Körper. Es ist immer der Körper, der umkämpft ist.

Aber wenn Foucault tatsächlich der Meinung ist, der Körper sei ein transzendental Bezeichnetes, und wenn er aus diesem Grund behauptet, daß der Körper die angemessene Basis für die postmo-derne politische Kritik darstellt, wie vermeidet er selbst dann die Art von Fundamentalismus, auf Grund dessen er den Humanis-mus angreift?

Tatsächlich gibt Foucault weder irgendeine positive Charakteri-stik von Körpern »wie sie wirklich an sich sind« losgelöst von den Formen, mit denen sie historisch »ausgestattet« sind. Noch zieht er irgendwelche universellen normativen politischen Ideale aus dieser vermeintlich überhistorischen Körperlichkeit. Im Gegen-teil, er nennt sein Projekt eine Untersuchung zur Geschichte der politischen Technologie des Körpers. Er besteht darauf, daß dies weder die Geschichte dessen ist, was die Menschen über den Kör-

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per gesagt und gedacht haben, noch die Geschichte irgendeines fixen, identischen, aller Geschichte vorhergehenden Bezugsob-jekts. Es ist vielmehr eine Geschichte des politisch und historisch ausgestatteten Körpers oder der unterschiedlichen Weisen, in de-nen verschiedene, aufeinanderfolgende Macht/Wissen-Regimes den Körper als ein Objekt innerhalb ihrer jeweiligen Techniken und Praktiken instituieren. Es gibt zum Beispiel den gefolterten Körper des ancien régime, das Objekt der »Kunst unerträglicher Sensationen«, dann gibt es den mechanischen, zerlegbaren Körper der galileischen Wissenschaft, das Objekt berechenbarer, raum-zeitlicher Kräfte und Bewegungen, und es gibt auch den natür-lichen, organischen Körper der Disziplinierung, das trainierbare, manipulierbare Objekt der Abrichtung, und schließlich gibt es den »unterwürfig-tauglichen Körper«.

Ganz bestimmt ist keiner dieser Körper der Körper schlechthin. Vielmehr ist jeder dieser Körper bereits mit irgendeiner historisch-spezifischen Form der Macht ausgestattet. In der Tat fällt die Vorstellung des Körpers schlechthin als ein der Macht vorherge-hendes Substrat, in das die Macht ihre Bilder einschreibt, völlig aus dem Rahmen. Diese Art Körper wäre lediglich eine andere Version vom Ding an sich*, denn er könnte niemals angetroffen werden und hat keine wie auch immer identifizierbaren Eigen-schaften. Foucaults Antifundamentalismus zwingt ihn, eine sol-che Vorstellung zurückzuweisen. Er kann sich konsequenterweise nicht darauf berufen, um entweder eine posthumanistische politi-sche Vision zu begründen oder um seine historischen Interpreta-tionen zu rechtfertigen.

Wenn es so ist, könnte man fragen: Mit welchem Recht fährt Foucault fort, vom Körper schlechthin zu sprechen? Was berech-tigt ihn, seine Arbeit eine Geschichte der politischen Technologie »des Körpers« zu nennen? Was rechtfertigt seine Annahme, die erwähnten, verschiedenen, ausgestatteten Körper seien alles Arten ein und derselben Gattung? Wenn es kein identifizierbares ge-meinsames Bezugsobjekt gibt, das ihnen allen unterliegt, warum sollte das Material dann auf diese Weise organisiert werden und warum sollte dem Körper in der politischen Kritik irgendeine spe-zielle Rolle eingeräumt werden?

Um einen Rückzug von seiner antifundamentalistischen hin zu einer metaphysischen Position zu vermeiden, mit dem er schlecht beraten wäre, sollte Foucault diese Frage möglichst wie ein Prag-

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matist beantworten. Er sollte sagen, daß, obwohl es keine ontolo-gische Basis dafür gebe, seinen Diskurs über die Abfolge der Macht/Wissen-Regimes gerade unter den Gesichtspunkten zu or-ganisieren, wie solche Regimes die Körper instituieren, es gleich-wohl eine pragmatische Basis dafür gebe. Indem nämlich ein solcher Diskurs kritische Einsichten verschafft, die uns helfen, mit den Dingen fertig zu werden. In diesem Sinne ist sein Diskurs der wirkungsvollste Diskurs zur Thematisierung des Problems der Emanzipation in modernen Gesellschaften.

Wenn aber der Anspruch in Überwachen und Strafen, daß es eigentlich immer eine Frage der Körper ist, praktisch zu dem An-spruch verkürzt wird, daß der »Körper-Sprache« ein größeres emanzipatorisches Potential innewohnt als jeder Alternative, müssen wir uns fragen, ob dieser letzte Punkt so stimmt. Ist die »Sprache des Körpers« tatsächlich wirksamer als die »Sprache des Rechts«, die »Sprache des Begehrens« oder die »Sprache des Be-dürfnisses-und-der-Interessen« ?

Foucaults Antwort lautet zweifellos, daß die Sprache des Rechts und die anderen Sprachen im disziplinierenden Machtregime -anders als die Sprache des Körpers - als Herrschaftsinstrumente fungieren. In bezug auf den ersten Teil dieser Antwort kann man sagen, daß selbst wenn die auf Rechte zentrierte Rede so fungiert, daraus nicht folgt, daß sie gänzlich unwirksam oder bar jeder kri-tischen Kraft ist. Foucault selbst hat Fälle zitiert, in denen sich oppositionelle Gruppen tief verwurzelte Vokabulare für ihre Zwecke angeeignet haben und sie gegen jene kehrten, die sie zu Ausschließung und Unterdrückung gebraucht hatten. Er beob-achtet zum Beispiel, daß diejenigen, die in dem Vokabular der neuen scientia sexualis des 19. Jahrhunderts als »Perverse« abqua-lifiziert wurden, ihre Legitimität mit einem Gegendiskurs vertei-digten, in dem Begriffe dieses Vokabulars verwendet wurden.14

Wenn also eine »strategische Umkehrung« in diesem Fall möglich war, warum sollte nicht etwas Ahnliches im Fall der am Recht orientierten Rede geschehen können? Warum gibt Foucault eine solche Möglichkeit aus der Hand? Warum geht er davon aus, daß die am Recht orientierte Rede kein wie auch immer geartetes emanzipatorisches Potential hat, daß sie restlos auf ihre derzeitige, vermeintlich mystifizierende Funktion reduzierbar ist?

Vielleicht glaubt er, daß die Leistungen der humanistischen Rhetorik so miserabel sind, daß sie rettungslos kompromittiert

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ist. Wenn das stimmt, könnte man dann nicht über seine Historio-graphie streiten? Man braucht sicherlich weder ein whiggistischer liberaler Vertreter der Fortschrittsideologie noch ein antifunda-mentalistischer Positivist in erkenntnistheoretischen Fragen zu sein, um zu bezweifeln, daß Foucault dem »emanzipatorischen Moment« in der Geschichte des Humanismus gerecht geworden ist. Auf jeden Fall verlangt die Entscheidung, ob die Rhetorik des Rechts abgelehnt werden soll, ganz sicher eine besonnenere Prü-fung solcher Überlegungen, als Foucault sie vornimmt, und eine Untersuchung der verfügbaren Alternativen.

Das führt mich zum zweiten Teil der Behauptung, die ich Fou-cault soeben zugeschrieben habe, daß nämlich die Körper-Sprache derzeit nicht als ein Instrument der disziplinierenden Herrschaft fungiert. Das ist zweifellos wahr, aber nur in einer trivialen Form: Da heute niemand diese Körper-Sprache spricht, hat sie keine Funktion, weder eine herrschaftserzeugende, noch eine anders ge-artete Funktion im gegenwärtigen Regime. Sie erfüllt deshalb auch Foucaults Forderung, eine angemessene kritische Rhetorik oder ein angemessenes kritisches Paradigma solle radikal extern bezie-hungsweise in der Zukunft angesiedelt sein. Das zeigt jedoch aus meiner Sicht, wie unzureichend - ja sogar bizarr - Foucaults Kri-terium ist. Denn das gleiche könnte von jeder Sprache aus einer unbegrenzt großen Menge anderer, derzeit nicht gesprochener, ungeborener Sprachen gesagt werden. Was rechtfertigt den Vor-schlag, daß diejenige Sprache, die mit Körpern und ihren Lüsten zu tun hat, diejenige ist, die wir heute brauchen ? Warum erscheint gerade sie als ein antidisziplinäres Strategem besonders vielver-sprechend?

Eine mögliche Antwort beruft sich auf den taktischen Wert der Körper-Sprache als Gegenpol zur »Idiophilie« der humanisti-schen Kultur.15 Anders gesagt, von der Rhetorik der Körper und Lüste kann behauptet werden, daß sie nützlich ist, um in hochdra-matischer Form das übertriebene Privileg sichtbar zu machen, das die moderne westliche Kultur der Subjektivität, der Sublimation, der Idealität und dergleichen gewährt hat. Aber das hieße, Fou-caults Vorschlag als eine auffällig strategische Taktik zu behan-deln, die darauf aus ist, den Bourgeois aufzuschrecken. Bevor über die Verwendungsweise der Körper-Sprache bei der Behand-lung zumindest einiger der großen sozialen und politischen Pro-bleme der Gegenwart mehr gesagt werden kann - Probleme wie

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die Aussichten für einen demokratischen, unbürokratischen, nicht-autoritären Sozialismus, wie die ökologische Krise, der Szientismus, der Technizismus und die Deformation des öffent-lichen Lebens, Probleme wie Sexismus, Rassismus, Homosexuel-lenfeindlichkeit, nationaler und religiöser Chauvinismus, wie die Beziehungen zwischen modernen und traditionellen Kulturen, Abrüstung, Massenkultur, die Familie, Armut -, bevor die auf den Körper zentrierte Rede nicht in irgendeiner Weise dazu Stellung zu nehmen vermag, ist Foucaults Vorschlag unergiebig.

Was also könnte uns die Körper-Sprache bei solchen Dingen besser zu sagen und zu tun erlauben, als es das Vokabular des Humanismus kann? An diesem Punkt kann ich mir eine plausible Antwort Foucaults nicht mehr vorstellen. Ich kann mir kein kon-kretes Bild davon machen, was der Widerstand gegen das Sexuali-tätsdispositiv innerhalb des Regimes der Bio-Macht im Namen der Körper und ihrer Lüste sein könnte. Oder in dem Maß, in dem ich es mir vorstellen kann, ist es ein Bild, das durch den ironischsten aller Zufälle dem hedonistischen Utilitarismus des eigentlichen Architekten des Panopticons, Jeremy Bentham, ähnelt. Viel irri-tierender ist allerdings ein anderer Gedanke. Da nach Foucault das disziplinierende Sexualitätsdispositiv seine eigene Palette körper-licher Lüste hervorgebracht hat (einschließlich solcher, die mit den sadomasochistischen, Jäger-Beute-, Katz-und-Maus-Szena-rien assoziiert sind, wie sie im ersten Band von Sexualität und Wahrheit beschrieben werden) - da mit anderen Worten die diszi-plinierende Macht die einzigen Körper, die wir haben, gründlich gekennzeichnet hat -, ist nicht klar, wie Forderungen im Namen der Lüste unserer Körper irgendeinen größeren kritischen Einfluß auf das Regime ausüben sollten als, sagen wir, Forderungen im Namen der Rechte, die in der modernen Kultur des Westens tradi-tionell anerkannt, aber nicht allgemein verwirklicht sind.

In der Tat folgt aus Foucaults eigenen antifundamentalistischen Annahmen wahrscheinlich, daß es keinen normativen archimedi-schen Punkt für die politische Kritik gibt. Kein wie auch immer geartetes Vokabular ist von sich aus gegen alle Möglichkeiten der Kooptation und des Mißbrauchs gefeit. Die philosophische Suche nach der Sprache der Moral als illusorisch aufgeben heißt einzuge-stehen, daß unter den geeigneten Umständen jedes normative Konzept, jedes emanzipatorische Ideal oder jede politische Rheto-rik als ein Herrschaftsinstrument genutzt werden kann, werden

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könnte und wahrscheinlich auch genutzt werden wird.16 Und ebenso muß anerkannt werden, daß kein kritisches Paradigma restlos auf diesen Status eines Herrschaftsinstruments reduziert zu werden braucht, da »strategische Umkehrungen« bisweilen mög-lich sind. Als Fazit bleibt also, daß Forderungen, die in der Spra-che der Lüste unserer Körper artikuliert sind, gegen Kooptation und gegen Mißbrauch von sich aus nicht stärker gefeit sind als Forderungen in jedem anderen Vokabular auch. Ihre Fähigkeit, kritischen Einfluß auszuüben und der Kooptation zu entgehen, richtet sich vollkommen nach der Situation, in der sie erhoben werden.

Es scheint also, daß wir jetzt am besten einen strengen Blick auf Foucaults Sozialkritik werfen und offen fragen: Was ist es, was uns am so plastisch geschilderten Regime der Disziplinierung und Bio-Macht abstößt? Können wir unsere Einwände pointierter und wirkungsvoller ausdrücken, indem wir sagen, daß panoptische und ähnliche Praktiken eine widerliche Ökonomie der Körper und Lüste erzeugen, oder indem wir sagen, daß sie nicht die Rechte zu respektieren vermögen, die unseren Sinn dafür, wie Personen behandelt werden sollten, ausdrücken?

Ich vermute, die zweite Formulierung wird den meisten Men-schen prägnanter erscheinen. Die meisten werden deshalb gegen das moderne Machtregime sein, weil es (1) die Menschen objekti-viert und die Autonomie negiert, die zu gewähren man gewöhn-lich vorzieht, und weil es (2) auf der Prämisse hierarchischer und asymmetrischer Beziehungen aufbaut und die Gegenseitigkeit und Gemeinsamkeit negiert, die gewöhnlich an menschlichen Bezie-hungen geschätzt werden. Aber die Sache so darstellen heißt zu unterstellen, daß es letztendlich doch irgendein im Humanismus überlebendes emanzipatorisches Potential geben kann. Es bedeu-tet, die Möglichkeit einer Art immanenter Kritik zu unterstellen, die darin besteht, daß man die Institutionen einer Kultur für das Versagen verurteilt, die eigenen, weithin anerkannten Ideale zu verwirklichen.

Es könnte jedoch behauptet werden, daß das, was den meisten Menschen Eindruck macht, nicht das letzte Wort ist. Die soeben angeführten Einwände sind in der Sprache der modernen normati-ven Theorie des Westens formuliert, und die sie unterstützenden Intuitionen sind an jener Theorie und Tradition nicht unschuldig. Im Gegenteil, diese Intuitionen sind selbst von den Voraussetzun-

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gen der letzten Jahrhunderte unserer Kultur durchdrungen. Nähme man sie zum Beurteilungsmaßstab, würde das eigentliche Problem verfehlt werden, das sich stellt, wenn es um die Wünsch-barkeit einer Revolution in der politischen Kultur geht, die einige tiefgreifendere Umstrukturierungen unserer Intuitionen, Prämis-sen und unseres Wortschatzes zur Folge hätte. Anders gesagt, scheint die Annahme, daß wir unsere derzeitigen Maßstäbe beibe-halten werden oder beibehalten sollten, allzu tendenziös zu sein.

Sobald wir aber einmal dieses Problem erkannt haben, kommen wir nicht um die Tatsache herum, daß unsere derzeitigen Maß-stäbe die einzigen sind, die wir gegenwärtig haben. Es ist wohl wahr, daß wir nicht ewig auf sie fixiert bleiben werden, daß sich eine Revolutionierung der politischen Kultur ereignen kann (ob-wohl es selbstverständlich keine Garantie gibt, daß dies eine Ver-besserung wäre - nach wessen Maßstäben auch immer). Aber weil eine solche Revolution fehlt - in Ermangelung irgendeiner positi-ven, konkreten, offenkundigen, alternativen sozialen Vision oder eines Vorbildes, das unsere Loyalität gewinnen und unsere Sicht neu strukturieren könnte - sind die Maßstäbe, die wir haben, eben die Maßstäbe, die wir haben. Das ist so, ganz gleich wie bewußt wir uns der Tatsache sind, daß wir es sind, die sie haben. Wenn also jemand, der keine überzeugend artikulierte Alternative anbietet, uns erzählt, unsere Versuche, die Disziplin in den Begriffen des Humanismus zu kritisieren, bezeugten nur, daß wir der diszipli-naren Matrix verhaftet sind, und sie seien in Wirklichkeit Schritte, die zur Artikulierung und Stärkung der Matrix eingesetzt würden, dann ist eine gesunde Dosis Skeptizismus angebracht - vorausge-setzt allerdings, daß ein solcher Skeptizismus nicht zu einem blinden Festhalten an der Tradition herunterkommt, das eine Empfänglichkeit für neue kritische Paradigmata nicht zuläßt.

Wenn diese Schlußfolgerung über Foucault übermäßig hart er-scheint, mag es gut sein, daran zu erinnern, daß sie sich nur aus der Analyse eines einzigen Stranges seines Denkens ergibt - aus der Dimension, in der es bestrebt ist, den Humanismus zu »über-schreiten« oder zu transzendieren und durch irgend etwas Neues zu ersetzen. Es ist dieser »überschreitende« Foucault, dem es an echter politischer Ernsthaftigkeit zu mangeln scheint, dem die theoretischen, lexikalischen und kritischen Ressourcen fehlen, die nötig sind, um eine realisierbare politische Vision zu stützen.

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Aber beließe man es dabei, würde man den anderen Strang von Foucaults Denken ignorieren - den Strang, der in Wirklichkeit den eigenen, immanenten Gegendiskurs des Humanismus oder dessen kritisches Bewußtsein bildet. Das ist die Dimension von Foucaults Denken, die weniger bestrebt ist, den Humanismus zu stürzen, als ihn zur Ehrlichkeit anzuhalten. Sie bietet keine eigenen Lösungen, sondern dient gleichsam wie eine feine Nase nur dazu, Heuchelei, Scheinheiligkeit und Selbsttäuschung einerseits und die histori-sche Logik andererseits aufzuspüren, durch die »die Methoden des humanistischen Wissens und der humanistischen Praxis den guten Absichten ihrer Formulierer und Unterstützer entschlüp-fen«.17 Das ist der skandalträchtige, sokratische Foucault, der vielleicht mehr als jeder andere seit Marx getan hat, um die unge-heure Vielfalt der Formen, in denen die humanistische Rhetorik zu Mißbrauch und Kooptation geneigt war und ist, bloßzulegen und vor ihnen zu warnen. Diesem Foucault schulden wir großen Dank.

Aber selbst diese ausgewogenere Schlußfolgerung scheint nicht ganz zufriedenzustellen. Obwohl (oder vielleicht gerade weil) sie so vernünftig ist, könnte bei einer Interpretation Unbehagen ver-spürt werden, die Foucault auf diese Weise aufteilt und die Zustim-mung nur jenem ausgewählten Anteil seines Denkens zuteil werden läßt, der, um einen Kommentar Derridas anzubringen, wieder in die humanistische Abgeschlossenheit einholbar ist. An-ders gesagt, es wäre wünschenswert, einen besseren Weg zur Würdigung des nicht einholbaren Foucault zu finden.

Zwei Möglichkeiten bieten sich an. Erstens kann man Derrida weiter folgen und den immanentistischen Foucault und den über-schreitenden Foucault als zwei Phasen einer dekonstruktiven »doppelten Geste« sehen. Die Nichtidentität dieser Phasen wäre dann das »Intervall«, das den Text als die Art der »zweiseitigen Schreibweise« kennzeichnet, die notwendig ist, um den Huma-nismus zu »verschieben« (weniger um ihn zu ersetzen).18 So fas-zinierend das ist, so bleibt doch unklar, welche politischen Im-plikationen eine solche Lesart hätte. Ist Verschiebung Reform? Revolution? Oder irgendeine dritte, neue Möglichkeit? Sollte das bedeuten, daß der immanentistische Foucault einfach eine Taktik ist, die letzten Endes im Dienst des überschreitenden Foucault steht? Und wenn dem so ist, machen sich dann nicht alle vorherge-henden Einwände gegen diesen Foucault wieder geltend?

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Es gibt vielleicht eine andere, einfachere Form, in der der nicht einholbare Foucault gewürdigt werden kann. Einen Hinweis kann man von Susan Sontag erhalten:»Große Schriftsteller sind entwe-der Ehemänner oder Liebhaber. Einige unter ihnen zeichnen sich durch die soliden Tugenden des Ehemannes aus, durch Zuverläs-sigkeit, Begreifbarkeit, Großzügigkeit und Anständigkeit. An an-deren schätzen wir die Gaben des Liebhabers, die eher etwas mit dem Temperament als mit moralischer Güte zu tun haben. Be-kanntermaßen sind Frauen bereit, beim Liebhaber um des intensi-ven Gefühls willen, das er in ihnen erweckt, Eigenschaften - wie launisches Gebaren, Selbstsucht, Unzuverlässigkeit und Brutali-tät- zu tolerieren, die sie beim Ehemann niemals dulden würden. Ebenso finden sich Leser mit Unverständlichkeit, Aufdringlich-keit, schmerzlichen Wahrheiten, Lügen und schlechter Gramma-tik ab, wenn ihnen der Schriftsteller zum Ausgleich erlesene Gefühle und gefährliche Erregungen vermittelt. Und wie im Le-ben so auch in der Kunst braucht man beide: den Ehemann und den Liebhaber. Es ist jammerschade, wenn man gezwungen ist, zwischen ihnen zu wählen.«19

Foucault, so mag man schließen, taugt nicht viel als Ehemann; politisch gesehen wäre ein uneingeschränktes Zusammenleben mit ihm nicht wünschenswert. Aber als Geliebter macht er wirklich eine sehr gute Figur. Allein seine Unverschämtheit, die maßgeb-lichen humanistischen Tugenden, narrativen Konventionen und politischen Kategorien abzulehnen, versetzt uns genau den Schock, den wir gelegentlich brauchen, um unsere üblichen Mu-ster der Selbstdeutung zu entdinglichen und unseren Sinn dafür zu erneuern, daß sie, was immerhin möglich ist, doch nicht die ganze Wahrheit sagen.

Anmerkungen

1 Foucault selbst argumentiert nicht ausdrücklich für diese Annahmen. Sein Lehrer, Georges Canguilhem, versuchte jedoch, eine interne Be-ziehung zwischen dem Normativen und dem Normalisierenden in der Medizin nachzuweisen, siehe Das Normale und das Pathologische, München 1974. Was für die Gültigkeit einer solchen Beziehung im

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allgemeinen spricht, ist meines Wissens nicht plausibel erläutert wor-den.

2 Die zentrale Stellung der Rhetorik gegenüber der Erkenntnistheorie und der Ethik in Foucaults Projekt wurde von Hayden White bemerkt, siehe seinen Aufsatz, Michel Foucault, in: John Sturrock (Hg.), Struc-turalism and Since: From Lévi-Strauss to Derrida, Oxford 1979. Der Gegensatz zwischen einem moralischen Vokabular und einer Moral-theorie wurde von Richard Rorty entfaltet, siehe Method, Social Science, and Social Hope, in: ders., Conséquences of Pragmatism: Es-says, 19/2-1980, Minneapolis 1982.

3 Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Strängen in Foucaults Denken legte sich mir auf Grund einer Reihe von Kommentaren nahe, die James Bernauer zu einer früheren Version dieses Aufsatzes machte, welche auf einer Tagung der Society for Phenomenology and Existential Philosophy am 29. Oktober 1981 in Evanston, Illinois, vorgetragen wurde. Professor Bernauers Kommentare betonen das, was ich den Strang des »immanenten« Denkens bei Foucault nenne, während mein Aufsatz den, wie ich es nenne, »überschreitenden« Strang hervorhebt. Ohne Frage gibt es bei Foucault beide Stränge. Ich werde gegen Ende des Kapitels auf den Gegensatz zwischen ihnen zurückkommen.

4 Ich habe die These in Kapitel 1 dieses Bandes behandelt. 5 Der »blinde Ausgang« ist Jacques Derridas Ausdruck für den abstrak-

ten und voreiligen Versuch, mit dem sich jemand aus der metaphysi-schen Abgeschlossenheit herauskatapultiert, nur um sie letzten Endes zu reproduzieren; siehe The Ends of Man, in: Philosophy and Pheno-menologicalResearch 30, Nr. 1/September 1969, S. 56, dt. Fines homi-nis, in: J. Derrida, Randgänge der Philosophie, Frankfurt a.M./ Berlin/Wien 1976, S. 121.

6 Foucault, Recht der Souveränität/Mechanismus der Disziplin, in: Dis-positive der Macht. Michel Foucault über Sexualität, Wissen und Wahr-heit, Berlin 1978, S. 94f.

7 Foucault, Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, Der Wille zum Wissen, Frankfurt a.M. 1977, S. 179.

8 Foucault, Recht der Souveränität, a. a. O., S. 95. 9 Foucault, Sexualität und Wahrheit, a. a .O . ,S . I72f.

10 Foucault, Recht der Souveränität, a. a. O., S. 95. 11 Foucault, Sexualität und Wahrheit, a. a. O., S. 187. 12 Foucault, ebenda, S. 184. 13 Foucault, ebenda, S. 187. 14 Foucault, ebenda, S. 123. Das Beispiel und die Überlegung allgemein

finden sich bei Jonathan Arac, The Function of Foucault at the Present Time, in: Humanities in Society 3, Nr. i/Winter 1980, S. 73-86.

15 Diesen Begriff verdanke ich James Bernauer a.a.O. Das Argument wurde mir auch von Hayden White vorgeschlagen.

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16 Siehe Richard Rorty, Method, Social Science, and Social Hope, a. a. O.

17 Bernauer, a. a. O. 18 Siehe Derrida, Positions: Interview with Jean-Louis Houdebine and

Guy Scarpetta, in: Positions, Chicago 1981, S. 41 f., dt. Positionen. Ge-spräche mit Jean-Louis Houdebine und Guy Scarpetta, in: J. Derrida, Positionen, Graz/Wien 1986, S. 87ff.

19 Susan Sontag, Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, Reinbek b. Hamburg 1968, S. 87. Ich danke Martin Jay dafür, daß er mich auf diese Stelle aufmerksam machte.

II Über das Politische und das Symbolische

Kapitel 4

Die französischen Derridarianer: Die Dekonstruktion politisieren oder das

Politische dekonstruieren?

Im Sommer 1980 fand in Cerisy, Frankreich, eine Konferenz mit dem Thema »Les Fins de l'homme: Ausgehend vom Werk Jacques Derridas« statt. Der Kreis der Teilnehmer setzte sich aus vielen französischen Philosophen des Zirkels um Derrida so-wie einer Anzahl amerikanischer Literaturwissenschaftler zu-sammen. Die Leser der Protokolle dieses Ereignisses werden wahrscheinlich der Ansicht sein, daß der interessanteste Teil der Tagung - und wie sich später herausstellte, auch der frucht-barste - das »Politische Seminar« war.1 Hier wurden endlich all die Fragen gestellt, die schon lange diejenigen beunruhigt hat-ten, die die Karriere der Schriften Derridas und ihre eigenartige Rezeption in den USA mitverfolgt hatten. Hat die Dekonstruk-tion irgendwelche politischen Implikationen? Hat sie irgendeine politische Bedeutung jenseits der undurchschaubaren und inze-stuösen Streitigkeiten, die sie in den literaturwissenschaftlichen Abteilungen amerikanischer Universitäten ausgelöst hat? Ist es möglich - und wünschenswert -, eine dekonstruktive Politik zu formulieren? Warum hat Derrida trotz der revolutionären Rheto-rik seiner Schriften um 19682 und trotz der weitverbreiteten An-nahme, er sei »ein Linker«, die politische Problematik so kon-sequent, vorsätzlich und geschickt vermieden? Warum ist er beispielsweise den hartnäckigen Versuchen der Interviewer, fest-zustellen, wie er zum Marxismus steht, so behende ausgewichen?3

Warum hat er immerzu die Begegnung der Dekonstruktion mit »dem Text von Marx«, die er bei Gelegenheit versprochen hatte, »auf unbestimmte Zeit aufgeschoben«? Oder impliziert sein Werk bereits eine Politik? Und wenn ja, um welche Politik handelt es sich, und ist diese Politik auch haltbar? Welche Probleme stellt Derridas sehr komplexes Verhältnis zu Heidegger denjenigen, die die Dekonstruktion politisieren wollen? Welche Art Politik ist am »Ende der Metaphysik« oder »im Gefolge der Dekonstruktion«

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möglich? Welche Art des politischen Denkens bleibt möglich, so-bald man alle traditionellen Grundlagen der politischen Reflexion dekonstruiert hat? Ist es möglich, das Politische von einem Derri-daschen Standpunkt aus neu zu denken? Wie könnte ein solcher Versuch aussehen?

Die Teilnehmer des »Politischen Seminars« in Cerisy schlugen eine Anzahl miteinander unvereinbarer Antworten auf diese Fra-gen vor. Es überrascht nicht, daß das wichtigste Ergebnis der Sitzungen in der Vervielfachung der Fragen bestand und in der Erkenntnis, daß eine weitergehende, systematische Untersuchung nötig wäre, wenn diese Fragen jemals befriedigend gelöst werden sollten. Einige Monate später wurde an der École Normale Supé-rieure in Paris das Centre de recherches philosophiques sur le politique [Zentrum für die philosophische Erforschung des Politi-schen] ins Leben gerufen. Unter seiner Schirmherrschaft, organi-siert von den Straßburger Philosophen Jean-Luc Nancy und Philippe Lacoue-Labarthe, ist seither eine Gruppe, die sich haupt-sächlich aus Philosophen zusammensetzte, darunter viele Teilneh-mer von Cerisy, diesen Fragen nachgegangen.4 Das Centre veran-staltet jährlich etwa sechs Tagungen, auf denen Texte vorgetragen und diskutiert werden, von Vortragenden, die ich als »Mitglieder« bezeichnen werde (regelmäßige Teilnehmer, die mit Derrida in Verbindung standen oder von ihm beeinflußt wurden und die zu-vor nicht unbedingt direkt zu spezifisch politischen Fragen gear-beitet haben) und von Vortragenden, die ich »Nichtmitglieder« nenne (unregelmäßig Teilnehmende, die nicht speziell mit der De-konstruktion identifiziert werden und deren Arbeit lange Zeit ausdrücklich mit Politik befaßt war - z.B. Claude Lefort, die ehemaligen Althusserianer Etienne Balibar und Jacques Rancière und der Esprit-Herausgeber Paul Thibaud). Die im ersten Jahr des Centre vorgetragenen Texte wurden gemeinsam mit der Grün-dungsschrift unter dem Titel Rejouer le politique gesammelt und veröffentlicht.5 Die Schriften aus dem zweiten Jahr erschienen in dem Band Le retrait du politique

Die zentrale Stoßrichtung des Centre, insbesondere wie sie durch die in diesen Bänden abgedruckten Schriften der Mitglieder definiert wird, ist interessant und originell. Sie wird wahrschein-lich viele amerikanische Leser, Befürworter und Gegner der De-konstruktion gleichermaßen, überraschen, denn sie ist stark von Heideggerianischen und Arendtschen Motiven geleitet, und sie ist

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höchst mißtrauisch gegenüber der Sorte von Projekten zur Politi-sierung der Dekonstruktion oder zur Artikulierung einer dekon-struktiven Politik, wie sie in den Vereinigten Staaten aufgetaucht sind.7 Um diesen unerwarteten Denkweg verstehen zu können, um zu sehen, warum und wie das Denken des Centre die jetzige Form angenommen hat, und um gegebenenfalls seine Verdienste abzuschätzen, ist es zunächst notwendig, einen Blick auf die Dis-kussionen des »Politischen Seminars« von Cerisy zu werfen.

Zwei der Cerisy-Vorträge waren wohl so zu erwarten, obgleich sie gut durchdacht und gut geschrieben sind und sich durch eine Reihe origineller und provozierender Fragestellungen auszeich-nen. Beide Vorträge wollten das herausstellen, was die Autoren jeweils als fundamentalste »Geste« der Derridaschen Dekonstruk-tion betrachten, und versuchten, deren politische Bedeutung zu bestimmen. Jeder Vortrag behandelte diese Geste als Grundlage für eine Politik der Dekonstruktion und versuchte, sie zu einer eigenständigen, programmatischen politischen Orientierung zu entfalten. Die Leser Derridas wird es nicht wundern, daß sich die beiden fraglichen Vorträge an verschiedene Gesten anschließen und daher verschiedene - ja, sogar gegensätzliche - dekonstruk-tive Politikkonzeptionen vorstellten.

Was wir die »linke Geste« und daher die linke Version dekon-struktiver Politik nennen können, wurde von der Literaturwissen-schaftlerin Gayatri Chakravorty Spivak entwickelt.8 Obwohl sie einräumte, daß »Derrida sich nicht mehr auf dieses Projekt be-ruft« (511), orientiert sich Spivak dennoch in ihrem Aufsatz an dem apokalyptischen Schluß seines Essays »Fines hominis« von 1968. Das Projekt der Dekonstruktion, zitiert sie zustimmend, ist das »einer radikalen Erschütterung [ébranlement], [die] nur von einem Außen herkommen kann [und die] sich in dem gewalttäti-gen Bezug - sei er »sprachlich«... oder ethnologisch, ökonomisch, politisch oder militärisch - des Ganzen des Okzidents auf sein anderes abspielt«.9 Mit anderen Worten das Ziel ist, der Revolu-tion den Weg zu ebnen, den Westen zu destabilisieren, indem er gezwungen wird, sich dem Anderen, das er ausschließt, zu stellen. Für Spivak sind »die Frauen . . . die nichtwestliche Welt . . . die Opfer des Kapitalismus« das Andere (513). Aber, so argumen-tierte sie, »alle Beziehungen zwischen dem Westen und dem Osten werden heute in den Begriffen der möglichen Produktion von Mehrwert, maximalistisch des absoluten Mehrwerts und minima-

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listisch des relativen Mehrwerts, geschrieben. Und dies nicht nur im >reinen< Sinne der Übertreibungswirkung eines Textes« (511). Aus ihrer Sicht war es Derrida selbst, der gezeigt hat, daß »der Körper bei der Arbeit, obgleich er ein Text sein mag, gewiß kein Text unter anderen ist« und daß »die Ökonomie nicht ein Gebiet unter anderen ist« (511). Deshalb, so folgert Spivak, kann es der Diskurs der Dekonstruktion nicht dabei belassen, den Diskurs der politischen Ökonomie auszuschließen. Hält man daran fest, letz-tere auf »den Status vorkritischer Methoden, die von ihrer eigenen Axiomatik getäuscht werden«, zu beschränken, bedeutet das, selbst wiederum irregeführt zu werden (507). Es bedeutet, »in einen vorkritischen, ideologischen Raum« (513) zurückzufallen, genau die Geste der Marginalisierung-Ausschließung zu reprodu-zieren, die Derrida selbst seit Die Stimme und das Phänomen von 1967 wiederholt verurteilt hat (508). Und es bedeutet, einen »binä-ren Gegensatz« zu errichten mittels »einer bestimmten ethisch-politischen Entscheidung«, die »zentralisierte Normen mit Hilfe strategischer Ausschließungen« etabliert (506). Dies ignoriere die »wichtigste »politische« Lektion«, die von Derrida gelernt werden kann: Theorie ist eine Praxis, man muß so vorsichtig sein, »den anderen Begriff aus einer Polarität oder die Ränder eines Zen-trums« nicht auszuschließen, man muß »den normativen Charak-ter der Institutionen und Disziplinen, in denen und durch die wir leben, in Frage stellen« (506).

Mit Blick auf das Projekt einer »radikalen Umwälzung des We-stens von außen« drängt Spivak die Dekonstruktivisten dazu, ihren eigenen Ausschluß der politischen Ökonomie zu dekonstru-ieren . Sie behauptet, eine feinsinnige Lesart von Marx würde einen Dekonstruktivisten avant la lettre aufdecken. Zeitgenössische Derridarianer sollten dem Beispiel von Marx folgen und »dem falschen Anderen der Philosophie trotzen, . . . eine performative oder revolutionäre Kontingenz hereinbrechen lassen, . . . die He-terogenität des Seins und des Wissens einerseits und des Seins und des Tuns andererseits spürbar machen«. (514) Sie sollten ihren eigenen Diskurs dezentrieren und »ihn zu einem aus ethisch-poli-tischen Kontingenzen gebildeten »Außen« hin öffnen«.

In der Diskussion über Spivaks Cerisy-Vortrag wurde die von ihr vorgeschlagene politische Orientierung nicht direkt kritisiert oder in Frage gestellt. Vielmehr stellten die Teilnehmer fest, daß metaphysische Elemente des Marxismus selbst der Dekonstruk-

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tion bedürften: die Voraussetzung einer »quasi göttlichen« Ar-beitskraft, die mehr produziert als konsumiert, die Bestimmung dieser Arbeitskraft als »Quelle oder Ursprung des Mehrwerts, um der Bewegung der Mehrwertproduktion, die in Wirklichkeit durch nichts erzeugt wird, einen richtigen Endpunkt (ein propre) zuzuweisen«, schließlich die Konzepte der Enteignung, Übertra-gung und Aneignung.10 Aber die anschließenden Entwicklungen im »Politischen Seminar« zeigten bald, daß viele Teilnehmer Spi-vaks Verpflichtung auf eine im Dienst des Marxismus stehende politisierte Dekonstruktion nicht teilten, ganz gleich wie wenig klassisch dieser Marxismus auch sein mochte.

War Spivaks Version einer dekonstruktivistischen Politik in der apokalyptischen Schlußgeste von Fines hominis verankert, so schlug der zweite Vortrag alternativ dazu eine Politik vor, die auf der ausdrücklichen Ablehnung dieser Geste basierte. Der franzö-sische Philosoph Jacob Rogozinski gab seinem Aufsatz den Titel Die Revolution dekonstruieren.11 Er argumentierte, pace Spivak, daß die »inaugurale Geste« der Dekonstruktion, die ihr Wir-kungsfeld eröffne, die Ablehnung des radikalen Bruchs oder Schnitts (coupure) ist. Ihrem Zitat aus Fines hominis setzte Rogo-zinski den folgenden Abschnitt aus den Positionen entgegen: »Ich glaube nicht an den entscheidenden Bruch, an die Einmaligkeit eines >epistemologischen Einschnitts«, von dem heutzutage oft die Rede ist. Die Einschnitte geraten fatalerweise immer wieder in ein altes Gewebe, das man endlos weiter zerstören muß.«12 Es gibt also keine Überschreitung, die nicht wieder rückgängig gemacht werden könnte, die nicht innerhalb der Abgeschlossenheit, über die sie hinauszugehen versucht, wieder eingerichtet werden könnte. Tatsächlich ist es sogar die Unmöglichkeit eines Bruchs, die die Dekonstruktion notwendig macht. Für Derrida, behauptet Rogozinski, ist die Idee eines solchen Bruchs eine bloße List des Systems, eine gewitzte Strategie, mit deren Hilfe es den Protest aufarbeitet. Deshalb wird eine noch schlauere Gegenstrategie er-forderlich. Die Dekonstruktion kann nur ein »doppeltes Spiel, ein doppeltes Schreiben« sein. Sie muß die gewalttätige, eruptive Zeit-lichkeit des Bruchs (und des Marxismus von Spivak) gegen eine eigene Temporalität austauschen: die Zeit der geduldigen, ausdau-ernden, unaufhörlichen Arbeit einer Penelope oder eines Sisy-phus - »eine äußerste Wachsamkeit und vielleicht ein stillschwei-gender Kummer« (518).

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Daher kann eine Politik der Dekonstruktion, so argumentiert Rogozinski weiter, nur durch eine Ablehnung der Revolution ein-geführt werden. Sie muß die Revolution als das metaphysische Projekt eines unmöglichen, radikalen Bruchs dekonstruieren. Sie muß die »archeteleologische Struktur« der Revolution freilegen, die einen Anfang und ein Ende entwirft, die ein »Ziel des Men-schen« (den Kommunismus, das Proletariat) in Form der totalen Wiederaneignung seines propre und der Rückkehr zur Parusie sei-ner Präsenz verheißt. Sie muß zeigen, daß der Marxismus qua Revolutionsprojekt »die letzte Erscheinungsgestalt der politi-schen Metaphysik« ist (520).

Aber, so Rogozinski weiter, eine dekonstruktive Politik, die sich damit begnügen würde, die Metaphysik des propre in der politischen Philosophie einfach zu dekonstruieren, wäre unzu-länglich. Sie würde nicht sehen, daß diese Metaphysik in der politischen Philosophie vor Marx als Schutz vor Tyrannei und Terror diente und deren »unzulässiges Anderes« war. Denn um die Bedingungen einer legitimen Autorität zu definieren, beschwor die Tradition des politischen Denkens immer das Bild der größten Gefahr herauf, den äußersten Verfall des Mitseins*. Und sie hielt es für richtig, diesen Verfall mit einer Störung des propre zu verbin-den. Die Frage nach dem propre bildete also immer die Gegen-stimme in einem Chor, der die Bedrohung durch die Tyrannei beklagte. Diese Tradition erreichte ihren Höhepunkt mit Hegel, bei dem die Geste der Aufhebung* - qua absoluter Wiederaneig-nung des absoluten Verlusts - zum Schutz gegen den Terror wurde. In den Abschnitten der Phänomenologie, die die französi-sche Revolution behandeln, war die Aufhebung der Mechanismus zur Überwindung des unerdenklichen Grauens eines Todes sans phrase. Sie überwand den sinnlosen, nicht kompensierbaren Tod, der aus der revolutionären Behauptung einer absoluten, abstrak-ten Freiheit des unvermittelten Selbstbewußtseins hervorging. An die Stelle dieses »Todes, schlimmer als der Tod« setzte die Aufhe-bung qua Wiedergewinnung des propre den »schönen Tod unter dem Joch des Gesetzes« (521-522).

Daraus folgt, pace Spivak, daß Hegel, nicht Marx, der Dekon-struktivist avant la lettre ist. Denn Hegel, behauptet Rogozinski, versteht den Terror als die Aufkündigung der differance, als die aktualisierte Präsenz des Absoluten. Im Gegensatz zum Terror, ist die Hegeische politische Philosophie »im Schutz der differance«

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errichtet. Sie verbannt das Absolute in eine andere, außerhalb von Geschichte und Zeit gelegene Welt, sie unterläßt den Versuch, es hier und jetzt zu realisieren, verlegt es in die Ewigkeit. Sie bewahrt sowohl die Differenzierungen innerhalb der Zivilgesellschaft als auch die Differenzierung zwischen der Zivilgesellschaft und dem Staat. Sie berücksichtigt die differance, indem sie Differenzen im Innersten des sozialen Raums akzeptiert und neu einschreibt. Die Hegeische Politik behält also eine undialektische, unaufhebbare Spaltung bei (522-523).

Dies stellt sie aber in einen diametralen Gegensatz zum Marxis-mus, der die differance in seiner »Utopie der total durchschauba-ren, mit sich selbst versöhnten >Einheitsgesellschaft«< dialektisch zu überwinden oder aufzuheben trachtet (523). Die marxistische Politik greift daher »das Bollwerk an, das von einer Vorsicht, die die Reserve des Absoluten schützt, errichtet wurde« und läßt dem revolutionären Terror freien Lauf. Wenn das propre der Schutz der Metaphysik gegen den Terror ist, sein »unzulässiges Anderes«, dann ist der Marxismus »die Verminderung dieses Schutzes [und] deswegen (unglücklicherweise) das am allerwenigsten metaphysi-sche Projekt« (523). Adorno zitierend zieht Rogozinski den Schluß, die Dekonstruktion müsse mit Hegel gegen Marx Partei ergreifen. Sie dürfe nicht lediglich die Metaphysik dekonstruieren, sondern müsse »im Augenblick ihres Sturzes mit der Metaphysik solidarisch sein« (523).

Rogozinski schließt seinen Vortrag mit einer Beschreibung des-sen, was er als das gegenwärtige Dilemma der Dekonstruktion ansieht: Auf der einen Seite inauguriert sie sich selbst, indem sie den radikalen Bruch ablehnt und sich mit der Art eines geduldi-gen, vertrauensvollen und desinteressierten Ausharrens zufrie-dengibt, die einer Politik des Widerstands entspricht. Auf der anderen Seite aber inauguriert sie sich im Namen eines anderen, radikaleren Bruchs, den apokalyptischen Ton par excellence be-schwörend, »zielt sie auf das >outre-cloture< [und] überläßt sich der Faszination des Jenseitigen, . . . die sich auf den >Orient ihres Textes« richtet, auf den anderen Raum jenseits der die westliche Metaphysik einschränkenden Grenzen« (523). Die Dekonstruk-tion beinhaltet folglich zwei verschiedene Rufe nach differance, zwei verschiedene Intonationen und Intensitäten. Die eine ruft nach einer Politik des Widerstands, welche die differance als einen Schutz gegen den Terror aufrechterhält. Die andere ruft uns zu

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einer »gänzlich anderen Politik« auf, zu einer Revolution, die radi-kaler ist, als sie jemals verstanden wurde, die die differance als »absolute Gefahr« und als »Monstrosität der Zukunft« feiert (524). Die Dekonstruktion schlingert unaufhörlich - in strategi-scher Absicht, würde sie behaupten - zwischen einer Revolutions-politik und einer Widerstandspolitik. Sie sagt, daß die Alternati-ven unentscheidbar sind und verharrt auf der Schwelle, weigert sich zu wählen. »Aber«, folgert Rogozinski, »jetzt hast du keine Wahl mehr: du mußt wählen. Die unmögliche Wahl deines Todes drängt dich mehr und mehr. Du bist gezwungen zu wählen, und zwar möglichst schnell, zwischen einem »schönen Tod< unter dem Joch des Gesetzes und jenem anderen, monströsen Tod, der schlimmer ist als der Tod.« (525)

Auf diese bemerkenswerte Tour de force folgte eine lebhafte und streitlustige Diskussion.13 Waren die Seminarteilnehmer schon unwillig gewesen, Spivaks Lesart von Marx zu akzeptieren, so fanden sie Rogozinskis Lesart keinen Deut besser. Viele Redner wandten sich gegen seine Hypostasierung des einen Marxismus und des einen Revolutionsprojekts. Sie erinnerten an die Vielfalt marxistischer und revolutionärer Theorien, Parteien und politi-scher Tendenzen. Die interessanteste Erwiderung kam jedoch von Derrida selbst, der eine Reihe von Kommentaren zur politischen Problematik abgab, die bis heute zu den offensten und aufschluß-reichsten zählen. Derrida gab an, mit der Argumentation in ihren groben Zügen, nicht aber mit Rogozinskis Schlußfolgerungen übereinzustimmen. Er sagte, daß er vorsätzlich keinen Diskurs gegen die Revolution oder gegen den Marxismus produziert hatte, weil er es vermeiden wollte, zu dem »anti-marxistischen Konzert« der 68er Zeit beizutragen. Er wünschte und wünscht nicht, das zu schwächen, »was den Marxismus und das Proletariat zu einer Kraft in Frankreich machen kann« (527). Trotz seines Mißtrauens gegenüber der Revolutionsidee als metaphysischem Konzept, wer-tet er den möglichen Beitrag »[dieser Idee] als die treibende Kraft einer Sammlungsbewegung« nicht ab (527).

Um des traditionellen linken Zieles willen, die Linke nicht zu spalten, habe er sich eine »komplexe«, »belastete« Strategie zu eigen gemacht, behauptete Derrida. Er habe einen Frontalangriff unterlassen, und zugleich eine Reihe »virtueller Differenzen oder Abweichungen« vom revolutionären Projekt benannt. Diese Stra-tegie sei in seinen Schriften kenntlich gemacht worden durch »eine

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Art Zurückweichen oder Rückzug, durch ein Schweigen über den Marxismus - eine Leerstelle, die auch bezeichnete, daß der Mar-xismus nicht angegriffen wurde wie diese oder jene andere theore-tische Tröstung . . . Diese Leerstelle war nicht neutral . . . sie war eine erkennbar politische Geste« (527). Derrida hatte zwar diese Strategie als dem politischen Kontext von 1968 angemessen vertei-digt, aber er protestierte nicht, als Jean-Luc Nancy erwiderte, daß es nun notwendig geworden sei, diese »Leerstelle« durch eine Les-art von Marx zu ersetzen.

Ob eine solche Lesart wirklich hergestellt wird - und wie sie dann aussieht -, bleibt abzuwarten. Aber schon jetzt ist Derridas Entschlossenheit evident, die Alternative >Spivak oder Rogo-zinski< zu vermeiden oder zurückzuweisen. Sein eigenes Referat in Cerisy wies die Alternative zwischen einem apokalyptischen und einem antiapokalyptischen Diskurs zurück.14 Und diese Absage schien mit der allgemeinen Haltung im »Politischen Seminar« in Einklang zu stehen. Tatsächlich sollte die Weigerung, zwischen den zwei vorgeschlagenen politischen Orientierungen zu wählen, später zu der »inaugurierenden Geste« des Centre de recherches philosophiques sur le politique werden. Denn in der impliziten Wiederholung eines philosophischen Schritts, der mindestens so alt ist wie Kant, haben sich die Mitglieder des Centre geweigert, eine Seite der Antinomie gegen die andere zu verteidigen und sind statt dessen auf eine tiefere Analyseebene zurückgegangen, welche die Bedingungen der Möglichkeit prüft, die von beiden Seiten ge-teilt werden.

In einem Vortrag von Jean-Luc Nancy in Cerisy außerhalb des Rahmens des »Politischen Seminars« deutete sich dieser Schritt bereits an. In La voix libre de l'homme untersucht Nancy das wichtige und schwierige Problem, welchen Status die verschiede-nen quasi-ethischen Imperative oder Verpflichtungen haben - die verschiedenen Formulierungen eines il faut in Derridas Schriften: il faut déconstruire la philosophie, il faut penser l'écriture, il faut entendre doublement und so weiter.15 Wichtiger als seine Lösung scheint mir zu sein, wie Nancy die Ausgangsfrage stellt. Er be-ginnt, indem er sich auf Heideggers Antwort in Über den Huma-nismus auf die Frage: wann werden Sie eine Ethik schreiben? beruft. Nancy konstatiert, daß Heidegger dieses Ansinnen mit dem Argument zurückweist, daß eine Ethik wie auch eine Logik oder eine Physik nur innerhalb der Begrenzungen der metaphysi-

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sehen Tradition einen Sinn hat und daß die Aufgabe des Denkens am Ende der Metaphysik darin besteht, das »Ungedachte« jener Tradition zu denken - in diesem Fall den vorausliegenden, ermög-lichenden Grund, auf dem als etwas Nicht-Ethischem der Bereich des Ethischen gegründet ist. Nancy zufolge muß Derrida eine ähnliche Antwort auf die Forderung, eine Ethik zu produzieren, geben. Insbesondere, so behauptet er, müßte eine solche Forde-rung Ethik als die Umsetzung einer philosophischen Theorie in die Praxis verstehen. Nancy pflichtet dem bei, was er für Heideg-gers Auffassung hält: Nämlich, daß die Ethik insofern metaphy-sisch ist, als sie in der westlichen Tradition als die praktische Verwirklichung des Philosophischen verstanden wurde. Das heißt, die Ethik wurde als die Umsetzung theoretischen Wissens in die Praxis aufgefaßt und setzte folglich die vorherige Etablierung eines Bereichs des Philosophischen voraus. Nancy schließt daraus, daß die Dekonstruktion »ihre Aufgabe erfülle« (fait son devoir), wenn sie die Forderung nach einer Ethik abweise und statt dessen diese Forderung dekonstruiere, zeige, woher sie stamme, und wenn sie die »Essenz« (im Heideggerschen Sinne des »Transzendentalen«) des Ethischen befrage.

Obwohl das Centre de recherches philosophiques sur le politique die Frage nach dem Verhältnis zwischen Ethik und Politik niemals ausdrücklich angesprochen hat, hat es faktisch ihre Analogie vor-ausgesetzt. Es hat das Politische einer Befragungsstrategie unter-worfen, die derjenigen gleicht, die Nancy für das Ethische vorge-schlagen hatte. Dies war gleichbedeutend damit, die Forderungen von Spivak und Rogozinski, das Centre solle eine Politik der De-konstruktion hervorbringen - die Praxis der Theorie -, abzuleh-nen und an deren Stelle eine Dekonstruktion des Politischen vorzuschlagen.

Die Umrisse dieses Programms wurden schon in zwei anderen Vorträgen im »Politischen Seminar« sichtbar. Christopher Fynsk sprach, indem er eine bestimmte »Doppeldeutigkeit in Derridas Werk« feststellte, das Problem des Politischen an.16 Einerseits gebe es den retrait der Politik oder von der Politik in seinen Schriften. Derrida vermeide jegliche direkte Auseinandersetzung mit politi-schen Fragen und widerstehe den Forderungen nach einer aus-drücklichen, unmittelbaren Politisierung seiner Arbeit. Anderer-seits aber nehme er gleichzeitig für sich in Anspruch, daß seine Praxis politisch und daß die philosophische Tätigkeit im allgemei-

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nen eine politische Praxis ist. Fynsk war bestrebt, diesen augen-scheinlichen Widerspruch zu erklären, indem er festhielt, es sei eine Binsenweisheit der Moderne geworden, daß die Politik der Horizont jeder Praxis ist, daß jede Handlung unweigerlich in den Bereich des Politischen eingeschrieben ist, politische Institutionen voraussetzt und politische Wirkungen zeitigt. Aber, so argumen-tierte er weiter, diese »selbstverständliche« Allgegenwart des Poli-tischen mache es sehr schwierig, dem Begriff >Politik< irgendeine feste Bedeutung zuzuschreiben. Wenn alles politisch ist, schwin-det der Sinn und die Spezifität des Politischen und gibt Anlaß zu einer weiteren Bedeutungsvariation des Ausdrucks le retrait du politique: der Rückzug oder das Zurückweichen des Politischen. Fortan wird dieser Ausdruck die Diagnose der Moderne bei Han-nah Arendt heraufbeschwören: der Moderne als Zeitalter, in dem die Sphäre des Politischen dem Sozioökonomischen einverleibt wird, in dem der öffentliche Raum für das normativ ausgerichtete Nachdenken über gemeinsame Ziele von der administrativen Ent-scheidungsfindung, von Interessenkalkülen und von der Beses-senheit mit den (vermeintlich vorpolitischen) Problemen der »nationalen Haushaltung« eingenommen wird - zufälligerweise eine Diagnose, in welcher der Marxismus als die Zuspitzung des traurigen Trends erscheint.17

Das Thema des retrait du politique sollte zu einem Leitmotiv der Arbeit des Centre werden. In Cerisy hat es Philippe Lacoue-Labarthe weiter behandelt.18 Er zitiert Derridas Bemerkung in Fines hominis, daß eine »wesensmäßige Zusammengehörigkeit [co-appartenance] zwischen dem Politischen und dem Philosophi-schen« besteht. Diese Bemerkung stellt, so Lacoue-Labarthe, die Frage nach »dem unauflöslichen Band, das das Philosophische und das Politische vereint« (494). In einer Paraphrase von Heideg-gers Thesen zur Technik19 argumentiert er dafür, daß »das unbe-dingte [oder totale] Dominieren des Politischen in der modernen Zeit die Vollendung eines philosophischen Programms darstellt. In der [selbstverständlichen Allgegenwart des] Politischen heute regiert das Philosophische« (494). Dies war eine schlichte Wieder-gabe der von Heidegger inspirierten Sichtweise Nancys, wonach die Tendenz der zeitgenössischen Kultur, alles als politisch anzu-sehen, eine vorhergehende Bestimmung des Politischen als die praktische Verwirklichung des Philosophischen voraussetzt. Von dieser Analyse ausgehend verteidigt Lacoue-Labarthe Derridas

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Rückzug (retrait) von der Politik als notwendige Antwort auf das Zurückweichen (retrait) des Politischen. Diejenigen, die sich der Herrschaft des Philosophischen entgegensetzen wollen, behaup-tet er, können einen solchen Rückzug nicht vermeiden (494).

Aber, fährt Philippe Lacoue-Labarthe in seiner Argumentation fort, dieser Rückzug vom Politischen kann keine einfache Geste sein. Es ist nicht möglich, sich vom Politischen abzuwenden und zu etwas anderem überzugehen. Im Gegenteil, heute gibt es nichts anderes und kann es nichts anderes geben als das Politische. Sich vom Politischen zurückziehen heißt also nicht, sich an einen Zu-fluchtsort (retraite) zu begeben (in ein unpolitisches Refugium oder in einen Hafen) (495). Es bedeutet vielmehr, von »unserer Obsession des Politischen« Abstand zu nehmen, um das Politische zu befragen. Es bedeutet, die »Einschüchterung« des Politischen, besonders wie sie vom Marxismus ausgeübt wird, abzulehnen (495). Man widersteht dem Druck, eine dekonstruktivistische Po-litik herzustellen, und stellt statt dessen die Offensichtlichkeit des Politischen in Frage. Man befragt die »Essenz des Politischen« (497).

Die auf die Vorträge von Fynsk und Lacoue-Labarthe folgende Diskussion drehte sich um Fragestellungen , die auch späterhin noch kontrovers unter den Mitgliedern des Centre diskutiert wur-den.20 Eine dieser Fragen bezog sich auf die Angemessenheit der Heideggerschen Annahme einer grundlegenden Einheit oder Ho-mogenität der westlichen Metaphysik, die es erlaubt, von »dem Philosophischen« im Singular zu sprechen. Eine andere Frage, von dem amerikanischen Literaturwissenschaftler David Carroll auf-geworfen, betraf die Übertragbarkeit der Vorstellung vom »tota-len Dominieren des Politischen« aus dem Kontext Frankreichs in einen anderen Kontext, zum Beispiel in den der USA. Allgemeiner noch stellte die französische Philosophin Sarah Kofman die Frage, ob es angebracht sei, einen quasi Heideggerianischen Begriffsrah-men vorauszusetzen. Warum, so fragte sie, sollte man sich ange-sichts der großen Unterschiede, die die jeweilige politische Praxis von Heidegger und Derrida trennen, auf Heidegger berufen, wenn man die politischen Implikationen der Dekonstruktion durchden-ken will? Lacoue-Labarthes Antwort unterstrich eine Unterschei-dung, die für das Centre kanonisch werden sollte: Man könne zugeben, daß es eine Heidegger und Derrida gemeinsame Schicht des Denkens gegenüber dem Politischen (le politique) gibt, ohne

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ihre Differenzen auf der Ebene der Politik (la politique) zu ignorie-ren. Allerdings läßt die so getroffene Unterscheidung zwischen le politique und la politique die Frage nicht überflüssig werden, ob und wie le politique und la politique miteinander in Zusammen-hang stehen. Es müsse ein Punkt kommen, meinte Lacoue-Labar-the - wie es ihn leider ganz sicher für Heidegger gab -, an dem die Politik, die man macht, auf die Konzeption des Politischen, die man hat, übergreife.

Nahezu alle wichtigeren Themen aus der Arbeit des Centre wurden bereits in den Cerisy-Vorträgen von Nancy, Fynsk und Lacoue-Labarthe angesprochen: Das Thema vom Rückzug der Politik (in dessen zweifacher Bedeutung, nämlich erstens im Sinn der Nichtbefassung mit und dem Widerstand gegen die beharrli-chen Forderungen von z.B. Spivak und Rogozinski nach einer Politik der Dekonstruktion und zweitens im Sinn der abnehmen-den Spezifität des Politischen, wie sie in der zeitgenössischen Binsenweisheit, daß »alles politisch ist«, angezeigt wird), das Thema der Essenz des Politischen (das Vorhaben, die Konstitution und Institution des Politischen in der westlichen Kultur zu befra-gen), das Thema der wesensmäßigen Zusammengehörigkeit des Politischen und des Philosophischen (die Art und Weise, in der die Konstitution und die Institution des Politischen auf die des Phi-losophischen bezogen ist) und das Thema der Unterscheidung zwischen le politique und la politique. Zusammengenommen beinhaltet diese Themenstellung den Entschluß, das Projekt, die Dekonstruktion zu politisieren, durch das Projekt einer Dekon-struktion des Politischen zu ersetzen.

Dieses Projekt und seine zentrale Fragestellung wurden in der »Ouverture«, einer Eröffnungsvorlesung, systematischer ausgear-beitet. Die Vorlesung wurde in der ersten Sitzung des Centre de recherches philosophiques sur le politique am 8. Dezember 1980 von Nancy und Lacoue-Labarthe gehalten.21 Dieses bemerkens-werte Dokument ist eine ausführliche Erläuterung wert. Die Au-toren beginnen damit, ihre Wahl des Namens für das Centre zu erklären. Mit der Benennung des Arbeitsorts, den sie schaffen möchten, als »Centre de recherches philosophiques sur le politi-que« soll eine doppelte Zielsetzung umrissen werden: Erstens stellen sie sich eine philosophische Befragung des Politischen vor, die andere mögliche Herangehensweisen ausschließt; aber zwei-tens ist diese philosophische Befragung nicht von der Art, daß sie

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voraussetzt, die Philosophie sei selbst privilegiert oder unproble-matisch - im Gegenteil, sie problematisiert auch die Philosophie, indem sie das Verhältnis der letzteren zum Politischen untersucht (12-13).

Das erste der beiden Ziele wird so gerechtfertigt: Die empirische Erforschung des Politischen - eine Forschung, die darauf abzielt, eine Politikwissenschaft oder eine politische Theorie zu etablieren oder ein neues Konzept des Politischen zu finden oder zu erfin-den - wird ausgeschlossen, weil sie nicht mehr »konklusiv« sein kann. Eine solche Forschung erwächst selbst aus einem zuvor eta-blierten philosophischen Feld und wird von diesem determiniert -einem Feld, das alt, vergangen und abgeschlossen ist. Diskurse, die für sich in Anspruch nehmen, vom Philosophischen unabhängig zu sein, ob sie nun das Politische selbst als einen autonomen, positiven Bereich behandeln oder es irgendeinem anderen autonomen, posi-tiven Bereich (z. B. dem Ökonomischen oder dem Psychoanalyti-schen) zuordnen, sind es faktisch nicht. Sie haben vielmehr philo-sophische Voraussetzungen - und zwar aus Gründen, die nicht bloß zufällig sind. Diese Diskurse tragen notwendig die Kennzei-chen der »wesensmäßigen Zusammengehörigkeit« des Philosophi-schen und des Politischen in der westlichen Tradition (13-14).

Diese »wesensmäßige Zusammengehörigkeit« rechtfertigt auch das zweite Ziel der doppelten Zielsetzung des Centre. Seit der gleichzeitigen Institutionalisierung der Philosophie und der grie-chischen Polis hat es in der westlichen Kultur immer eine wechsel-seitige Implikation des Politischen und des Philosophischen gege-ben, derart daß keines dem anderen vorhergeht oder äußerlich ist. Tatsächlich ist diese wechselseitige Implikation ein wesentlicher Bestandteil dessen, was Nancy und Lacoue-Labarthe für unser derzeitiges Dilemma halten (14-15). Wir leben, sagen die Autoren der »Ouverture«, im Zeitalter der »totalen Dominanz des Politi-schen«. Es ist die Zeit der Vollendung, der Erfüllung (l'accomplis-sement) des Philosophischen im Politischen, in einem Heidegger analogen Sinne, der annimmt, die Metaphysik sei in der modernen Technik zum Abschluß gekommen oder erfüllt.22 Wir müssen von der »Abgeschlossenheit des Politischen« Kenntnis nehmen (15). Sartre hatte recht, obgleich nicht in seinem Sinn, als er behauptete, der Marxismus sei der unüberschreitbare Horizont unserer Zeit. Das ist wahr, wenn es so ausgelegt wird, als sei der Sozialismus (»real existierender Sozialismus«) die vollendetste Verwirklichung

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des Drangs, die Philosophie der Existenz aufzuzwingen. Philoso-phie ist, was in dem von Rogozinski analysierten Diskurs vollendet und ausgeführt wird: Der große »aufklärende«, fortschrittliche, säkular-eschatologische Diskurs der Revolution als Selbstwieder-aneignung und Selbstaktualisierung der Humanität (doch folgt daraus nicht, daß man deshalb den Gegendiskurs der nouveaux philosophes gutheißen sollte [16]).

Aus der Sicht von Nancy und Lacoue-Labarthe bedeutet die Anerkennung unserer Beschränktheit in der Abgeschlossenheit des Politischen die Einsicht, daß ungeachtet realer Möglichkeiten von Aufständen hier und dort (in Wahrheit weniger hier als dort), die mit einem großen G geschriebene Geschichte beendet ist. Wir können nicht länger Theorien akzeptieren, die globale politische Abhilfen für die Unmenschlichkeiten offerieren, weil wir, so Nancy und Lacoue-Labarthe, gesehen haben, daß das Projekt ei-ner sozialen Transparenz, einer utopischen Homogenisierung des »sozialen Bandes« zum Totalitarismus führt. Wenn die Definition des Totalitarismus die Universalisierung eines Referenzbereichs bis zu dem Punkt ist, an dem er alle anderen usurpiert und aus-schließt, dann ist die Epoche der Vollendung des Philosophischen im Politischen in der Tat das totalitäre Zeitalter par excellence (16-17).

Allerdings ist das Projekt einer Befragung der philosophischen Essenz des Politischen, so meinen die Autoren, nicht gleichbedeu-tend damit, daß man gewissermaßen von außen mit Hilfe einer schlichten politischen Kritik die unterschiedlichen metaphysi-schen Programme zur Fundierung des Politischen oder zur philo-sophischen Programmierung der Existenz einfach anprangert. Vielmehr muß die Arbeit des Centre der Tatsache Rechnung tra-gen, daß solche Beschuldigungen - die nun Gemeinplatz gewor-den sind - selbst der Philosophieentwicklung intern und von ihr bestimmt sind. Sie sind Teil eines epochalen Prozesses, der ver-wandt ist mit dem, was Nietzsche »europäischen Nihilismus« und Heidegger »die Überwindung der Metaphysik« nannte: ein Pro-zeß, in dem die Philosophie ihre eigenen Grundlagen untergräbt, ihre eigene Autorität delegitimiert, sich selbst absetzt.23 Die De-konstruktion ist selbst ein immanenter Bestandteil dieses Prozes-ses (17-18).

Nancy und Lacoue-Labarthe schließen daraus, daß die Aner-kennung der Abgeschlossenheit des Politischen und der Selbstab-

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Setzung der Philosophie von uns verlangen, den re-trait du politique in zwei Bedeutungen zu denken: Erstens als ein Zurück-ziehen von uns aus der verblendenden Selbstverständlichkeit des Politischen, die unsere Beschränktheit in der Abgeschlossenheit des Politischen kennzeichnet. Und zweitens als ein Neuaufrollen des Politischen vom Standpunkt seiner Essenz her. Außerdem sind wir gefordert, rigoros zwischen dem Politischen (le politique) und der Politik (la politique) zu unterscheiden (18).

Diese letzte Unterscheidung kompliziert den Charakter der Ar-beit des Centre. Einerseits sagen die Autoren, das Politische und die essentielle Zusammengehörigkeit des Politischen und des Phi-losophischen zu dekonstruieren bedeute nicht, eine politische Po-sition einzunehmen. Es bedeute vielmehr, gerade die Position des Politischen in Frage zu stellen. Mit anderen Worten, die Aufgabe ist nicht, eine neue Politik zu instituieren, sondern die Institution des Politischen im westlichen Denken zu durchdenken (15). Ande-rerseits behaupten sie aber, daß die Arbeit des Centre kein Rück-zug ins Unpolitische ist und auch nicht sein kann (18). Es gibt kein und kann auch kein unpolitisches outre-clôture geben, in das man sicher emigrieren kann. Davon abgesehen ist es unvermeidbar, daß die Arbeit des Centre politische Wirkungen haben wird (20). Die Befragung der Essenz des Politischen kann nicht heißen, politi-sche Kämpfe oder Klassenkämpfe auszuklammern oder zu subli-mieren. Solche Kämpfe sind Gegebenheiten der Zeit, und man kommt nicht um sie herum (24). Für Nancy und Lacoue-Labarthe folgt daraus, daß der retrait du politique selbst eine, obgleich etwas ungewöhnliche, politische Geste sein muß. Sie erlaubt, »irgend etwas am Politischen zu überschreiten« - nicht jedoch durch eine sortie, die aus dem Politischen herausführt (18-19). Sie ist eine Art Engagement - aber eines, das nicht darin besteht, sich auf die eine oder andere Politik zu verpflichten (19).

Wie die Autoren der »Ouverture« weiter erläutern, verlangt die als »engagiert« zu charakterisierende Arbeit des Centre, verschie-dene landläufige, politische Vorstellungen zu überprüfen. Zum Beispiel kann die traditionelle linke Maxime, die von Derrida in Cerisy angeführt wurde, nicht länger hingenommen werden. Diese Maxime mahnt eindringlich Stillschweigen über gewisse Dinge an, um Schaden für die Linke zu vermeiden. Wer heute ein solches Schweigen bewahrt, so machen die Autoren geltend, geht das weit größere Risiko der Auslöschung der gesamten Linken ein

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(2o). Deshalb muß sich das Centre dem Marxismus zuwenden. Dabei muß es nicht bei Null anfangen, sondern könnte sich einige wichtige neuere Arbeiten nicht-dekonstruktiver Denker kritisch aneignen. Beispielsweise Claude Leforts Arbeit über die »Lücke des Politischen« bei Marx. Marx' Vernachlässigung des Politischen zusammen mit seinem frühen Projekt, den Staat als eine separate Sphäre innerhalb der Gesellschaft abzulehnen, was im Osten zum Eindringen des Staates in alle sozialen Sphären geführt hat, sollte vom Standpunkt der Problematik des Centre aus noch einmal überdacht werden. Sie sollte mit der Art und Weise in Zusammen-hang gebracht werden, in der die Frage nach der Spezifität des Politischen in so unterschiedlichen marxistischen Strömungen wie dem Rätekommunismus, dem Gramscianismus, dem Althusseris-mus und Maoismus wiederholt aufgekommen ist. Das Centre sollte auch die Frage nach der temporären Form des Politischen angehen, die im revolutionären Ubergang zum Kommunismus erforderlich wird (die Diktatur des Proletariats - eine Form, die in den sozialistischen Ländern verkrustet ist). Im Blick auf das Ziel, die Spaltung zwischen der Zivilgesellschaft und dem Staat zu über-winden, also das Politische dem Sozialen vollständig einzuverlei-ben, sollte das Centre auch die Frage nach der höchsten Form des Politischen nicht ignorieren (20-21).24

Ergänzend zur Auseinandersetzung mit Marx und dem Marxis-mus schlagen Nancy und Lacoue-Labarthe eine Forschungsrich-tung vor, die an solchen Denkern wie Heidegger und Bataille orientiert ist, die Diskurse »am äußersten Rand oder der äußersten Grenze des Politischen« produziert haben. Diese Diskurse be-mühten sich erfolglos, über das Politische hinauszugehen, indem sie die Voraussetzung des Subjekts vermieden, eine Vorausset-zung, die stets die eigentlicheren metaphysischen politischen Dis-kurse ausgezeichnet hat, paradigmatisch jene von Hegel. Heideg-ger und Bataille versuchten, ein outre-sujet des Politischen ausfindig zu machen (22-23). Sie scheiterten jedoch und endeten dabei, unbeabsichtigt wieder quasi-Subjektivitäten einzuführen, wodurch sie bestätigten, daß »hinter der Selbstevidenz des Politi-schen die Selbstevidenz des Subjekts verborgen ist« (23). Hieraus ziehen die Autoren der »Ouverture« den Schluß, das Centre müsse den Staat, die Macht und die politischen Kämpfe neu den-ken, ohne von der »arche-teleologischen Vorherrschaft des Sub-jekts« auszugehen (24).

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Wenn kein Subjekt vorausgesetzt werden soll, wird es notwen-dig sein, behaupten sie, gerade die Vorstellung des »sozialen Ban-des« zu problematisieren, denn diese Vorstellung ist immer als eine Beziehung zwischen vorgängig konstituierten Subjekten ge-dacht worden. Infolgedessen kann diese Vorstellung auch als eine »Grenzfrage« des Politischen angesehen werden, die als solche wiederholt in der Tradition auftauchen muß. Deshalb sollte das Centre die diversen Formen untersuchen, in der die Problematik »des Anderen« mehrfach in der politischen Philosophie auf-kommt: die Fragen nach den »Formen der Sympathie«, dem Kon-flikt und dem Mitsein (24-25). Eine Lesart von Freud könne beispielsweise veranschaulichen, wie die Motive der Sozialität und Alterität die Frage nach dem »sozialen Band« zu einer Grenzfrage für die Psychoanalyse machen - einer Frage, die sie weder vermei-den noch beantworten kann. In einer solchen Lesart von Freud geht die Geburt oder die Herstellung des Subjekts aus der Bindung an das Paradigma der Subjektivität hervor, die »von der Gestalt des Vaters« repräsentiert wird (25-26). Aber diese Bindung, so geben sie zu verstehen, wird nur durch die einhergehende Zurücknahme dessen erlangt, was weder Subjekt noch Objekt ist, »die Mutter«. Abgesehen von der Gefahr, daß eine solche Formel zu einer Menge Schwärmerei* Anlaß geben kann, könnte man sagen, so die Auto-ren der »Ouverture«, daß »hinter dem Politischen (falls es mit dem Vater zu identifizieren ist), >die Mutter< steht« (26).

An dieser Stelle kehrt nach Lacoue-Labarthe und Nancy die Arbeit des Centre wieder zu ihrer Derridaschen Inspirationsquelle zurück. In dem Versuch, einen Prozeß zu denken, in dem etwas in dem Maß zurückweicht, in dem das Politische errichtet wird, fra-gen sie danach, welche nicht-dialektische Negativität, welche Nichteinheit und Nichttotalität durch die Fabrikation des »sozia-len Bandes« zurücktritt, zurückweicht, geteilt oder abgezogen wird (26). Denn die Essenz des Politischen kann ebensowenig ein ursprünglicher sozialer Organismus, eine Harmonie oder Ge-meinschaft sein, wie sie eine Aufteilung der Funktionen und Dif-ferenzen sein kann. Sie kann auch nicht Anarchie sein. Sie muß vielmehr »die An-Anarchie der arche selbst sein« (27). Anders gesagt, die Frage des retrait du politique mündet wieder in die allgemeine Problematik einer Öffnung der trace ein, wie sie von Derrida entfaltet wurde (27).

So skizzieren Nancy und Lacoue-Labarthe in ihrer »Ouver-

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ture« ein Programm für das Überdenken des Politischen vom Standpunkt der Dekonstruktion aus. Es ist ein Programm, das in seiner Klarheit und Stringenz dem Geist von Derridas Werk bei weitem treuer ist als dessen eigene, vergleichsweise simplifizieren-den, linken Kommentare in Cerisy. Aber es offenbart - gerade deshalb - um so mehr die Beschränktheiten der Dekonstruktion in dem Versuch einer Konfrontation mit dem Politischen.

Vergegenwärtigen wir uns noch einmal den Weg, der zu dem Projekt des Centre führte: In der Rhetorik und Politik von Gayatri Spivak sahen sich die Derridarianer mit dem authentischen politi-schen Ausdruck der Derridaschen Apokalypse konfrontiert: die Revolution als eine Feier des »Monströsen«, das im »gänzlich An-deren« liegt. Aber das ist letztendlich nur eine Pose, die der Tiefe der historischen Erfahrung, aus der die Dekonstruktion hervor-ging, nicht gerecht wird. Rogozinski hatte recht, als er unter dem Mut von Derrida einen »stillen Kummer« entdeckte. Es ist der existentielle Kummer einer besonderen kulturellen Erfahrung: die Erfahrung des Nihilismus im unmittelbaren Gefolge des histori-schen dépassement des Marxismus. Rogozinskis eigene Politik des Widerstands, wie unangemessen sie den Komplexitäten der heuti-gen sozialen Realität auch sein mag, bleibt der authentische Aus-druck der tiefen, tragischen Strömung, die dem zwanghaft Spiele-rischen der Dekonstruktion zugrundeliegt. Im Licht dieses Hangs zum Tragischen wirkt Derridas politische Linie, die Linke nicht zu spalten, falsch. Deshalb haben Nancy und Lacoue-Labarthe we-nig Mühe zu zeigen, daß sie das strenge Ethos der Dekonstruktion ins Lächerliche zieht - ein Ethos, das sie zu erhalten suchen, selbst wenn Derrida es aufzugeben droht.

Der Standpunkt von Nancy und Lacoue-Labarthe ist also auf den Zusammenbruch dreier politischer Orientierungen oder Ver-sionen von la politique gegründet: den Versionen von Spivak, von Rogozinski und von Derrida. Die Autoren der »Ouverture« wei-sen jede dieser drei Versionen als unzureichend zurück - und aus meiner Sicht zu Recht. Aber es ist vielsagend, daß sie dies tun, ohne die Positionen ihrer Gegner in deren eigenen - politischen -Begriffen zu erörtern. Sie lehnen vielmehr das ganze Genre der politischen Debatte ab und halten auf diese Weise auch das Ethos der Dekonstruktion aufrecht. Denn es gibt eine Art der Differenz, die von der Dekonstruktion nicht toleriert werden kann: nämlich die Differenz als Streit, als gute, altmodische politische Auseinan-

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dersetzung. Und so sind Nancy und Lacoue-Labarthe der Dekon-struktion äußerst - man könnte sagen, schrecklich - treu, indem sie es ablehnen, sich in der politischen Debatte zu engagieren.25

Aber dies hält sie in einem Dilemma. Auf der einen Seite verlan-gen sie mit all der von Rogozinski bewirkten Dringlichkeit nach einer postmarxistischen Politik, einem echten »Engagement«. Zum anderen aber läßt die vermeintliche historische Unverfügbar-keit einer praktikablen politischen Haltung in der Gegenwart [d'une politique) dieses Verlangen vorzeitig ersterben und führt sie zu le politique, zur philosophischen Befragung des Politischen zurück.

Es scheint also, daß die »Ouverture« von Lacoue-Labarthe und Nancy der Schauplatz einer Dialektik des abgebrochenen Begeh-rens ist, ein Schauplatz, der reich an Spannungen ist, die ihn zu zerschlagen drohen. Wenn das stimmt, dann ist ihr Projekt wahr-scheinlich, so wie die Dekonstruktion selbst, nur eine Durch-gangsstation des Exodus aus dem Marxismus, den die französische Intelligenz jetzt angetreten hat. Es ist kein dauerhafter Ruheplatz und kann keiner sein. Und tatsächlich wird das tendenziell von der weiteren Geschichte des Centre de recherches philosophiques sur le politique bestätigt.

Die Unsicherheit des Projekts kann daraus erschlossen werden, daß während des ersten Jahres seines Bestehens lediglich zwei der am Centre vorgelegten Arbeiten das in der »Ouverture« angelegte Programm direkt verfolgten. Diese sind, was nicht weiter über-rascht, von Nancy und Lacoue-Labarthe geschrieben worden. Mit »La jurisdiction du monarch hegelien« [Die Rechtsprechung des Hegeischen Monarchen] legte Nancy eine dekonstruktive Lesart der Rechtsphilosophie vor, die zeigt, wie das Problem des sozialen Bandes eine Grenzfrage für das Denken des Politischen darstellt, das die Selbstverständlichkeit des Subjekts voraussetzt.26 In »La transcendence finit dans la politique« [Die Transzendenz endet in der Politik] untersuchte Lacoue-Labarthe die »wesensmäßige Zu-sammengehörigkeit« des Politischen und des Philosophischen und auch das Verhältnis von le politique und la politique in Heideggers Schriften aus der Nazizeit.27

Das zweite Jahr des Centre brachte einige Versuche von Mitglie-dern hervor, das »Ouverture«-Programm zu kritisieren. Denis Kambouchner stellte den Ausschluß der empirischen Arbeit in Frage und sah Nancy und Lacoue-Labarthe in der Gefahr, dem

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Idealismus zu erliegen.28 Philippe Soulez führte einige Lacansche Überlegungen gegen die Formel an: »Hinter dem Politischen [qua Vater] steht >die Mutter<.«29 Es war aber die Einmischung des Nichtmitglieds Claude Lefort, in deren Konsequenz am klarsten die Unsicherheit des Programms zum Ausdruck kam. Eines Pro-gramms, das das Verlangen nach la politique zu einer Befragung von le politique sublimieren will.

Das Thema von Leforts Aufsatz waren die Unterschiede zwi-schen Demokratie und Totalitarismus.30 Er provozierte eine Erwi-derung, die den interessantesten Teil in einem weiteren Aufsatz von Lacoue-Labarthe und Nancy bildete.31 Auf der Schlußsitzung im zweiten Jahr des Centre bemühten sich die Hauptorganisatoren, eine Bilanz der vergangenen zwei Jahre zu ziehen und sich darüber klar zu werden, wie es um die in der »Ouverture« gestellten Fragen stand. Nach der Wiederaufnahme einiger herausragender Themen des Dokuments und einer Antwort auf den Idealismusvorwurf ver-suchten sie ihre eigene Konzeption des Totalitarismus gegenüber derjenigen von Lefort zu bestimmen. Nancy und Lacoue-Labarthe unterscheiden zwei Bedeutungen von >Totalitarismus<. Erstens gibt es ihre eigene, sehr allgemeine Bedeutung, die in der Vorstellung vom »totalen Dominieren des Politischen« angedeutet wird. Diese Bedeutung bezieht sich auf die Universalisierung des Politischen, die bis zu dem Punkt fortschreitet, an dem jeder andere Referenz-bereich usurpiert und ausgeschlossen wird. Sie findet ihren sym-ptomatischen Ausdruck in dem zeitgenössischen Gemeinplatz, daß »alles politisch ist«. Diese verallgemeinerte Bedeutung von >Totalitarismus< sei kein empirischer Befund, behaupten sie, ob-wohl sie die Thematisierung gewisser hervorstechender »Fakten« der Zeit erlaube: das Arendtsche Paradox vom Verschwinden der Spezifität des Politischen gerade durch seine Herrschaft, die Ver-mischung des Politischen mit anderen Instanzen wie dem Sozio-ökonomischen, dem Technischen, dem Kulturellen und dem Psy-chologischen und die sich daraus ergebende Banalisierung des Politischen. Das Resultat des Aufstiegs des Totalitarismus in die-sem Sinne ist, sagen die Autoren, daß nirgendwo auch nur eine im entferntesten spezifisch politische Frage gestellt werden kann. Die Frage nach einer neuen Politik vermag nirgends auch nur aufzukei-men-was jedoch nichts daran ändern kann, daß »politics as usual« betrieben wird (188-189).

Nancy und Lacoue-Labarthe unterscheiden diese erste Bedeu-

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tung des Totalitarismus von einer zweiten, engeren. Letztere er-gibt sich aus politikwissenschaftlichen Arbeiten-von Arendt und Lefort beispielsweise -, die besondere Fälle wie den Nationalso-zialismus, Faschismus, Stalinismus und die Gesellschaften sowje-tischen Typs analysieren. Hierbei ist der Totalitarismus eine Antwort auf die »Krise der Demokratie«. Auf den Verfall von Autorität, Traditionen und Religion folgend, beruht die moderne Demokratie auf einer substanzlosen und entkörperten Form der Macht. Auf diese Weise errichtet sie eine Version des Politischen, die der metaphysischen Grundlagen beraubt und frei von Tran-szendenz ist. Das Ergebnis ist eine »Delokalisierung« des Politi-schen: die Verstümmelung des politischen Körpers, »der keiner mehr ist, außer in der bloßen Verbreitung des Wahlrechts«, und die sich daraus ergebende Preisgabe der politischen Angelegenheiten an das Spiel der Interessen. Als Reaktion auf diese demokratische »Sackgasse« ist der Totalitarismus im engeren Sinn der Versuch einer verrückten, wahnsinnigen Resubstanzialisierung und Rein-karnierung des politischen Körpers. Er gestaltet das Politische gewaltsam um, um Transzendenz und Einheit zu verordnen (189-190).

Nancy und Lacoue-Labarthe behaupten, daß ihr Festhalten an der ersten, verallgemeinerten Bedeutung des Totalitarismus sie nicht die zweite, spezifischere Bedeutung verwerfen läßt. Die letztere muß auch weiterhin »in all ihrer (augenscheinlichen) He-terogenität« gegenüber der ersten erforscht werden (190). Aber solche Forschungen, so fahren sie fort zu argumentieren, sollten von bestimmten Fragestellungen beeinflußt sein, die von der ver-allgemeinerten Bedeutung des Totalitarismus nahegelegt werden: Ist nicht der Begriff der »Reinkarnation« vor allem auf eine erste (obgleich noch vorhandene), reine, äußerst brutale, historische Gestalt des Totalitarismus anwendbar? Und ist nicht seither eine zweite, unverdächtige, hinterhältige, »weiche« Form des Totalita-rismus unter der allgemeinen Herrschaft von Systemen, die von technischen und funktionalen Kriterien regiert werden, in den »demokratischen« Gesellschaften eingerichtet worden?32 Ist nicht dieser »weiche Totalitarismus« eine der Demokratie immanente Reaktion auf die »demokratische Krise« - die anders als der »harte Totalitarismus« nicht den Vorwand einer Wiederherstellung (re-dressement) annimmt? Ist also nicht doch trotz schreiender Unter-schiede eine bestimmte, vorgefertigte und weithin kursierende

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Entgegensetzung von Totalitarismus und Demokratie viel zu ein-fach? Zugegeben, »wir haben keine Lager, und unsere Polizei-kräfte, ganz gleich wie »technisch hochentwickelt* sie sein mögen, sind keine allgegenwärtigen politischen Polizeikräfte. Dies heißt jedoch nicht, daß die Demokratie, die wir haben, die von Tocque-ville beschriebene Demokratie ist. Und wenn die Demokratie des Tocqueville den Keim zum klassischen Totalitarismus enthielt, gibt es keine Garantie dafür, daß sich nicht etwas anderes als Aus-fluß unserer Gesellschaft zu bilden beginnt, eine noch nicht in Erscheinung getretene Form des Totalitarismus« (191).

Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das Werk von Hannah Arendt verbinden Nancy und Lacoue-Labarthe den Rückzug des Politischen im »weichen Totalitarismus« mit dem Aufstieg des »ökonomisch-sozio-techno-kulturellen Komplexes«, eines Kom-plexes, der nicht mehr einfach der Staat ist. Nach ihnen ist dieser Komplex charakterisiert durch (1) den Triumph des animal labo-rans, durch (2) die Kolonisierung des öffentlichen Raums durch eine gesellschaftliche* Sozialität, so daß das gemeinschaftliche Le-ben von den Erwägungen des Lebenserhaltes beherrscht wird und nicht von echten öffentlichen oder politischen Zielsetzungen, und durch (3) den Verlust der Autorität als eines bestimmten Elements der Macht, ein Verlust, der mit dem Verlust von Freiheit einher-geht. Sie machen geltend, daß diese Eigenheiten des weichen Totalitarismus zeigen, wie unzureichend eine einfache Kritik am Totalitarismus ist. Wenn der klassische Totalitarismus aus der »Einverleibung und Zurschaustellung der Transzendenz« hervor-geht, dann geht der weiche Totalitarismus aus der Auflösung der Transzendenz hervor. Aus einer Auflösung, die jede Lebenssphäre durchdringt, auf diese Weise homogenisiert und Alterität beseitigt (191-192).

Der retrait du politique ist deshalb der Rückzug der Transzen-denz oder der Alterität des Politischen gegenüber anderen sozialen Instanzen. Aber daraus folgt nicht, meinen Nancy und Lacoue-Labarthe, daß die Aufgabe darin besteht, eine neue politische Transzendenz zu gewinnen. Tatsächlich ist das das Programm des klassischen Totalitarismus. Die Aufgabe ist vielmehr, herauszufin-den, in welcher Hinsicht der retrait von uns verlangt, das Konzept der politischen Transzendenz zu ersetzen beziehungsweise zu re-formulieren und eine »gänzlich transformierte« Transzendenz oder Alterität des Politischen zu denken (192-193).

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Eine (nicht-totalitäre) Alterität des Politischen heute wiederein-zusetzen würde folgendes erfordern: (1) Die Überwindung der derzeitigen Trennung von Macht (materiellem Zwang) und Autori-tät (Transzendenz). (2) Die Verbesserung der derzeit gestörten Beziehung der Gemeinschaft zu dem, was Arendt »Unsterblich-keit« nannte (eine Unsterblichkeit in der diesseitigen Welt, mit der die Gemeinschaft Worte und Taten der Sterblichen im Erinnern bewahrt). Und (3) die Wiederherstellung der Fähigkeit der Ge-meinschaft, ihre Gemeinschaftlichkeit für sich selbst in der politi-schen Sphäre darzustellen (193-194).

Nancy und Lacoue-Labarthe fahren fort, diese quasi Arendt-schen Beobachtungen mit recht Heideggerianischen Motiven zu verweben. Der retrait du politique, so behaupten sie, ist nicht ganz und gar ein Entzugsphänomen. Er ist vielmehr ein Rückzug, der etwas anderes freigibt oder entbindet: er läßt etwas zum Vorschein kommen - nämlich die Möglichkeit, ja, die Notwendigkeit, das Politische von neuem aufzurollen. Außerdem ist es wahrschein-lich, daß das, was zurückgetreten ist oder sich zurückgezogen hat, etwas ist, was nie in ursprünglicher Gestalt aufgetreten ist; es ist zweifelhaft, ob die von Arendt beschriebene Polis jemals exi-stierte. Aber für Nancy und Lacoue-Labarthe kann die Aufgabe nicht darin bestehen, ihr nun zur Existenz zu verhelfen oder das Politische aus seinem Rückzug herauszuholen oder gar dem Poli-tischen ein neues Fundament zu verschaffen. Sie wollen statt dessen eine Frage stellen, die sie für grundlegender halten: Womit ist der retrait du politique verbunden? Ist er mit einer Abnahme der Einheit, der Totalität und des kraftvollen Ausdrucks der Ge-meinschaft verknüpft (194-195)?

So paraphrasieren Nancy und Lacoue-Labarthe Heidegger, wenn sie behaupten, daß aus dem und in dem Rückzug des Politi-schen das Politische »sich selbst« als eine Frage oder als ein Erfor-dernis erhebt. Freigegeben ist die Eröffnung einer Frage: Auf was für einer Grundlage oder gegen welche zeichnet sich die Abge-schlossenheit des Politischen ab? Die Antwort lautet nicht ein-fach: auf der Grundlage des Unpolitischen oder gegen es (eine Antwort, die durch Pierre Clastres' Verteidigung des Anarchismus in La société contre l'état popularisiert wurde).33 Vielmehr lautet sie: auf der Grundlage der »Essenz des Politischen«, der Essenz, die mit der totalen Vollendung des Politischen im »Techno-Sozia-len« zurückgenommen wird (195-196).

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Nancy und Lacoue-Labarthe zufolge lassen sich vorläufig meh-rere Dinge über die »Essenz des Politischen« sagen. Diese Essenz wird von verschiedenen metaphysischen Programmen unkennt-lich gemacht, die vorgeben, den Bereich des Politischen auf ein transzendentales Fundament zu stellen. Prominent unter diesen Programmen ist in der modernen Zeit der Versuch, das Politische auf eine präkonstitutierte, präindividuierte autonome Subjektivi-tät zu gründen. Es ist also kein Wunder, daß jene, die den Funda-mentalismus zu vermeiden bemüht sind, oftmals die Vorstellung einer autonomen Subjektivität gegen die Vorstellung einer menschlichen Endlichkeit austauschen. Aber dieser Austausch al-lein reicht für die Ziele des Centre nicht aus: Es ist nicht garantiert, daß er über die Politik der liberalen Demokratie hinausführt. Denn da sich die Endlichkeit dem Eingelassensein in eine immer schon gegebene, kontingente soziohistorische Matrix mitteilt, versagt er zudem darin, die Existenz des sozialen Bandes zu pro-blematisieren und nimmt es vielmehr als selbstverständlich hin. Anders gesagt, diejenigen Fragen, die Nancy und Lacoue-Labar-the zuvor für ihr Projekt für wesentlich hielten, werden ausge-klammert: Das sind die Fragen, die um die verschwommene, rätselhafte Figur »der Mutter« kreisen, nämlich die Fragen nach der sozialen Konstitution der Identität, nach der Konstitution der sozialen Identität und nach einer vorpolitischen, »ursprüngli-chen« Sozialität (196-197).

Nancy und Lacoue-Labarthe meinen, daß diese Themen zum Problem der Spezifität des Politischen zurückführen - zu der »philosophischen Tatsache«, daß zumindest seit Aristoteles das Zusammensein der Menschen - der Mensch als zoon politikon -nicht in der faktischen Gegebenheit von Bedürfnissen und in den vitalen Notwendigkeiten des Lebens gründet. Es basiert vielmehr auf einer anderen Gegebenheit: auf der geteilten ethischen oder evaluativen Sprache. Diese zweite Gegebenheit umfaßt mehr als die erste, das »gute Leben« ist mehr als das bloße »Leben« oder das soziale »Zusammenleben«, und das ist es, was den zoon politikon definiert.34 Und es ist über und vor aller Organisation von Bedürf-nissen und Regulierung von Kräften die Frage nach einem »Gu-ten«, die heute im retrait verharrt und dadurch die Frage nach dem Politischen eröffnet (13).

Diese neueste programmatische Aussage von Nancy und La-coue-Labarthe ist bemerkenswert, weil sie das Dilemma, das ich

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bereits festgestellt hatte, scharf hervortreten läßt. Einerseits sind die Autoren bestrebt, dem Druck, eine Politik zu erarbeiten, nicht nachzugeben, und bemühen sich statt dessen darum, eine reine, rigorose, dekonstruktive, quasi transzendentale Befragung des Politischen weiterzuführen. Andererseits hegen sie gar nicht so heimlich die Hoffnung, daß das mit Hilfe dieses Ansatzes entfal-tete Denken Einsichten abwerfen wird, die für la politique von Bedeutung sein werden. Deshalb gibt es ein unaufhörliches Hin und Her zwischen den zwei heterogenen Analyseebenen, ein be-ständiges Vorwagen hin zur Einnahme einer politischen Position und ein Zurückziehen auf eine metapolitische philosophische Re-flexion.

Dieses Schwanken wird an der Behandlung des Totalitarismus deutlich sichtbar. Die These vom »harten« und »weichen« Totalita-rismus ist offenkundig ein apolitische Position, ein kühner Schritt in la politique. Denn der Totalitarismus ist ohne Zweifel ein politisch umstrittener Begriff. Nancy und Lacoue-Labarthe räumen so viel auch ein, wenn sie ihre Konzeption derjenigen von Lefort entge-genhalten, und sagen, daß jene nicht hinreicht, um den Charakter der heutigen westlichen Gesellschaften erfassen zu können. Hier unterstellen sie eine spezifische Interpretation der sozialen Realität, eine Sichtweise, die nicht bloß dekonstruktiv und philosophisch ist, sondern empirisch, normativ und kritisch. Sie stellen sich dem politischen Problem des Charakters und der Bedeutung der zeitge-nössischen, wissenschaftlich-technischen Kultur. Und dies bringt sie unweigerlich in einen Dialog - ja, in einen Konflikt - mit kon-kurrierenden politischen Positionen und Interpretationen. Einer-seits müssen sie Lefort und andere Theoretiker der Gesellschaften sowjetischen Typs bekämpfen. Andererseits müssen sie aber auch, ob sie es zugeben oder nicht, konkurrierende Theorien der politi-schen Kultur des Westens anfechten - an herausragender Stelle vielleicht jene von Habermas und Foucault, um Marx und Weber gar nicht erst zu erwähnen. Nur wenn sie gewillt sind, in den Streit gegen solche Alternativen einzutreten, können sie möglicherweise ihre Behauptungen über »das totale Dominieren des Politischen« und vom »weichen Totalitarismus« als richtig erweisen.

Aber genau dann, wenn eine solche schlichtweg empirische und politische Argumentation gefragt ist, genau dann, wenn es ernst-lich darum geht, la politique zur Sprache zu bringen, entfernen sich Nancy und Lacoue-Labarthe vom Schauplatz des Konflikts

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und ziehen sich auf eine quasi Heideggerianische Spekulation zu-rück. Sie reflektieren über die »Essenz des Politischen«, über die »Freisetzung der Frage nach dem Politischen«, über die »Endlich-keit«, das »soziale Band«, über eine »ursprüngliche Sozialität«, über »die Mutter« und über eine »vollständig transformierte Alte-rität«. Das Problem ist nicht, daß eine solche Spekulation an sich nutzlos oder irrelevant ist. Es besteht eher darin, daß die Spekula-tion für Nancy und Lacoue-Labarthe ein Mittel ist, um den Schritt in die Politik zu vermeiden, zu dem sie andernfalls die Logik ihrer eigenen Hoffnungen und ihres Denkens drängen würde.

Dies wird auf etwas andere Weise einsichtig, wenn sie Arendt-sche Themen abhandeln: den Rückgang der Spezifität des Politi-schen im Aufstieg des »ökonomisch-sozio-techno-kulturellen Komplexes«, den Triumph des animal laborans, die Kolonisierung des öffentlichen Raums durch eine gesellschaftliche* Sozialität, den Verlust an Autorität, an Unsterblichkeit in der diesseitigen Welt, an Transzendenz oder Alterität des Politischen dem »Leben« gegenüber sowie Themen wie die Bedürfnisse und das Vorpoliti-sche im allgemeinen. Mit der Einführung solcher Themen stoßen Nancy und Lacoue-Labarthe wieder einmal auf die Politik im en-geren Sinn. Sie führen diese Themen sogar gegen die Politik von Lefort an, der für sie gegenüber zeitgenössischen »demokrati-schen« Gesellschaften zu unkritisch ist. Aber gerade dann, wenn man von ihnen erwarten würde, daß sie in diesem Arendtschen Stil fortfahren, daß sie eine neue oder erneuerte Transzendenz oder Alterität der Politik fordern, daß sie nun die »Politizität« einer Polis ins Leben rufen, die möglicherweise nie existiert hat - genau an diesem Punkt ziehen sie sich wieder einmal zurück und streiten ausdrücklich ab, daß irgendeine solcher normativ politischen Auf-gaben und Schlußfolgerungen daraus folgt. Statt dessen schließen sie, daß man den retrait denken müsse, die Essenz, das Aufspüren der Abgeschlossenheit und alles übrige.

Auch wenn sich Nancy und Lacoue-Labarthe am Ende ihres Textes auf Aristoteles berufen, stehen sie kurz davor, gewisse nor-mativ politischen Schlüsse zu ziehen. Sie berufen sich darauf, daß das »gute Leben« mehr ist als das bloße Leben, daß die Gemein-samkeit der geteilten ethischen oder evaluativen Sprache weiter reicht als die des schieren Mangels und bloßer Notwendigkeit. Sie behaupten, daß es die Frage nach einem »Guten« über und vor aller Organisation der Bedürfnisse und Regulierung von Kräften

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ist, die die Frage nach dem retrait des Politischen heute ermög-licht. Aber es ist bezeichnend, daß sie von diesen Kommentaren aus nicht zu der Forderung übergehen, eine nicht instrumentelle, normative, politische Reflexion über »das gute Leben« zu etablie-ren oder zu reetablieren. Es ist bezeichnend, daß sie statt dessen beiläufig anmerken, dieses »Gute« jenseits aller Bedürfnisorgani-sation und Kräfteregulierung sei eines, das sie »mit keinem mora-lischen Gewicht befrachten« (198).

Diese Diskussionen über den Totalitarismus und über Arendt und Aristoteles zeigen meiner Ansicht nach, wie dünn das Seil ist, auf dem sich Nancy und Lacoue-Labarthe bewegen. Sie sind zu einem Balanceakt angehalten, der wahrscheinlich nicht über län-gere Zeit mit Nutzen durchgehalten werden kann. Eine von zwei Möglichkeiten wird eintreten. Entweder werden sie versuchen, den rigorosen Ausschluß der Politik und insbesondere empiri-scher und normativer Betrachtungen aufrechtzuerhalten - in die-sem Fall wird die politische Tragweite ihrer philosophischen Arbeit abnehmen. Oder sie werden diese Grenze überschreiten und in die konkrete politische Reflexion eintreten - in diesem Fall wird ihre Arbeit zunehmend empirisch und normativ und darum im wachsenden Maß umstritten werden. In beiden Fällen scheint ein Weg nicht beschreitbar zu sein, nämlich der, auf dem sich Nancy und Lacoue-Labarthe augenscheinlich halten wollen - der Mittelweg einer philosophischen Befragung des Politischen, die irgendwie so endet, daß tiefgreifende, neue, politisch relevante Einsichten produziert werden, ohne daß irgendwelche Hände im politischen Kampf schmutzig werden müßten.

Aus dieser Sackgasse ist nur schwer herauszukommen. Aber man sollte deswegen die Wichtigkeit der von Nancy und Lacoue-Labarthe gestellten Fragen nicht unterschätzen. Wenn sie der Be-deutung, dem Charakter und den Grenzen des Bereichs des Poli-tischen, so wie er in der westlichen Zivilisation etabliert worden ist, auf den Grund gehen, wenn sie den historischen Wandlungen, denen dieser Bereich seit den griechischen Anfängen unterworfen war, und seinen spezifisch modernen (und wie wir hinzufügen könnten: postmodernen) Zügen nachforschen, dann bringen sie Themen zur Sprache, die für die heutige politische Reflexion zen-tral sind. Dies wird daran deutlich, wie sich ihr Projekt an zwei spezifischere Komplexe von empirisch und normativ fundierten Fragen anschließt.

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Erstens schneiden Nancy und Lacoue-Labarthe ganz ausdrück-lich eine Reihe von Streitfragen an, die das Verhältnis zwischen der politischen und der ökonomischen Dimension in den gegenwärti-gen Gesellschaften betreffen. Diese Fragen entzündeten sich an den konkurrenzhaften Entwicklungen des wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus im Westen und des autoritären Staatssozialismus im Osten (wo sie in Polen, im Kampf der Solidarnoscz für eine »auto-nome Zivilgesellschaft«, einen neuen Grad an Artikuliertheit und Dringlichkeit erreichten). Aus der Perspektive des Westens kön-nen diese Streitfragen eindeutig formuliert werden: Wenn in der späten modernen Phase selbst die kapitalistische ökonomische Produktion bis zu einem Punkt sozialisiert wird, an dem sie dem Etikett »Privatunternehmen« spottet, wenn es deshalb die Ge-rechtigkeit verlangt, daß der Bereich des Politischen im quantita-tiven Sinn erweitert werden muß, um die zuvor ausgeschlossene »soziale Frage« einzubeziehen, und wenn, pace Arendt, infolge-dessen die Politik zur politischen Ökonomie werden muß, welche qualitativen Transformationen des Politischen werden dann benö-tigt, um zu verhindern, daß das Politische von der instrumentellen Vernunft eingenommen und auf Administration reduziert wird? Welche Transformationen können den homogenisierenden und antidemokratischen Tendenzen entgegenwirken, die einhergehen mit dem Verschwimmen der Grenze zwischen der Zivilgesellschaft und dem Staat (sowohl in seiner kommunistischen Herrschafts-form mit einem zentralistischen, staatlichen Planungsapparat als auch in seiner kapitalistischen Herrschaftsform mit einer kombi-niert korporativen und staatlich-bürokratischen Führungselite)? Wie können die partizipatorische Demokratie und die qualitative Vielfalt der menschlichen Erfahrung angesichts dieser Entwick-lungen gestärkt werden? Welche neuen, noch nicht erfundenen postliberalen und postmarxistischen Modelle für demokratische, dezentralisierte, sozialistische oder gemischte politische Ökono-mien können beidem, der Besonderheit des Politischen und seiner Verknüpfung mit dem Sozioökonomischen, gerecht werden?35

Zweitens, aber bei weitem indirekter, verknüpft sich die Proble-matik des Centre mit einem Kreis von Themen, die das Verhältnis zwischen der politischen und der familialen oder häuslichen Sphäre in heutigen Gesellschaften betreffen. Wenn sie den zeitge-nössischen Gemeinplatz, wonach »alles politisch ist«, problemati-sieren und statt dessen vorschlagen, daß »hinter dem Politischen

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(falls es mit dem Vater identifiziert werden muß) die >Mutter< steht«, deuten Nancy und Lacoue-Labarthe Fragen an, vor denen sie zugleich zurückschrecken und die nun von Feministinnen im Westen gestellt werden. Tatsächlich ist der Gegensatz zwischen ihrem Schweigen dazu und ihrer Redseligkeit in bezug auf den Marxismus symptomatisch, denn die derzeitige Welle feministi-scher Forschung ist zweifellos die am weitesten entwickelte, fort-schreitende, postmarxistische Befragung des Politischen36 - eine Befragung, und das sollte man zur Kenntnis nehmen, die engagiert bleibt, während sie die gegebenen Begriffe und Institutionen des Politischen problematisiert und die Fallstricke des Transzendenta-lismus vermeidet, indem sie in ihre philosophische Kritik empiri-sche und normative Elemente integriert.

Ob es ihnen gefällt oder nicht, Nancy und Lacoue-Labarthe sind de facto in einen verdeckten Dialog mit einer Bewegung ver-wickelt, die das Verhältnis zwischen dem Politischen und dem Familialen in Frage stellt. Wenn man dies einmal zugestanden hat, dann verlangen eine Reihe strittiger Fragen nach einer eingehende-ren Untersuchung: Wenn die Institution des Politischen im We-sten, wie Arendt behauptete, auf der Institution des Familialen beruht, ja, dessen Gegenstück ist; und wenn die Sphäre des Fami-lialen als eine Sphäre der Ungleicheit und Ausbeutung gegenüber Kritik und Veränderung nicht mehr immun sein kann, wie müßte und sollte dann auch die politische Sphäre geändert werden? Wenn beispielsweise, wie Arendt meinte, die moderne politische Kultur einschließlich des Marxismus von ihrer Besessenheit, Lebensmit-tel und Dinge zu produzieren, derart verformt wurde, daß sie die Dimension des symbolischen Handelns vernachlässigte; und wenn, pace Arendt, dies nirgendwo einleuchtender ist als in der Unterbewertung und Privatisierung der von Frauen geleisteten Arbeit des Kinderaufziehens (die - als die Kultivierung von Perso-nen - das symbolische Handeln par excellence ist), wie könnte dann eine gerechte Neuorganisation des Kinderaufziehens, die es ins Zentrum öffentlicher Anliegen stellt, dazu beitragen, das Poli-tische zu revitalisieren und zu verändern? Wenn schließlich die traditionell häuslichen Tätigkeiten von Frauen, einschließlich der emotionalen Pflege von Männern und Kindern, zur Entwicklung (zumindest) von Enklaven deutlich ausgeprägter Frauenkulturen mit typischen Frauenwerten wie Erziehung und Pflege, Zuwen-dung und Gewaltlosigkeit beigetragen haben, und wenn diese

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Werte von einer sexistischen und androzentrischen politischen Kultur verunglimpft und verdeckt wurden, die Autonomie, Sou-veränität und instrumentelle Vernunft privilegiert, wie könnte dann das Politische transformiert werden, wenn die Frauenkul-turen von der Häuslichkeit befreit wären und ihnen erlaubt wäre, Teil des öffentlichen Lebens zu sein?

Gemeinsam bilden diese zwei Komplexe von Fragen den äuße-ren Horizont der Arbeiten von Nancy und Lacoue-Labarthe. Das macht für mich einen großen Teil des Interesses und der Wichtig-keit jener Arbeiten aus. Aber es verweist auch auf ihre Grenzen. Denn will man im Ernst mit einer Beantwortung dieser Fragen beginnen, stellt sich die Notwendigkeit, den transzendentalen und dekonstruktiven Diskurs zugunsten einer Untersuchung anderer Art aufzugeben. Es steht dem Centre de recherches phdosophiques sur lepolitique offen, sich in die Reihen jener zu begeben, die sich um die Bewältigung dieser Herausforderung bemühen.

Nachschrift

Diese Darstellung wurde im Herbst 1982 geschrieben. Am 16. November 1984 kündigten Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy an, daß sie die Tätigkeit des Centre de recherches phdosophiques sur le politique für unbestimmte Zeit einstellen würden. In einem Memorandum, das den Mitgliedern zugeschickt wurde, schreiben sie, das Centre wäre kein Ort mehr, an dem sich das Projekt einer Befragung »der Essenz des Politischen« voran-treiben ließe. Dieses Projekt verlange, daß alle Fragen, die um das Politische kreisen, offen gehalten und daß alle Gewißheiten einge-klammert werden. Dies wäre am Centre aber nicht mehr der Fall. Während der vergangenen zwei Jahre habe sich ganz im Gegenteil ein oberflächlicher und für selbstverständlich gehaltener Konsens breitgemacht, der die Öffnung verschloß, die für eine gewisse Zeit ein radikales Fragen ermöglicht hatte. Dieser Konsens stehe im Zusammenhang mit drei für zentral angesehenen Punkten. Er-stens, »Totalitarismus«, ursprünglich das Zeichen für eine Reihe von Fragen über die Ähnlichkeiten und Unterschiede einer Viel-zahl historischer und zeitgenössischer Gesellschaften, sei erstarrt zu einer »einfachen und entschiedenen Benennung der einzigen politischen Gefahr . . . die von nun an verkörpert wird von den

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Regimes marxistischer Provenienz«. Zweitens habe auch der Mar-xismus aufgehört, eine Frage zu sein und sei - schlicht - vergan-gen, überholt, überflüssig, eine glücklose Ideologie des 19. Jahr-hunderts, der man nun Konzeptionen eines irgendwie noch relevanten 18. Jahrhunderts entgegensetzte - Konzeptionen der Freiheit (nicht der Gleichheit) und des Rechts (nicht der Politik). Letztlich habe die Politik selbst die eindimensionale Bedeutung einer Gefahr und einer Sackgasse angenommen, so daß es nicht länger möglich gewesen war, den Charakter und die Organisation kollektiver Identität und Souveränität zu berücksichtigen - was besage, daß »das Ethische und das Ästhetische, selbst das Reli-giöse« dem Politischen gegenüber privilegiert wurden. Das Resul-tat sei die Preisgabe des eigentlichen Forschungsobjekts des Cen-tre und gleichzeitig der Triumph des Unpolitischen gewesen. Dies sei aber in Wirklichkeit die Kapitulation vor einer eindeutigen po-litischen Position gewesen, nämlich vor dem »ökonomischen Neoliberalismus« und »politischen Neokonformismus«, die nun Frankreich überschwemmten, ein wiedergeborener Liberalismus, der aus dem erstand, was er als die Asche des Marxismus aus-gab.

Das ist natürlich nur die eine Hälfte der Wahrheit. Ohne Kennt-nis der anderen Hälfte mag man zögern, eine Erklärung anzubie-ten. Dennoch kann ich mich nicht der Bemerkung enthalten, daß der Untergang des Centre sein konstitutives Dilemma zusammen-faßt.

In ihrem Memorandum stellen Nancy und Lacoue-Labarthe fest, daß sie mit der Auflösung des Centre einer politischen Not-wendigkeit entsprechen. In der Tat erscheint die Auflösung von einem bestimmten Blickwinkel aus schlichtweg als eine politische Stellungnahme: Sie wenden sich gegen den antimarxistischen Neoliberalismus. Aus einer anderen Perspektive aber stellt sich die Situation komplizierter dar. Die vorherrschende Stoßrichtung ih-res Memorandums zur Auflösung ist nicht, politische Argumente gegen die Neoliberalen ins Feld zu führen. Sie beschuldigen diese vielmehr, den transzendentalen Pakt verletzt zu haben, in der Be-fragung der Essenz des Politischen wortbrüchig geworden zu sein. Mit anderen Worten, das Problem ist weniger, daß ihre Gegner eine schlechte politische Gesinnung haben, als daß sie eine politi-sche Gesinnung haben - was zu der Vermutung berechtigt, daß die neoliberale Richtung sogleich die Hegemonie im Centre errang.

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Darüber hinaus könnte man durchaus die Ansicht vertreten, daß die neoliberale Position eine, wenn nicht die legitime Ausgestaltung zumindest einiger Positionen von Nancy und Lacoue-Labarthe selbst darstellt. Was sie nun vernichtend als »Apolitizismus« kriti-sieren, ist zum Beispiel eine keineswegs verquere Ausführung ihrer eigenen These von »der totalen Dominanz des Politischen«. Schließlich war diese These schon immer zweideutig. Sie verband den bereits überzogenen Technikverdacht Heideggers und die schon allzu kategorische Verdächtigung »des Sozialen« bei Arendt zu einer noch globaleren und noch undifferenzierteren Verdächti-gung des Politischen, wobei allem Anschein nach die Möglichkeit der politischen Opposition gegen Administration und instrumen-telle Vernunft aufgegeben wurde. Kein Wunder also, daß manche Mitglieder daraus schlossen, eine solche Opposition müsse von nun an unter der Flagge »des Ethischen oder des Ästhetischen oder gar des Religiösen« geführt werden.

Ein ähnliches Argument kann zweifellos in Hinsicht auf den Antimarxismus vorgebracht werden. Von den drei Problemkrei-sen, die in dem Memorandum zur Auflösung diskutiert werden, besteht eigentlich nur bei einem - bei dem Totalitarismus näm-lich - im großen und ganzen keine Zweideutigkeit. Denn nur zu dieser Thematik äußern sich Nancy und Lacoue-Labarthe eindeu-tig. Erstens lehnen sie einen Gebrauch des Ausdrucks »Totalitaris-mus* ab, der sie in Gleichschritt mit der NATO bringen würde, und das ist eine politische Stellungnahme. Zweitens beharren sie auf begrifflichen Unterscheidungen, die der empirischen Komple-xität der heutigen sozialen Realität in Ost und West angemessen sind, und das ist eine posttranszendentale methodologische Stel-lungnahme. Der »Totalitarismus« bleibt also der Bezugspunkt der ausgezogensten Linie ihrer Argumentation. Einer Argumenta-tion, die prinzipiell aus der derzeitigen Sackgasse herausführen könnte und ihre Problemstellung modifizieren könnte.

Vor zwei Jahren trug ich Argumente für die These vor, das Cen-tre de recherches philosophiques sur le politique sei nur »eine Durchgangsstation des Exodus aus dem Marxismus, den die fran-zösische Intelligenz jetzt angetreten hat, und kein dauerhafter Ruheplatz«. Nun wird der Charakter dieses Auszuges - seine möglichen und wirklichen Ziele - klarer. Ein Weg verläuft über das Centre zum »apolitischen Neoliberalismus«. Ein anderer, sich kaum abzeichnender Weg würde den französischen Postmarxisten

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abverlangen, daß sie Verbindungen zur deutschen Kritischen Theorie und zum anglo-amerikanischen, sozialistischen Feminis-mus herstellen. In Anbetracht der größeren Strömungen in der gegenwärtigen französischen Kultur, auch der weit verbreiteten Desillusionierung gegenüber der Mitterand-Regierung, ist der Druck, den ersten Weg einzuschlagen, sehr hoch. Daß sich Nancy und Lacoue-Labarthe trotzdem weigern, dies zu tun, ist ihnen sicherlich anzurechnen. Die Hof fnung bleibt bestehen, daß sie sich bald aus ihrem transzendentalen Unterschlupf herauswagen werden.

Anmerkungen

Die Arbeit an diesem Aufsatz wurde freundlicherweise von The University of Georgia Research Foundation gefördert.

1 Siehe Philippe Lacoue-Labarthe/Jean-Luc Nancy, Lesfins de l'homme: Apartir du travail de Jacques Derrida, Paris 1981.

2 Siehe besonders den Essay, nach dessen Titel die Konferenz benannt wurde: Jacques Derrida, Les fins de l'homme, in: ders., Marges de la Philosophie, Paris 1972, dt. Fines hominis, in: ders., Randgänge der Philosophie, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1976.

3 Derrida, Positionen, Gespräch mit Jean-Louis Houdebine und Guy Scarpetta, in: ders., Positionen, Graz/Wien 1986, S. 83-184.

4 Die vorliegende Darstellung erfaßt nur die ersten zwei Jahre des Cen-tre.

5 Philippe Lacoue-Labarthe/Jean-Luc Nancy (Hg.), Rejouer le politi-que, Paris 1982.

6 Philippe Lacoue-Labarthe/Jean-Luc Nancy (Hg.), Le retrait du politi-que, Paris 1983.

7 Siehe beispielsweise Michael Ryan, Marxism and Deconstruction: A Critical Articulation, Baltimore 1982. Eine ähnliche Arbeit von Gayatri Chakravorti Spivak wird später erörtert werden.

8 Spivak, Ilfaut s'y prendre en s'enprenant ä elles, in: Lacoue-Labarthe/ Nancy, Fins, a. a. O., S. 505-515. Der Band wird nachfolgend mit ein-geklammerten Seitenzahlen zitiert.

9 Derrida, Fines hominis, a. a. O., S. 121. 10 In Fins, a .a .O. , S. 515L 11 Jacob Rogozinski, Deconstruire la revolution, in: Fins, a. a. O., S. 516-

526.

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12 Derrida, Semiologie und Grammatologie, Gespräch mit Julia Kristeva, in: Positionen, a. a. O., S. 63.

13 In Fins, a. a. O., S. 526-529. 14 Derrida, D'un ton apocalyptique adopté naguère en philosophie, in:

Fins, a .a .O. , S. 445-479. 15 Nancy, La voix libre de l'homme, in: Fins, a. a. O., S. 163-182. 16 Christopher Fynsk, Intervention, in: Fins, a. a. O., S. 487-493. 17 Siehe Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, 2. Aufl.,

München 1981. 18 Philippe Lacoue-Labarthe, Intervention, in: Fins, a .a .O. , S. 493-

497. 19 Martin Heidegger, Die Frage nach der Technik und Überwindung der

Metaphysik, beide in: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954. 20 In Fins, a .a .O. , S. 497-500. 21 Philippe Lacoue-Labarthe/Jean-Luc Nancy, Ouverture, in: Rejouer,

a. a. O., S. 11-28, nachfolgend mit Seitenzahlen in Klammer zitiert. 22 Siehe Anm. 19. 23 Siehe Friedrich Nietzsche, Der europäische Nihilismus, in: Der Wille

zur Macht, Frankfurt a.M. 1992; und Heidegger, Überwindung der Metaphysik, a .a .O. Siehe auch Heidegger, Nihilismus, in: Nietzsche, 2 Bde., Pfullingen 1961.

24 Vgl. Karl Marx, Zur Judenfrage, Teil I (Bruno Bauer, Die Judenfrage, Braunschweig 1843), MEW, Band 1, S. 347-377; und Kritik des Hegel-schen Staatsrechts (1843), MEW, Band 1, S. 203 ff.; Zur Kritik der He-gelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, MEW, Band 1, S. 378-391.

25 Mehrere Formulierungen dieses und des vorhergehenden Abschnitts wurden von John Brenkman angeregt.

26 Nancy, La jurisdiction du monarch hegelien, in: Rejouer, a .a .O. , S. 51-90.

27 Lacoue-Labarthe, La transcendence finit dans la politique, in: Rejouer, a. a. O., S. 171-214.

28 Denis Kambouchner, De la condition la plus générale de la politique, in: Retrait, a .a .O. , S. 113-158.

29 Philippe Soulez, La mère est-elle hors-jeu de l'essence du politique?, in: Retrait, a .a .O. , S. 159-182.

30 Claude Lefort, La question de la démocratie, in: Retrait, a. a. O., S. 71-88.

31 Philippe Lacoue-Labarthe/Jean-Luc Nancy, Le retrait du politique, in: Retrait, a. a. O., S. 183-200; nachfolgend mit Seitenzahlen in Klammer zitiert.

32 Nancy und Lacoue-Labarthe schreiben dem Gruppenmitglied Jean-François Lyotard diese Vorstellung zu. Sie zitieren sein Buch La condition postmoderne: Rapport sur le savoir, Paris 1979, dt. Das post-moderne Wissen, Graz/Wien 1987.

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33 Pierre Clastres, La société contre l'état, Paris 1974. 34 Siehe Aristoteles, Politik, Buch 1. 35 André Gorz, Abschied vom Proletariat. Jenseits des Sozialismus, Frank-

furt a.M. 1980; und Michael Walzer, Spheres of Justice, New York 1983, zählen zu den neueren (aber nicht ganz erfolgreichen) Versuchen, solche Fragen anzugehen.

36 Unter den vielen Arbeiten, die man hier angeben könnte, sind: Alison M. Jaggar, Feminist Politics and Human Nature, Totowa, N . J . 1983; Susan Moller Okin, Women in Western Political Thought, Princeton 1979; Linda Nicholson, Gender and History: The Failure of Social Theory in the Age of the Family, New York 1986; Lorenne M. G. Clark/Lynda Lange (Hg.), The Sexism of Social and Political Theory: Women and Reproduction from Plato to Nietzsche, Toronto 1979; Carol Gilligan, Die andere Stimme. Lebenskonflikte und Moral der Frau, München 1988; Nancy Hartsock, Money, Sex, and Power, New York 1983; und Iris Young, Impartiality and the Civic Public, Seyla Benhabib, The Generalized and the Concrete Other, und Maria Markus, Women, Success, and Civil Society, alle in: Seyla Benhabib/ Drucilla Cornell (Hg.), Feminism as Critique, Minneapolis 1987. Siehe meine eigene Position zu diesen Fragen im achten Kapitel.

Kapitel 5

Solidarität oder Singularität? Richard Rorty zwischen Romantik

und Technokratie

Für uns Ironiker kann als Kritik an einem abschließenden Vokabular nur ein anderes solches Vokabular dienen; Antwort auf eine Neubeschreibung kann nur eine neue Neubeschreibung der Neubeschreibung sein.

Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität1

Betrachten wir eine etwas karikierende Charakterisierung des ro-mantischen Impulses. Stellen wir uns diesen Impuls als den An-trieb vor, die Gabe der individuellen Erfindung oder Selbstgestal-tung aufzuwerten. Ein romantischer Impuls dieser Art würde das außergewöhnliche Individuum zum Helden machen, die Figur des Individuums, das nicht einfach das kulturelle Drehbuch, welches ihm sein soziohistorisches Milieu vorgelegt hat, nachspielt, son-dern neu schreibt. Er würde das Individuum als einen »Genius« oder »starken Dichter« darstellen, ungeachtet des Feldes seiner Erfindungsgabe. Wissenschaft, Politik, was auch immer - vom Standpunkt des romantischen Impulses aus wäre jeder Schauplatz der Erfindung in einem erweiterten Sinn ein Zweig der Literatur, genau wie jede bedeutsame Handlung ein ästhetischer Akt und jedes Schaffen ein Selbsterschaffen wäre. In diesem Fall würde die Neuerung um ihrer selbst willen geschätzt werden. Es wäre die reine Differenz zwischen dem, was bloß vorgefunden oder ererbt ist, und dem, was ex nihilo geschaffen oder erdacht wird, die Wert und Wichtigkeit verleihen würde. Insofern der romantische Im-puls eine solche Herstellung von Differenz als das Werk außerge-wöhnlicher Individuen versteht, insofern er diese Individuen und ihr Werk als die Quelle allen bedeutsamen historischen Wandels behandelt, insofern er die Geschichte weitgehend als die Abfolge solcher Genies ansieht, wird er ästhetisierend, individualisierend und elitär. Kurz gesagt, er ist der Impuls, sich selbst zu zeugen, die causa sui zu sein, sich von der Gemeinschaft zu trennen. Darum ist das maskuline Pronomen angebracht.2

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Kontrastieren wir nun diese karikierende Version des romanti-schen Impulses mit einer genauso karikierenden Charakterisie-rung des pragmatischen Impulses, verstanden als Unduldsamkeit gegenüber Differenzen, die keinen Unterschied machen. Nehmen wir ihn als eine Abneigung gegen barocke Erfindungen und gegen überflüssige Epizykel, gegen alles, was nicht auf den Punkt kommt. Folglich wäre der pragmatische Impuls zielgerichtet und absichtsvoll; es würde ihm weniger an Originalität gelegen sein als an Resultaten. Gelöste Probleme, befriedigte Bedürfnisse, gesi-chertes Wohlergehen, das wären seine Embleme der Wertschät-zung. Die romantische Metaphorik von Dichtung und Schauspiel würde er durch eine Metaphorik der Produktion und Arbeit erset-zen. Er würde Getriebe, die keinen Mechanismus in Gang setzen, Werkzeuge, die keinem nützlichen Zweck dienen, seltsame Appa-rate, die keine wirkliche Arbeit verrichten, verschmähen. Vom Standpunkt dieses Impulses aus wären Wörter Werkzeuge und die Kultur ein überdimensionierter Werkzeugkasten, der, sollte er überflüssig oder rostig sein, ohne Umstände weggeworfen werden kann. Der pragmatische Impuls wäre also lebhaft und geschäftig. Er würde die staatsbürgerliche Gesinnung des problemlösenden Reformers dem Narzißmus des sich selbstgestaltenden Dichters vorziehen. Sein Held wäre der Bursche, der seine Arbeit hinkriegt und sich für seine Gesellschaft nützlich macht, nicht derjenige, der sich etwas einbildet auf seine Sachen und großspurig damit auf-tritt. Zudem würde der pragmatische Impuls die Geschichte als eine Aufeinanderfolge sozialer Problemstellungen und sozialer Problemlösungen sehen, als eine Folge, die eigentlich ein Fort-schreiten ist. Da er den Fortschritt dem Menschenverstand, der technischen Kompetenz und dem Gemeinsinn zuschreibt, wäre sein Ethos reformistisch und optimistisch, seine Politik liberal und technokratisch.

Auch wenn diese karikierenden Charakterisierungen den Kom-plexitäten der romantischen und der pragmatischen Tradition nicht gerecht werden sollten, glaube ich doch, daß sie zwei bemer-kenswerte Stränge in den neueren Schriften von Richard Rorty bezeichnen. Diese Schriften sind aus meiner Sicht der Austra-gungsort eines Kampfes zwischen eben einem romantischen und einem pragmatischen Impuls. Überdies ist es ein Kampf, bei dem scheinbar keiner der beiden Impulse definitiv in der Lage ist, zu siegen. Manchmal erringt der eine, manchmal der andere einen

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vorübergehenden Vorteil. Aber insgesamt bleibt das Ergebnis aus-geglichen.

Es ist symptomatisch für Rortys Unvermögen, diesen Streit zu beenden, daß er zwischen drei verschiedenen Sichtweisen des Ver-hältnisses von Romantik und Pragmatismus, Dichtung und Poli-tik schwankt. Diese wiederum führen drei verschiedene Konzep-tionen der sozialen Rolle und der politischen Funktion von Intellektuellen mit sich.

Die erste Position nenne ich das Konzept der »unsichtbaren Hand«. Es ist die Sichtweise, wonach die Romantik und der Prag-matismus »natürliche Partner« sind. Hierbei sind der »starke Dichter« und der »utopische Reformpolitiker« nur zwei gering-fügig verschiedene Varianten der gleichen Gattung. Ihre jewei-ligen Aktivitäten sind komplementär, wenn nicht strikt identisch, sie sind sozusagen Wasser auf die gleiche liberaldemokratische Mühle.

Die zweite Position nenne ich das Konzept »Erhabenheit oder Anstand?«. Es ist die Sichtweise, wonach sich Romantik und Prag-matismus zueinander antithetisch verhalten, so daß die Wahl be-steht zwischen der erhabenen »Grausamkeit« des starken Dichters und der schönen »Freundlichkeit« des politischen Reformers. Diese Sicht betont die »dunkle Seite« der Romantik, ihre Tendenz, die Politik zu ästhetisieren und auf diese Weise antidemokratisch zu werden.

Offensichtlich stehen das Konzept der »unsichtbaren Hand« und das Konzept »Erhabenheit oder Anstand?« in einer konversen Beziehung zueinander. So kann jede als eine Kritik der anderen gelesen werden. Rortys dritte Position, die ich die »Aufteilungs-position« nenne, stellt einen Kompromiß dar. Wenn Romantik und Pragmatismus nicht ohne weiteres »natürliche Partner« sind und wenn man gleichzeitig nicht gewillt ist, einen der beiden auf-zugeben, dann können sie vielleicht lernen, miteinander zu leben. So hat Rorty kürzlich die Bedingungen eines Waffenstillstands umrissen, eines Waffenstillstands, der jedem seine eigene, abge-trennte Einflußsphäre zuteilt. Der romantische Impuls kann in dem frei walten, was von da an »der private Sektor« sein wird. Aber es werden ihm keinerlei politische Prätentionen erlaubt sein. Der Pragmatismus zum anderen wird exklusive Rechte am »öf-fentlichen Sektor« haben. Aber er wird daran gehindert werden, irgendwelche Vorstellungen von radikalem Wandel zu hegen, die

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die »private«, kulturelle Hegemonie der Romantik anfechten könnte.

Ein raffinierter Kompromiß. Nur sind Kompromisse, die auf Aufteilungen beruhen, bekanntermaßen instabil. Sie führen nicht wirklich dazu, die grundlegende Ursache des Konflikts zu lösen, sondern machen ihn nur zeitweilig erträglicher. Früher oder später, in der einen oder anderen Form bricht dieser Konflikt er-neut aus.

1. Die Sorelsche Versuchung

Vergegenwärtigen wir uns die Rolle, die der romantische Impuls in Rortys Denken spielt. Erinnert sei an sein Beharren auf der Diffe-renz zwischen dem Vokabular und den Propositionen. Für ihn ist die Kardinalsünde der traditionellen Philosophie die Tendenz der Verwechslung dieser beiden, das Vokabular zu behandeln, als sei es zu rechtfertigen wie Propositionen. Nach Rortys Ansicht ist die Wahl des Vokabulars immer zu wenig determiniert. Es gibt keine Argumente, die nicht schon voraussetzen, was sie zu zeigen bean-spruchen, keine Gründe, die nicht schon in einem Vokabular abgefaßt sind und die ein für allemal beweisen könnten, daß man das richtige Vokabular hat. Etwas anderes vorzugeben hieße die metaphysische Bequemlichkeit eines Gottesgesichtspunktes an-zustreben.

Nun sollten wir auch berücksichtigen, wieviel nach Rortys An-sicht von Änderungen im Vokabular abhängt. Die bloße Umver-teilung von Wahrheitswerten innerhalb einer Reihe von Proposi-tionen, die in irgendwelchen für selbstverständlich gehaltenen Vokabularen formuliert sind, ist eine Belanglosigkeit verglichen mit einer Änderung des Vokabulars. Mit Wechseln im Vokabular verlieren dringliche Fragen plötzlich ihren Kern, fest etablierte Praktiken werden drastisch geändert, kulturelle Konstellationen lösen sich auf, um neuen, bislang unvorstellbaren Konstellationen Platz zu machen. Daher sind Wechsel im Vokabular für Rorty der Motor der Geschichte, die wichtigsten Vehikel des intellektuellen und moralischen Fortschritts.

Betrachten wir schließlich, wie es nach Rortys Auffassung zu Wechseln im Vokabular kommt. Ein Wechsel des Vokabulars er-folgt mit dem Buchstäblichwerden einer neuen Metapher, mit der

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pauschalen Verwendung einer neuen Art zu sprechen, mit der Übernahme der Idiosynkrasie eines Dichters durch ein ganzes Ge-meinwesen. Infolgedessen sind Dichter im erweiterten Sinne »die nicht anerkannten Gesetzgeber der sozialen Welt«.3 Ihre zufälli-gen Worte, wie Blitze, die von »außerhalb des logischen Raums« kommen, bestimmen die Gestalt künftiger Kultur und Gesell-schaft.

Es ist Rortys romantischer Impuls, der ihn an der Erhabenheit der Metapher, am Ungestüm des »nicht-normalen Diskurses« fas-ziniert. Unter seinem Einfluß zeichnet Rorty den Dichter als den Kulturhelden, erlaubt er dem Dichter, nicht nur den Priester und den Philosophen auszustechen, sondern sogar den traditionellen Helden des Pragmatismus, den Wissenschaftler und den Reform-politiker. Rortys romantischer Impuls diktiert ihm sein »utopi-sches Ideal« einer »ästhetischen Kultur«, einer Kultur mit dem Ziel, »immer vielfältigere und vielfarbigere Artefakte« zu erschaf-fen, mit der Absicht, »Dichtern und Revolutionären das Leben leichter zu machen«.4

Dieser romantische Impuls ist bei Rorty recht stark. Aber es ist kein Impuls, dem er durchweg nachgeben möchte. Und aus gutem Grund. Denn wie würde eine Politik aussehen, die dem romanti-schen Impuls freien Lauf ließe? Es sei an den individualistischen, elitären und ästhetisierenden Charakter jenes Impulses erinnert, an seine Vergötterung des starken Dichters, seine Fetischisierung der Schöpfung ex nihilo. Ein kurzer Blick genügt, um hier die Vision Georges Sorels zu sehen: Eine »Soziologie«, von der die Menschheit in »Führer« und »Massen« eingeteilt wird, eine »Handlungstheorie«, nach der die Führer die Massen mittels eines »Triumph des Willens« formen, eine »Philosophie der Ge-schichte« als leere Leinwand, die auf freie Entwürfe des Dichter-Führers wartet.5

Ich meine, es ist so etwas wie dieser Sorelsche Alptraum, der den Schlaf von Richard Rorty stört. Er hat sich nun lange Zeit viele Mühe gegeben zu zeigen, daß seine eigene romantische Ader nicht auf so etwas hinausläuft, daß seine eigene »utopische Vision« einer »ästhetisierten Kultur« liberal und demokratisch ist, nicht Sorelia-nisch und potentiell faschistisch.

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2. Die unsichtbare Hand oder: Besser leben mit Chemie und Poesie

Ein Versuch Rortys, den Sorelschen Dämon auszutreiben, ist die positive politische Verteidigung seiner eigenen Version der Ro-mantik. So hat er versucht, die romantische Dimension seines Denkens als mit der augenscheinlich gegensätzlichen pragmati-schen Dimension vereinbar, sogar als dieser förderlich darzustel-len. Noch nachdrücklicher hat er sich um den Nachweis bemüht, daß die zwei Dimensionen »natürliche Partner« sind, daß sie zu-sammenpassen und der starke Dichter der personifizierte Demo-krat ist.

Dabei ist die Hauptstrategie die, das Dichten mit gemeinschaft-licher Gesinnung, romantisches Schaffen mit sozialer Identifika-tion zu verbinden. So argumentiert Rorty, man gehe von der »Objektivität« zur »Solidarität« über, indem man Kantianische Fundierungen liberaler Ansichten aufgebe. Denn hören wir auf, unsere Hoffnungen in Substitute für Gott wie die Vernunft, die menschliche Natur oder das Sittengesetz zu setzen, bedeutet dies, daß wir damit anfangen, unsere Hoffnungen auf unsere Beziehun-gen untereinander zu richten.6

Ebenso behauptet Rorty, daß die ästhetische Einstellung und die moralische Einstellung nicht antithetisch sind. Im Gegenteil, sie sind nicht einmal deutlich abgegrenzt - denn um die ästheti-sche Haltung einzunehmen, »entgöttlichen« oder entzaubern wir die Welt und fördern dadurch Toleranz, Liberalismus und Zweck-rationalität.7 Die Weigerung, die Erzeugung von Kultur an ahi-storische Autoritäten zu verpfänden, befreit uns zum »Experi-mentieren« in der Politik, zu jener gleichzeitig utopischen und nüchternen Art der »Sozialtechnologie«, welche die eigentliche Seele des moralischen Fortschritts ist.

Zudem behauptet Rorty, Menschen, die sich den starken Dich-ter zum Helden und zur Idealrolle nehmen, »erwerben damit eine Identität, die sie zu geeigneten Bürgern eines idealen liberalen Staates macht«8, denn es besteht eine »ziemlich enge« Verbindung zwischen der Freiheit von Intellektuellen und »der Verringerung von Grausamkeit«. Wir sehen Praktiken früherer Zeiten nur des-halb als grausam und ungerecht an, weil wir gelernt haben, sie neu zu beschreiben. Und das haben wir nur auf Grund von Wechseln im Vokabular gelernt, die den Metaphern der Dichter zu verdan-

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ken sind. Deshalb ist es entgegen dem anfänglichen Anschein nicht wirklich elitär, »demokratische Gesellschaften zu behandeln, als existierten sie um der Intellektuellen willen«.9 Tatsächlich können wir uns nur dadurch, daß wir unsere Gesellschaft für Dichter si-cher machen, darauf einlassen, daß unsere Sprache im Wandel be-griffen bleibt - und nur durch die Sicherstellung, daß unsere Spra-che im Wandel bleibt, können wir die Normalisierung derzeitiger Praktiken verhindern, die vielleicht später einmal als grausam und ungerecht angesehen werden. Die Gesellschaft für Dichter sicher zu machen, verhilft dazu, sie für jedermann sicher zu machen.

Eine Kultur, die zum Wohl von Dichtung und Schauspiel orga-nisiert wäre, so macht Rorty geltend, würde schließlich »An-stand« und »Freundlichkeit« fördern. Sie würde die Anfälligkeit für eine spezifisch menschliche Leidensform verringern oder aus-gleichen: nämlich für die Demütigung, die davon herrührt, in Begriffen von irgend jemand anderem neu beschrieben zu werden, während zugleich das eigene Vokabular gebieterisch abgetan wird. Der beste Schutz gegen diese Art von Grausamkeit ist ein Bewußt-sein von den Vokabularen anderer Menschen. Ein solches Bewußt-sein wiederum läßt sich am besten ausbilden, indem jede Menge Bücher gelesen werden. Folglich würde eine Kultur, die eine kos-mopolitische literarische Intelligenz pflegt, das größte Glück der größten Zahl befördern.10

Kurz gesagt, Rorty behauptet, daß kulturelle Innovation und soziale Gerechtigkeit zusammengehen. Sie sind in der Befreiungs-metaphorik liberaler Gesellschaften vereint, in der die Geschichte als eine Aufeinanderfolge von Emanzipationen verstanden wird: die Emanzipation der Diener von Herren, der Sklaven von Planta-genbesitzern, der Kolonien von Großreichen, der Arbeit von der unbeschränkten Macht des Kapitals. Da beide von diesen Vorstel-lungen der Befreiung beherrscht sind, gehen die Romantik in den Künsten und die Demokratie in der Politik zusammen.11

Bei all diesen Argumenten geht es eigentlich um den Vorwurf, elitär zu sein. Rorty ist darum bemüht, die Anschuldigung zu widerlegen, eine romantische Politik müsse Freiheit über Gleich-heit stellen, müsse das größte Glück der größten Zahl auf dem Altar des starken Dichters opfern. Sein genereller Ansatz besteht darin, sich auf eine Version des altbekannten Arguments von der allmählichen gesellschaftlichen Verbreitung zu berufen: die Frei-heit der Künste fördert die Gleichheit in der Gesellschaft; was für

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die Dichter gut ist, ist auch für die Arbeiter, die Bauern und für den harten Kern der Arbeitslosen gut.

Das ist der Rorty, der eine nahtlose Verbindung von Romantik und Pragmatismus sucht. Er macht sich die Strategie einer »un-sichtbaren Hand« zu eigen, indem er zu zeigen versucht, daß ästhetisches Spiel und liberale reformistische Politik nur zwei Sei-ten derselben Medaille sind, daß das, was das eine unterstützt, auch das andere fördert, daß Chemie und Poesie vereint uns ein besseres Leben ermöglichen.

Diese Argumente zeigen Rorty nicht von seiner überzeugend-sten Seite. Sie werfen im Gegenteil weit mehr Fragen auf, als sie beantworten. Ist denn zum Beispiel die Verabschiedung der Ob-jektivität wirklich zugleich eine Begrüßung der Solidarität? Es gibt sicherlich keine logische Beziehung der Implikation zwischen An-tiessentialismus und der Loyalität gegenüber der Gesellschaft. Auch gibt es nicht einmal irgendeine kontingente psychologische oder historische Verbindung, falls moderne westliche Gesellschaf-ten als irgendein Maßstab betrachtet werden. Warum sollte außer-dem eine quasi Durkheimsche Sicht übernommen werden, wo-nach die Gesellschaft in der Weise einer einzigen, monolithischen und alles umfassenden Solidarität integriert ist? Warum sollte nicht vielmehr eine quasi marxistische Sicht übernommen werden, nach der moderne, kapitalistische Gesellschaften eine Pluralität sich überschneidender und konkurrierender Formen der Solidarität beinhalten?

Ist es denn wirklich so, daß die Gesellschaften, die die beste Lite-ratur hervorbringen, auch die egalitärsten Gesellschaften sind? Stimmen die Interessen von Dichtern und die Interessen von Ar-beitern wirklich überein? Und was ist mit den Interessen der Frauen, wenn man in Betracht zieht, daß bei Rorty, von seiner Verwendung des weiblichen Personalpronomens einmal abgese-hen, die Dichter immer als Söhne verstanden werden, die bestrebt sind, ihre kulturellen Väter zu verdrängen? Läßt sich außerdem das Dichten wirklich so sauber mit der Sozialtechnologie zusam-menfügen? Wie paßt deren nüchterner, ergebnisorientierter Cha-rakter zur extravaganten Verspieltheit des Dichtens? Warum eigentlich soll die »Sozialtechnologie« die bevorzugte Konzeption der politischen Praxis sein? Und warum wird Gleichheit auf die Begriffe »Freundlichkeit« und »Anstand« zugeschnitten? Warum soll sie von der Tugend der literarischen Intelligenz abhängen, von

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deren unterstellter Neigung, auf die Demütigung anderer zu ver-zichten? Warum wird Gleichheit statt dessen nicht unter den Aspekten gleicher Teilhabe am Dichten, an der Erzeugung von Kultur und an der Politik betrachtet?

3. Erhabenheit oder Anstand? Die dunkle Seite der Romantik

Wie gewöhnlich kann keiner die Sache gegen die Unsichtbare-Hand-»Lösung« besser vertreten als Rorty selbst. Kürzlich hat er eingeräumt, daß es eine »dunkle Seite« der Romantik gibt, eine Seite, die er nun als »Ironie« bezeichnet. Mit Ironie meint Rorty das Projekt des modernen literarischen Intellektuellen, durch kontinuierliche Neubeschreibung das bestmögliche Selbst zu ge-stalten. Rorty, der sich selbst als Ironiker sieht, fragt sich, ob es wirklich möglich ist, »das Vergnügen an der Neubeschreibung« mit der Sensibilität für »die Leiden derjenigen, die neu beschrie-ben werden«, zu verbinden. Er fürchtet, die Forderung des Ironi-kers nach größtmöglicher kultureller Freiheit könne tatsächlich elitär und mit der Gleichgültigkeit gegenüber den Leiden der Nichtdichter vereinbar sein. Die Ironie, so gibt er zu, ist per defi-nitionem reaktiv, sie benötigt eine nicht-ironische öffentliche Kul-tur, der sie sich entfremden kann. Folglich kann die Ironie selbst in einer postmetaphysischen Kultur nicht die verallgemeinerte Ein-stellung des gesamten sozialen Kollektivs sein. Die Ironie kann die Einstellung nur einer Gesellschaftsschicht, der literarischen Intel-ligenz oder kulturellen Elite sein. Überdies wird gar nicht geleug-net, daß Ironie grausam sein kann. Sie findet Vergnügen daran, andere neu zu beschreiben, statt sie in ihren eigenen Ausdrücken anzunehmen. Fraglos ist dies häufig demütigend, so als ob die geliebten Besitztümer eines Kindes mit denen eines reicheren Kindes verglichen werden und dadurch schäbig wirken. Noch schlimmer, der Ironiker kann nicht behaupten, daß er in der Neu-beschreibung anderer deren wahres Selbst und deren wahre Inter-essen aufdeckt, sie dadurch ermächtigt und freisetzt. Nur der metaphysisch gesinnte Politiker kann das versprechen. Daraus folgt, daß selbst wenn der Ironiker Unterstützung für liberale Po-litik bekunden sollte, er nicht sehr »dynamisch« oder »fortschritt-lich« sein könnte.12

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Überlegungen wie diese führen bei Rorty zu einer dramatischen Umkehr seiner Sichtweise. Er geht nicht mehr davon aus, daß der Ersatz des Entdeckens durch das Erfinden der eigenen Gesell-schaft dient, daß eine Verabschiedung der Objektivität eine Begrü-ßung der Solidarität bedeutet. Im Gegenteil, Rorty nimmt nun ein »eigensüchtiges«, unsoziales Motiv an der Romantik wahr, ein Motiv, welches die genaue Antithese zur gemeinschaftlichen Iden-tifikation darstellt. Er stellt fest, daß die Suche der Romantik nach dem Erhabenen von einem Verlangen nach Absonderung angetrie-ben wird, von einem Bedürfnis, »sich vom Stamm loszusagen«. So lauert hinter der Liebe des starken Dichters für das, was originell und völlig neu ist, eine heimliche Verachtung für das Altbekannte und gemeinhin Geteilte. Dies beunruhigt besonders dann, wenn das, was altbekannt ist und geteilt wird, ein Bekenntnis zur Demo-kratie ist. In einer Kultur, die angeblich bereits um eine Metapho-rik der Befreiung und der sozialen Reform herum organisiert ist, bedeutet die Suche nach neuen, lebendigeren, weniger abgegriffe-nen Metaphern, daß das politische Desaster geradezu herbeige-führt wird.

Auf diese Weise gibt Rorty seiner neuen Besorgnis Ausdruck, daß Romantik und Pragmatismus sich nicht vertragen. Während der Pragmatismus gemeinschaftlich gesinnt, demokratisch und freundlich ist, erscheint die Romantik nun als eigensüchtig, elitär und grausam. Während der Pragmatist bestrebt ist, Probleme zu lösen und den Bedürfnissen seiner gewöhnlichen Mitbürger entge-genzukommen, ist der romantische Ironiker mehr geneigt, diese als banal, uninteressant und nur ungenügend radikal abzutun.

Demnach täuschen sich die sogenannten Poststrukturalisten des linken Flügels, wenn sie denken, sie »dienen den Elenden die-ser Erde«, indem sie das derzeit verbreitete, liberale politische Vokabular verwerfen. Was sie dagegen tatsächlich tun, ist, der tra-ditionell avantgardistischen Verachtung für ihre Mitmenschen Ausdruck zu geben. Heideggerianer, Dekonstruktivisten, Neo-marxisten, Foucaultianer und verschiedene Spielarten der Neuen Linken - das sind keine Differenzen, die einen Unterschied aus-machen. Sie alle sind potentielle Sorelianer, die den besonderen Drang des ironistischen Intellektuellen nach dem Erhabenen mit dem allgemeinen Bedürfnis der Gesellschaft nach dem bloß Schö-nen verwechseln.13

Motiviert von solchen Bedenken war Rorty in jüngster Zeit

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sorgfältig darum bemüht, die pragmatische Konzeption der Philo-sophie ausdrücklich von der romantischen Konzeption zu unter-scheiden. Er macht geltend, daß Romantik und Pragmatismus zwei unterschiedliche Reaktionen auf die Metaphysik darstellen und daß sie nicht miteinander verschmolzen werden dürfen. Zu-gegeben, beide lehnen die traditionelle Sicht der »Philosophie als Wissenschaft« - das heißt als Suche nach einer dauerhaften, neutra-len Matrix zur Forschung - ab. Während aber die Romantik diese durch eine Sicht der »Philosophie als Metapher« zu ersetzen wünscht, zieht es der Pragmatismus vor, sie mit einer Sicht der »Philosophie als Politik« zu vertauschen. Daraus ergibt sich, daß die beiden Ansätze in ihren Vorstellungen von der idealen Person stark voneinander abweichen. Aus der metaphorischen Sicht muß dies der Dichter sein, aus der politischen Sicht hingegen ist es der Sozialarbeiter und der Ingenieur. Beide Perspektiven sind zugege-benermaßen holistisch. Beide unterscheiden sie den nicht-norma-len Diskurs vom normalen Diskurs, die Erfindung einer neuen Metapher von ihrer Literalisierung beziehungsweise ihrer sozialen Anwendung. Ihre Vorstellungen scheiden sich aber an der Frage des Wertes, lebendige Metaphern in tote Metaphern umzuwan-deln, indem man sie im Dienst der Gesellschaft verbreitet. Für den Romantiker ist diese Art angewandter Dichtung die abscheulich-ste, abgedroschenste Arbeit, für den Pragmatiker dagegen ist dies genau dasjenige, wofür die besten Metaphern gemacht sind. Dar-aus ergibt sich, daß die beiden Sichtweisen sehr verschiedene soziale Einstellungen mit sich bringen. Aus romantischer Sicht existiert die soziale Welt um des Dichters willen. Aus pragmati-scher Sicht existiert der Dichter um der sozialen Welt willen.14

In diesem eher komplizierteren Szenario gibt es also nicht eine, sondern zwei Alternativen zur Objektivität. Nur eine von diesen führt zu Solidarität und Demokratie. Die andere führt zu Avant-gardismus, wenn nicht gar zu Faschismus. An dieser Stelle gibt Rorty dem Problem die Form des Gegensatzes Romantik versus Pragmatismus. Er behandelt die zwei Impulse, als verhielten sie sich antithetisch, und erzwingt eine Wahl. Romantik oder Prag-matismus? Erhabenheit oder Anstand? Starke Dichtung oder tote Metaphern? Selbstgestaltung oder soziale Verantwortlichkeit? Beides zugleich geht nicht. Oder etwa doch?

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4. Der Standpunkt der Aufteilung

In seinen neueren Essays lehnt es Rorty ab, sich zwischen Erha-benheit und Anstand, Romantik und Pragmatismus zu entschei-den. Statt dessen hat er sich eine neue Formulierung einfallen lassen, um beides haben zu können: Er will einen Kompromiß zwischen Romantik und Pragmatismus, indem sie entlang der Grenze von privatem und öffentlichem Leben voneinander ge-trennt werden.

Zwei Dinge, die nicht zu einem verschmolzen werden können, sollen dennoch Seite an Seite koexistieren können, wenn zwischen ihnen klare und scharfe Grenzen gezogen werden. Nun kann we-der Erhabenheit mit Anstand noch starke Dichtung mit sozialer Verantwortlichkeit verbunden werden. Wenn sie aber ihre jeweils eigene separate Sphäre zugeteilt bekämen und an der Beeinträchti-gung der anderen gehindert werden würden, dann könnten sie eigentlich einigermaßen gute Nachbarn sein.

Das also ist die Strategie der Rortyschen »Aufteilungs«-Posi-tion: Die kulturelle Landkarte in der Mitte zu teilen. Auf der einen Seite befindet sich das öffentliche Leben, das dem Pragmatismus vorbehaltene Gebiet, die Sphäre, in der Nützlichkeit und Solidari-tät vorherrschen. Auf der anderen Seite befindet sich das Privatle-ben, das der Romantik vorbehaltene Gebiet, die Sphäre der Selbstentdeckung, Erhabenheit und Ironie. In der öffentlichen Sphäre hat die Verpflichtung gegenüber dem Gemeinwesen Vor-rang; soziale Hoffnung, Anstand und das größte Glück der größ-ten Zahl stehen auf der Tagesordnung. In der Privatsphäre ist im Gegensatz dazu das beherrschende Anliegen die Verpflichtung sich selbst gegenüber. Hier mag man sich vom Gemeinwesen ab-sondern, sich der Gestaltung seines Selbst widmen und so mit seinem »Alleinsein« fertigwerden.15

Auf diese Weise will Rorty sowohl die Ekstase als auch die Nützlichkeit wahren: »den Drang, das Undenkbare zu denken« und die »Begeisterung für die Französische Revolution«.16 Aber nur, indem er sie streng voneinander isoliert. Er behauptet nun, daß der Wunsch, die unversöhnliche Spaltung zwischen dem öf-fentlichen und dem Privatleben zu überwinden, die Wurzel vieler theoretischer und politischer Schwierigkeiten ist. Dieser Wunsch, so stellt sich heraus, ist der Metaphysik und ihrer ironistischen Kritik, dem Marxismus und verschiedenen nicht-marxistischen

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Formen radikaler Politik gemeinsam. Er hat sogar den späten Hei-degger auf Abwege gebracht, weil er ihn veranlaßte, etwas mit dem Geschick des Westens zu verwechseln, was eigentlich sein privates Bedürfnis war, nämlich von einigen lokalen, persönlichen Autori-täten - Piaton, Aristoteles und Kant - loszukommen.17

Rorty behauptet, daß aus den Schwierigkeiten all dieser Gegner des Liberalismus vor allem eines gelernt werden muß: Wenn Ironie öffentlich wird, gerät sie in Schwierigkeiten. Folglich kann die ironische Theorie nur im Privaten intakt bleiben.18

Glücklicherweise stellt sich heraus, daß es einen Weg gibt, die nicht-liberalen politischen Implikationen des radikalen Denkens unwirksam zu machen. Man streitet ab, daß radikales Denken irgendwelche politischen Implikationen hat. So hat sich Heideg-ger einfach getäuscht, als er sich irgendeine öffentliche Bedeutung seines Werkes ausmalte. Dasselbe gilt für all die Pseudolinken, die politisches Kapital aus Dekonstruktivismus, Postmodernismus, Foucaultismus und Neomarxismus schlagen wollen. In Wirklich-keit ist der einzige Nutzen der ironistischen Theorie ein privater: das Selbstbild zu stärken und die Selbstgestaltung der literarischen Intelligenz zu unterstützen.

Der Aufteilungs-Standpunkt bringt zweifellos eine revidierte Betrachtung der gesellschaftlichen Rolle und der politischen Funktion der Intellektuellen mit sich. Der starke Dichter, wie er bislang aufgefaßt wurde, muß domestiziert werden, auf seine Größe zurechtgestutzt und für das Privatleben geeignet gemacht werden. Er muß zum Ästheten werden, zu einer Gestalt, die des öffentlichen Ehrgeizes entledigt und nach innen gekehrt ist.19 So wird der Intellektuelle im Reich seiner eigenen Selbstgestaltung König sein, aber der sozialen Welt wird er keine Gesetze mehr geben. Tatsächlich wird der Intellektuelle keine gesellschaftliche Rolle oder politische Funktion innehaben.

Als eine Richtlinie für den domestizierten Status des Rorty-schen Ästheten gilt, daß er dem Erhabenen nur in seiner »Freiheit und innerhalb der von On Liberty gesetzten Grenzen« nachgehen sollte.20 Er mag in der Zurückgezogenheit seiner eigenen narzißti-schen Sphäre ironisch denken, auch grausame Neubeschreibun-gen anfertigen, aber er darf nicht auf irgendeine Weise, die andere demütigen könnte, danach handeln. Das bedeutet, daß der Ästhet ein zweistufiges abschließendes Vokabular haben muß, ein in ei-nen öffentlichen und in einen privaten Sektor gespaltenes Vokabu-

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lar. Das abschließende Vokabular im privaten Sektor des Ästheten wird breit und üppig sein, es wird alle Arten plastischer und po-tentiell grausamer Ausdrücke zur Neubeschreibung anderer ent-halten. Der öffentliche Sektor seines Vokabulars hingegen wird kleiner sein, aus wenigen, flexiblen Ausdrücken bestehen, wie zum Beispiel »Freundlichkeit« und »Anstand«, die seine Ver-pflichtung auf die Politik des Liberalismus ausdrücken.21

Der Aufteilungs-Standpunkt stellt eine neue und äußerst inter-essante Entwicklung in Rortys Denken dar. Er ist bis heute sein anspruchsvollster Versuch, das Problem einer Versöhnung von Romantik und Pragmatismus ernstzunehmen. Und doch weist er bedenkliche Mängel auf. Er steht und fällt mit der Möglichkeit, eine scharfe Grenze zwischen dem öffentlichen und dem Privatle-ben zu ziehen. Aber ist das wirklich möglich? Ist es wirklich mög-lich, Neubeschreibungen, die sich auf für andere Menschen folgenreiche Handlungen auswirken, von solchen zu unterschei-den, die entweder überhaupt keine Handlungen beeinflussen oder die nur solche Handlungen beeinflussen, die für andere folgenlos bleiben.22 Sicher sind viele kulturelle Entwicklungen, die in eini-gem Abstand von offiziell als politisch eingestuften Prozessen ablaufen, nichtsdestoweniger öffentlich. Und offiziell politische Öffentlichkeiten sind für Entwicklungen in den kulturellen Öf-fentlichkeiten keineswegs undurchlässig23, da die kulturellen Pro-zesse an der Formierung sozialer Identitäten mitwirken, die wiederum politische Bindungen beeinflussen. Zudem haben uns die sozialen Bewegungen der letzten hundert Jahre gelehrt, den machtgeladenen und darum politischen Charakter der Interaktio-nen, die der klassische Liberalismus als private Interaktionen be-trachtet, zu sehen. Die Arbeiterbewegungen, insbesondere aufge-klärt durch die marxistische Theorie, haben uns zum Beispiel gelehrt, daß das Ökonomische politisch ist. Die Frauenbewegun-gen haben uns, von feministischer Theorie beeinflußt, gelehrt, daß das Häusliche und das Persönliche politisch sind. Schließlich hat uns eine ganze Palette von sozialen Bewegungen der Neuen Lin-ken, beeinflußt vom Gramscianismus, Foucaultismus und sogar von der Theorie Althussers, darüber belehrt, daß das Kulturelle, das Medizinische, das Erzieherische - alles, was Hannah Arendt im Unterschied zum Privaten und zum Öffentlichen »das Gesell-schaftliche« nannte -, daß dies alles auch politisch ist.24 Doch Rortys Aufteilungs-Standpunkt nötigt uns, diese Einsichten zu

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begraben und den letzten hundert Jahren Sozialgeschichte den Rücken zuzukehren. Außerdem wird uns abverlangt, die Theorie zu privatisieren. Ganz besonders die Feministinnen werden sich dieser Anforderung widersetzen wollen, damit unsere Theorie nicht das gleiche Schicksal erleidet wie unsere Hausarbeit.

5. Erneute Betrachtung des nicht-normalen Diskurses

Keine der drei Positionen von Rorty löst die Spannung zwischen Pragmatismus und Romantik. Die unsichtbare Hand versagt, weil die Verabschiedung der Objektivität nicht notwendig eine Begrü-ßung der einen, einheitlichen Solidarität bedeutet und weil das, was für Dichter gut ist, nicht zwangsläufig auch für Arbeiter, Bau-ern und den harten Kern der Arbeitslosen gut ist. Die Position »Erhabenheit-oder-Anstand« scheitert, weil nicht jede radikale Theoriebildung elitär und antidemokratisch ist und den kollekti-ven Anliegen und dem politischen Leben widerstrebt. Weil weder abschließende Vokabulare noch Handlungen dem Öffentlichen und dem Privaten säuberlich zugeordnet werden können, versagt schließlich auch ein Aufteilungs-Standpunkt.

Wenn keine der drei vorgebrachten Lösungen angemessen ist, ist es der Mühe wert, noch einmal der Beschreibung des ursprüng-lichen Dilemmas Aufmerksamkeit zu schenken. Wir sollten uns vielleicht die Kategorien und Annahmen, die Rortys Denken über Kultur und Politik prägen, näher ansehen.

Beginnen wir mit der Schlüsselunterscheidung in Rortys Grundbegrifflichkeit, mit dem Gegensatz zwischen normalem und nicht-normalem Diskurs. Rorty schwankt eigentlich zwi-schen zwei Sichtweisen des nicht-normalen Diskurses. Die erste wird in Der Spiegel der Natur: Eine Kritik der Philosophie entwik-kelt und leitet sich vom Werk Thomas Kuhns her. Sie ist die einfache Negation des normalen wissenschaftlichen Diskurses, das heißt eines Diskurses, in dem die Gesprächsteilnehmer den Sinn für das teilen, was als ein Problem oder eine Frage, als eine gut gebildete oder seriöse Hypothese, als ein guter Grund oder gutes Argument zählt. Der nicht-normale Diskurs ist also ein Diskurs, in dem solche Dinge zur Debatte stehen. Er beinhaltet eine Plura-lität differenzierbarer, wenn nicht unvereinbarer Stimmen, und besteht aus einem Austausch zwischen ihnen, der lebhaft, wenn

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auch etwas disziplinlos ist. Dies soll »die polylogische Konzep-tion« des nicht-normalen Diskurses genannt werden.

Die polylogische Konzeption ist einer anderen, einer monologi-schen Konzeption des nicht-normalen Diskurses gegenüberzu-stellen. Die monologische ist die romantisch-individualistische Sicht, in welcher der nicht-normale Diskurs das Vorrecht des star-ken Dichters und des ironistischen Theoretikers ist. Es ist ein Diskurs, der aus einer einsamen Stimme besteht, die vor einem gänzlich undifferenzierten Hintergrund in die Nacht hinaus-schreit. Die einzig vorstellbare Antwort auf diese Stimme ist verständnislose Ablehnung oder identifikatorische Nachahmung. Es gibt keinen Raum für eine Erwiderung, die sich als eine andere Stimme qualifizieren könnte. Es gibt keinen Raum für Interak-tion.

Diese zwei verschiedenen Konzeptionen des nicht-normalen Diskurses entsprechen natürlich den zwei verschiedenen Anre-gungen, die ich zuvor identifiziert habe. Die monologische Sicht entwickelt sich unter dem Ansporn von Rortys romantischem Im-puls, während die polylogische Sicht von seiner pragmatischen Anregung gespeist wird. Außerdem entspricht die monologische Sicht Rortys Vorstellungen von der Radikalen-Theorie-mit-star-ker-Dichtung und der Privatheit, wohingegen die polylogische Sicht im Einklang mit seinen Vorstellungen von Praxis, Politik und Öffentlichkeit steht.

Auf einer Ebene sind diese Entsprechungen ganz sinnvoll. Es scheint, als habe Rorty damit recht, eine polylogische Politik an-stelle einer monologischen zu wollen - als habe er sogar vollkom-men recht damit, eine monologische Politik als Oxymoron zu verwerfen. Auf einer anderen Ebene jedoch stört eines daran er-heblich. Es ist die scharfe Dichotomie in dem sich daraus erge-benden Bild von der Kultur, der abstrakte und unvermittelte Gegensatz zwischen Dichtung und Politik, Theorie und Praxis, Individuum und Gemeinschaft.

Man muß die Auswirkung der monologischen Konzeption des nicht-normalen Diskurses auf die unterschiedlichen Segmente in Rortys Bild vom sozialen Raum bedenken. Wir haben gesehen, daß die monologische Konzeption individualistisch, elitär und un-sozial ist. Außerdem wird sie von Rorty mit radikaler Theoriebil-dung in Verbindung gebracht, die selbst als eine Unterart des Dichtens behandelt wird. Infolgedessen nimmt die radikale Theo-

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riebildung individualistische Konnotationen an, wird die Anti-these zu kollektiver Aktion und politischer Praxis. Anders gesagt, die radikale Theorie wird zu einer Sphäre abseits des kollektiven Lebens hingebogen, als eine Sphäre der Privatheit und der indivi-duellen Selbstgestaltung. Sie wird ästhetisiert, narzissisiert, ver-bürgerlicht, ein Reservat, wo das Streben nach Transzendenz unter Quarantäne gestellt ist, sicher gemacht, weil unfruchtbar gemacht.

Diese privatistische, narzißtische Konzeption der radikalen Theorie hat nun zwei wichtige gesellschaftliche Konsequenzen. Erstens kann es keine legitime Kulturpolitik geben, keinen genuin politischen Kampf um kulturelle Hegemonie. Es kann nur ödipale Aufstände genialer Söhne gegen geniale Väter geben. Zweitens kann es keine politisch relevante radikale Theorie geben, keine Verbindung zwischen Theorie und politischer Praxis. Es kann nur unpolitische ironische Theorie und theorielose reformistische Praxis geben. Auf diese Weise wird sowohl die Kultur als auch die Theorie entpolitisiert.

Die Privatisierung der radikalen Theorie fordert ihren Tribut auch hinsichtlich der Form des Politischen. In Rortys Händen nimmt die Politik einen allzu kommunitaristischen und solidari-schen Charakter an, so als sei dies eine Reaktion auf die extreme Ich-Bezogenheit und den extremen Individualismus seiner Kon-zeption der Theorie. So können wir angeblich direkt von der Objektivität zur Solidarität, vom metaphysischen Trost der tradi-tionellen Philosophie zum kommunitaristischen Trost eines ein-zigen »wir« übergehen. Hierbei homogenisiert Rorty den sozialen Raum, nimmt auf tendenziöse Weise an, daß keine tiefen sozialen Risse vorhanden sind, die konfligierende Solidaritäten und gegen-sätzliche »wir« zu erzeugen imstande sind. Aus diesem unterstell-ten Fehlen eines fundamentalen gesellschaftlichen Antagonismus ergibt sich, daß Politik eine Angelegenheit ist, bei der alle am gleichen Strang ziehen, um eine Reihe gemeinsamer Probleme zu lösen. Demnach kann Sozialtechnologie den politischen Kampf ersetzen. Unverbundene Flickschustereien an einer Abfolge an-geblich zusammenhangloser sozialer Probleme können an die Stelle einer Veränderung der grundlegenden institutionellen Struktur treten. Und der Experte für soziale Probleme und der Reformer auf dem Verordnungsweg können organisierte soziale Bewegungen ersetzen, in denen die Menschen ihre eigenen Inter-

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essen und Bestrebungen kollektiv artikulieren. So wird anstelle der Mitglieder der National Weifare Rights Organization oder etwa der Clamshell Alliance der Sozialarbeiter oder Sozialinge-nieur zum Prototyp des politisch Handelnden erhoben. Ohne tiefe Risse oder alles durchdringende Dimensionen der Herrschaft kann zudem die Praxis theoriefrei dahintreiben. Wenn in das grundlegende institutionelle Gefüge der Gesellschaft keine Me-chanismen der Unterordnung eingeschrieben sind, dann kann es a fortiori keinen Bedarf geben, über sie eine Theorie zu bilden. Folglich kann die Politik enttheoretisiert werden.

Diese kulturelle Landkarte setzt natürlich eine substantielle po-litische Diagnose voraus, die ich später diskutieren werde. Aber sie besitzt auch eine bemerkenswerte formale Eigenschaft: Rortys Konzeptionen der Politik und der Theorie bilden Gegenstücke. Ist die Theorie überindividualisiert und entpolitisiert, so ist die Politik übermäßig kommunalisiert und enttheoretisiert. So wie die Theorie reine poiesis wird, nähert sich die Politik der reinen techne an. Außerdem wird, so wie die Theorie zum Reservat der reinen Transzendenz gemacht wird, die Politik banalisiert, von Radikalis-mus und Verlangen entleert. Schließlich muß, so wie die Theorie zur Produktion neuer Metaphern ex nihilo wird, die Politik deren bloße Literalisierung sein; Politik darf nur Anwendung sein, nie-mals Erfindung. Es ist paradox, daß am Ende ein derart dichotomisches Bild aus einem Gedankengebäude resultieren soll, das zum Ziel hatte, sol-che landläufigen Dichotomien wie Theorie versus Praxis, Ästhetik versus Moral, Wissenschaft versus Literatur abzuschwächen. Es ist ebenfalls paradox, daß dasjenige, was ein politischer »Polylog« sein soll, zunehmend einem Monolog ähnelt.

Rorty macht nicht-liberale, oppositionelle Diskurse auf defi-nitorischem Wege zu nicht-politischen Diskursen. Er verbindet solche Diskurse mit der Romantik, mit der Suche nach dem Uner-forschten. Sie werden zu einem Vorrecht freischwebender Intel-lektueller gemacht, die von allgemein verbreiteten Vokabularen »gelangweilt« sind und sich nach »dem Neuen« und »dem Interes-santen« sehnen. Die radikalen Diskurse werden abgewandelt zu einer Absatzbewegung weg von den Anliegen des kollektiven Le-bens. Rorty gibt also dem Motiv für den oppositionellen Diskurs einen ästhetischen und unpolitischen Zuschnitt. Er besetzt das Subjekt eines solchen Diskurses mit dem einsamen, entfremdeten,

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heldenhaften Individuum. Und er beschreibt das Objekt oder das Thema der radikalen Diskurse als etwas - als irgend etwas das etwas anderes als die Bedürfnisse und Probleme des sozialen Kol-lektivs ist.

Mit den derart ästhetisierten und individualisierten - eigentlich ödipalisierten und maskulinisierten - radikalen Diskursen wird wiederum der politische Diskurs implizit entradikalisiert. Der po-litische Diskurs wird von Rorty faktisch auf diejenigen einge-schränkt, die die Sprache des bürgerlichen Liberalismus sprechen. Wer auch immer von diesem Vokabular abweicht, läßt einfach je-den Sinn für Solidarität vermissen. Entsprechend stellt sich her-aus, daß die Anhänger des bürgerlichen Liberalismus ein Monopol auf das Reden über Bedürfnisse des Gemeinwesens und über so-ziale Probleme innehaben. Wer immer das liberale Idiom meidet, muß wohl von etwas ganz anderem sprechen - vom individuellen Seelenheil vielleicht.

So werden in den jüngeren Essays von Rorty die soziale Solida-rität und die nicht-liberalen Diskurse als antithetisch angesehen. Der in der Solidarität wurzelnde und auf kollektive Anliegen ge-richtete Diskurs ist auf liberales Problemlösen beschränkt. Der nicht-liberale Diskurs dagegen wird auf das Ästhetische, auf das Unpolitische und auf den romantischen Individualismus redu-ziert.

Es ist klar, daß diese Art, das diskursive Terrain abzubilden, einige bezeichnende Ausschlüsse bewirkt. In Rortys theore-tischem Rahmen ist kein Platz für politische Motivation zur Erfin-dung neuer Idiome, kein Platz für Idiome, die erfunden werden, um das erzwungene Schweigen oder Verstummen benachteiligter sozialer Gruppen zu überwinden. Für kollektive Subjekte nicht-liberaler Diskurse gibt es gleichfalls keinen Platz, und daher gibt es keinen Platz für radikale Diskursgemeinschaften, die herrschende Diskurse in Frage stellen. Letztlich gibt es keinen Platz für nicht-liberale Interpretationen sozialer Bedürfnisse und kollektiver An-liegen und also keinen Platz für, sagen wir, sozialistisch-feministi-sche Politik. Alles in allem ist in Rortys theoretischem Rahmen kein Platz für genuin radikale politische Diskurse, die in oppositio-nellen Solidaritäten verwurzelt sind.

Infolgedessen kommt Rorty zu der Vermutung, es gebe nur ein einziges legitimes politisches Vokabular, und verrät dadurch seine eigene, ausdrückliche Verpflichtung auf eine polylogische Politik.

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Dies ist ebenfalls ein paradox anmutendes Ergebnis für ein Den-ken, das scheinbar stets darauf bestanden hatte, daß der Wahl des Vokabulars bei der Formulierung strittiger Fragen entscheidende Bedeutung zukommt. Rorty entzieht jedenfalls, was immer seine Absichten sein mögen, der Möglichkeit einer demokratischen ra-dikalen Politik den Boden, indem er das Private und das Öffent-liche, das vereinzelte Individuum und die homogene Gemein-schaft dichotomisiert.

Wie können wir diese Möglichkeit wieder ins Blickfeld rücken? Wie können wir eine Version des Pragmatismus zurückgewinnen, die mit radikaler Demokratie, polylogischem, nicht-normalem politischen Diskurs und sozialistisch-feministischer Politik ver-einbar ist?

6. Ein Rezept für einen demokratisch, sozialistisch und feministisch verstandenen Pragmatismus

Rorty hat kürzlich das Ziel seiner letzten Essays so zusammenge-faßt: » . . . die >Postmoderne< von politischem Radikalismus, die Polemik gegen die >Metaphysik der Präsenz< von der Polemik ge-gen die >Metaphysik der Präsenz< von der Polemik gegen die >bügerliche Ideologie<, die Kritik an Rationalismus und Universa-

lismus der Aufklärung von der Kritik am liberalen, reformisti-schen, politischen Denken zu trennen.«25

Meine Absicht in diesem Kapitel möchte ich demgegenüber so zusammenfassen: den Pragmatismus vom Liberalismus des kalten Kriegs, die Polemik gegen die traditionelle fundamentalistische Philosophie von der Polemik gegen die Sozialtheorie und die Kri-tik an der romantischen, Sorelschen Politik von der Kritik an der radikal demokratischen-sozialistischen-feministischen Politik zu trennen.

Ich möchte zum Abschluß ganz grob skizzieren, wie eine solche Trennung erreicht werden kann. Da es darum geht, zu zeigen, daß in der Tat auseinandergebracht werden kann, was Rorty vereint hat, wird meine Skizze ein Rezept für eine alternative Verbindung, für einen demokratischen-sozialistischen-feministischen Pragma-tismus, sein.26

Beginnen wir mit einer Art Nullpunkt-Pragmatismus, der mit einer großen Vielfalt substantieller politischer Ansichten, mit dem

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sozialistischen Feminismus ebenso wie mit dem bürgerlichen Li-beralismus, zu vereinbaren ist. Dieser Pragmatismus ist einfach ein Antiessentialismus in bezug auf traditionelle philosophische Konzepte wie Wahrheit und Vernunft, menschliche Natur und Moral.27 Er enthält ein Verständnis des historisch und sozial ge-bildeten Charakters solcher Kategorien und der Praktiken, von denen sie ihren Sinn erhalten, und deutet dadurch die abstrakte Möglichkeit sozialen Wandels zumindest an. Dieser Nullpunkt-Pragmatismus ist eine nützliche, obgleich kaum ausreichende Zu-tat zum sozialistischen Feminismus.

Dann fügen wir eine Art Nullpunkt-Holismus hinzu, der sich leicht mit radikaler demokratischer Politik verbinden läßt. Dieser Holismus ist einfach der Sinn für den Unterschied, der zwischen dem Kontext einer sozialen Praxis und einem Schritt in dieser Praxis besteht. Er beinhaltet ein Verständnis davon, wie im Hin-tergrund situierte Institutionen und Gewohnheiten die vorder-gründigen Möglichkeiten, die den Individuen im sozialen Leben gegeben sind, vorstrukturieren. Der Nullpunkt-Holismus führt nicht notwendigerweise zu konservativer Politik. Im Gegenteil, er ist eine unerläßliche Zutat zu jeglicher Politik, die nicht bloß eine Nachbesserung, sondern eine radikale soziale Umgestaltung an-strebt.

Als nächstes fügen wir einen geschärften Sinn für die entschei-dende Bedeutung der Sprache im politischen Leben hinzu. Wir mischen ihn mit dem Pragmatismus und Holismus, bis eine Un-terscheidung zwischen der Artikulation einer politischen Forde-rung in einem für selbstverständlich gehaltenen Vokabular und dem Überwechseln in ein anderes Vokabular zustande gekommen ist. Diese Unterscheidung schafft Raum für jene weitreichenden Neubeschreibungen des sozialen Lebens, die das Herzstück jeder neuen politischen Vision, vom bürgerlichen Liberalismus über den Marxismus bis zum zeitgenössischen Feminismus, bilden. Diese Unterscheidung erlaubt auch die konflikthafte Wechselwir-kung zwischen konkurrierenden politischen Vokabularen. Sie macht daher denjenigen robusten, polylogischen, nicht-normalen Diskurs vorstellbar, der für die radikale demokratische Politik in einer multikulturellen Gesellschaft wesentlich ist.

Nun fügen wir eine Sichtweise der heutigen Gesellschaften hinzu, die weder übermäßig individualisiert noch übermäßig kommunalisiert ist. Diese Sicht sollte soziale Teilungen berück-

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sichtigen, die imstande sind, vielfältige, konkurrierende Solida-ritäten und vielfältige, konkurrierende politische Vokabulare hervorzubringen. Sie sollte auch Ungleichheit und Macht berück-sichtigen. Deshalb sollte sie vorherrschende von nachgeordneten Solidaritäten, hegemoniale von gegenhegemonialen Vokabularen unterscheiden. Diese Sicht der Gesellschaft sollte mit den vorher-gehenden Zutaten gemischt werden, um einen geschärften Sinn für soziale Auseinandersetzungen auszubilden.

Die soziale Auseinandersetzung wiederum sollte allgemein so aufgefaßt werden, daß sie Kämpfe um kulturelle Bedeutungen und soziale Identitäten genauso einschließt wie Kämpfe um im engeren Sinn traditionelle politische Ziele wie öffentliche Posten und die Gesetzgebung. Sie sollte Kämpfe um die kulturelle Hegemonie mit einschließen, Kämpfe um die Macht, maßgebende Definitio-nen sozialer Situationen und legitime Interpretationen sozialer Bedürfnisse zu konstruieren. Dieser umfassende Sinn von sozialer Auseinandersetzung erlaubt eine Kulturpolitik, die sich über die traditionellen Einteilungen in öffentliches und privates Leben hin-wegsetzt. Sie läßt auch die Möglichkeit radikaler demokratischer sozialer Bewegungen zu: breite, informell organisierte, kollektive Formationen, in denen Politik und Dichtung ein stetes Konti-nuum bilden, da die Kämpfe um soziale Gerechtigkeit in die Entfesselung von Kreativität hinüberspielen.

Nun fügen wir eine Ansicht vom sozialen Wandel hinzu, die ihn weder als von einer autonomen historischen Logik determiniert noch als einfach kontingent und völlig unerklärlich auffaßt. Die Träger des historischen Wandels müssen eher als soziale Bewegun-gen denn als außergewöhnliche Individuen betrachtet werden. Vermeiden wir einen streng dichotomischen Gegensatz zwischen der gewohnten Fortsetzung des immergleichen Spiels und dem vollkommenen Neuanfang bei Null, zwischen langweiliger, stabi-ler, erstarrter Normalität und dem plötzlichen Blitz der Erneue-rung aus heiterem Himmel. Genauso sollten wir eine Dichotomie zwischen Erfindung und bloßer Anwendung, zwischen dem bis-her Undenkbaren und seiner Routine vermeiden. Statt dessen sollten wir diese Extreme in der gesellschaftlichen Praxis sozialer Bewegungen vermittelt sehen. Eine solche Praxis kann die Kluft zwischen dem Alten und dem Neuen überbrücken, als Anwen-dung, die gleichzeitig immer auch Erfindung ist. Diese Auffassung berücksichtigt die Möglichkeit einer radikalen Politik, die keine

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Sorelsche ist, die nicht der Ausdruck des elitären und männlichen Willens zum Ganz-Anderen ist. Sie berücksichtigt die Möglichkeit einer radikalen demokratischen Politik, in der sich immanente Kritik und verklärende Sehnsucht miteinander mischen.

Als nächstes fügen wir eine Sichtweise hinzu, derzufolge die heutigen Gesellschaften (ungeachtet ihrer Vielfalt und Konflikt-haftigkeit) um einen grundlegenden institutionellen Kern herum organisiert sind. Jede genaue Charakterisierung der Struktur die-ses institutionellen Gefüges wird selbstverständlich anfechtbare politische Festlegungen und ein bestreitbares politisches Vokabu-lar voraussetzen. Trotzdem wollen wir annehmen, daß unter den Kandidaten für Kernbestandteile dieses Gefüges Zutaten wie die folgenden sind: eine Organisation der gesellschaftlichen Produk-tion, die auf privaten Profit hin ausgerichtet ist und weniger auf die menschlichen Bedürfnisse; eine soziale Arbeitsteilung auf ge-schlechtlicher Grundlage, die privatisiertes Kinderaufziehen von anerkannter und entlohnter Arbeit trennt; geschlechtlich und ras-sisch segmentierte Märkte für bezahlte Arbeit, die eine marginali-sierte Unterklasse erzeugen; ein System von Nationalstaaten, die es mit Krisenmanagement in Form von punktuell gewährten Zu-geständnissen bei der sozialen Sicherung und in Form von subven-tionierter Kriegsproduktion zu tun haben.

Dazu nehmen wir noch die Möglichkeit, daß der grundlegende institutionelle Rahmen der Gesellschaft ungerecht sein könnte, daß er systematisch zum Nachteil einiger sozialer Gruppen und zum Gewinn anderer arbeiten könnte. Vermengen wir das mit den vorherigen Zutaten, um einen Sinn für den möglichen politischen Nutzen einer kritischen Sozialtheorie auszubilden. Bedenken wir beispielsweise die Nützlichkeit einer Theorie, die Verbindungen zwischen scheinbar zusammenhanglosen sozialen Problemen ver-mittelst der institutionellen Grundstruktur genau anzugeben ver-mag und die dadurch zeigt, »wie Dinge im umfassendsten Sinne miteinander im umfassendsten Sinne zusammenhängen«.28 Oder bedenken wir die Nützlichkeit einer Sozialtheorie, die imstande ist, systemkonforme Reformen, die Ungerechtigkeiten fortschrei-ben, einerseits und radikale und ermächtigende soziale Verände-rungen andererseits zu unterscheiden.

Als nächstes kommen einige Unterscheidungen zwischen ver-schiedenen Arten von Theorien hinzu. Wir sollten zum Beispiel traditionelle, ahistorische, fundamentalistische Theorien, wie sie

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sich in der Erkenntnistheorie oder der Moralphilosophie finden, von den ironistisch-pragmatischen Metatheorien unterscheiden, die sie kritisieren. Dann unterscheiden wir von diesen beiden eine dritte Art der Theorie, nämlich die eigenständige Sozialtheorie erster Ordnung, die nicht-fundamentalistisch, fallibilistisch und historisch spezifisch ist. Nun verwenden wir diese Unterschei-dungen, um zu verhindern, daß das Kind der kritischen Sozial-theorie mit dem Bade der traditionellen Philosophie ausgeschüttet wird. Wir verwenden sie auch, um zu vermeiden, daß die Sozial-theorie mit dem Heideggerianischen Umschlag ins Triviale, mit privater Ironie oder mit ödipaler Ausgelassenheit verschmolzen wird. Statt dessen sollten wir diese Unterscheidungen nutzen, um Raum zu schaffen für die politisch relevante, radikale Sozialtheo-rie, mithin für eine theoretisch informierte, radikale demokrati-sche Politik.

Dann fügen wir eine nicht-leninistische, nicht-avantgardisti-sche Konzeption der Rolle von Intellektuellen in der radikalen, linksgerichteten demokratischen Politik hinzu. Solche Intellektu-elle sollten wir uns zuallererst als Mitglieder sozialer Gruppen und als Teilnehmer in sozialen Bewegungen vorstellen. Mit anderen Worten, wir stellen sie uns eher als Intellektuelle vor, die angebbare Stellen im sozialen Raum einnehmen, denn als freischwebende Individuen, die sich jenseits der Ideologie befinden. Außerdem sollten wir uns vor Augen führen, daß sie infolge der gesellschaft-lichen Arbeitsteilung einige politisch nützliche berufliche Fähig-keiten erworben haben: Beispielsweise die Fähigkeit, nachzuwei-sen, wie das Wohlfahrtssystem die Feminisierung der Armut institutionalisiert oder wie ein Gedicht seinem Gegenstand ein orientalisches Gepräge gibt. Wir sollten meinen, daß sie potentiell in der Lage sind, diese Fähigkeiten sowohl in spezialisierten Insti-tutionen wie den Universitäten als auch in den unterschiedlichsten größeren kulturellen und politischen Öffentlichkeiten zu gebrau-chen. Stellen wir sie uns als Teilnehmer an den Kämpfen um kulturelle Hegemonie vor, die an verschiedenen Fronten stehen. Stellen wir sie uns, leider, auch als Menschen vor, die durchaus dem Größenwahn erliegen und die in engem Kontakt mit ihren politischen Mitstreitern, die beruflich keine Intellektuellen sind, bleiben müssen, um einen kühlen Kopf zu bewahren, um normal und bescheiden zu bleiben.

Verbinden wir diese Zutaten mit einer nicht-individualistischen,

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nicht-elitären, nicht-maskulinen utopischen Vision. Artikulieren wir diese utopische Vision in den Begriffen der Beziehungen zwi-schen menschlichen Wesen, anstatt in den Begriffen von Indivi-duen, die als getrennte Monaden betrachtet werden. Stellen wir uns neue Beziehungen von Arbeit und Spiel, Staatsbürgerstatus und Elternschaft, Freundschaft und Liebe vor. Dann sollten wir überlegen, was für ein institutionelles Gefüge benötigt werden würde, um solche Beziehungen zu fördern. Versetzen wir diese Beziehungen in das institutionelle Gefüge einer klassenlosen, multikulturellen Gesellschaft ohne Rassismus, Sexismus oder He-terosexismus - eine internationale Gesellschaft dezentralisierter, demokratischer, selbstverwalteter Kollektive.

Alle genannten Zutaten sind zusammenzufügen und nach Ge-schmack mit sozialer Hoffnung zu würzen. Garniert wird das ganze mit der gerade richtigen Mischung aus dem Pessimismus des Intellekts und dem Optimismus des Willens.

Anmerkungen

Ich danke Jonathan Arac sowohl für den vorgeschlagenen Titel als auch für die Einladung, die mir die Gelegenheit gab, diesen Aufsatz zu schreiben. Ich profitierte von hilfreichen Diskussionen mit Jonathan Arac, Sandra Bartky, Jerry Graff, Carol Kay, Tom McCarthy, Linda Nicholson, Joe Rouse, Michael Williams und Judy Wittner und von den anregenden Fra-gen aus dem Publikum am English Institute, Harvard University, im August 1987. Richard Rorty überließ mir großzügigerweise eine Reihe un-veröffentlichter Fassungen von Texten, die hier zitiert werden.

1 Richard Rorty, Private Ironie und liberale Hoffnung, in: ders., Kon-tingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a. M. 1989, S. 138.

2 Es ist sinnvoll, daran zu erinnern, daß Harold Bloom einer der Helden Rortys ist, insbesondere der Bloom von The Anxiety of Influence, New York 1973. Meine eigene Sicht des maskulinen Charakters von Rortys romantischem Impuls wurde beeinflußt durch die feministische Kritik an Bloom von Sandra M. Gilbert und Susan Gubar, in: The Madwo-man in the Attic. The Woman Writer and the Nineteenth-Century Literary Imagination, New Haven, Conn. 1979.

3 Hier gibt Rorty lediglich Shelly wieder, siehe Rorty, Philosophy as Science, as Metaphor, and as Politics, in: Avner Cohen/Marcelo Dascal (Hg.), The Institution of Philosophy: A Discipline in Crisis?, La Salle 1989, S. 13-33. [Der Aufsatz ist auch abgedruckt in: Rorty, Essays on

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Heidegger and Others. Philosophical Papers 2, Cambridge 1991; eine kürzere, ältere dt. Fassung findet sich in: Michael Benedikt/Rudolf Burger (Hg.), Die Krise der Phänomenologie und die Pragmatik des Wissenschaftsfortschritts, Wien 1986, S. 138-149. Anm. d.U.].

4 Rorty, The Contingency of Community, in: London Review of Books vom 24. 7. 1986, S. 1 1 , S. 13. Eine überarbeitete Fassung erschien in Contingency, Irony, and Solidarity, dt. Die Kontingenz eines liberalen Gemeinwesens, in: Kontingenz, Ironie und Solidarität, a. a. O., S. 84-

123. 5 Sorel als die Personifizierung dieser Möglichkeit zu nehmen, ist nicht

Rortys Wahl, sondern meine. Rorty neigt vielmehr dazu, diese Mög-lichkeit in Lenin personifiziert zu sehen. Nach meiner Ansicht eignet sich Lenin hier weniger als Sorel. Die »Soziologie«, »Handlungstheo-rie« und »Geschichtsphilosophie«, die ich skizziert habe, weisen wenig Ähnlichkeiten mit Lenin, aber viele mit Sorel auf. Überdies ist Sorel, in den Standardbegriffen von »rechts« und »links« gefaßt, viel zweideuti-ger. Das erfaßt besser die Art politischer Romantik, wie ich sie hier zu charakterisieren versuche. Schließlich ist Rortys Wahl von Lenin als die Personifizierung einer Amok laufenden Romantik eine antimarxisti-sche politische Geste, die ich hier nicht wiederholen will. Rorty bezeugt im allgemeinen weder ein Bewußtsein von der Tradition des westlichen Marxismus noch von den Versuchen innerhalb des Marxis-mus, Alternativen zu den avantgardistischen Konzeptionen des Ver-hältnisses von Theorie und Praxis zu finden.

6 Rorty, Solidarität oder Objektivität?, in: ders., Solidarität oder Objek-tivität? Drei philosophische Essays, Stuttgart 1988.

7 Rorty, Der Vorrang der Demokratie vor der Philosophie, in: ders., Solidarität oder Objektivität, a .a .O. , S. 107f.; und From Logic to Language to Play, in: Proceedings and Addresses of the American Phi-losophical Association 59, Nr. 5/Juni 1986, S. 747-753.

8 Rorty, Die Kontingenz eines liberalen Gemeinwesens, a .a .O. , S. 110 [Übers, geringfügig geändert, Anm. d.U.].

9 Rorty, The Contingency of Community, a. a. O., S. 14. 10 Rorty, Private Ironie und liberale Hoffnung, a .a .O. , S. 152,

S. 160 f. 11 Rorty, Liberal Hope and Private Irony, unveröffentlichtes Manu-

skript. 12 Rorty, Private Ironie und liberale Hoffnung, a. a. O., S. 149-156. 13 Rorty, Habermas and Lyotard on Postmodernity, in: Richard J. Bern-

stein (Hg.), Habermas and Modernity, Cambridge, Mass. 1985; Method, Social Science, and Social Hope, in: Consequences of Pragma-tisms: Essays, 19/2-1980, Minneapolis 1982; und Thugs and Theorists: A Reply to Bernstein, in: Political Theory 15, Nr. 4/November 1987, S. 564-580.

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14 Rorty, Philosophy as Science, as Metaphor, and as Politics, a. a. O. 15 Rorty, Der Vorrang der Demokratie vor der Philosophie, a .a .O. ,

S. 106. 16 Rorty, Habermas and Lyotard on Postmodemity, a .a .O. , S. 175. 17 Rorty, Selbsterschaffung und Affiliation: Proust, Nietzsche, Heideg-

ger, in: Kontingenz, Ironie und Solidarität, a .a .O. , S. 168f., S. 184, S. 190, S. 196-201.

18 Ebenda, S. 199ff. 19 Michael Williams bin ich für den Hinweis dankbar, daß Rorty hier den

Intellektuellen als einen Ästheten sieht. 20 Rorty, Posties, in: London Review of Books vom 3. Sept. 1987, S. 11 . 21 Rorty, Private Ironie und liberale Hoffnung, a. a. O., S. 157L 22 Dieses Problem wird in Mills On Liberty gestellt, aber auf keine Weise

gelöst. 23 Ich verwende hier den Ausdruck »offiziell politisch«, um die Existenz

sozialer Arenen anzuzeigen, die obgleich nicht offiziell als politisch anerkannt, gleichwohl als politisch verstanden werden sollten. Eine Diskussion dieser Problematik findet sich im achten Kapitel dieses Bandes.

24 Auf dem machtgeladenen und deshalb politischen Charakter dieser Ge-genstände zu bestehen bedeutet nicht zwangsläufig, eine unbe-schränkte Intervention des Staats zu rechtfertigen. An deren Stelle kann man den Einsatz von nicht-staatlichen Gegenmächten wie sozia-len Bewegungen und demokratischen politischen Assoziationen favo-risieren. Das ist die Meinung vieler Feministinnen, mich selbst einge-schlossen, über Pornographie: Pornographie, die Frauen eher in einer indirekten als in einer direkten Weise verletzt, wird besser mit Boykot-ten, Streikposten, Gegenpropaganda und Bewußtmachung bekämpft als durch staatliche Zensur.

25 Rorty, Thugs and Tbeorists, a. a. O. 26 Die Rezeptform hat einige Vorteile, nicht zuletzt deshalb, weil sie auf

eine gewisse Geschlechter-Resonanz stößt. Indem ich dieses Genre wähle, nehme ich Rortys implizite Assimilierung der Theoriebildung an die Hausarbeit ernst. Für mich heißt das jedoch, die Hausarbeit zu entprivatisieren, anstatt die Theorie zu privatisieren. Die Rezeptform empfiehlt auch einen nicht-technokratischen und genuin pragmati-schen Blick auf das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis. Denn von Köchen wird erwartet, daß sie Rezepte nach Versuch und Irrtum, In-spiration und je nach dem Zustand der Speisekammer variieren. Letzt-lich hat die Form des Rezepts den Vorteil, das Ergebnis als eine Zubereitung auszugeben und weniger als ein System oder eine Syn-these, so vermeidet sie die hyperbolischen Formen der theoretischen Totalisierung, denen gegenüber die demokratische Linke zu Recht miß-trauisch geworden ist.

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27 Rorty, Pragmatism, Relativism, and Irrationalism, in: Consequences of Pragmatism, a .a .O. , S. 162.

28 Dies ist eine der von Rorty bevorzugten positiven Charakterisierungen der Philosophie. Er schreibt sie Wilfred Seilars zu. [Rorty zitiert W. Seilars in Consequences of Pragmatism, a. a. O., S. XIV, Anm. d. U.].

III

Die Geschlechterdimension und die Politik der Bedürfnisinterpretation

Kapitel 6

Was ist kritisch an der Kritischen Theorie? Habermas und die Geschlechterfrage

Meines Erachtens hat bis heute niemand Marx' Definition einer kritischen Theorie von 1843 verbessert, in der diese als »Selbstver-ständigung (kritische Philosophie) der Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche« bestimmt wird.1 Was diese Definition so attraktiv macht, ist ihr ausgesprochen politischer Charakter. Sie erhebt kei-nen Anspruch auf irgendeinen speziellen epistemologischen Sta-tus, sondern setzt voraus, daß es hinsichtlich ihrer Berechtigung keinen philosophisch interessanten Unterschied zwischen einer kritischen und einer unkritischen Theorie der Gesellschaft gibt. Gleichwohl gibt es dieser Definition zufolge einen bedeutenden politischen Unterschied zwischen ihnen. Eine kritische Sozial-theorie entwirft ihr Forschungsprogramm und ihren konzeptuel-len Rahmen mit Blick auf die Ziele und Aktivitäten solcher oppositionellen sozialen Bewegungen, mit denen sie sich partei-nehmend, obwohl nicht unkritisch, identifiziert. Die Fragen, die sie stellt, und die Modelle, die sie entwirft, sind von dieser Identi-fikation und diesem Interesse mitgeprägt. So würde zum Beispiel, wenn die Kämpfe gegen die Unterordnung der Frauen zu den wichtigsten einer bestimmten Zeit zählen würden, eine kritische Sozialtheorie für diese Zeit unter anderem darauf abzielen, Licht in die Eigenart und Grundlagen einer solchen Unterordnung zu bringen. Sie würde Kategorien und Erklärungsmodelle verwen-den, die uns Zusammenhänge männlicher Herrschaft und weib-licher Unterordnung eher aufdeckten als verschlössen. Und sie würde rivalisierende Ansätze, die diese Zusammenhänge verdun-keln oder rationalisieren, als ideologisch entmystifizieren. Bei dieser Ausgangslage wäre einer der Bewertungsmaßstäbe für eine kritische Theorie - nachdem sie allen üblichen Tests empirischer Angemessenheit ausgesetzt war: Wie gut erfaßt die Theorie die Situation und die Aussichten der feministischen Bewegung? In welchem Ausmaß dient sie der Selbstverständigung der Kämpfe und Wünsche der Frauen heute?

Im folgenden werde ich die Konzeption einer kritischen Theorie

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voraussetzen, die ich soeben umrissen habe. Außerdem werde ich das als hypothetisch skizzierte Szenario als tatsächliche Situation auffassen. Auf der Basis dieser Vorannahmen möchte ich die kriti-sche Sozialtheorie von Jürgen Habermas, wie sie in der Theorie des kommunikativen Handelns und in den damit verbundenen neue-ren Schriften ausgearbeitet worden ist, untersuchen.2 Ich beab-sichtige, dieses Werk vom Standpunkt einiger spezifischer Fragen aus zu lesen: In welchem Umfang und in welchen Hinsichten klärt und/oder mystifiziert Habermas' kritische Theorie die Grundla-gen männlicher Herrschaft und weiblicher Unterordnung in mo-dernen Gesellschaften? In welchem Umfang und in welchen Hinsichten spricht sie sich gegen allgemein verbreitete ideologi-sche Rationalisierungen solcher Herrschaft und Unterordnung aus und/oder wiederholt sie diese? In welchem Ausmaß dient sie der Selbstverständigung von Kämpfen und Wünschen der heuti-gen Frauenbewegung oder in welchem Ausmaß kann sie ihr die-nen? Kurz gesagt, mit Hinblick auf die Geschlechterfrage, was ist kritisch und was ist unkritisch an Habermas' Sozialtheorie?

Das wäre ein recht einfaches Vorhaben, gäbe es nicht die eine Schwierigkeit: Abgesehen von einer kurzen Diskussion des Femi-nismus als einer »neuen sozialen Bewegung« (eine Diskussion, auf die ich noch eingehen werde) sagt Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns im Grunde genommen nichts über die Geschlechterfrage. Nun ist dies, meiner Sicht einer kritischen Theorie entsprechend, ein ernsthafter Mangel. Aber er muß der Art von Untersuchung, wie ich sie vorschlage, nicht im Weg ste-hen. Er nötigt schlicht dazu, daß man das fragliche Werk vom Standpunkt eines nichtvorhandenen Textes aus liest, daß man von Dingen, die Habermas sagt, auf Dinge schließt, die er nicht sagt; daß man rekonstruiert, wie verschiedene Gegenstände von femini-stischem Belang in seiner Perspektive erscheinen würden, wären solche Gegenstände thematisiert worden.

So untersuche ich in Abschnitt 1 dieses Essays einige Elemente des sozialtheoretischen Rahmens von Habermas, um herauszufin-den, welche Rolle dem Aufziehen von Kindern und der Kleinfami-lie mit männlichem Oberhaupt tendenziell zugedacht wird. In Abschnitt 2 werfe ich einen Blick auf seine Darstellung der Bezie-hungen zwischen öffentlichen und privaten Lebenssphären in klassischen kapitalistischen Gesellschaften und versuche, den un-terlegten, unthematisierten Geschlechtertext zu rekonstruieren.

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Und schließlich betrachte ich in Abschnitt 3 eingehend Habermas' Einschätzung der Dynamiken, Krisentendenzen und Konfliktpo-tentiale, die für den heutigen wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus des Westens charakteristisch sind, damit ersichtlich wird, in wel-ches Licht diese Einschätzung die gegenwärtigen feministischen Kämpfe rückt.3

1. Der sozialtheoretische Rahmen: Eine feministische Überprüfung

Ich will damit anfangen, zwei für den kategorialen Rahmen der Habermasschen Sozialtheorie zentrale Unterscheidungen genauer zu betrachten. Die erste der beiden Unterscheidungen ist die Un-terscheidung zwischen der symbolischen Reproduktion und der materiellen Reproduktion von Gesellschaften. Auf der einen Seite, behauptet Habermas, müssen Gesellschaften sich selbst materiell reproduzieren. Sie müssen den stofflichen Austausch von Grup-pen biologischer Individuen mit einer nicht-humanen, natür-lichen Umwelt und mit anderen sozialen Systemen erfolgreich regeln. Auf der anderen Seite müssen sich Gesellschaften symbo-lisch reproduzieren; sie müssen die sprachlich artikulierten Nor-men und Interpretationsmuster, die für soziale Identitäten konsti-tutiv sind, wahren und an neue Mitglieder vermitteln. Habermas behauptet, daß die materielle Reproduktion einschließt, was er »gesellschaftliche Arbeit« nennt. Die symbolische Reproduktion andererseits beinhaltet die Sozialisation der Heranwachsenden, die Verfestigung der Gruppensolidarität und die Weitergabe und Fortführung kultureller Traditionen.4

Die Unterscheidung zwischen symbolischer und materieller Reproduktion ist in erster Linie eine funktionale: sie unterscheidet zwei verschiedene Funktionen, die mehr oder weniger erfolgreich erfüllt werden müssen, will eine Gesellschaft überleben. Gleich-zeitig jedoch verwendet Habermas diese Unterscheidung, um reale soziale Praktiken und Tätigkeiten zu klassifizieren. Diese Praktiken und Tätigkeiten werden nach derjenigen der beiden Funktionen unterschieden, die von ihnen ausschließlich oder vor-rangig erfüllt werden soll. Folgt man Habermas, so zählen Tätig-keiten und Praktiken in kapitalistischen Gesellschaften, welche die Sphäre bezahlter Arbeit ausmachen, zu den Tätigkeiten der

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materiellen Reproduktion. Denn nach seiner Auffassung sind sie »gesellschaftliche Arbeit« und dienen der Funktion materieller Reproduktion. Auf der anderen Seite werden die Tätigkeiten und Praktiken des Kinderaufziehens, die in unserer Gesellschaft unbe-zahlt von Frauen im häuslichen Bereich verrichtet werden - wir können sie die »unbezahlte Arbeit des Kinderaufziehens durch Frauen« nennen -, als Tätigkeiten der symbolischen Reproduk-tion verstanden. Denn sie dienen nach Habermas der Sozialisation und der Funktion symbolischer Reproduktion.5

Ich glaube, es muß beachtet werden, daß Habermas' Unter-scheidung zwischen der symbolischen und der materiellen Repro-duktion für zwei verschiedene Interpretationen offen ist. Die erste faßt die beiden Funktionen als zwei objektiv verschiedenartige »natürliche Sachen« auf. Diesen können die realen sozialen Prak-tiken und die tatsächliche Organisation der Tätigkeiten in jeder gegebenen Gesellschaft mehr oder weniger genau entsprechen. Demnach wären die Praktiken des Kinderaufziehens an sich Prak-tiken symbolischer Reproduktion, wohingegen die Praktiken, die der Erzeugung von Nahrung und Gegenständen dienen, an sich Praktiken materieller Reproduktion wären. Und die moderne ka-pitalistische Gesellschaftsorganisation - anders als, sagen wir, die-jenige archaischer Gesellschaften - wäre ein getreues Spiegelbild der Unterscheidung zwischen den zwei »natürlichen Sachen«, denn sie trennt diese Praktiken institutionell. Diese naturalistische Interpretation verträgt sich nicht mit einer anderen möglichen In-terpretation, die ich die »pragmatisch-kontextuelle« Interpreta-tion nennen möchte. Sie würde die Praktiken des Kinderaufzie-hens nicht als an sich symbolische, reproduktive Praktiken auffassen, sondern ließe die Möglichkeit zu, daß es unter be-stimmten Umständen und bei vorgegebenen Zielsetzungen ange-bracht sein könnte, sie vom Standpunkt der symbolischen Repro-duktion aus zu betrachten. Beispielsweise dann, wenn jemand vorhätte, die in einer sexistischen politischen Kultur vorherr-schende Sichtweise zu bekämpfen, die die traditionelle weibliche Beschäftigung lediglich instinktmäßig, naturgegeben und ahisto-risch auffaßt.

Ich möchte nun zeigen, daß die naturalistische Interpretation konzeptionell unzureichend und potentiell ideologisch ist. Es ist nicht der Fall, daß die Praktiken des Kinderaufziehens der symbo-lischen im Unterschied zur materiellen Reproduktion dienen.

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Zugegeben, sie umfassen die Spracherziehung und die Initiation in soziale Sitten - aber auch Füttern, Baden und Schutz vor physi-scher Schädigung. Zugegeben, sie regeln die Interaktionen der Kinder mit anderen Menschen - aber ebenso ihre Interaktionen mit der äußeren Natur (z.B. in der Form von Milch, Keimen, Schmutz, Exkrementen, Witterung und Tieren). Kurz, nicht nur der Aufbau der sozialen Identitäten von Kindern, sondern auch ihr biologisches Uberleben steht auf dem Spiel - und eben deshalb auch das biologische Überleben der Gesellschaft, der sie angehö-ren. Folglich ist das Kinderaufziehen nicht per se eine symbolische Reproduktionstätigkeit, es ist in gleichem Maße und zur selben Zeit auch eine Tätigkeit der materiellen Reproduktion. Wir kön-nen sie also eine Tätigkeit mit »zweifachem Aspekt« nennen.6

Indes trifft das gleiche für die Tätigkeiten zu, die modern und kapitalistisch als bezahlte Arbeit institutionalisiert sind. Zugege-ben, die Erzeugung von Nahrung und Gegenständen trägt zum biologischen Überleben der Gesellschaftsmitglieder bei. Aber sie reproduziert gleichzeitig soziale Identitäten. Es werden nicht Nahrung und Unterkunft schlechthin hergestellt, sondern kultu-rell ausgebildete Formen der Nahrung und Unterkunft, die sym-bolisch vermittelte soziale Bedeutungen haben. Darüber hinaus vollzieht sich eine solche Produktion über kulturell ausgebildete Sozialbeziehungen und symbolisch vermittelte, normengeleitete soziale Praktiken. Die Inhalte dieser Praktiken wie auch ihre Er-gebnisse dienen dazu, die sozialen Identitäten von Personen, die direkt einbezogen oder indirekt betroffen sind, zu formen, zu erhalten und zu verändern. Man muß nur an eine Tätigkeit wie das Programmieren von Computern gegen Bezahlung in der pharma-zeutischen Industrie (der USA) denken, um den durchaus symbo-lischen Charakter »gesellschaftlicher Arbeit« richtig einzuschät-zen. Daher ist eine solche Arbeit, ebenso wie die unbezahlte Arbeit des Kinderaufziehens, eine Tätigkeit mit »zweifachem Aspekt«.7

Dementsprechend kann eine Unterscheidung zwischen der un-bezahlten Frauenarbeit des Kinderaufziehens und anderen Ar-beitsformen, die in Begriffen der Reproduktionsfunktionen ge-troffen wird, keine Unterscheidung natürlicher Sachen sein. Wenn überhaupt irgendeine Unterscheidung getroffen werden soll, dann muß es vielmehr eine pragmatisch-kontextuelle sein, um das in den Blickpunkt zu rücken, was in beiden Fällen tatsächlich nur ein

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Aspekt eines zwei Aspekte umfassenden Phänomens ist. Dies wie-derum muß durch den Bezug auf spezifische Absichten der Ana-lyse und Beschreibung gewährleistet werden, die selbst der Ana-lyse und Beurteilung zugänglich sind und die darum argumentativ gerechtfertigt werden müssen.

Wenn das zutrifft, dann ist die naturalistische Klassifikation des Kinderaufziehens als symbolische Reproduktion und anderer Ar-beit als materielle Reproduktion potentiell ideologisch. Sie kann beispielsweise zur Legitimierung der institutionellen Trennung des Kinderaufziehens von der bezahlten Arbeit genutzt werden, einer Trennung, die viele Feministinnen, ich selbst eingeschlossen, als einen Angelpunkt moderner Formen weiblicher Unterordnung betrachten. In Verbindung mit anderen Annahmen kann sie dazu dienen, der Beschränkung von Frauen auf eine »separate Sphäre« Legitimation zu verschaffen. Der Frage, ob Habermas selbst sie zu solchen Zwecken verwendet, wird gleich nachgegangen werden.

Die zweite Komponente aus dem Habermasschen Theoriege-rüst, die ich untersuchen will, ist seine Unterscheidung zwischen »sozial integrierten Handlungskontexten« und »systemisch inte-grierten Handlungskontexten«. Sozial integrierte Handlungskon-texe sind solche, in denen verschiedene Aktoren ihre Handlungen miteinander koordinieren, indem sie Bezug nehmen auf eine Art expliziten oder impliziten intersubjektiven Konsens über Nor-men, Werte und Ziele, wobei dieser Konsens auf die sprachliche Rede und Interpretation gegründet ist. Systemisch integrierte Handlungskontexte auf der anderen Seite sind solche, in denen die Handlungen verschiedener Aktoren durch die funktionalen Ver-schränkungen nicht-intendierter Folgen miteinander koordiniert sind, während jede individuelle Handlung von selbstbezüglichen, nutzenmaximierenden Berechnungen bestimmt ist, die typischer-weise in den Idiomen - oder wie Habermas sagt, in den Medien -von Geld und Macht angestellt werden.8 Habermas betrachtet das kapitalistische ökonomische System als den paradigmatischen Fall eines systemisch integrierten Handlungskontexts. Demgegenüber hält er die moderne Kleinfamilie für einen Fall des sozial integrier-ten Handlungskontexts.9

Nun ist diese Unterscheidung ziemlich komplex. Wie ich sie verstehe, enthält sie sechs analytisch unterscheidbare konzeptuelle Elemente: Funktionalität, Intentionalität, Sprachlichkeit, Kon-sensualität, Normativität und strategische Einstellung. Ich werde

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indes die Elemente der Funktionalität, Intentionalität und Sprach-lichkeit beiseite lassen. Im Anschluß an einige Argumente, die von Thomas McCarthy in einem anderen Kontext entwickelt wurden, gehe ich davon aus, daß am kapitalistischen Arbeitsplatz und in der modernen Kleinfamilie gleichermaßen die Handlungsfolgen funktional so verflochten sein können, wie es von den Aktoren nicht beabsichtigt ist; daß gleichzeitig in beiden Kontexten die Aktoren ihre Handlungen miteinander bewußt und absichtsvoll koordinieren; und daß in beiden Kontexten die Aktoren ihre Handlungen miteinander in der und durch die Sprache koordinie-ren.10 Ich nehme deshalb an, Habermas' Unterscheidung dreht sich im wesentlichen um die Elemente der Konsensualität, Nor-mativität und strategischen Einstellung.

Wiederum finde ich es nützlich, zwei mögliche Interpretationen der Position von Habermas zu unterscheiden. Die erste faßt die Kontrastierung zweier Arten von Handlungskontexten so auf, als erfasse sie einen natürlichen, absoluten Unterschied. Dement-sprechend würden systemisch integrierte Kontexte überhaupt keine Konsensualität oder Bezugnahme auf moralische Normen und Werte einschließen, wohingegen sozial integrierte Kontexte überhaupt keine strategischen Berechnungen in den Medien Geld und Macht einschlössen. Diese Interpretation »absoluter Ver-schiedenheit« widerspricht der Möglichkeit, daß die Kontrastie-rung vielmehr eine graduelle Verschiedenheit erfaßt. Dieser zwei-ten Interpretation gemäß würden auch systemisch integrierte Kontexte, in einem allerdings geringeren Maß als sozial integrierte Kontexte, Konsens und die Bezugnahme auf moralische Normen und Werte einschließen. Entsprechend würden umgekehrt sozial integrierte Kontexte strategische Kalküle im Geldmedium und Machtmedium beinhalten, wenn auch in einem geringeren Maß als die systemisch integrierten Kontexte.

Ich halte die Interpretation absoluter Verschiedenheit für zu extrem, um der Gesellschaftstheorie nützlich zu sein, und ich halte sie überdies für potentiell ideologisch. Falls überhaupt, dann werden nur in wenigen menschlichen Handlungskontexten Hand-lungen völlig konsens- und normfrei koordiniert. Wie moralisch zweifelhaft der Konsens und wie problematisch der Gehalt und Status der Normen auch immer sein mögen, im Grunde enthält jeder menschliche Handlungskontext irgendeine Form von Kon-sens und Normierung. Auf dem kapitalistischen Marktplatz z.B.

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vollziehen sich strategische, nutzenmaximierende Tauschvor-gänge im Horizont intersubjektiv geteilter Bedeutungen und Normen; normalerweise pflichten die Aktoren zumindest still-schweigend einigen gemeinsam anerkannten Vorstellungen von Reziprozität und einigen geteilten Auffassungen über die sozialen Bedeutungen von Gegenständen bei, z. B. darüber, welche Arten von Dingen als tauschbar erachtet werden. Ähnlich koordinieren Manager und Untergebene sowie Mitarbeiter am kapitalistischen Arbeitsplatz normalerweise ihre Handlungen in gewissem Aus-maß konsensuell und mit einer gewissen expliziten oder impliziten Bezugnahme auf normative Erwartungen, selbst wenn der Kon-sens auf unfaire Weise zustande gekommen sein sollte und die Normen keiner kritischen Überprüfung standhalten könnten.11

Folglich hat das kapitalistische ökonomische System eine mora-lisch-kulturelle Dimension.

Desgleichen sind nur wenige, wenn überhaupt irgendwelche menschlichen Handlungskontexte gänzlich frei von strategischer Berechnung. Den Schenkungsritualen in nicht-kapitalistischen Gesellschaften zum Beispiel, die anfänglich als wahre Feuerpro-ben der Solidarität betrachtet wurden, wird nun gemeinhin eine signifikant strategische, berechnende Dimension zugeschrieben. Eine Dimension, die im Medium der Macht inszeniert wird, wenn nicht sogar im Medium des Geldes.12 Und wie ich noch detaillier-ter zeigen werde, ist die moderne Kleinfamilie nicht frei von individuellen, eigeninteressierten, strategischen, in beiden Medien vermittelten Kalkülen. Diese Handlungskontexte haben, obwohl nicht offiziell als ökonomische eingestuft, also eine strategische, ökonomische Dimension.

Daher ist die Interpretation absoluter Verschiedenheit der Handlungskontexte nicht von großem Nutzen für die Sozialtheo-rie. Sie versagt z .B. in der Unterscheidung der kapitalistischen Ökonomie - wir können sie »die offizielle Ökonomie« nennen13 -von der modernen Kleinfamilie, denn beide Institutionen sind ein Gemenge aus Konsensualität, Normativität und strategischer Ein-stellung. Wenn sie hinsichtlich der Art ihrer Handlungsintegration differenziert werden sollen, muß die Unterscheidung als graduelle Verschiedenheit bestimmt werden. Sie muß sich um den Stellen-wert, das Verhältnis und die Wechselwirkung der drei Elemente innerhalb jeder Institution drehen.

Aber sollte dies zutreffen, dann ist die Klassifikation absoluter

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Verschiedenheit der offiziellen Ökonomie als eines systemisch in-tegrierten Handlungskontextes und der modernen Familie als ei-nes sozial integrierten Handlungskontextes potentiell ideologisch. Sie könnte beispielsweise verwendet werden, um zwischen den beiden Institutionen die Unterschiede zu übertreiben und die Ähnlichkeiten zu überdecken. Sie könnte benutzt werden, um ei-nen ideologischen Gegensatz zu konstruieren, der die Familie als das »Negative«, das komplementäre Andere der (offiziellen) öko-nomischen Sphäre postuliert, als »Hafen in einer herzlosen Welt«.

Welche dieser möglichen Interpretationen der beiden Unter-scheidungen ist nun in der Sozialtheorie von Habermas wirksam? Habermas versichert, daß er die Unterscheidung von materieller und symbolischer Reproduktion gemäß der pragmatisch-kontex-tuellen Interpretation versteht und nicht wie die naturalistische Interpretation.14 Er versichert gleichfalls, daß er die Unterschei-dung der Handlungskontexte verwendet, um eine graduelle Ver-schiedenheit zu kennzeichnen, nicht eine absolute.15 Dennoch schlage ich vor, diese Versicherungen in Klammern zu setzen und zu prüfen, was Habermas tatsächlich mit diesen Differenzierun-gen macht.

Habermas bildet die Unterscheidung zwischen Handlungskon-texten auf die Unterscheidung zwischen Reproduktionsfunktio-nen ab, um zu einer Definition gesellschaftlicher Modernisierung und zu einem Bild der institutionellen Struktur moderner Gesell-schaften zu gelangen. Er vertritt die These, daß moderne Gesell-schaften, anders als vormoderne, einige materielle Reproduk-tionsfunktionen von den symbolischen abspalten und die ersteren an zwei spezialisierte Institutionen abgeben - an die (offizielle) Ökonomie und den Staat -, die systemisch integriert sind. Zur gleichen Zeit situieren moderne Gesellschaften diese Institutionen in die weitere soziale Umwelt, indem sie zwei andere Institutionen entwickeln, die sich auf die symbolische Reproduktion speziali-sieren und sozial integriert sind. Diese Institutionen sind die moderne Kleinfamilie oder »Privatsphäre« und der Raum der po-litischen Partizipation, der Debatte und Meinungsbildung oder die »Öffentlichkeit«; zusammen konstituieren sie, was Habermas die zwei »institutionellen Ordnungen der modernen Lebenswelt« nennt. So »entkoppeln« oder trennen moderne Gesellschaften das, was Habermas als zwei unterschiedliche, aber anfänglich un-

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differenzierte Aspekte der Gesellschaft auffaßt: »System« und »Lebenswelt«. Deshalb ist die institutionelle Struktur moderner Gesellschaften aus seiner Sicht dualistisch. Auf der einen Seite stehen die institutionellen Ordnungen der modernen Lebenswelt, die sozial integrierten Bereiche, spezialisiert auf symbolische Re-produktion, d. h. Sozialisation, Solidaritätsformation und Kultur-vermittlung; auf der anderen Seite stehen die Systeme oder die systemisch integrierten Bereiche, spezialisiert auf materielle Re-produktion. Auf der einen Seite befinden sich die Kleinfamilie und die Öffentlichkeit; auf der anderen Seite die (offizielle) kapitalisti-sche Ökonomie und der moderne Verwaltungsstaat.16

Was sind die kritischen Einsichten und was die blinden Flecken dieses Modells? Ich will zuerst der Frage seiner empirischen Ange-messenheit nachgehen. Und ich will vorläufig das Augenmerk auf den Gegensatz zwischen »der privaten Sphäre der Lebenswelt« und dem (offiziellen) ökonomischen System legen. Dabei ist zu bedenken, daß dieser Aspekt von Habermas' kategorialer Tren-nung zwischen systemischen und lebensweltlichen Institutionen die institutionelle Trennung von Familie und offizieller Ökono-mie, Haushalt und bezahltem Arbeitsplatz in den männlich be-herrschten kapitalistischen Gesellschaften getreulich widerspie-gelt. Der Gegensatz hat also prima facie einigen Rückhalt in der sozialen Realität. Zu beachten ist aber auch, daß die Charakteri-sierung der Familie als eines sozial integrierten Bereichs symboli-scher Produktion einerseits und die Charakterisierung des bezahl-ten Arbeitsplatzes als eines systemisch integrierten Bereichs materieller Produktion andererseits darauf hinauslaufen, die Un-terschiede zwischen ihnen zu übertreiben und die Ähnlichkeiten zu überdecken. Zum Beispiel lenkt sie die Aufmerksamkeit von der Tatsache ab, daß der Haushalt wie der bezahlte Arbeitsplatz eine Stätte der Arbeit ist, obgleich eine der unentgoltenen und oft nicht anerkannten Arbeit. Ebenso macht sie nicht die Tatsache deutlich, daß den Frauen am bezahlten Arbeitsplatz wie im Haus-halt ausgeprägt weibliche, auf Dienste ausgerichtete und häufig sexualisierte Beschäftigungen zugewiesen werden, in denen sie wirklich gettoisiert sind. Letztlich versagt diese Charakterisierung darin, das Faktum einzufangen, daß Frauen in beiden Sphären den Männern untergeordnet sind.

Außerdem stellt diese Darstellung der Familie als einer sozial integrierten institutionellen Ordnung die Kleinfamilie mit männ-

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lichem Oberhaupt so dar, als habe sie nur eine äußerliche und zufällige Beziehung zu Geld und Macht. Diese »Medien« sollen nach Habermas zwar bestimmend für Interaktionen in der offi-ziellen Ökonomie und der staatlichen Verwaltung sein, der inner-familiären Interaktion aber nur äußerlich bleiben. Diese Annahme widerspricht jedoch den Fakten. Feministinnen haben in empiri-schen Analysen der familiären Entscheidungsfindung, der Hand-habung der Finanzen und der Mißhandlung von Ehefrauen nach-gewiesen, daß Familien von Grund auf von den - in der Terminologie Habermas' - Medien Geld und Macht durchdrungen sind. Sie sind sowohl Schauplätze der egozentrischen, strategi-schen und instrumentellen Berechnung als auch Schauplätze des gewöhnlich ausbeuterischen Austausches von Diensten, Arbeit, Bargeld und Sex - und häufig Schauplätze des Zwangs und der Gewalt.17 Aber durch die Art und Weise, in der Habermas die moderne Familie mit der offiziellen kapitalistischen Ökonomie kontrastiert, wird all dies tendenziell verdeckt. Dadurch werden die Unterschiede zwischen diesen Institutionen zu stark betont und die Möglichkeit blockiert, Familien als ökonomische Systeme zu analysieren, das heißt als Stätten der Arbeit, des Tauschs, der Berechnung, der Verteilung und Ausbeutung. Oder aber Haber-mas' Theoriegerüst würde an dem Punkt, an dem er einräumen würde, daß Familien auch so gesehen werden können, nahelegen, dies sei auf das Vordringen oder die Einwanderung fremder Kräfte, auf ihre »Kolonialisierung« der Familie durch die offizielle Ökonomie und den Staat zurückzuführen. Dies ist indes ebenfalls eine zweifelhafte Behauptung. (Ich werde das in Abschnitt 3 im einzelnen diskutieren.)

So hat Habermas' Modell einige empirische Mängel: Es ist nicht ohne weiteres geeignet, gewisse Dimensionen der männlichen Herrschaft in modernen Gesellschaften zu erfassen. Doch bietet es eine konzeptuelle Ressource, die sich zum Verständnis anderer Aspekte moderner männlicher Herrschaft eignet. Es ist zu beachten, daß Habermas die Kategorie sozial integrierter Hand-lungskontexte in zwei Subkategorien unterteilt. Einerseits gibt es die »normativ gesicherten« Formen sozial integrierter Handlung. Diese sind Handlungen, die auf einem konventionellen, prärefle-xiven und selbstverständlichen Konsens beruhend koordiniert werden, einem Konsens über Werte und Ziele, der in der vorkriti-schen Internalisierung der Sozialisation und kulturellen Tradition

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wurzelt. Andererseits gibt es die »kommunikativ erzeugten« For-men der sozial integrierten Handlung. Diese beinhalten Handlun-gen, die auf der Grundlage eines expliziten, reflexiv hervorge-brachten Konsenses koordiniert werden, also eines Konsenses, der durch uneingeschränkte Diskussion unter den Bedingungen der Freiheit, Gleichheit und Fairneß erlangt wird.18 Mit dieser Unterscheidung, die eine Binnendifferenzierung innerhalb der Kategorie des sozial integrierten Handelns darstellt, liefert Haber-mas einige kritische Ressourcen zur Analyse der modernen Klein-familie mit männlichem Vorstand. Solche Familien können eher als normativ abgesicherte denn als kommunikativ zustande gebrachte Handlungskontexte verstanden werden, das heißt als Kontexte, in denen Handlungen (manchmal) von Konsens und geteilten Werten getragen sind, in denen aber ein solcher Konsens verdächtig ist, weil er vorreflexiv ist oder durch Dialoge entsteht, die von einem Mangel an Fairneß oder durch Zwang oder Ungleichheit beein-trächtigt sind.

Wie erfolgreich ist die Unterscheidung zwischen normativ gesi-cherten und kommunikativ erzielten Handlungskontexten in der Bewältigung von Problemen, die vorher diskutiert wurden? Nur teilweise, denke ich. Auf der einen Seite ist diese Unterscheidung moralisch bedeutsam und empirisch nützlich. Der Gedanke eines normativ gesicherten Handlungskontexts paßt sehr gut zu neue-ren Forschungen über Kommunikationsmuster zwischen Ehe-männern und ihren Frauen. Diese Forschung zeigt, daß Männer dazu neigen, Gespräche zu kontrollieren, zu bestimmen, welche Themen verfolgt werden, während Frauen mehr »Interaktionsar-beit« leisten wie Fragen stellen und für verbale Unterstützung sorgen.19 Die Forschung enthüllt auch Unterschiede in dem männlichen und weiblichen Gebrauch körperlicher und gestischer Dimensionen der Sprache, die Männerherrschaft und Frauenun-terordnung bestätigen.20 Die Unterscheidung von Habermas er-laubt uns also, etwas Wichtiges zu innerfamiliären Dynamiken einzufangen. Ungenügend betont wird jedoch, daß Handlungen, die von einem normativ gesicherten Konsens in der Kleinfamilie mit männlichem Vorstand koordiniert werden, durch Macht regu-lierte Handlungen sind. Es scheint mir ein schwerer Fehler zu sein, den Gebrauch des Begriffs >Macht< auf bürokratische Zusammen-hänge einzuschränken. Habermas würde besser daran tun, ver-schiedene Arten der Macht zu unterscheiden, zum Beispiel häus-

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lich-patriarchale Macht einerseits und bürokratisch-patriarchale Macht andererseits - von verschiedenen anderen Arten und Kom-binationen dazwischen ganz zu schweigen, die unerwähnt blei-ben.

Aber selbst diese Unterscheidung reicht allein nicht aus, um mit Habermas' Theorierahmen allen empirischen Formen männlicher Herrschaft in modernen Gesellschaften in vollem Umfang gerecht zu werden, denn die normativ-häuslich-patriarchale Macht ist nur eines der Elemente, die die Unterordnung der Frauen in der häus-lichen Sphäre erzwingen. Die anderen Elemente einzufangen, würde einen sozialtheoretischen Rahmen erfordern, der fähig wäre, Familien auch als ökonomische Systeme zu analysieren, welche die Aneignung der unbezahlten Arbeit von Frauen bein-halten und auf komplizierte Weise mit anderen ökonomischen Systemen verzahnt sind, die bezahlte Arbeit einschließen. Haber-mas' Theorierahmen zieht die wesentliche kategoriale Trennung zwischen systemischen und lebensweltlichen Institutionen, hier-nach zwischen (unter anderem) der offiziellen Ökonomie und der Familie, und ist daher für diese Aufgabe nicht sehr gut geeignet.

Um nun von der Frage nach der empirischen Angemessenheit des Habermasschen Modells zur Frage seiner normativen politi-schen Implikationen zu kommen: Bei welchen Arten sozialer Arrangements und Umgestaltungen neigt sein Konzept der Mo-dernisierung dazu, sie zu legitimieren? Und bei welchen Arten ist es bestrebt, sie auszuschließen? Hier wird es notwendig sein, ei-nige Implikationen des Modells zu rekonstruieren, die nicht expli-zit von Habermas thematisiert worden sind.

Dabei ist zu bedenken, daß die Konzeption der Modernisierung als Entkoppelung von systemischen und lebensweltlichen Institu-tionen dazu neigt, die moderne institutionelle Trennung von Fa-milie und offizieller Ökonomie, Kinderaufziehen und bezahlter Arbeit zu legitimieren. Denn Habermas argumentiert, daß in Hin-sicht auf die Systemintegration die symbolische Reproduktion und die materielle Reproduktion asymmetrisch zueinander ste-hen. Tätigkeiten der symbolischen Reproduktion, so behauptet er, unterscheiden sich von Tätigkeiten materieller Reproduktion darin, daß sie nicht auf spezialisierte, systemisch integrierte Insti-tutionen außerhalb der Lebenswelt umgestellt werden können; ihr inhärent symbolischer Charakter verlangt ihre soziale Integra-tion.21 Daraus folgt, daß die unbezahlte Arbeit des Kinderaufzie-

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hens durch Frauen nicht ohne »pathologische« Folgen in das (offizielle) ökonomische System eingegliedert werden kann. Au-ßerdem vertritt Habermas die These, daß es ein Kennzeichen gesellschaftlicher Rationalisierung ist, wenn systemisch inte-grierte Institutionen ausdifferenziert werden, um materielle Re-produktionsfunktionen zu handhaben. Die Absonderung eines spezialisierten (offiziellen) ökonomischen Systems steigert die Fähigkeit einer Gesellschaft, mit ihrer natürlichen und sozialen Umwelt umzugehen. »Systemkomplexität« bedeutet also einen »Entwicklungsvorteil«.22 Daraus folgt, daß das (offizielle) ökono-mische System bezahlter Arbeit, hier hinsichtlich des Kinderauf-ziehens, nicht ohne gesellschaftlichen Rückschritt entdifferenziert werden könnte. Wenn aber das Kinderaufziehen nicht ohne Pa-thologien in das (offizielle) ökonomische System eingegliedert werden kann, und wenn das (offzielle) ökonomische System nicht ohne Rückschritt entdifferenziert werden kann, dann wäre die fortgesetzte Trennung des Kinderaufziehens von der bezahlten Arbeit unvermeidbar.

Dies läuft auf die Verteidigung eines Aspekts dessen hinaus, was die Feministinnen »die Trennung von Öffentlichem und Pri-vatem« nennen, nämlich die Trennung der offiziellen ökonomi-schen Sphäre von der häuslichen Sphäre und die Abkapselung des Kinderaufziehens als Enklave von der übrigen gesellschaftlichen Arbeit. Es läuft auf die Verteidigung eines institutionellen Arran-gements hinaus, das weithin für einen, wenn nicht für den Angel-punkt der modernen Unterordnung von Frauen gehalten wird. Und es sollte zur Kenntnis genommen werden, daß die Tatsache, daß Habermas Sozialist ist, an der Sache nichts ändert, weil die (unweigerlich wünschbare) Beseitigung des Privateigentums, der Profitorientierung und der hierarchischen Befehlsstruktur bei der bezahlten Arbeit nicht an sich schon die offizielle Trennung in ökonomisch/häuslich berühren würde.

Nun will ich verschiedene Prämissen des Gedankenganges, den ich soeben rekonstruiert habe, diskutieren. Erstens setzt dieser Gedankengang die naturalistische Interpretation in der Unter-scheidung symbolischer versus materieller Reproduktion voraus. Da aber, wie ich argumentiert habe, das Kinderaufziehen eine Tä-tigkeit mit zweifachem Aspekt ist und es in dieser Hinsicht nicht grundsätzlich von anderer Arbeit verschieden ist, gibt es keine Rechtfertigung für die Behauptung einer Asymmetrie gegenüber

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der Systemintegration. Das heißt, es gibt keine Berechtigung an-zunehmen, die systemisch integrierte Organisation des Kinder-aufziehens sei stärker (oder weniger) pathologisch als die anderer Arbeit. Zweitens setzt dieser Gedankengang die Interpretation ab-soluter Verschiedenheit in der Unterscheidung sozialer von syste-mischer Integration voraus. Aber weil, wie ich argumentiert habe, die moderne Kleinfamilie mit männlichem Oberhaupt ein Ge-menge aus (normativ gesichertem) Konsens, Normativität und strategischer Einstellung ist und weil sie sich in dieser Hinsicht nicht grundsätzlich vom bezahlten Arbeitsplatz unterscheidet, ist privatisiertes Kinderaufziehen bereits in nicht unerheblichem Ausmaß durchdrungen von den Medien Geld und Macht. Außer-dem gibt es keine empirische Evidenz dafür, daß Kinder, die in gewerblichen (selbst gewinnorientierten oder von Körperschaften getragenen) Kindertagesstätten betreut wurden, sich als patholo-gischer herausstellten als solche, die, sagen wir, in Vororthäusern von Vollzeitmüttern aufgezogen wurden. Drittens erhebt der so-eben skizzierte Gedankengang die Systemkomplexität in den Rang eines überragenden Faktors mit wirksamer Vetomacht ge-genüber allen gesellschaftlichen Veränderungen, die zur Überwin-dung der Unterordnung der Frau vorgeschlagen werden. Das ist aber mit den Versicherungen von Habermas unvereinbar, System-komplexität sei nur ein Maßstab unter anderen für »Fortschritt«.23

Weit wichtiger noch, es ist mit jedem vernünftigen Gerechtigkeits-maßstab unvereinbar.

Was sollen wir daraus für die normativen politischen Implika-tionen des Habermasschen Modells schließen ? Wenn die Konzep-tion der Modernisierung als Entkoppelung von systemischen und lebensweltlichen Institutionen wirklich die Implikationen hat, die ich gerade geschildert habe, dann ist sie in wichtigen Hinsichten androzentrisch und ideologisch.

2. Öffentlichkeit und Privatheit im klassischen Kapitalismus:

Thematisierung des unterlegten Geschlechtertextes

Ungeachtet der vermerkten Schwierigkeiten bietet Habermas eine Beschreibung der institutionellen Beziehungen zwischen den ver-schiedenen Sphären des öffentlichen und privaten Lebens im klas-

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sischen Kapitalismus, die ein gewisses genuin kritisches Potential besitzt. Aber um dieses Potential vollständig zu nutzen, müssen wir den ungeschriebenen, »unterlegten Geschlechtertext« seines Gegenstands rekonstruieren.

Dazu werde ich mich seiner Konzeption der Beziehungen zwi-schen dem (offiziellen) ökonomischen System und dem staat-lichen System einerseits und der Lebenswelt andererseits zu-wenden. Habermas behauptet, daß mit der Modernisierung die (offiziell) ökonomischen und staatlichen Systeme nicht einfach von der Lebenswelt entbunden und abgelöst sind; sie müssen auch auf sie bezogen und in sie eingebettet sein. Gleichzeitig mit den Anfängen des Kapitalismus entwickeln sich »institutionelle Ord-nungen« innerhalb der Lebenswelt, die die Systeme in einen Kon-text alltäglicher Bedeutungen und Normen einordnen. Wie wir sahen, wird die Lebenswelt in zwei Sphären differenziert, die die geeignete komplementäre Umwelt für die zwei Systeme bereithal-ten. Die »Privatsphäre« - oder moderne Kleinfamilie - ist mit dem (offiziellen) ökonomischen System verbunden. Die »Öffentlich-keit« - oder der Raum der politischen Teilhabe, der Debatte und Meinungsbildung - ist mit dem staatlichen administrativen System verknüpft. Die Familie ist mit der (offiziellen) Ökonomie mittels einer Reihe von Tauschvorgängen verbunden, die im Geldmedium vollzogen werden: Sie versorgt die (offizielle) Ökonomie mit einer geeignet sozialisierten Arbeitskraft im Tausch gegen Lohn, und sie erzeugt eine passende, monetär abgemessene Nachfrage nach wa-renförmigen Gütern und Diensten. Die Tauschvorgänge zwischen der Familie und der (offiziellen) Ökonomie werden also durch die »Rollen« des Arbeitenden und des Verbrauchers kanalisiert. Paral-lele Tauschprozesse verbinden die Öffentlichkeit und das staat-liche System miteinander. Diese werden jedoch hauptsächlich im Machtmedium vollzogen: Loyalität, Gehorsam und Steuerein-nahmen werden gegen »Organisationsleistungen« und »politische Entscheidungen« getauscht. Tauschvorgänge zwischen Öffent-lichkeit und Staat werden also von der »Rolle« des Staatsbürgers und im späten wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus von der Rolle des Klienten kanalisiert.24

Diese Konzeptualisierung inter-institutioneller Beziehungen im klassischen Kapitalismus bietet eine Anzahl wichtiger Vorteile. Erstens behandelt sie die moderne Kleinfamilie als eine historisch auftretende Institution mit ihren eigenen positiven, eindeutigen

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Merkmalen. Sie stellt heraus, daß dieser Familientyp gleichzeitig mit der aufkommenden kapitalistischen Ökonomie, dem Verwal-tungsstaat und (gegebenenfalls) der politischen Öffentlichkeit in Erscheinung tritt und damit in Verbindung steht. Überdies ver-zeichnet sie einige der Tauschdynamiken zwischen diesen Institu-tionen und zeigt einige der Formen, in denen die Institutionen an die Bedürfnisse der jeweils anderen angepaßt sind, um diese Tauschvorgänge untereinander zu erleichtern.

Letztlich stellt Habermas' Konzeptualisierung ein wichtiges Korrektiv gegenüber den üblichen dualistischen Ansätzen zur Be-schreibung der Trennung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit in kapitalistischen Gesellschaften dar. Er begreift das Problem als eine Beziehung zwischen vier Begriffen: Familie, (offizielle) Öko-nomie, Staat und Öffentlichkeit. Seine Sicht legt nahe, daß im klassischen Kapitalismus eigentlich zwei unterschiedliche, aber miteinander zusammenhängende Trennungen in öffentlich/privat bestehen. Die eine Trennung in öffentlich/privat operiert auf der Ebene der »Systeme«, das ist die Trennung des Staates oder des öffentlichen Systems von der (offiziellen) kapitalistischen Ökono-mie oder dem privaten System. Die andere Trennung in öffent-lich/privat ist auf der Ebene der »Lebenswelt« wirksam, nämlich die Abtrennung der Familie oder Privatsphäre vom Raum der po-litischen Meinungsbildung und der politischen Teilhabe oder der Öffentlichkeit. Außerdem ist jede dieser Trennungen in öffent-lich/privat mit der anderen koordiniert. Eine Achse des Aus-tausche verläuft zwischen dem privaten System und der privaten Lebensweltsphäre, das heißt zwischen der (offiziellen) kapitalisti-schen Ökonomie und der modernen Kleinfamilie. Eine andere Achse des Austauschs verläuft zwischen dem öffentlichen System und der öffentlichen Lebensweltsphäre, das heißt zwischen der staatlichen Verwaltung und den Organen der öffentlichen Mei-nungs- und Willensbildung. In beiden Fällen können die Tausch-vorgänge aufgrund der Institutionalisierung spezifischer Rollen stattfinden, welche die fraglichen Bereiche verbinden. So verflech-ten die Rollen des Arbeitenden und des Verbrauchers die (offi-zielle) private Ökonomie und die private Familie, während die Rolle des Staatsbürgers und (später) des Klienten die öffentlichen staatlichen Institutionen und die Institutionen der öffentlichen Meinung verbinden.

Auf diese Weise liefert Habermas eine äußerst scharfsinnige Be-

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Schreibung der Beziehungen zwischen öffentlichen und privaten Institutionen in klassisch kapitalistischen Gesellschaften. Zu-gleich jedoch weist seine Darstellung einige Schwächen auf. Viele davon stammen aus dem Unvermögen, den unterlegten Ge-schlechtertext der beschriebenen Beziehungen und Arrangements zu thematisieren.25 Als erstes ist zu beachten, daß die Beziehungen zwischen (offizieller) privater Ökonomie und privater Familie ver-mittelt sind über die Rollen des Arbeitenden und des Verbrau-chers. Diese Rollen sind, so mein Vorschlag, geschlechtliche Rollen. Und die Verbindungen, die sie zwischen der Familie und der (offiziellen) Ökonomie knüpfen, werden ebensosehr im Me-dium der Geschlechteridentität wie im Geldmedium hergestellt.

Nehmen wir die Rolle des Arbeitenden.26 In männlich domi-nierten, klassisch kapitalistischen Gesellschaften ist diese Rolle eine typisch maskuline Rolle und zwar nicht bloß in einem relativ oberflächlichen statistischen Sinn. In tiefsinniger Weise ist die maskuline Identität in diesen Gesellschaften mit der Rolle des Er-nährers untrennbar verknüpft. Männlichkeit ist zum großen Teil eine Angelegenheit, die darin besteht, jeden Tag das Haus zu ver-lassen, um den bezahlten Arbeitsplatz einzunehmen und mit ei-nem Lohn heimzukehren, der die abhängigen Personen versorgt. Es ist diese interne Beziehung zwischen dem Ein-Mann-Sein und dem Ein-Versorger-Sein, die erklärt, warum in kapitalistischen Gesellschaften die Arbeitslosigkeit bei Männern nicht nur ökono-misch, sondern auch psychologisch verheerend ist. Sie erhellt auch die zentrale Bedeutung des Kampfs um einen »Familienlohn« in der Geschichte der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegungen im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert. Gekämpft wurde um einen Lohn, der nicht als Entgelt für genutzte Arbeitskraft eines geschlechtslosen Individuums, sondern als Bezahlung eines Man-nes zum Unterhalt seiner ökonomisch abhängigen Frau und Kin-der vorgestellt wurde - eine Vorstellung allerdings, welche die Praxis, den Frauen für ihre gleiche oder vergleichbare Arbeit we-niger zu zahlen, legitimierte.

Der der Arbeiterrolle unterlegte »maskuline Text« wird bekräf-tigt durch den leidigen und konflikthaften Charakter des Verhält-nisses von Frauen zur bezahlten Arbeit im männlich dominierten, klassischen Kapitalismus. Carole Pateman zufolge ist es nicht so, daß es keine Frauen an bezahlten Arbeitsplätzen gibt; vielmehr trifft zu, daß sie anders präsent sind27 - zum Beispiel als auf ihre

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Weiblichkeit reduzierte und manchmal sexualisierte »Bedienstete« (Sekretärinnen, Hausangestellte, Verkäuferinnen, Prostituierte und neuerdings Flugbegleiterinnen); als Mitglieder der »helfenden Berufe«, die mütterliche Fähigkeiten einsetzen (Krankenschwe-stern, Sozialarbeiterinnen, Grundschullehrerinnen); als Objekt sexueller Belästigung; als gering bezahlte, gering qualifizierte Ar-beiterinnen mit geringem Status in geschlechtlich segregierten Beschäftigungen; als Teilzeitarbeiterinnen; als Arbeiterinnen mit der Doppelbelastung von unbezahlter Hausarbeit und bezahlter Arbeit; als »arbeitende Ehefrauen« und »arbeitende Mütter«, das heißt als Frauen, die primär Ehefrauen und Mütter sind und dane-ben zufällig als »Zusatzverdienerinnen« auch »zur Arbeit gehen«. Diese Unterschiede in der Qualität der Frauenpräsenz am bezahl-ten Arbeitsplatz bezeugen die konzeptuelle Unstimmigkeit zwi-schen der Weiblichkeit und der Arbeiterrolle im klassischen Kapitalismus. Und dies wiederum bestätigt den dieser Rolle unter-legten (heimlichen) maskulinen Text. Es bestätigt, daß die Rolle des Arbeitenden, welche die private (offizielle) Ökonomie und die private Familie in männlich dominierten, kapitalistischen Gesell-schaften verknüpft, eine maskuline Rolle ist und daß, pace Haber-mas, die durch sie gestiftete Verbindung ebensosehr im Medium der maskulinen Geschlechtsidentität wie im scheinbar ge-schlechtsneutralen Geldmedium gebildet wird.

Umgekehrt hat die andere Rolle, die im Schema von Habermas die (offizielle) Ökonomie und die Familie miteinander verbindet, einen unterlegten (heimlichen) weiblichen Text. Der Verbraucher im klassischen Kapitalismus ist der Gefährte und der Gehilfe des Arbeitenden. Die geschlechtliche Arbeitsteilung der Hausarbeit weist Frauen die Arbeit - und Arbeit ist es tatsächlich, nur unbe-zahlte und gewöhnlich nicht anerkannte - des Einkaufs und der Bereitstellung von Gütern und Diensten für den häuslichen Ge-brauch zu. Das kann selbst heute jeder/jede bestätigen, der/die einen Supermarkt oder ein Kaufhaus betritt oder sich die Ge-schichte der Werbung für Konsumgüter ansieht. Solche Werbung hat fast immer ihren Adressaten, den Verbraucher, als weiblich angerufen.28 Faktisch hat sie aufbauend auf der Weiblichkeit des Verbrauchersubjekts eine ganze Trugwelt der Begehrlichkeit ent-wickelt. Erst seit kurzem und mit einiger Schwierigkeit haben die Werbestrategen Wege ausfindig gemacht, den männlichen Verbrau-cher anzusprechen. Der Kunstgriff bestand darin, Mittel zur Aus-

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richtung des männlichen Verbrauchers zu finden, die ihn nicht verweiblicht, verweichlicht oder entmännlicht wirken ließen. In The Hearts of Men bescheinigt Barbara Ehrenreich, wie ich meine ganz scharfsinnig, dem Playboy Magazin, den Weg zu solchen Mitteln gebahnt zu haben.29 Aber die Schwierigkeit und die späte Realisierung dieses Vorhabens bestätigt den geschlechtlichen Cha-rakter der Verbraucherrolle im klassischen Kapitalismus. Männer nehmen diese Rolle mit intellektueller Anstrengung und kogniti-ver Dissonanz ein, ganz ähnlich wie Frauen die Rolle des Arbei-tenden besetzen. Dementsprechend ist die Rolle des Verbrau-chers, welche die offizielle Ökonomie und die Familie verbindet, eine offenkundig weibliche Rolle. Sie stiftet die Verbindung, pace Habermas, ebensosehr im Medium der weiblichen Geschlechts-rolle wie im augenscheinlich geschlechtsneutralen Geldmedium.

Überdies enthält die Habermassche Konzeptualisierung der Rollen, welche die Familie und die (offizielle) Ökonomie verbin-den, eine bezeichnende Auslassung: in seinem Schema wird keine Rolle einer/eines Kinderbetreuerin/betreuers erwähnt, obwohl der Gegenstand eine solche klar verlangt. Denn wer anders als die/der Kinderbetreuer/in versieht die unbezahlte Arbeit der Be-aufsichtigung bei der Produktion »angemessen sozialisierter Ar-beitskraft«, die von der Familie gegen Löhne getauscht wird? Selbstverständlich ist die Rolle des/der Kinderbetreuers/betreu-erin im klassischen Kapitalismus (wie anderswo auch) eine ganz offenkundig weibliche Rolle. Ihre Auslassung hier ist ein Kennzei-chen des Androzentrismus und hat einige gewichtige Konsequen-zen. Eine Berücksichtigung der Rolle der/des Kinderaufzieherin/ ziehers in diesem Kontext hätte auf die zentrale Bedeutung der Geschlechtlichkeit für die institutionelle Struktur des Kapitalis-mus verweisen können. Und das wiederum hätte zur Aufdeckung des unterlegten Geschlechtertextes der anderen Rollen führen können und zur Relevanz der Geschlechteridentität als eines »Tauschmediums«.

Was ist dann von den anderen Rollen und Verknüpfungen zu halten, die von Habermas identifiziert wurden? Was ist von der Staatsbürgerrolle zu halten, von der er behauptet, daß sie das öf-fentliche System des Verwaltungsstaats mit der öffentlichen le-bensweltlichen Sphäre der politischen Meinung und Willensbil-dung verknüpft? Diese Rolle ist im klassischen Kapitalismus ebenfalls eine geschlechtliche Rolle, und zwar eine maskuline

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Rolle.30 Und nicht einfach in dem Sinn, daß Frauen in den Ver-einigten Staaten und Großbritannien (zum Beispiel) das Wahlrecht nicht vor dem zwanzigsten Jahrhundert erstreiten konnten. Der späte Zeitpunkt und die Mühseligkeit dieses Sieges sind vielmehr symptomatisch für tiefere Spannungen. Im Verständnis von Ha-bermas ist der Staatsbürger in erster Linie ein Teilnehmer an der politischen Debatte und öffentlichen Meinungsbildung. Das heißt, der Staatsbürger ist aus seiner Sicht entschieden an die Rede- und Zustimmungsfähigkeit, also an die Befähigung gebun-den, ebenbürtig mit anderen an Dialogen teilnehmen zu können. Das aber sind Fähigkeiten, die im männlich beherrschten, klassi-schen Kapitalismus mit der Männlichkeit verknüpft sind; es sind Fähigkeiten, die den Frauen auf zahllose Arten versagt sind und die als mit der Weiblichkeit unvereinbar erachtet werden. Ich habe bereits Untersuchungen über die Wirkungen männlicher Domi-nanz und weiblicher Unterordnung auf die Dynamik von Dialo-gen zitiert. Man bedenke jetzt einmal, daß es selbst heute in den meisten Rechtsprechungen so etwas wie Vergewaltigung in der Ehe nicht gibt. Das heißt, eine Ehefrau ist legal Untertan ihres Ehemannes; sie ist kein Individuum, das der Forderung nach sexu-eller Verfügbarkeit seine Zustimmung geben oder versagen kann. Und selbst außerhalb der Ehe wird die gesetzliche Untersuchung der Vergewaltigung häufig darauf verkürzt, ob ein »vernünftiger Mann« angenommen hätte, die Frau würde zugestimmt haben. Was bedeutet es, wenn die populäre ebenso wie die juristische An-sicht gemeinhin behaupten, daß eine Frau Ja meint, wenn sie Nein sagt? Es bedeutet, sagt Carole Pateman, daß »Frauen ihre Rede . . . fortwährend und systematisch im wesentlichen Punkt der Zustim-mung entwertet sehen, in einem Punkt, der für die Demokratie fundamental ist. (Aber) wenn die Äußerungen ihrer Zustimmung fortwährend uminterpretiert werden, wie können die Frauen dann an der Debatte unter Staatsbürgern teilnehmen?«31

Folglich gibt es eine Unstimmigkeit zwischen dem Konzept der Weiblichkeit und den dialogischen Fähigkeiten, die für die Haber-massche Konzeption des Staatsbürgerstatus zentral sind. Und ein anderer Aspekt des Staatsbürgerstatus, der von ihm nicht disku-tiert wird, ist noch offensichtlicher an die Männlichkeit gebunden. Das ist der soldatische Aspekt des Staatsbürgerstatus, die Konzep-tion des Staatsbürgers als eines Verteidigers des Gemeinwesens und Beschützers derjenigen - Frauen, Kinder und Alte -, die sich

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angeblich nicht selbst beschützen können. Judith Stiehm zufolge führt diese Teilung in männliche Beschützer und weibliche Be-schützte zu einer weiteren Dissonanz im Verhältnis von Frauen zum Staatsbürgerstatus.32 Es bestätigt den unterlegten Geschlech-tertext der Staatsbürgerrolle. Der Blick auf Frauen als des männ-lichen Schutzes bedürftig »unterliegt dem Zugang nicht nur zu den Mitteln der Destruktion, sondern auch (zu) den Mitteln der Produktion - das bezeugt die >schützende< Gesetzgebung, die den Zugang der Frauen zum Arbeitsplatz umgeben hat - und (zu) den Mitteln der Reproduktion (- davon zeugt) der Status der Frauen als Ehefrauen und Sexualpartnerinnen«.33

Die Staatsbürgerrolle im männlich beherrschten, klassischen Kapitalismus ist deshalb eine offenkundig maskuline Rolle. Sie verbindet den Staat und die Öffentlichkeit, wie Habermas be-hauptet, aber sie verbindet den Staat und die Öffentlichkeit auch mit der offiziellen Ökonomie und der Familie. Und in jedem der Fälle werden die Verbindungen eher im Medium der maskulinen Geschlechtsidentität gestiftet als, wie bei Habermas, im Medium der geschlechtsneutralen Macht. Oder wenn das Tauschmedium hier Macht ist, dann ist die fragliche Macht männliche Macht; es ist Macht als Ausdruck der Männlichkeit.

Dementsprechend gibt es einige größere Lücken in dem anson-sten leistungsfähigen und scharfsinnigen Habermasschen Modell der Beziehungen zwischen öffentlichen und privaten Institutionen im klassischen Kapitalismus. Weil dieses Modell für die Bedeutung und die Wirkung der Geschlechtlichkeit blind ist, ist es dazu ver-urteilt, wichtige Züge dessen, was Habermas verstehen will, zu verfehlen. Indem er jegliche Erwähnung der Rolle des/der Kinder-aufziehers/zieherin ausläßt und indem er es versäumt, den Ge-schlechtertext, der den Rollen des Arbeitenden und des Verbrau-chers unterlegt ist, zu thematisieren, mißlingt es Habermas, genau zu verstehen, wie der kapitalistische Arbeitsplatz mit der moder-nen beschränkten Kleinfamilie mit männlichem Haushaltsvor-stand verknüpft ist. Indem es Habermas unterläßt, den unterleg-ten maskulinen Text der Staatsbürgerrolle zu thematisieren, erfaßt er ebenfalls nicht im vollen Umfang, wie der Staat mit der öffent-lichen Sphäre der politischen Rede verbunden ist. Außerdem ent-gehen Habermas wichtige Querverbindungen zwischen den vier Elementen seiner zwei Schematisierungen von Öffentlichkeit und Privatheit. Ihm entgeht zum Beispiel die Form, in der die masku-

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line Rolle des Staatsbürgers/Soldaten/Beschützers den Staat und die Öffentlichkeit nicht nur untereinander, sondern auch mit der Familie und dem bezahlten Arbeitsplatz verbindet - das heißt die Form, wie die Prämissen von der Fähigkeit des Mannes zu be-schützen und von der Angewiesenheit der Frau auf männlichen Schutz alle diese Institutionen durchziehen. Ihm entgeht auch die Art, wie die maskuline Staatsbürger-Redner-Rolle nicht nur den Staat und die Öffentlichkeit untereinander, sondern ebenso mit der Familie und der offiziellen Ökonomie verbindet - das heißt, wie die Prämissen einer männlichen Fähigkeit und einer relativen weiblichen Unfähigkeit zur Stellungnahme und zur Zustimmung alle diese Institutionen durchziehen. Genauso verfehlt er die Art und Weise, in der die maskuline Arbeiter-Ernährer-Rolle nicht nur die Familie und die offizielle Ökonomie verbindet, sondern diese auch mit dem Staat und der politischen Öffentlichkeit - das heißt, wie die Prämissen eines Versorgerstatus des Mannes und eines Abhängigenstatus der Frau sie alle durchziehen, so daß selbst die Münze, in der klassisch kapitalistische Löhne und Steuern ge-zahlt werden, nicht geschlechtsneutral ist. Und schließlich entgeht ihm, wie die weibliche Kinderaufzieher-Rolle alle vier Institutio-nen miteinander verknüpft, indem er übersieht, daß die Konstruk-tion maskulin und feminin geschlechtlicher Subjekte benötigt wird, um jede Rolle im klassischen Kapitalismus auszufüllen.

Ist diese Geschlechterblindheit des Habermasschen Modells einmal überwunden, kommen jedoch alle diese Verbindungen in den Blick. Es wird dann klar, daß weibliche und männliche Geschlechtsidentität wie rosa und blaue Fäden die Bereiche der bezahlten Arbeit, der staatlichen Verwaltung und des Staatsbür-gerstatus ebenso durchziehen wie die Bereiche familiärer und sexueller Beziehungen. Dies soll besagen, daß die Geschlechts-identität Ausprägungen in allen Lebensbereichen hat. Sie ist ein (wenn nicht das) Austauschmedium zwischen ihnen allen, ein Grundelement des sozialen Bindemittels, das sie alle zusammen-hält.

Darüber hinaus deckt eine geschlechtersensitive Lesart dieser Verbindungen einige wichtige theoretische und konzeptuelle Im-plikationen auf. Sie enthüllt, daß männliche Herrschaft dem klas-sischen Kapitalismus intrinsisch statt zufällig ist. Daraus folgt, daß die hier erörterten Formen männlicher Herrschaft nicht richtig verstanden werden, wenn sie als noch fortbestehende Formen vor-

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moderner Statusungleichheit aufgefaßt werden. Sie sind vielmehr durch und durch modern im Habermasschen Sinne, da sie die Trennung der Lohnarbeit und des Staates vom Kinderaufziehen und vom Haushalt voraussetzen. Daraus folgt auch, daß eine kri-tische Sozialtheorie der kapitalistischen Gesellschaften geschlech-tersensitive Kategorien benötigt. Die vorangegangene Analyse zeigt, daß entgegen dem üblichen androzentrischen Verständnis die relevanten Konzepte des Arbeitenden, Verbrauchers und des Lohns faktisch nicht streng ökonomische Konzepte sind, viel-mehr besitzen sie einen impliziten, unterlegten Geschlechtertext und sind daher »geschlechterökonomische« Konzepte. Ganz ähn-lich ist das relevante Konzept des Staatsbürgerstatus kein streng politisches Konzept; es hat einen impliziten, unterlegten Ge-schlechtertext und ist deshalb eher ein »geschlechterpolitisches« Konzept. So enthüllt diese Analyse die Unangemessenheit solcher kritischer Theorien, welche die Geschlechterdimension als neben-sächlich für Politik und politische Ökonomie behandeln. Sie be-tont den Bedarf an einer kritischen Theorie mit einem kategorialen Rahmen, in dem Geschlecht, Politik und politische Ökonomie intern integriert sind.34

Zusätzlich enthüllt eine geschlechtersensitive Lesart dieser Ar-rangements die durchaus vielseitige Ausrichtung der sozialen Pro-zesse und der kausalen Wirkungen im klassischen Kapitalismus. Sie zeigt die Unzulänglichkeit der orthodox marxistischen Prä-misse, jede oder doch die wichtigste kausale Wirkung verlaufe von der (offiziellen) Ökonomie zur Familie und nicht umgekehrt. Sie zeigt, daß die Geschlechteridentität die bezahlte Arbeit, die staat-liche Verwaltung und politische Beteiligung strukturiert. So recht-fertigt sie Habermas' Behauptung, daß im klassischen Kapitalis-mus die (offizielle) Ökonomie nicht allmächtig, sondern in einem erheblichen Maße in die Normen und Bedeutungen des Alltagsle-bens eingeschrieben und ihnen unterworfen worden ist. Haber-mas nahm selbstverständlich an, er sage etwas mehr oder weniger Positives, indem er dies behaupte. Die Normen und Bedeutungen, an die er dachte, waren nicht diejenigen, die ich diskutiert habe. Dennoch ist die Behauptung zutreffend. Es bleibt jedoch zu prü-fen, ob sie auch für den späten wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus aufrechterhalten werden kann, wie ich glaube, oder ob sie nicht mehr aufrechterhalten werden kann, wie Habermas meint.

Letztlich hat diese Rekonstruktion des unterlegten Geschlech-

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tertextes des Modells von Habermas normative politische Impli-kationen. Sie legt nahe, daß eine emanzipatorische Umgestaltung der männlich beherrschten, frühen und späten kapitalistischen Gesellschaften eine Umgestaltung dieser geschlechtlichen Rollen und der Institutionen, die sie vermitteln, verlangt. So lange, wie die Arbeiter-Rolle und die Kinderaufzieher-Rolle als miteinander grundsätzlich unvereinbar konstituiert sind, wird es nicht möglich sein, irgendeine dieser Rollen so zu universalisieren, daß sie beide Geschlechter einschließt. Daher wird eine Form der Entdifferen-zierung des unbezahlten Kinderaufziehens und anderer Formen von Arbeit erforderlich sein. Entsprechend wird die Staatsbürger-rolle Frauen nicht vollständig einbeziehen können, solange sie qua definitione das todbringende Soldatentum, nicht aber das lebens-fördernde Kinderaufziehen einschließt. So lange, wie sie an männ-lich beherrschte Weisen des Dialogs geknüpft ist, wird es ebenfalls nicht gelingen, Frauen gänzlich einzubeziehen. Deshalb sind Ver-änderungen gerade in den Konzepten des Staatsbürgerstatus, des Kinderaufziehens und der bezahlten Arbeit ebenso notwendig wie Veränderungen in den Beziehungen zwischen der häuslichen, der offiziell ökonomischen, der staatlichen Sphäre und der Sphäre po-litischer Öffentlichkeit.

3. Die Dynamiken des wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus: Eine feministische Kritik

Ich möchte mich nun der Einschätzung des späten wohlfahrts-staatlichen Kapitalismus durch Habermas zuwenden. Ich muß gleich zu Beginn zugestehen, daß ihr kritisches Potential, anders als das kritische Potential seiner Darstellung des klassischen Kapi-talismus, nicht einfach durch eine Rekonstruktion des nichtthe-matisierten »unterlegten Geschlechtertextes« herausgelöst werden kann. Hier wird die Analyse als ganze durch die problematischen Züge des sozialtheoretischen Rahmens von Habermas tendenziell beeinträchtigt und ihr Vermögen, die Kämpfe und Wünsche der Frauen in der Gegenwart zu erhellen, geschwächt. Um zu zeigen, wie dies geschieht, möchte ich die Sichtweise von Habermas in sechs Thesen darstellen.

Erstens entsteht der wohlfahrtsstaatliche Kapitalismus in der Folge von und als Antwort auf Unsicherheiten oder Krisentenden-

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zen, die dem klassischen Kapitalismus innewohnen. Er ordnet die Beziehungen zwischen der (offiziellen) Ökonomie und dem Staat, das heißt zwischen den privaten und öffentlichen Systemen neu. Diese werden enger miteinander verflochten, sobald der Staat ak-tiv die Aufgabe eines Krisenmanagements übernimmt. Der wohl-fahrtsstaatliche Kapitalismus versucht, ökonomische Krisen durch Keynesianische »marktersetzende« Strategien abzuwenden oder zu bewältigen, wobei ein »öffentlicher Sektor« entsteht. Und er versucht, soziale und politische Krisen durch »marktkompen-sierende« Maßnahmen abzuwenden oder zu bewältigen, worin Zugeständnisse in bezug auf die Wohlfahrt an Gewerkschaften und soziale Bewegungen eingeschlossen sind. Auf diese Weise überwindet der wohlfahrtsstaatliche Kapitalismus teilweise die Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit auf der Ebene der Systeme.35

Zweitens ist die Neuordnung der Beziehungen von (offizieller) Ökonomie und Staat begleitet von einem Wandel der Beziehungen dieser Systeme zu den privaten und öffentlichen Sphären der Le-benswelt. In bezug auf die Privatsphäre wächst der Verbraucher-rolle ein erhöhtes Gewicht zu, weil mit der bezahlten Arbeit verbundene Unzufriedenheiten durch gesteigerten Warenver-brauch kompensiert werden. In Hinsicht auf die Öffentlichkeit erfährt die Staatsbürgerrolle einen beträchtlichen Bedeutungs-schwund, weil der Journalismus zum Massenmedium wird, die politischen Parteien bürokratisiert werden und Partizipation auf gelegentliches Wählen reduziert wird. Statt dessen wird das Ver-hältnis zum Staat zunehmend durch eine neue Rolle gelenkt: der des Klienten des Sozialstaats.36

Drittens sind die Entwicklungen »ambivalent«. Auf der einen Seite gibt es mit der Etablierung neuer sozialer Rechte, die die bislang unbeschränkte Macht des Kapitals am (bezahlten) Arbeits-platz und des Paterfamilias in der bürgerlichen Familie begrenzen, einen Zugewinn an Freiheit; und Sozialversicherungsprogramme stellen einen klaren Fortschritt gegenüber dem Paternalismus der Armenfürsorge dar. Auf der anderen Seite führen die zur Realisie-rung dieser neuen sozialen Rechte verwendeten Mittel tendenziell dazu, die Freiheit zu gefährden. Diese Mittel - die bürokratischen Prozeduren und die monetäre Form - strukturieren die An-spruchsberechtigungen, die Beihilfen und sozialen Dienste des Wohlfahrtssystems, und indem sie das tun, entmachten sie die

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Klienten, machen diese von Bürokratien und »Therapeutokra-tien« abhängig und hindern sie am Gebrauch ihrer Fähigkeiten, die eigenen Bedürfnisse, Erfahrungen und Lebensprobleme zu in-terpretieren.37

Viertens sind die ambivalentesten Maßnahmen der Wohlfahrt solche, die Materien wie das Gesundheitswesen, die Altenpflege, die Erziehung und das Familienrecht betreffen. Denn wenn büro-kratische und monetäre Medien diese Bereiche strukturieren, dringen sie in die »Kernbereiche« der Lebenswelt ein: Sie wandeln Funktionen der symbolischen Reproduktion wie die Sozialisation und die Formierung sozialer Solidaritäten in systemisch integrierte Mechanismen um, die den Menschen als strategisch handelnde, eigen-interessierte Monade ausrichten. Angesichts des inhärenten Symbolcharakters dieser Funktionen und ihrer internen Bezie-hung zur sozialen Integration sind die Effekte zwangsläufig »pa-thologisch«. Daher sind diese Maßnahmen ambivalenter als, sagen wir, Reformen im Bereich des bezahlten Arbeitsplatzes. Die letz-teren beziehen sich auf einen Bereich, der bereits über Geld und Macht integriert ist und der den Funktionen der materiellen - im Gegensatz zur symbolischen - Reproduktion dient. Deshalb brin-gen Reformen des Lohnarbeitsplatzes - anders als zum Beispiel familienrechtliche Reformen - nicht notwendig »pathologische« Nebenwirkungen hervor.38

Fünftens verursacht der wohlfahrtsstaatliche Kapitalismus auf diese Weise eine »innere Kolonisierung der Lebenswelt«. Geld und Macht hören auf, bloße Medien eines Austauschs zwischen System und Lebenswelt zu sein. Statt dessen neigen sie zuneh-mend dazu, die internen Dynamiken der Lebenswelt zu durch-dringen. Die privaten und öffentlichen Sphären ordnen nicht länger die (offizielle) Ökonomie und das administrative System den Normen, Werten und Interpretationen des Alltagslebens un-ter. Vielmehr werden letztere zunehmend den Erfordernissen der (offiziellen) Ökonomie und der Verwaltung unterstellt. Die Rol-len des Arbeitenden und des Bürgers hören auf, den Einfluß der Lebenswelt in Richtung auf die Systeme zu kanalisieren. An deren Stelle kanalisieren die neu inflationierten Rollen des Verbrauchers und des Klienten die kausalen Wirkungen des Systems auf die Lebenswelt. Zudem läßt das Vordringen von systemisch integrier-ten Mechanismen in Bereiche, die inhärent nach sozialer Integra-tion verlangen, »Verdinglichungsphänomene« entstehen. Die be-

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troffenen Bereiche sind nicht nur vom tradierten, normativ gesicherten Konsens, sondern von den »Wertorientierungen« überhaupt abgelöst. Das Ergebnis ist die »Austrocknung der kom-munikativen Kontexte« und die »Erschöpfung nichterneuerbarer kultureller Ressourcen«, die zum Erhalt personaler und kollekti-ver Identität benötigt werden. So wird die symbolische Reproduk-tion destabilisiert, die Identitäten sind bedroht, und es entwickeln sich Krisentendenzen.39

Sechstens entzündet die Kolonialisierung der Lebenswelt neu-artige soziale Konflikte, die für den wohlfahrtsstaatlichen Kapita-lismus eigentümlich sind. »Neue soziale Bewegungen« entstehen in einer »neuen Konfliktzone« an der »Nahtstelle von System und Lebenswelt«. Sie antworten auf systemisch herbeigeführte Identi-tätsbedrohungen durch Anfechtung derjenigen Rollen, die diese Bedrohungen vermitteln. Sie bekämpfen die via Arbeiterrolle er-zeugte Instrumentalisierung der Berufsarbeit und der Erziehung sowie die Monetarisierung der Beziehungen und der Lebensstile, die ihrerseits von einer inflationierten Verbraucherrolle vermittelt wird, sie bekämpfen die via Klientenrolle vermittelte Bürokrati-sierung der sozialen Dienste und Lebensprobleme, und sie be-kämpfen die Regeln und Routinen der Interessenpolitik, die über die ausgezehrte Staatsbürgerrolle übermittelt werden. Dement-sprechend unterscheiden sich die Konflikte an der Schnittkante der Entwicklungen im wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus sowohl von Klassenkämpfen als auch von bürgerlichen Freiheitskämpfen. Sie antworten auf Krisentendenzen in der symbolischen Repro-duktion, nicht der materiellen Reproduktion, und sie bekämpfen nicht Verteilungs- oder Statusungleichheiten, sondern die Ver-dinglichung und »die Grammatik der Lebensformen«.40

Die verschiedenen neuen sozialen Bewegungen können hin-sichtlich ihres emanzipatorischen Potentials eingeteilt werden. Das Kriterium ist das Ausmaß, in dem sie eine echte emanzipato-rische Auflösung der Krise des wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus voranbringen, nämlich die »Entkolonialisierung der Lebenswelt«. Die Entkolonialisierung umfaßt drei Dinge: (1) das Zurückdrän-gen systemisch integrierter Mechanismen aus den Sphären symbo-lischer Reproduktion, (2) die Ersetzung (bestimmter) normativ stabilisierter Kontexte durch kommunikativ gesicherte Kontexte und (3) die Entwicklung neuer, demokratischer Institutionen, die fähig sind, die Kontrolle der Lebenswelt über die staatlichen und

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die (offiziellen) ökonomischen Systeme durchzusetzen. Daher sind solche Bewegungen wie etwa der religiöse Fundamenta-lismus, die traditionelle Lebensweltnormen gegen vordringende systemische Prozesse verteidigen wollen, nicht genuin emanzipa-torisch; sie bekämpfen aktiv das zweite Element der Entkoloniali-sierung und nehmen das dritte nicht auf. Bewegungen, die Frieden und Ökologie verteidigen, sind besser; sie zielen darauf ab, den vordringenden systemischen Prozessen Widerstand zu bieten und auch neue, reformierte, kommunikativ zustande gebrachte Inter-aktionszonen zu schaffen. Aber selbst diese Bewegungen sind »problematisch«, insofern sie dazu neigen, sich in alternative Ge-meinschaften und »partikularistische« Identitäten »zurückzuzie-hen«, insofern sie auf das dritte Element der Entkolonialisierung verzichten und die (offiziellen) ökonomischen und staatlichen Sy-steme ungeprüft lassen. In dieser Hinsicht sind sie mehr sympto-matisch als emanzipatorisch: sie drücken die Identitätsstörungen aus, die von der Kolonialisierung verursacht sind. Die feministi-sche Bewegung stellt dagegen so etwas wie eine Anomalie dar. Sie allein ist »offensiv«, beabsichtigt, »neue Territorien zu erobern«, und sie allein hält an Verbindungen zu historischen Befreiungsbe-wegungen fest. Im Grunde bleibt nur der Feminismus in einer »universalistischen Moral« verwurzelt. Gleichwohl ist er mit den Widerstandsbewegungen durch ein Element von »Partiku-larismus« verbunden. Und er neigt zeitweise dazu, sich in Iden-titäten und Gemeinschaften »zurückzuziehen«, die um die natür-liche Kategorie des biologischen Geschlechts herum organisiert sind.41

Was sind nun die kritischen Einsichten und blinden Flecken in der Beschreibung, die Habermas von der Dynamik des wohl-fahrtsstaatlichen Kapitalismus gibt? In welchem Umfang dient diese Darstellung der Selbstklärung der Kämpfe und Wünsche der Frauen in der Gegenwart? Ich werde die sechs Thesen jeweils ge-trennt aufnehmen.

Die erste These von Habermas ist geradlinig und unbestreitbar. Der Wohlfahrtsstaat betreibt in der Tat Krisenmanagement und überwindet zum Teil die Trennung von öffentlich und privat auf der Ebene der Systeme.

Die zweite These von Habermas enthält einige wichtige Ein-sichten. Der wohlfahrtsstaatliche Kapitalismus inflationiert die Rolle des Verbrauchers und stuft die Staatsbürgerrolle herab, re-

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duziert letztere wesentlich auf das Wählen und - das sollte ich hinzufügen - auf das Soldatentum. Darüber hinaus richtet der Wohlfahrtsstaat seine Subjekte tatsächlich zunehmend auf die Klientenrolle aus. Auf der anderen Seite gelingt es Habermas wie-der nicht, den unterlegten Geschlechtertext dieser Entwicklungen zu sehen. Er übersieht, daß die neue Klientenrolle ein Geschlecht hat, daß es eine paradigmatisch weibliche Rolle ist. Er übersieht die Tatsache, daß die Klienten des Wohlfahrtsstaats überwiegend Frauen sind, besonders alte Frauen, arme Frauen, alleinstehende Frauen mit Kindern. Er bemerkt nicht, daß viele Wohlfahrtssy-steme intern zweigeteilt und geschlechtlich verfaßt sind, daß sie zwei Grundarten von Programmen umfassen - »männliche« Sozi-alversicherungsprogramme, die an die vorrangige elementare Inte-gration in die Erwerbsarbeit geknüpft sind und dazu vorgesehen sind, den Haupternährern zu nutzen, und »weibliche« Pro-gramme, die auf das ausgerichtet sind, was als häusliches »Schei-tern« verstanden wird - kurz: auf Familien ohne einen männlichen Ernährer. Es überrascht nicht sonderlich, daß diese zwei Wohl-fahrtssysteme voneinander getrennt und ungleichgewichtig sind. Klienten »weiblicher« Programme, im Grunde genommen aus-schließlich Frauen und ihre Kinder, werden in einer aufschlußrei-chen feminisierenden Weise als die »Negativbilder besitzender Individuen« hingestellt: sie sind größtenteils vom Markt als Arbei-tende und Verbraucher ausgeschlossen und werden familialisiert, das heißt, sie sind gezwungen, Beihilfen nicht als Individuen, son-dern als Mitglieder »defekter« Haushalte zu beantragen. Auch werden sie stigmatisiert, Rechte werden ihnen verweigert, sie sind der Beaufsichtigung unterstellt und behördlicher Belästigung aus-gesetzt, und sie werden allgemein zu verachtenswerten Abhängi-gen staatlicher Bürokratien gemacht.42 Das aber bedeutet, daß der Aufstieg der Klientenrolle im wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus eine komplexere Bedeutung hat, als es Habermas zugesteht. Es handelt sich nicht nur um einen Wandel in der Verbindung zwi-schen systemischen und lebensweltlichen Institutionen; es ist auch ein Wandel im Charakter der männlichen Herrschaft, in Carol Browns Worten, ein Wechsel »vom privaten Patriarchat zum öf-fentlichen Patriarchat«.43

Dieser Wandel gibt der Bedeutung der dritten These von Haber-mas eine ganz andere Wendung. Er legt nahe, daß Habermas mit der »Ambivalenz« des wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus recht

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hat, aber nicht völlig und nicht allein in der Weise, wie er glaubt. Und er legt nahe, daß Maßnahmen des Wohlfahrtsstaats eine posi-tive Seite haben, insoweit sie die Abhängigkeit der Frauen von einem individuellen männlichen Ernährer verringern. Dennoch haben sie auch eine negative Seite, insofern sie die Abhängigkeit durch eine patriarchale und androzentrische Bürokratie ersetzen. Die erlangten Vorteile sind, wie Habermas sagt, »systemkon-forme« Vorteile. Aber das System, dem sie konform sind, ist als das System der offiziellen, staatlich regulierten, kapitalistischen Ökonomie nur unzureichend charakterisiert. Es ist ebenso das Sy-stem männlicher Herrschaft, das sich selbst auf die soziokulturelle Lebenswelt erstreckt. Anders ausgedrückt: Die Ambivalenz stammt nicht nur, wie Habermas zu verstehen gibt, von der Tatsa-che, daß die Klientenrolle Effekte der »Verdinglichung« mitführt. Sie rührt auch von der Tatsache her, daß diese Rolle als weibliche Rolle in einer neuen, sagen wir: »modernisierten« und »rationali-sierten« Form die Unterordnung der Frauen fortsetzt. So etwa kann Habermas' dritte These in einer feministischen kritischen Theorie reformuliert werden - selbstverständlich ohne seine Ein-sichten in die Form aufzugeben, in der Wohlfahrtsbürokratien und Therapeutokratien die Klienten entmachten, indem sie diese am Gebrauch ihrer Fähigkeiten, die eigenen Bedürfnisse, Erfahrun-gen und Lebensprobleme zu interpretieren, hindern.

Dagegen kann die vierte These von Habermas nicht so einfach reformuliert werden. Sie behauptet, daß wohlfahrtsstaatliche Re-formen, beispielsweise der häuslichen Sphäre, ambivalenter sind als Reformen des Arbeitsplatzes. Das ist in dem Sinne empirisch wahr, den ich soeben beschrieben habe - aber das ist dem patriar-chalen Charakter des Wohlfahrtssystems geschuldet und nicht dem inhärent symbolischen Charakter der lebensweltlichen Insti-tutionen, wie Habermas behauptet. Seine Behauptung beruht auf zwei Annahmen, die ich bereits bestritten habe. Erstens beruht sie auf der naturalistischen Interpretation der Unterscheidung zwi-schen Tätigkeiten der symbolischen und der materiellen Repro-duktion, das heißt auf der falschen Annahme, Kinderaufziehen sei inhärent stärker symbolisch und weniger materiell verfaßt als an-dere Arbeit. Und zweitens beruht sie auf der Interpretation, daß es sich bei der Unterscheidung von systemisch-integrierten versus sozial-integrierten Handlungskontexten um absolute Differenzen handelt, das heißt, sie beruht auf der falschen Annahme, Geld und

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Macht wären nicht bereits in den inneren Dynamiken der Familie verankert. Wenn wir diese Annahmen zurückweisen, gibt es je-doch keine kategoriale, das heißt nicht-empirische Basis, um die zwei Arten von Reformen verschieden bewerten zu können. Wenn es grundsätzlich fortschrittlich ist, daß sich bezahlte Arbeitende die Mittel verschaffen, ihren Arbeitgebern strategisch entgegenzu-treten und Macht gegen Macht zu setzen, Recht gegen Recht, dann müßte es im Prinzip genauso fortschrittlich sein, daß Frauen ähn-liche Mittel zu ähnlichen Zwecken in der Politik des familiären und persönlichen Lebens erlangen. Und wenn es »pathologisch« ist, daß Frauen im Zuge der Herstellung eines besseren Macht-gleichgewichts innerhalb des familiären und persönlichen Lebens zu Klienten der Staatsbürokratien werden, dann müßte es im Prin-zip ebenso »pathologisch« sein, daß bei Erreichen eines ähnlichen Ziels im Bereich der bezahlten Arbeit die bezahlt Arbeitenden zu Klienten werden - was nichts an der Tatsache ändert, daß in Wirk-lichkeit unbezahlte Mütter und bezahlte Arbeitende zwei ver-schiedene Sorten von Klienten werden. Aber natürlich ist der eigentliche Punkt, daß der Begriff >pathologisch< hier mißbraucht wird, insofern er die unhaltbare Annahme voraussetzt, daß Kin-deraufziehen und andere Arbeit, was die systemische Integration betrifft, ungleichartig sind.

Dies wirft auch ein neues Licht auf die fünfte These von Haber-mas. Diese fünfte These besagt, daß mit dem wohlfahrtsstaat-lichen Kapitalismus eine innere Kolonialisierung der Lebenswelt durch Systeme einsetzt. Sie beruht auf drei Annahmen. Bei den ersten beiden Annahmen handelt es sich wieder um die oben zu-rückgewiesenen Annahmen, nämlich um die naturalistische Inter-pretation der Unterscheidung zwischen den Tätigkeiten der sym-bolischen und materiellen Reproduktion und um die unterstellte Jungfräulichkeit der häuslichen Sphäre in bezug auf Geld und Macht. Die dritte Annahme besteht darin, daß die richtungswei-sende Bewegung in der spätkapitalistischen Gesellschaft von der staatlich regulierten Ökonomie zur Lebenswelt verläuft und nicht umgekehrt. Der weibliche, der Klientenrolle unterlegte Ge-schlechtertext widerspricht dieser Annahme: Denn dieser Text legt nahe, daß selbst im Spätkapitalismus die Bedeutungen und Normen der Geschlechteridentität die Einwirkung der Lebens-welt kontinuierlich auf die Systeme kanalisieren. Diese Normen strukturieren weiterhin die staatlich regulierte Ökonomie, wie der

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Fortbestand, ja sogar die Verschärfung der geschlechterspezifi-schen Segmentierung des Arbeitsmarkts zeigt.44 Und diese Nor-men strukturieren ebenfalls die staatliche Verwaltung, wie die geschlechterspezifische Segmentierung der sozialen Sicherungssy-steme in den Vereinigten Staaten und Europa zeigt.45 Demgemäß ist es nicht der Fall, daß im Spätkapitalismus eindringende syste-mische Mechanismen die Lebenskontexte von »Wertorientierun-gen überhaupt« lösen. Der wohlfahrtsstaatliche Kapitalismus benutzt ganz im Gegenteil einfache andere Mittel, um den be-kannten, »normativ gesicherten Konsens« aufrechtzuerhalten, der die männliche Herrschaft und die weibliche Unterordnung bein-haltet. Aber die Habermassche Theorie übersieht diese Gegenbe-wegung von der Lebenswelt hin zum System. Dementsprechend stellt seine Theorie das, was am wohlfahrtsstaatlichen Kapitalis-mus schlecht ist, als das Übel einer allgemeinen und unterschieds-losen Verdinglichung hin. In der Folge gelingt es ihr nicht, der Tatsache Rechnung zu tragen, daß unverhältnismäßig viele Frauen unter den Auswirkungen der Bürokratisierung und Monetarisie-rung leiden, daß die Bürokratisierung und Monetarisierung struk-turell gesehen u. a. Instrumente der Unterordnung von Frauen sind.

Dies zieht unweigerlich die Revision der sechsten These von Habermas nach sich. Diese These betrifft die Ursachen, den Cha-rakter und das emanzipatorische Potential sozialer Bewegungen einschließlich des Feminismus in spätkapitalistischen Gesellschaf-ten. Da diese Punkte für die Belange dieses Aufsatzes so zentral sind, rechtfertigen sie eine ausführlichere Diskussion.

Habermas erklärt die Existenz und den Charakter der neuen sozialen Bewegungen einschließlich des Feminismus in Begriffen der Kolonialisierung, das heißt, in Begriffen des Vordringens sy-stemisch integrierter Mechanismen in die Sphären symbolischer Reproduktion und der nachfolgenden Erosion und Austrocknung von Interpretations- und Kommunikationskontexten. Aber ange-sichts der in viele Richtungen gehenden kausalen Wirkungen im wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus, sind die Begriffe >Koloniali-sierung<, >Vordringens >Erosion< und >Austrocknung< zu negativ und einseitig, um dem Identitätswechsel, der sich in sozialen Be-wegungen manifestiert, gerecht zu werden. Ich möchte - wenig-stens für den Fall der Frauen - eine alternative Erklärung versu-chen, indem ich die wichtige Einsicht von Habermas aufgreife,

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daß ein Großteil der gegenwärtigen Konflikte um die die Institu-tionen vermittelnden Rollen des Arbeitenden, Verbrauchers, Staatsbürgers und Klienten herum angesiedelt sind. Diesen Rollen möchte ich die Rolle der/des Kinderbetreuerin/betreuers zufügen und hinzusetzen, daß alle diese Rollen geschlechterspezifische sind. Nun ist zu überlegen, was in dieser Perspektive die Erfah-rung von Millionen Frauen bedeutet, speziell von verheirateten Frauen und Frauen mit Kindern, die in der Nachkriegszeit bezahlt Arbeitende und/oder Klienten der Wohlfahrt wurden. Ich habe schon angedeutet, daß dies eine Erfahrung neuer, verschärfter For-men der Beherrschung war; es war jedoch auch eine Erfahrung, in der die Frauen oft zum ersten Mal die Möglichkeiten erleben konnten, die ihnen ein Maß an relativer ökonomischer Unabhän-gigkeit, eine Identität außerhalb des häuslichen Bereichs und eine erweiterte politische Beteiligung boten. Es war vor allem eine Er-fahrung des Konflikts und des Widerspruchs, da die Frauen ver-suchten, das Unmögliche zu tun, nämlich die bestehenden Rollen des Kinderaufziehers, des bezahlt Arbeitenden, des Klienten und des Staatsbürgers gleichzeitig zu jonglieren. Die Zerreißprobe die-ser miteinander unvereinbaren Rollen war schmerzhaft und iden-titätsbedrohend, aber nicht einfach negativ.46 Gleichzeitig auf widersprüchliche Weise angerufen, sind die Frauen zu gespaltenen Subjekten geworden; infolgedessen sind die Rollen selbst, die zu-vor in ihren abgetrennten Sphären geschützt gewesen waren, plötzlich der Anfechtung preisgegeben worden. Sollen wir hier wie Habermas von einer »Krise der symbolischen Reproduktion« sprechen? Die Antwort lautet entschieden »nein«, wenn damit die Austrocknung von Bedeutungen und Werten gemeint sein soll, die durch das Vordringen von Geld und Macht in das Leben der Frauen bewirkt wird. Die Antwort lautet emphatisch »ja«, wenn damit vielmehr gemeint ist, daß die Probleme und Möglichkeiten sichtbar werden und angegangen werden können, die innerhalb des etablierten Rahmens geschlechterspezifischer Rollen und In-stitutionen nicht gelöst beziehungsweise realisiert werden kön-nen.

Wenn die Kolonialisierung keine angemessene Erklärung des gegenwärtigen Feminismus und der anderen neuen sozialen Bewe-gungen ist, dann kann die Entkolonialisierung auch keine hinläng-liche Konzeption einer emanzipatorischen Lösung sein. Aus der Perspektive, die ich skizziert habe, liegt das erste Element der

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Entkolonialisierung - nämlich das Zurückdrängen systemisch in-tegrierter Mechanismen aus den Sphären der symbolischen Repro-duktion - konzeptuell und empirisch schief zu den wirklichen Ausgangsfragen. Wenn die moralische Überlegenheit kooperativer und egalitärer Interaktionen über strategische und hierarchische Interaktionen der eigentliche Punkt ist, dann führt eine Überbeto-nung der Institutionen der Lebenswelt in die Irre - der Punkt sollte für die bezahlte Arbeit und die politische Verwaltung ge-nauso gültig sein wie für das häusliche Leben. Auch das dritte Element der Entkolonialisierung - nämlich die Richtungsumkeh-rung des Einflusses und der Kontrolle vom System hin zur Le-benswelt - muß abgewandelt werden. Da die sozialen Bedeutun-gen der Geschlechtlichkeit immer noch die spätkapitalistischen, offiziell ökonomischen und staatlichen Systeme strukturieren, ist die Frage nicht, ob Normen der Lebenswelt entscheidend sein werden, sondern vielmehr welche Normen der Lebenswelt ent-scheidend sein werden.

Das impliziert, daß der Schlüssel zu einem emanzipatorischen Ergebnis im zweiten Element der Entkolonialisierungskonzep-tion von Habermas liegt - nämlich im Ersatz der normativ gesi-cherten Interaktionskontexte durch kommunikativ etablierte Kontexte. Die zentrale Stellung dieses Elements wird ersichtlich, wenn wir bedenken, daß dieser Prozeß gleichzeitig an zwei Fron-ten auftritt. Erstens tritt er in den Kämpfen der sozialen Bewe-gungen mit dem Staat und den Institutionen des offiziellen öko-nomischen Systems auf; diese Kämpfe werden nicht nur über systemische Medien geführt - sie werden auch über die Bedeutun-gen und Normen geführt, die im Regierungssystem und in der Politik der Körperschaften eingebaut sind und zur Geltung ge-bracht werden . Zweitens tritt dieser Prozeß in einem von Habermas nicht thematisierten Phänomen auf: in den Kämpfen zwischen konkurrierenden sozialen Bewegungen mit widerstreitenden In-terpretationen sozialer Bedürfnisse. Beide Arten von Kämpfen beinhalten Konfrontationen von normativ gesichertem und kom-munikativ erzeugtem Handeln. Beide beinhalten Bestrebungen nach Hegemonie über das, was ich »die soziokulturellen Mittel der Interpretation und Kommunikation« nenne. Zum Beispiel hat die widersprüchliche, entzweiende Erfahrung der Frauen in dem Ver-such, Erwerbstätige und Mutter, Klient und Staatsbürger zugleich zu sein, in den meisten spätkapitalistischen Gesellschaften nicht

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eine, sondern zwei Frauenbewegungen hervorgebracht: eine femi-nistische und eine antifeministische. Diese Bewegungen sind zu-sammen mit ihren jeweiligen Verbündeten in Kämpfe untereinan-der und mit staatlichen und körperschaftlichen Institutionen verwickelt, in Kämpfe um die sozialen Bedeutungen von »Frau« und »Mann«, von »Weiblichkeit« und »Männlichkeit«; in Kämpfe um die Interpretation und die soziale Konstruktion des Körpers der Frau; und um die geschlechterspezifischen Normen, welche die wichtigsten, Institutionen vermittelnden, sozialen Rollen formen. Natürlich wurden die Mittel der Interpretation und Kommunika-tion, in deren Begriffen die sozialen Bedeutungen dieser Gegen-stände gebildet werden, immer schon durch Männer kontrolliert. Daher kämpfen die feministischen Frauen in Wirklichkeit darum, den Zugang zu den diskursiven Ressourcen und die Kontrolle über sie umzuverteilen und zu demokratisieren. Wir kämpfen deshalb für die Autonomie der Frauen in dem folgenden spezifischen Sinne: für ein Maß an kollektiver Kontrolle über die Mittel der Interpre-tation und Kommunikation, das ausreicht, um uns eine mit den Männern gleichgestellte Teilnahme an allen Arten der sozialen In-teraktion zu erlauben, einschließlich der politischen Beratung und Entscheidungsfindung.47

Die vorangegangenen Überlegungen legen nahe, daß hinsicht-lich des Gebrauchs der Begriffe >Partikularismus< und >Universa-lismus< Vorsicht angebracht ist. Ich erinnere daran, daß die sechste These von Habermas die Verbindungen des Feminismus zu histo-rischen Befreiungsbewegungen und dessen Verwurzelung in der universalistischen Moral betonte. Erinnert sei auch daran, daß Habermas solchen Tendenzen innerhalb des Feminismus, und in Widerstandsbewegungen allgemein, kritisch gegenübersteht, die die Identitätsproblematik im Rekurs auf den Partikularismus zu lösen versuchen, also sich von den Arenen des politischen Kamp-fes zurückziehen und in alternative Gemeinschaften begeben, die auf der Basis natürlicher Kategorien wie des biologischen Ge-schlechts abgegrenzt sind. Ich will damit sagen, daß sich hier in Wirklichkeit drei Fragen stellen und daß diese Fragen auseinan-dergehalten werden müssen. Die eine Frage ist die Streitfrage: politisches Engagement versus unpolitische, gegenkulturelle Betä-tigung. Insoweit die These von Habermas eine Kritik des kulturel-len Feminismus ist, sei sie grundsätzlich akzeptiert. Aber sie muß durch zwei Einsichten spezifiziert werden: Kultureller Separatis-

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mus ist, obwohl als langfristige politische Strategie ungeeignet, in vielen Fällen eine kurzfristige Notwendigkeit für das physische, psychologische und moralische Überleben der Frauen; und sepa-ratistische Gemeinschaften sind faktisch die Quelle zahlreicher Reinterpretationen der Erfahrungen von Frauen gewesen, die sich im Streit um die Mittel der Interpretation und Kommunikation als politisch fruchtbar erwiesen haben. Die zweite Streitfrage ist der Status der Biologie der Frau in der Ausbildung neuer sozialer Identitäten. Insoweit die These von Habermas eine Kritik eines verkürzten Biologismus ist, wird sie akzeptiert. Aber daraus folgt nicht, daß die Tatsache, daß die Biologie der Frau fast immer von Männern interpretiert wurde und daß der Kampf der Frauen um Autonomie notwendig und richtig die Reinterpretation der sozia-len Bedeutungen unserer Körper einschließt, ignoriert werden kann. Die dritte Streitfrage betrifft das schwierige und komplexe Problem von Universalismus versus Partikularismus. In dem Maße, in dem Habermas' Bekräftigung des Universalismus auf der Metaebene des Zugangs zu den Mitteln der Interpretation und Kommunikation sowie der Kontrolle über sie angesiedelt ist, sei sie akzeptiert. Auf dieser Ebene kann der Kampf der Frauen um Autonomie in Begriffen einer universalistischen Konzeption dis-tributiver Gerechtigkeit verstanden werden. Aber daraus folgt nicht, daß der substantielle Gehalt, der aus diesem Kampf er-wächst -nämlich die neuen sozialen Bedeutungen, die wir unseren Bedürfnissen und unseren Körpern geben, also unsere neuen so-zialen Identitäten und Konzeptionen von Weiblichkeit -, daß dieser Gehalt als ein partikularistisches Abweichen vom Universa-lismus abgetan werden kann. Diese Bedeutungen sind sicherlich nicht partikularistischer als die sexistischen und androzentrischen Bedeutungen und Normen, welche sie ersetzen sollen. Allgemei-ner gesagt: Auf der Ebene substantieller Inhalte ist im Gegensatz zur Metaebene der dialogischen Form die Entgegensetzung von Universalismus und Partikularismus unangebracht. Substantielle soziale Bedeutungen und Normen sind notwendigerweise immer kulturell und historisch spezifisch; sie drücken immer verschie-dene geteilte, aber nichtuniverselle Lebensformen aus. Feministi-sche Bedeutungen und Normen machen keine Ausnahme - aber sie werden nach dieser Einschätzung nicht in irgendeinem pejora-tiven Sinne partikularistisch sein. Sagen wir einfach, sie werden anders sein.

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Ich habe dafür argumentiert, daß die Kämpfe der sozialen Be-wegungen um die Mittel der Interpretation und Kommunikation für eine Auflösung der Krisentendenzen im wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus zentral sind. Nun möchte ich ihr Verhältnis zum institutionellen Wandel klären. Solche Kämpfe, behaupte ich, wer-fen implizit und explizit eine Reihe wichtiger Fragen auf: Sollen die Rollen des Arbeitenden, des Kinderaufziehers, des Staatsbür-gers und des Klienten völlig ungeschlechtlich sein? Können sie es sein? Oder brauchen wir vielmehr Regelungen, die es den Frauen erlauben, als Frauen Arbeitende und Staatsbürger zu sein, genau wie die Männer immer als Männer Arbeitende und Staatsbürger gewesen sind? Und was würde das bedeuten? Verlangt nicht ein emanzipatorisches Ergebnis in jedem Fall eine gründliche Umge-staltung der jetzigen Geschlechterrollen an der Basis der heutigen sozialen Organisation? Und verlangt das nicht wiederum eine grundlegende Umgestaltung des Inhalts, des Charakters, der Grenzen und der Beziehungen der Lebensbereiche, die diese Rol-len vermitteln? Wie sollen das Wesen und die Stellung der bezahl-ten Arbeit, des Kinderaufziehens und des Staatsbürgerstatus jeweils zueinander festgelegt werden? Sollte demokratisch-so-zialistisch-feministische, selbstverwaltete bezahlte Arbeit das Kinderaufziehen einschließen? Oder sollte nicht vielmehr das Kinderaufziehen das Soldatentum als eine Komponente des umge-stalteten, demokratisch-sozialistisch-feministischen, partizipato-rischen Staatsbürgerstatus ersetzen? Welche anderen Möglichkei-ten sind denkbar?

Ich möchte die Diskussion der sechs Thesen abschließen, indem ich die wichtigsten kritischen Punkte noch einmal formuliere. Er-stens mißlingt es der Konzeption von Habermas, den patriarcha-len, durch Normen vermittelten Charakter der offiziellen ökono-mischen und der administrativen Systeme des Spätkapitalismus theoretisch aufzunehmen. Ebenso mißlingt es ihr, den systemi-schen, durch Geld und Macht vermittelten Charakter der männ-lichen Herrschaft in der häuslichen Sphäre der spätkapitalistischen Lebenswelt theoretisch einzufangen. Infolgedessen gelingt es sei-ner Kolonialisierungsthese nicht zu erfassen, daß die Einflußka-näle zwischen systemischen und lebensweltlichen Institutionen in mehreren Richtungen verlaufen. Sie neigt eher dazu, das, was als eine institutionelle Hauptstütze der Frauenunterordnung im Spät-kapitalismus anzusehen ist, zu wiederholen statt zu problemati-

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sieren, nämlich die im Geschlechterverhältnis gründende Tren-nung sowohl der männlichen Öffentlichkeit als auch der staatlich regulierten Ökonomie mit ihrer geschlechterspezifisch segmen-tierten Erwerbsarbeit und sozialen Sicherung auf der einen Seite vom privatisierten weiblichen Kinderaufziehen auf der anderen. Obwohl Habermas gegenüber der männlichen Dominanz kritisch sein möchte, lenken seine zentralen Kategorien die Aufmerksam-keit auf das angeblich größere Problem der geschlechtsneutralen Verdinglichung ab. Deshalb geht seine programmatische Idee der Entkolonialisierung an den feministischen Schlüsselfragen vorbei; sie versäumt es, die Streitfrage anzusprechen, wie das Verhältnis des Kinderaufziehens zu bezahlter Arbeit und zum Staatsbürger-status umzustrukturieren sei. Letztlich tendieren die Kategorien von Habermas dazu, die Ursachen der feministischen Herausfor-derung falsch darzustellen und die Reichweite dieser Herausfor-derung für den wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus zu unterschät-zen . Kurz, die Kämpfe und Wünsche der Frauen in der Gegenwart werden durch eine Theorie, die zwischen dem System und den lebensweltlichen Institutionen die basale Frontlinie zieht, nicht angemessen geklärt. Aus einer feministischen Perspektive gibt es eine gravierendere Frontlinie zwischen den Formen männlicher Herrschaft, die das »System« mit der »Lebenswelt« verbinden und uns.

Schlußfolgerung

Die wichtigsten blinden Flecke der Habermasschen Theorie sind allgemein, was die Geschlechterproblematik angeht, auf seinen kategorialen Gegensatz zwischen den systemischen und den le-bensweltlichen Institutionen und auf die noch elementareren Ge-gensätze, aus denen ersterer zusammengesetzt ist, rückführbar: auf die Gegensätze der Reproduktion und der Handlungskon-texte. Oder genauer gesagt, die blinden Flecke sind auf die Art und Weise zurückzuführen, in der diese ideologisch und androzen-trisch interpretierten Gegensätze dazu tendieren, über andere Elemente zu dominieren und diese zu verdunkeln. Und zwar trifft dies die potentiell kritischeren Elemente aus Habermas' Theorie-gerüst - Elemente wie die Unterscheidung zwischen normativ gesicherten und kommunikativ erzeugten Handlungskontexten

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und wie das Vier-Begriffe-Modell der öffentlichen und privaten Beziehungen.

Ich denke, die blinden Flecke bei Habermas sind lehrreich. Sie erlauben uns, Schlüsse zu ziehen, wie der kategoriale Rahmen einer sozialistisch-feministisch gehaltenen kritischen Theorie des wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus aussehen sollte. Eine entschei-dende Anforderung an diesen Rahmen ist, daß die Kleinfamilie mit männlichem Oberhaupt und die staatlich regulierte, offizielle Ökonomie nicht auf den gegenüberliegenden Seiten der kategoria-len Hauptachse angeordnet werden. Wir benötigen vielmehr einen Rahmen, der für die Ähnlichkeiten zwischen beiden Institutionen empfänglich ist, der sie auf die gleiche Seite der Trennungslinie setzt, nämlich als Institutionen, die - wenn auch auf verschiedene Weise - die Unterordnung der Frauen erzwingen. Denn beide, die Familie und die offizielle Ökonomie eignen sich unsere Arbeit an, sabotieren unsere Beteiligung an der Interpretation unserer Be-dürfnisse und schützen normativ gesicherte Bedürfnisinterpreta-tionen vor der politischen Anfechtbarkeit. Eine zweite wesent-liche Anforderung besteht darin, daß dieser Rahmen keine a priori Annahmen über die einseitige Gerichtetheit des sozialen Prozesses und der kausalen Einflüsse enthalten soll. Er muß empfindlich sein für die Mittel, mit denen angeblich verschwindende Institu-tionen und Normen hartnäckig darin fortfahren, die soziale Realität zu strukturieren. Ein drittes Haupterfordernis - das letzte, das ich erwähnen werde - verlangt, daß dieser Rahmen das, was am wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus schlecht ist, nicht aus-schließlich oder hauptsächlich als das Übel der Verdinglichung postulieren soll. Was wir statt dessen brauchen, ist ein theore-tischer Rahmen, der imstande ist, das Übel von Beherrschung und Unterdrückung in den Vordergrund zu rücken.48

Anmerkungen

John Brenkman, Thomas McCarthy, Carole Pateman und Martin Schwab bin ich für ihre hilfreichen Kommentare und ihre Kritik dankbar. Dee Mar-quez und Marina Rosiene danke ich für die ausgezeichnete Textverarbei-tung und The Stanford Humanities Center für die finanzielle Unterstüt-zung.

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1 Karl Marx, Brief an A. Rüge, September 184}, in: Marx/Engels Ge-samtausgabe (= MEGA). 3. Abtg. Briefwechsel Bd. 1, Berlin 1975, S. 57.

2 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Zwei Bände, Frankfurt a.M. 1981. Siehe auch J. Habermas, Legitimations-probleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a.M. 1979; und die Einlei-tung zu J. Habermas (Hg.), Stichworte zur >Geistigen Situation der Zeit', Frankfurt a. M. 1979; und Replik auf Einwände, in: J. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Han-delns, Frankfurt a.M. 1984, S. 475ff. Zwei Uberblicke zu dieser Lite-ratur waren mir sehr hilfreich: Thomas McCarthy, Translator's Intro-duction zu Band 1 von: J. Habermas, The Theory of Communicative Action, Boston 1984, v-xxxvii., und John B. Thompson, Rationality and Social Rationalisation: An Assessment of Habermas's Theory of Communicative Action, in: Sociology ¡7, Nr. 2/1983, S. 278-294.

3 Ich werde nicht solche breit diskutierten Themen aufnehmen wie Ha-bermas' Theorie der Universalpragmatik und der sozialen Evolution. Erörterungen dieser Themen finden sich in: David Held/John B. Thompson (Hg.), Habermas: Critical Debates, Cambridge, Mass. 1982.

4 Habermas, Theorie Bd. 2, S. 214, S. 217, S. 348 f.; Legitimationspro-bleme, S. 19 f.; und Replik auf Einwände, S. 546 f., S. 561-563; siehe auch McCarthy, Translator's Introduction, xxv-xxvii, und Thompson, Rationality, S. 285; a. a. O.

5 Habermas, Theorie Bd. 2, S. 208; und Replik auf Einwände, S. 482-485; McCarthy, Translator's Introduction, xxiv-xxv; a. a. O.

6 Martin Schwab schulde ich Dank für den Ausdruck »Tätigkeit mit zweifachem Aspekt«.

7 Es könnte argumentiert werden, die kategoriale Unterscheidung von Habermas zwischen »gesellschaftlicher Arbeit« und »Sozialisation« helfe, den Androzentrismus im orthodoxen Marxismus zu überwin-den. Der orthodoxe Marxismus zieht nur eine Art historisch bedeutsa-mer Tätigkeit in Betracht, nämlich »Produktion« oder »gesellschaft-liche Arbeit«. Zudem wurde diese Kategorie androzentrisch verstanden und schloß darum die unbezahlte Tätigkeit des Kinderaufziehens durch Frauen von der Geschichte aus. Im Gegensatz dazu berücksichtigt Ha-bermas zwei Arten historisch bedeutsamer Tätigkeiten, die »gesell-schaftliche Arbeit« und die »symbolischen« Tätigkeiten, die u.a. das Kinderaufziehen mit einschließen. Auf diese Weise bringt er es zuwege, die unbezahlte Arbeit der Frauen in die geschichtliche Dynamik aufzu-nehmen. Obwohl dies eine Verbesserung ist, genügt das nicht. Besten-falls führt das zu dem, was als »dual systems theory« bekannt ist, ein Ansatz, der zwei gesonderte »Systeme« menschlicher Betätigung vor-aussetzt und entsprechend auch zwei verschiedenartige »Systeme« der

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Unterdrückung: Kapitalismus und männliche Herrschaft. Aber das ist irreführend. Faktisch sind es nicht zwei verschiedenartige Systeme, sondern eher zwei völlig durchmischte Dimensionen einer einzigen gesellschaftlichen Formation. Um diese Gesellschaftsformation ver-stehen zu können, benötigt eine kritische Theorie nur ein einziges Bündel von Kategorien und Konzepten, die Geschlecht und politische Ökonomie (vielleicht auch Rasse) intern integrieren. Zu einer klassi-schen Darstellung der Theorie zweier Systeme siehe Heidi Hartmann, The Unhappy Marriage of Marxism and Feminism: Towards a More Progressive Union, in: Lydia Sargent (Hg.), Women and Revolution: A Discussion of the Unhappy Marriage of Marxism and Feminism, Bo-ston 1981. Zur Kritik der Theorie zweier Systeme siehe Iris Young, Beyond the Unhappy Marriage: A Critique of Dual Systems Theory, in: Women and Revolution; und Socialist Feminism and the Limits of Dual Systems Theory, in: Socialist Review, Nr. 50-51/1980, S. 169-180.

In Abschnitt 2 und 3 dieses Aufsatzes entwickle ich Argumente, die auf Konzepten und Kategorien beruhen, in denen Geschlecht und politi-sche Ökonomie intern integriert sind (siehe Anm. 34). Dies mag, im Gegensatz zur Theorie zweier Systeme, als Ansatz zu einer Theorie von einem »einzigen System« betrachtet werden. Ich finde diese Be-zeichnung jedoch irreführend, weil ich meinen Ansatz nicht haupt-sächlich oder ausschließlich als »System«-Ansatz begreife. Ich versuche vielmehr, ähnlich wie Habermas, strukturale (im Sinne objektivieren-der) und interpretative Ansätze der Sozialforschung zu verbinden. Aber anders als er, mache ich das nicht, indem ich die Gesellschaft in zwei Bestandteile, »System« und »Lebenswelt« zerlege; siehe den Schluß dieses Abschnitts, besonders Anm. 16.

8 Habermas, Theorie Bd. 1, S. 126f., S. 129-132, S. 150f., S. 458, S. 477-480; Theorie Bd. 2, S. 179; Legitimationsprobleme, S. i}-iy, Replik auf Einwände, S. 498L, S. 502L, S. 541-544; siehe auch McCarthy, Translatons Introduction, ix, xvix-xxx, a .a .O. Zur Dar-stellung der Unterscheidung zwischen systemisch integrierten und sozial integrierten Handlungskontexten stütze ich mich auf Legitima-tionsprobleme und modifiziere die Terminologie der Theorie des kom-munikativen Handelns. Genauer gesagt, ich wähle eine von verschiede-nen Verwendungsweisen aus, die im späteren Werk entfaltet werden. Dort spricht Habermas häufig von dem, was ich »sozial integriertes Handeln« nenne, als »kommunikativem Handeln«. Aber das erzeugt nur Verwirrung. Denn Habermas verwendet den letzteren Ausdruck auch in einem anderen, stärkeren Sinn. Nämlich nur für Handlungen, in denen die Koordination durch expliziten, dialogisch erzielten Kon-sens geschieht (was in diesem Abschnitt unten eingehender diskutiert wird). Um eine Wiederholung von Habermas' Zweideutigkeiten in

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dem Ausdruck kommunikatives Handeln< zu vermeiden, verwende ich die folgende Terminologie: Ich reserviere den Begriff kommunika-tiv erzeugtes Handeln< für Handlungen, die über einen ausdrücklichen, reflexiven, dialogisch zustande gekommenen Konsens koordiniert werden. Ich stelle dieses Handeln in einen Gegensatz zu >normativ gesichertem Handeln« oder zu Handlungen, die über einen verschwie-genen, vorreflexiven und vorgegebenen Konsens koordiniert werden. Derart definiert, verstehe ich kommunikativ erzeugte« und >normativ gesicherte« Handlungen als Unterarten dessen, was ich hier >sozial inte-griertes Handeln« nenne, d.h. Handlungen, die von irgendeiner Form eines normativen Konsenses koordiniert werden. Diese letzte Katego-rie steht der Kategorie des >systemisch integrierten Handelns« gegen-über, also den Handlungen, die von der funktionalen Verflechtung nicht-intendierter Folgen koordiniert werden, von egozentrischen Kal-külen in den Medien Geld und Macht bestimmt sind und nur einen schwachen oder gar keinen normativen Konsens irgendeiner Art ent-halten. Diese terminologischen Festlegungen bedeuten weniger ein Abrücken von der Habermasschen Terminologie - er gebraucht diese Begriffe tatsächlich oft in den Bedeutungen, die ich spezifiziert habe -als eine Fixierung oder Regelung ihrer Verwendungsweise.

9 Habermas, Theorie Bd. 1, S. 457, S. 477-479; und Theorie Bd. 2, S. 256, S. 266; siehe auch McCarthy, Translator's Introduction, xxx, a .a .O.

10 Komplexität und Demokratie - die Versuchungen der Systemtheorie, in: Thomas McCarthy, Kritik der Verständigungsverhältnisse. Zur Theorie von Jürgen Habermas, Frankfurt a.M. 1989, S. 580-604. McCarthy macht geltend, daß staatliche Verwaltungsbürokratien von partizipatorischen politischen Zusammenschlüssen nicht auf der Basis von Funktionalität, Intentionalität und Sprachlichkeit unterschieden werden können, denn alle drei Züge sind in beiden Kontexten zu fin-den. Demgemäß argumentiert McCarthy, daß Funktionalität, Inten-tionalität und Sprachlichkeit sich nicht gegenseitig ausschließen. Ich finde diese Argumente überzeugend. Ich sehe keinen Grund, warum sie nicht ebenso für den kapitalistischen Arbeitsplatz und die moderne Kleinfamilie zutreffen sollten.

11 Hierin folge ich wiederum McCarthy, Komplexität und Demokratie, a.a.O. Er legt dar, daß Führungskräfte in modernen staatlichen Ver-waltungsbürokratien häufig auf konsensuellem Wege mit ihren Unter-gebenen umgehen müssen. Dieses scheint für Unternehmen gleicher-maßen der Fall zu sein.

12 Ich denke dabei besonders an die brillante und einflußreiche Diskus-sion des Schenkens in Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1976. Indem er die Dimension der Zeit wieder auf-

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deckt, gelingt Bourdieu eine substantielle Revision der klassischen Darstellung von Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Aus-tauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1984. Zur Dis-kussion einiger neuerer Arbeiten in der ökonomischen Kulturanthro-pologie siehe Arjun Appadurai, Commodities and the Politics of Value, in: Ders. (Hg.), The Social Life of Things: Commodities in Cultural Perspective, New York 1986.

13 Nachfolgend werde ich den Ausdruck >die offizielle Ökonomie« ver-wenden, um Institutionen und Verhältnisse in männlich beherrschten, kapitalistischen Gesellschaften zu bezeichnen, die offiziell als ökono-misch anerkannt sind. Damit beabsichtige ich, dem Androzentrismus in der normalen Verwendungsweise von >die Ökonomie« Aufmerksam-keit zu schenken. Denn darin wird die ideologische Annahme gemacht, häusliche Institutionen und Verhältnisse seien nicht ebenso ökono-misch verfaßt. Ich werde »offiziell ökonomisch« als adjektivische Form dieses Ausdrucks verwenden, und ich werde >die (offizielle) Ökono-mie« dann gebrauchen, wenn ich die Sicht von jemand erörtere, der -wie Habermas - der androzentrischen Verwendungsweise folgt.

14 Habermas, Theorie Bd. 2, S. 348 f.; siehe auch McCarthy, Translator's Introduction, xxvi-xxvii, a .a .O. Die Begriffe >pragmatisch-kontextu-ell« und »natürliche Sachen« stammen von mir, nicht von Habermas.

15 Habermas, Theorie Bd. 1, S. 141 f., S. 150f.; Theorie Bd. 2, S. 348f.; Replik auf Einwände, S. 488, S. 502f.; und Legitimationsprobleme, S. 21 f.; siehe auch McCarthy, Translator's Introduction, xxvi-xxvii, a .a .O. Die Begriffe »absolute Verschiedenheit« und >graduelle Ver-schiedenheit« stammen ebenfalls von mir.

16 Habermas, Theorie Bd. 1, S. 457f., S. 479f.; Theorie Bd. 2, S. 179; Re-plik auf Einwände, S. 546f., S. 564f.; und Legitimationsprobleme, S. 36f.; siehe auch McCarthy, Translator's Introduction, xxviii-xxix, und Thompson, Rationality, S. 285, S. 287, a .a .O. Es sollte zur Kenntnis genommen werden, daß Habermas in der Theorie des kom-munikativen Handelns den Gegensatz zwischen System und Lebens-welt in zwei verschiedenen Weisen beschreibt. Auf der einen Seite kontrastiert er System und Lebenswelt als zwei verschiedene methodo-logische Perspektiven der Sozialforschung. Die Systemperspektive ist objektivierend und »externalistisch«, während die lebensweltliche Per-spektive hermeneutisch und »internalistisch« ist. Obwohl jede der beiden Perspektiven prinzipiell zur Erforschung einer jeglichen Gruppe sozialer Phänomene anwendbar ist, macht Habermas geltend, daß keine von beiden allein genügt. Habermas versucht infolgedessen eine Methodologie zu entwickeln, die beide Perspektiven kombiniert. Auf der anderen Seite stellt er System und Lebenswelt auf eine andere Weise einander gegenüber, nämlich als zwei verschiedene Arten von Institutionen. Es ist dieser zweite System/Lebenswelt-Gegensatz, mit

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dem ich mich hier befasse; ich behandele den ersten Gegensatz in die-sem Aufsatz nicht ausdrücklich. Ich sympathisiere mit der allgemeinen methodologischen Absicht von Habermas, strukturale (im Sinne ob-jektivierender) und interpretative Ansätze der Sozialforschung zu ver-binden. Jedoch glaube ich nicht, daß dies geschehen kann, indem strukturelle Eigenschaften einer Sorte von Institutionen (der offiziellen Ökonomie und dem Staat) und interpretative Eigenschaften einer an-deren Sorte von Institutionen (der Familie und der Öffentlichkeit) zugeschrieben werden. Ich behaupte vielmehr, daß alle diese Institutio-nen strukturelle und interpretative Dimensionen haben und daß alle struktural und hermeneutisch untersucht werden sollten. Ich habe ver-sucht, einen Ansatz zu entwickeln, der diesen Erfordernissen ent-spricht. Siehe das siebte und achte Kapitel dieses Bandes. Ich habe das allgemeine methodologische Problem erörtert in On the Political and the Symbolic: Against the Metaphysics of Textuality, in: Enclitic 9, Nr. 1-2/1987,8. 100-114.

17 Siehe zum Beispiel die Aufsätze in Barrie Thorne/Marilyn Yalom (Hg.), Rethinking the Family: Some Feminist Questions, New York u. London 1982. Siehe auch Michele Barrett/Mary Mclntosh, The Anti-Social Family, London 1982.

18 Habermas, Theorie Bd. 1, S. 127-129, S. 132-135, S. 150L, S. 154f.; und Theorie Bd. 2, S. 179; siehe McCarthy, Translator's Introduction, ix, xxx, a. a. O. In der Darstellung der Unterscheidung zwischen nor-mativ gesichertem Handeln und kommunikativ erzeugtem Handeln modifiziere ich wiederum, oder festige ich eher, die schwankende Ver-wendungsweise in der Theorie des kommunikativen Handelns (siehe Anm. 8).

19 Pamela Fishman, Interaction: The Work Women Do, in: Social Pro-blems 25, Nr. 4/1978, S. 397-406.

20 Nancy Henley, Body Politics, Englewood Cliffs, NJ. 1977. 21 Habermas, Theorie Bd. 2, S. 523 f., S. 547; und Replik auf Einwände,

S. 502L; siehe auch Thompson, Rationality, S. 288, S. 292, a. a. O. 22 McCarthy untersucht einige der hierin enthaltenen normativen Impli-

kationen für die Ausdifferenzierung des staatlichen administrativen Systems aus der Öffentlichkeit in: Komplexität und Demokratie, a.a.O.

23 McCarthy behauptet dies mit Bezug auf die Entdifferenzierung des staatlich administrativen Systems und der Öffentlichkeit; siehe Kom-plexität und Demokratie, a. a. O.

24 Habermas, Theorie Bd. 1, S. 457L, 479f.; Theorie Bd. 2, S. 256, S. 473, und Replik auf Einwände, S. 565; siehe auch McCarthy; Trans-lator's Introduction, xxxii, und Thompson, Rationality, S. 286-288, a. a.O.

25 Ich entlehne den Ausdruck »unterlegter Geschlechtertext« [gender

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subtext] dem Aufsatz von Dorothy Smith, The Gender Subtext of Power, Toronto 1984.

26 Die folgende Beschreibung des maskulinen unterlegten Geschlechter-textes der Arbeiterrolle stützt sich wesentlich auf Carole Pateman, The Personal and the Political: Can Citizenship Be Democratic?, The Jeffer-son Memorial Lectures, University of California, Berkeley 1985.

27 Ebenda. 28 Ich passe hier Althussers Begriff vom Anrufen eines Subjekts einem

Kontext an, in dem er selbst diesen Begriff natürlich nicht gebrauchte; zu der allgemeinen Idee siehe Louis Althusser, Ideologie und ideologi-sche Staatsapparate, Hamburg/Berlin 1977.

29 Barbara Ehrenreich, The Hearts of Men: American Dreams and the Flight from Commitment, Garden City, N. Y. 1984.

30 Die folgende Diskussion des maskulinen unterlegten Geschlechtertex-tes der Staatsbürgerrolle beruht größtenteils auf Carole Pateman, The Personal and the Political, a. a. O.

31 Ebenda, S. 8. 32 Judith Hicks Stiehm, The Protected, the Protector, the Defender, in:

dies. (Hg.), Women and Men's Wars, New York 1983. Das soll nicht heißen, daß ich Stiehms Schlußfolgerungen darüber, wie wünschens-wert die volle Integration von Frauen in das Militär der USA bei seiner derzeitigen Struktur ist, akzeptiere.

33 Pateman, The Personal and the Political, a. a. O., S. 10. 34 Insofern die vorhergehende Analyse des unterlegten Geschlechtertex-

tes in der Habermasschen Rollentheorie solche Kategorien entfaltet, in denen Geschlecht und politische Ökonomie intern integriert sind, stellt sie einen Beitrag zur Uberwindung der »dual systems theory« dar (siehe auch Anm. 7). Sie ist auch ein Beitrag zur Entwicklung einer Verbindung von strukturalen (im Sinne von objektivierenden) und von interpretativen Ansätzen der Sozialforschung, die zufriedenstellender ist als die von Habermas vorgeschlagene Verbindung. Mit anderen Wor-ten, ich will hier darauf hinweisen, daß der häusliche Bereich sowohl eine strukturelle als auch eine interpretative Dimension hat und daß die offizielle Ökonomie und die staatliche Sphäre sowohl eine interpreta-tive als auch eine strukturelle Dimension haben.

35 Habermas, Theorie Bd. 2, S. 505-509; Legitimationsprobleme, S. 50-54, S. 77-80; siehe auch McCarthy, Translator's Introduction, xxxiii, a .a .O.

36 Habermas, Theorie Bd. 2, S. 522-524; Legitimationsprobleme, S. 54-56; siehe auch McCarthy, Translator's Introduction, xxxiii, a. a. O.

37 Habermas, Theorie Bd. 2, S. 530-540; siehe auch McCarthy, Transla-tor's Introduction, xxxiii-xxxiv, a. a. O.

38 Habermas, Theorie Bd. 2, S. 540-547; siehe auch McCarthy, Transla-tor's Introduction, xxxi, a. a. O.

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39 Habermas, Theorie Bd. 2, S. 275-277, S. 452, S. 480, S. 522-524; Re-plik auf Einwände, S. 486f., S. 565 f.; Einleitung zu Stichworte, S. 13, S. 22-25; siehe auch McCarthy, Translator's Introduction, xxxi-xxxii, und Thompson, Rationality, S. 286, S. 288, a .a .O.

40 Habermas, Theorie Bd. 2, S. 581-583; Einleitung zu Stichworte, S. 24f., S. 27f., a. a. O.

41 Habermas, Theorie Bd. 2, S. 581-583; Einleitung zu Stichworte, S. 22-24, S. 27f., a. a. O.

42 Zum System sozialer Sicherung in den Vereinigten Staaten siehe die vergleichende Analyse der Quoten der Inanspruchnahme durch Män-ner und Frauen und die Beschreibung des geschlechtlich bestimmten Charakters der zwei Subsysteme in Kapitel 7 dieses Bandes. Siehe auch Barbara J. Nelson, Women's Poverty and Women's Citizenship: Some Political Consequences of Economic Marginality, in: Signs: Journal of Women in Culture and Society 10, Nr. 2/Winter 1984; Steven P. Erie/ Martin Rein/Barbara Wiget, Women and the Reagan Revolution: Ther-midor for the Social Welfare Economy, in: Irene Diamond (Hg.), Families, Politics and Public Policies: A Feminist Dialogue on Women and the State, New York 1983; Diana Pearce, Women, Work and Wel-fare: The Feminization of Poverty, in: Karen Wolk Feinstein (Hg.), Working Women and Families, Beverly Hills, Cal. 1979; und dies., Toil and Trouble: Women Workers and Unemployment Compensation, in: Signs: Journal of Women in Culture and Society 10, Nr. 3/Frühjahr 1985, S. 439-459; Barbara Ehrenreich/Frances Fox Piven, The Femini-zation of Poverty, in: Dissent, Frühjahr 1984, S. 162-170. Zur Analyse des geschlechtlich bestimmten Charakters des britischen Wohlfahrtssy-stems siehe Hilary Land, Who Cares for the Family in: Journal of Social Policy 7, Nr. 3/Juli 1978, S. 257-284. Für Norwegen siehe die Aufsätze in Harriet Holter (Hg.), Patriarchy in a Welfare Society, Oslo 1984. Zwei vergleichende Studien sind: Mary Ruggie, The State and Working Women: A Comparative Study of Britain and Sweden, Prince-ton, NJ. 1984; Birte Siim, Women and the Welfare State: Between Private and Public Dependence, Stanford, Cal. 1985.

43 Carol Brown, Mothers, Fathers, and Children: From Private to Public Patriarchy, in: Women and Revolution, a .a .O. Ich glaube, Browns Formulierung ist theoretisch unzureichend, denn sie setzt eine einfa-che, dualistische Konzeption von öffentlich und privat voraus. Dessen ungeachtet führt die Ausdrucksweise »vom privaten zum öffentlichen Patriarchat« drastisch, aber eindrucksvoll die Phänomene vor Augen, denen eine sozialistisch-feministische, kritische Theorie des Wohl-fahrtsstaates Rechnung tragen muß.

44 Die zuletzt erhältlichen Daten für die USA zeigen, daß die Geschlech-tersegmentation innerhalb der bezahlten Arbeit nicht abnimmt, son-dern ansteigt. Und das obwohl eine kleine, aber signifikante Zahl von

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Frauen in die Berufssparten Recht und Medizin Zugang gefunden hat. Selbst wenn die Zugewinne dieser Frauen in Anrechnung kommen, gibt es insgesamt keine Verbesserung in der zusammengerechneten, vergleichbaren ökonomischen Position bei den bezahlten Arbeitneh-merinnen gegenüber den männlichen Arbeitnehmern. Die Löhne der Frauen betragen weiterhin weniger als 60% der Männerlöhne - was natürlich heißt, daß die Masse der Frauen an Boden verloren hat. In der Beschäftigungsverteilung nach Geschlecht ist im ganzen auch keine Verbesserung eingetreten. 1973 hatten z. B. in den Vereinigten Staaten die Frauen 96% aller Erzieherinnenstellen inne, 81% aller Stellen bei Grundschullehrern, 72% aller Stellen in gesundheitstechnischen Beru-fen, 98% aller Krankenschwesterstellen, 83% aller Stellen für Biblio-thekare, 99% aller Sekretärinnenstellen und 92% aller Kellnerstellen. Die Zahlen von 1983 waren diesbezüglich: 97 Prozent, 83 Prozent, 84 Prozent, 96 Prozent, 87 Prozent, 99 Prozent und 88 Prozent. (Zahlen des Bureau of Labor Statistics zitiert nach Drew Christie, Comparable Worth and Distributive Justice [Vorgetragen auf der Tagung der Ameri-can Philosophical Association, Western Division, April 1985]). Die Zahlen der USA stimmen mit den Zahlen für skandinavische Länder und Großbritannien überein, siehe Birte Siim, Women and the Weifare State, a. a. O.

45 Siehe Anm. 42. 46 Diese Darstellung beruht auf einigen Teilen von Zillah R. Eisensteins

Analyse: The Radical Future, Boston 1981, Kap. 9. Was dann folgt, weist Ubereinstimmungen auf mit der Perspektive von Ernesto Laclau/ Chantal Mouffe, Hegemony and Socialist Strategy, New York 1985.

47 Ich entwickle diesen Gedanken von den »soziokulturellen Mitteln der Interpretation und Kommunikation« und die zugehörige Konzeption der Autonomie in Toward a Discourse Ethic of Solidarity, in: Praxis International}, Nr. 4/Jan. 1986, S. 425-429 und im achten Kapitel die-ses Bandes. Beide Begriffe sind Erweiterungen und Abwandlungen der Habermasschen Konzeption einer »kommunikativen Ethik«.

48 Meine eigene, neuere Arbeit versucht einen konzeptuellen Rahmen für eine sozialistisch-feministische, kritische Theorie des Wohlfahrsstaates zu konstruieren, der diesen Anforderungen genügt. Siehe Kapitel 7 und 8 in diesem Band und Toward a Discourse Ethic of Solidarity, a. a. O. Jeder dieser Aufsätze schöpft in hohem Maße aus solchen As-pekten des Habermasschen Denkens, die ich zweifelsohne für nützlich halte, insbesondere seine Konzeption des irreduzibel soziokulturellen, interpretativen Charakters menschlicher Bedürfnisinterpretation und seine Entgegensetzung dialogischer und monologischer Prozesse der Bedürfnisinterpretation. Der vorliegende Aufsatz dagegen legt seinen Schwerpunkt hauptsächlich auf solche Aspekte des Habermasschen Denkens, die ich für problematisch oder nicht hilfreich halte, und gibt

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daher weder die ganze Breite seiner Arbeiten noch meiner Sichtweise dieses Werks wieder. Die Leser seien deshalb gewarnt, den Schluß zu ziehen, Habermas habe wenig oder nichts Positives zu einer soziali-stisch-feministischen, kritischen Theorie des Wohlfahrtsstaates beizu-tragen. Sie sind vielmehr aufgefordert, die oben zitierten Aufsätze zu Rate zu ziehen, um auch diese andere Seite kennenzulernen.

Kapitel 7

Die Frauen, die Wohlfahrt und die Politik der Bedürfnisinterpretation

Was einige Autoren »die kommenden Wohlfahrtskriege« nennen, werden im großen und ganzen Kriege sein, die Frauen betreffen oder die sich sogar gegen sie richten. Da Frauen die überwäl-tigende Mehrheit der Empfänger von Sozialhilfe und der Be-schäftigten im Sozialhilfebreich ausmachen, werden sie und ihre Bedürfnisse im eigentlichen Mittelpunkt der Kämpfe um die Sozi-alausgaben stehen. Vermutlich werden diese Auseinandersetzun-gen die nationale Politik in der kommenden Legislaturperiode beherrschen. Mehr noch, die Wohlfahrtskriege werden nicht auf die Amtszeit Reagans und nicht einmal auf die Dauer des Rea-ganismus beschränkt bleiben. Ganz im Gegenteil, sie werden sich zeitlich und räumlich hinziehen. Was James O'Connor fünfzehn Jahre zuvor als »die Finanzkrise des Staates« theoretisch faßte, ist ein langfristiges, strukturelles Phänomen von internationalen Ausmaßen.1 Nicht nur die USA, sondern jeder spätkapitalistische Wohlfahrtsstaat in Westeuropa und Nordamerika sieht sich mit irgendeiner Version dieses Phänomens konfrontiert. Und die fis-kalische Krise des Wohlfahrtsstaates fällt überall mit einer zwei-ten, langfristigen, strukturellen Tendenz zusammen: der Femini-sierung der Armut. Das ist Diana Pearces Begriff für den rasch ansteigenden Anteil von Frauen an der erwachsenen Armutsbe-völkerung. Ein Anstieg, der unter anderem mit der Zunahme von »Haushalten mit weiblichem Vorstand« verknüpft ist.2 In den USA ist dieser Anstieg so ausgeprägt und so schroff, daß Statisti-ker voraussagen, die Armutsbevölkerung werde noch vor dem Jahr 2000 vollständig aus Frauen und Kindern bestehen, falls sich dieser Trend fortsetzen sollte.3

Das Zusammentreffen der Finanzkrise des Staates mit der Femi-nisierung der Armut deutet darauf hin, daß sich die Kämpfe um die soziale Sicherung zunehmend zu einem Schwerpunkt für die Feministinnen entwickeln werden und auch entwickeln sollten. Aber solche Kämpfe geben viele Probleme auf, von denen einige als strukturelle Probleme aufgefaßt werden können. Um ein Bei-

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spiel zu geben: Eine wachsende Zahl von Frauen ist für ihren Lebensunterhalt direkt auf die Sozialhilfeprogramme angewiesen, und viele andere Frauen profitieren indirekt davon, denn die Exi-stenz selbst eines minimalen und unzulänglichen »sozialen Netzes« erhöht die Druckmittel derjenigen Frauen, die ökono-misch von einzelnen Männern abhängig sind. Deshalb haben die Feministinnen keine andere Wahl, als sich den Kürzungen im So-zialhilfebereich zu widersetzen. Ökonomen wie Pearce, Nancy Barrett und Steven Erie, Martin Rein und Barbara Wiget haben jedoch gezeigt, daß Programme zur Familienunterstützung (Aid to Families with Dependent Children, AFDC) die Feminisierung der Armut eigentlich erst institutionalisieren.4 Die Sozialleistun-gen, die von diesen Programmen gewährt werden, sind system-konform. Sie verstärken eher die grundlegenden, strukturellen Ungleichheiten, als daß sie diese in Frage stellen. Deshalb können Feministinnen nicht einfach die bestehenden Sozialhilfeprogram-me gutheißen. Um die suggestiven, letztlich aber zu einfachen Begriffe zu verwenden, die Carol Brown populär gemacht hat: Stützt die Abschaffung oder Einschränkung der Wohlfahrt das »private Patriarchat«, so festigt die bloße Verteidigung der Wohl-fahrt das »öffentliche Patriarchat«.5

Zudem sehen sich die Feministinnen in den kommenden Wohl-fahrtskriegen einer zweiten Art von Problemen gegenüber. Diese Probleme, die offensichtlich eher ideologischer und weniger struktureller Art sind als die erste Sorte, ergeben sich aus der typi-schen Art, in der die Konflikte unter der gegebenen institutionel-len Dynamik des politischen Systems formuliert werden.6 Typi-scherweise werden die sozialpolitischen Streitfragen in dieser Weise gestellt: Soll der Staat es übernehmen, die sozialen Bedürf-nisse eines bestimmten Teils der Wählerschaft zu befriedigen, und wenn ja, bis zu welchem Grade? Nun erlaubt diese Art, das Pro-blem zu formulieren, nur eine relativ kleine Zahl von Antworten, und sie tendiert dazu, die Debatte auf quantitative Aspekte zu lenken. Wichtiger ist aber, daß mit ihr die Definition der fraglichen Bedürfnisse, um die es geht, als vorgegeben betrachtet wird, so als ob diese Bedürfnisse an sich evident und jeder Diskussion entzo-gen wären. Dadurch wird uns die Tatsache verstellt, daß die Interpretation der Bedürfnisse von Menschen selbst ein Gegen-stand der politischen Auseinandersetzung ist, manchmal sogar der eigentliche Gegenstand. Es ist klar, daß diese Art, die strittigen

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Fragen zu stellen, für die feministische Politik Hindernisse auf-baut. Denn im Mittelpunkt einer solchen Politik stehen die Fragen danach, was die verschiedenen Gruppen von Frauen wirklich brauchen und wessen Interpretationen der Bedürfnisse von Frauen maßgeblich sein sollen. Nur in der Sprache eines Diskur-ses, der an einer Politik der Bedürfnisinterpretation7 orientiert ist, können die Feministinnen sinnvoll in die kommenden Wohlfahrts-kriege eingreifen. Dazu jedoch ist es nötig, die herrschenden Rahmenbedingungen der Politik in Frage zu stellen.

Beide Arten von Problemen, die strukturellen und die ideologi-schen, sind wichtig und überaus schwierig. Im folgenden werde ich weder für die eine noch für die andere Lösungen anbieten. Viel-mehr möchte ich - viel bescheidener und vorläufiger - herausfin-den, wie diese Probleme in ihrem Verhältnis zueinander gedacht werden können. Dafür möchte ich eigens einen Untersuchungs-rahmen vorschlagen, der beide gleichzeitig erhellen kann.

Es wird notwendig sein, das Phänomen des »öffentlichen Patri-archats« zu klären, um das strukturelle Problem in Angriff neh-men zu können. Ein hierfür nützlicher Untersuchungstyp ist die ökonomische Analyse, auf die bereits hingewiesen wurde. Eine Analyse, die zum Beispiel zeigt, daß Programme mit »Arbeitsver-pflichtung« so funktionieren, daß sie die Arbeitgeber bei niedrig entlohnter »Frauenarbeit« im Dienstleistungssektor subventionie-ren und auf diese Weise den geschlechtlich segmentierten, dualen Arbeitsmarkt reproduzieren. Nun sagen diese Untersuchungen, so wichtig sie auch sind, nicht die ganze Wahrheit. Denn sie lassen die diskursiven oder ideologischen Dimensionen der Sozialhilfepro-gramme außer acht. Mit den diskursiven oder ideologischen Di-mensionen meine ich nichts, was von den wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen zu unterscheiden wäre oder was als eine Begleiter-scheinung auftreten würde. Ich meine vielmehr die verschwiegenen Normen und impliziten Annahmen, die für solche wohlfahrts-staatlichen Praktiken konstitutiv sind. An diese Dimensionen her-anzukommen, verlangt eine auf symbolische Bedeutungen gerich-tete Untersuchung, eine Untersuchung, die die sozialstaatlichen Programme unter anderem als institutionalisierte Interpretations-muster betrachtet.8 Eine solche Untersuchung würde die sozialen Bedeutungen explizit machen, die in den sozialstaatlichen Pro-grammen eingelagert sind, Bedeutungen, die sonst keiner Erklä-rungbedürfen.

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Indem sie solche Bedeutungen benennt, kann die Untersu-chung, die ich vorschlage, zwei Dinge zugleich tun. Erstens könnte sie uns wichtige Aufschlüsse über das sozialstaatliche Sy-stem der USA geben, denn sie könnte einige zugrunde liegende Normen und Annahmen identifizieren, die den verschiedenarti-gen Programmen und Maßnahmen ein gewisses Maß an Kohärenz verleihen. Zweitens könnte sie das erhellen, was ich »die Politik der Bedürfnisinterpretation« genannt habe. Denn sie kann die Prozesse bloßlegen, mit denen die wohlfahrtsstaatlichen Prakti-ken die Frauen und die Bedürfnisse der Frauen nach gewissen spezifischen - und im Prinzip anfechtbaren - Interpretationen konstruieren, auch wenn sie diesen Interpretationen eine Aura der Faktizität verleihen, die ihre Anfechtung entmutigt. Diese Unter-suchung könnte deshalb sowohl die strukturellen als auch die ideologischen Probleme erhellen.

Das Hauptziel dieses Aufsatzes ist es, eine so geartete Beschrei-bung für das soziale Sicherungssystem der heutigen USA zu lie-fern. Sie soll helfen, einige zentrale strukturelle Aspekte der männlichen Herrschaft in den spätkapitalistischen, wohlfahrts-staatlichen Gesellschaften zu klären. Gleichzeitig soll sie den Weg zu einer umfassenderen, diskursorientierten Sichtweise weisen, in der politische Konflikte vermittelt über die Interpretation der Be-dürfnisse von Frauen fokussiert werden können.

Der Aufsatz schreitet von einigen relativ »harten«, unkontro-versen Fakten über das soziale Sicherungssystem der USA (Ab-schnitt 1) zu einer Reihe zunehmend interpretativer Darstellungen des Systems (Abschnitt 2 und 3) fort. Diese gipfeln in einer höchst theoretischen Charakterisierung des sozialstaatlichen Systems als eines »juristisch-administrativ-therapeutischen Staatsapparates« (Abschnitt 4). Schließlich wird jener Apparat als eine Kraft unter anderen Kräften in ein größeres und stark umkämpftes politisches Feld des Diskurses über Bedürfnisse eingeordnet, das auch die feministische Bewegung einschließt (Abschnitt 5).

Lange vor dem Aufkommen des Wohlfahrtsstaates haben die Re-gierungen rechtlich gesicherte Räume des gesellschaftlichen Han-delns definiert. Indem sie das taten, kodifizierten sie gleichzeitig

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Handlungsmuster oder soziale Rollen. So haben die frühen mo-dernen Staaten einen ökonomischen Handlungsraum definiert und die dazugehörige Rolle einer ökonomischen Person, die fähig ist, Verträge zu schließen. Mehr oder weniger zur selben Zeit ko-difizierten sie die »Privatsphäre« des Haushalts und die Rolle des Haushaltsvorstandes. Etwas später wurden die Regierungen dazu gebracht, eine Sphäre der politischen Teilhabe und die entspre-chende Rolle des Staatsbürgers mit (begrenzten) politischen Rech-ten sicherzustellen. In jedem dieser Fälle war das ursprüngliche und paradigmatische Subjekt der neu kodifizierten sozialen Rolle männlich. Daß auch Frauen diese Subjekt-Position einnehmen können, wurde nur davon abgeleitet, und viel später zugestanden, ohne jedoch die Assoziation mit der Männlichkeit vollständig auf-zulösen.

Bei dem heutigen Wohlfahrtsstaat liegen die Dinge jedoch an-ders. Als dieser Regierungstypus einen neuen Handlungsraum -nennen wir es »das Gesellschaftliche« - und eine neue gesellschaft-liche Rolle - den Wohlfahrtsklienten - definierte, zählte er Frauen zu den ursprünglichen und paradigmatischen Subjekten. Und heute sind die Frauen sogar zu den wichtigsten Adressaten des Wohlfahrtsstaates geworden. Zum einen machen sie die überwälti-gende Mehrheit sowohl der Sozialhilfeempfänger als auch der bezahlten Angestellten in den Sozialberufen aus. Zum anderen sind sie Ehefrauen, Mütter und Töchter, deren unbezahlte Tätig-keiten und Verpflichtungen neu definiert werden, sobald der Wohlfahrtsstaat die Formen von Betreuung und Pflege zunehmend beaufsichtigt. Da diese Verkettung der Rollen von Sozialhilfeemp-fänger, Sozialarbeiter und Pflegekraft für den Handlungsbereich der sozialen Sicherung konstitutiv ist, könnte man diesen Hand-lungsraum sogar ein feminisiertes Terrain nennen.

Ein kurzer statistischer Überblick bestätigt, daß Frauen in hö-herem Maß in das soziale Sicherungssystem der USA einbezogen und von ihm abhängig sind. Betrachten wir zunächst die größere Abhängigkeit der Frauen als Klienten und Leistungsbezieher der sozialstaatlichen Programme. In jedem der wichtigeren sozial-staatlichen Programme der USA, die einen Bedürftigkeitsnach-weis verlangen, stellen Frauen und die Kinder, für die diese Frauen verantwortlich sind, die überwältigende Mehrheit der Klienten. Beispielsweise stehen Frauen 81 Prozent der Haushalte vor, die Familienhilfe (Aid to Families with Dependent Children -AFDC)

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erhalten; mehr als 60 Prozent der Familien, die Lebensmittelmar-ken oder kostenlose medizinische Versorgung (Medicaid) erhalten und 70 Prozent aller Haushalte in subventionierten oder Sozial-wohnungen haben einen weiblichen Haushaltsvorstand.9 So hoch diese Zahlen auch sind, so sehr verdecken sie doch, wie stark der Anteil von Frauen tatsächlich ist. Wie Barbara Nelson feststellt, zählen in dem androzentrischen Bezugssystem Haushalte dann als von Frauen geführte Haushalte, wenn sie per definitionem keinen gesunden, erwachsenen Mann aufweisen.10 In den meisten Haus-halten, die als männlich geführt gelten, leben aber gesunde, er-wachsene Frauen. Solche Frauen mögen direkt oder indirekt Voneile daraus ziehen, daß sie zu den »männlich geführten« Haus-halten zählen. Sie erscheinen jedoch nicht in den Statistiken, obwohl sie gewöhnlich mit ihrer Arbeit dafür sorgen, daß die Sozialhilfeberechtigung gesichert ist und erhalten bleibt.

Frauen überwiegen auch in den wichtigeren sozialstaatlichen Programmen der USA, die das Rentenalter (65 Jahre) vorausset-zen. Zum Beispiel sind 61,6 Prozent aller erwachsenen Leistungs-bezieher der Sozialversicherung (Social Security) Frauen, und Frauen stellen auch 64 Prozent derer, die medizinische Versorgung im Rentenalter (Medicare) in Anspruch nehmen." Zusammenge-faßt läßt sich sagen: Frauen sind als Klienten und als Leistungsbe-zieher stärker auf das soziale Sicherungssystem angewiesen, weil sie eine signifikant ärmere Gruppe als die Männer sind - tatsäch-lich machen Frauen mittlerweile nahezu zwei Drittel aller unter-halb der Armutsgrenze lebenden Erwachsenen in den USA aus -und weil Frauen meist länger leben als Männer.

Aber das ist noch nicht alles. Frauen hängen auch als bezahlte Angestellte in den sozialen Berufen stärker vom sozialen Siche-rungssystem ab, in einer Beschäftigungskategorie, die Erziehung und Gesundheit ebenso einschließt wie Sozialarbeit und die Ver-waltung der Sozialleistungen. Die 17,3 Millionen bezahlten Stellen dieses Sektors in den USA waren 1980 zu 70 Prozent von Frauen besetzt. Das sind ein Drittel aller bezahlten Beschäftigungen von Frauen in den USA und volle 80 Prozent aller fachlich qualifizier-ten Stellen, die Frauen überhaupt innehaben. Bei farbigen Frauen liegen die Zahlen sogar höher als im Durchschnitt, denn 37 Pro-zent ihrer gesamten bezahlten Beschäftigungen und 82,4 Prozent ihrer fachlich qualifizierten Stellen liegen in diesem Sektor.12 Ein besonderes Merkmal des sozialstaatlichen Systems der USA be-

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steht darin - im Gegensatz zu britischen und skandinavischen Systemen daß nur 3 Prozent dieser Stellen unmittelbar im Be-reich der bundesstaatlichen Verwaltungen liegen. Der Rest sind Stellen in den Verwaltungen von Einzelstaaten und Kommunen, im »gemeinnützigen privaten« Sektor und im »privaten« Sektor. Der weitgehend dezentrale und private Charakter des US-Systems läßt jedoch die bezahlten Angestellten im sozialen Bereich nicht weniger gefährdet sein durch Kürzungen bei den sozialstaatlichen Programmen auf Bundesebene. Im Gegenteil, das Niveau der So-zialausgaben des Bundes berührt das Niveau der Beschäftigung in den sozialen Diensten aller Sektoren. Die Stellen bei den einzel-staatlichen und kommunalen Verwaltungen hängen an Verträgen auf Bundesebene oder an Verträgen auf einzelstaatlicher oder kommunaler Ebene, die von bundesstaatlicher Seite finanziert werden. Private gewinnorientierte ebenso wie gemeinnützige Stel-len sind angewiesen auf bundesstaatlich finanzierte Transferzah-lungen an Individuen und Haushalte, die Kaufkraft auf den Dienstleistungsmärkten wie zum Beispiel der Gesundheitsversor-gung schaffen.13 Senkungen der Sozialausgaben bedeuten dem-nach für Frauen Arbeitsplatzverluste. Darüber hinaus wird dieser Verlust, wie Barbara Ehrenreich und Frances Fox Piven feststellen, nicht kompensiert, wenn die Ausgaben auf das Militär umge-schichtet werden. Denn nur ein halbes Prozent aller weiblichen Arbeitnehmer ist beim Militär beschäftigt. Eine von den beiden Autorinnen zitierte Studie schätzt, daß mit jeder Erhöhung der Militärausgaben um eine Milliarde Dollar 9 500 Stellen für Frauen verloren gehen.14

Schließlich sind die Frauen in ihrer traditionellen Eigenschaft als unbezahlte Pflegekräfte Subjekte des sozialstaatlichen Systems und von diesem abhängig. Es ist bekannt, daß die geschlechtliche Arbeitsteilung den Frauen die Hauptverantwortung für die Pflege derer zuweist, die nicht selbst für sich sorgen können. (Ich lasse die traditionellen Verpflichtungen beiseite, nach denen Frauen er-wachsene Männer persönlich zu bedienen haben - Ehemänner, Väter, erwachsene Söhne, Liebhaber-, die sehr gut für sich selbst sorgen können.) Solche Verantwortlichkeiten umfassen selbstver-ständlich die Kinderpflege, aber auch die Pflege kranker und/oder älterer Verwandter, oft der Eltern. So fand beispielsweise eine von Hilarv Land zitierte britische Studie, die 1975 durchgeführt wurde, heraus, daß dreimal mehr alte Leute bei ihren verheirateten

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Töchtern leben als bei ihren verheirateten Söhnen und daß alte Leute ohne eine nahe weibliche Verwandte unabhängig vom Grad ihrer Gebrechlichkeit viel eher in ein Heim eingewiesen wurden.15

So sind die Frauen als unbezahlte Pflegekräfte direkter als die Männer vom Niveau und vom Charakter der behördlichen Sozial-leistungen für Kinder, Kranke und Alte betroffen.

Die Frauen sind also als Klienten, als bezahlte Beschäftigte in den sozialen Berufen und als unbezahlte Pflegekräfte die wichtig-sten Subjekte des sozialen Sicherungssystems. Es ist so, als sei dieser Zweig des Staates in Wirklichkeit ein Amt für Frauenangele-genheiten.

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Selbstverständlich geht das Wohlfahrtssystem mit Frauen nicht nach den Bedingungen von Frauen um. Ganz im Gegenteil, hat es seine eigenen charakteristischen Methoden, die Bedürfnisse von Frauen zu interpretieren und Frauen als Subjekte einzustufen. Um diese Methoden zu verstehen, müssen wir untersuchen, wie ge-schlechtliche Normen und Bedeutungen in der Struktur des sozia-len Sicherungssystems der USA kodiert sind.

Diese Problematik ist ziemlich kompliziert. Auf der einen Seite sind in den USA fast alle Programme zur sozialen Sicherung offi-ziell geschlechtsneutral. Trotzdem ist das System als ganzes dual oder zweistufig, und es hat unmißverständlich einen unterlegten Geschlechtertext.16 Eine Sorte von Programmen ist auf Indivi-duen ausgerichtet und an die Zugehörigkeit zum Kreis der bezahl-ten Arbeitnehmer geknüpft - zum Beispiel die Arbeitslosenversi-cherung und die Sozialversicherung (Social Security). Dieser Typus von Programmen soll den primären Arbeitsmarkt für be-zahlte Arbeitskraft flankieren und kompensatorisch wirken. Eine zweite Sorte von Programmen ist auf Haushalte ausgerichtet und an ein kombiniertes Haushaltseinkommen gebunden - zum Bei-spiel Familienhilfe (AFDC), Lebensmittelmarken und medizini-sche Versorgung (Medicaid). Diese Sorte von Programmen soll der Kompensation dessen dienen, was als Versagen der Familie be-trachtet wird, insbesondere des Mangels eines männlichen Ernäh-rers.

Was die beiden Programmsorten integriert, ist ein Kranz von

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Annahmen über die häusliche und außerhäusliche geschlechtliche Arbeitsteilung. Es wird unterstellt, daß Familien einen Haupter-nährer haben oder haben sollten, der männlich ist, und eine unbe-zahlte häusliche Arbeitskraft (Hausfrau und Mutter), die weiblich ist. Desweiteren wird vorausgesetzt, daß eine Frau eine bezahlte Arbeit außerhalb des Hauses nur zu dem Zweck aufnimmt oder aufnehmen sollte, um den Lohn des männlichen Ernährers zu er-gänzen, und daß dies gegenüber ihren primären Hausfrauen- und Mutterpflichten weder Vorrang hat noch haben sollte. Mit ande-ren Worten, es wird angenommen, daß die Gesellschaft in zwei getrennte Sphären, das Zuhause und die Arbeit, geteilt ist und daß diese eine Männersphäre und jene eine Frauensphäre ist.17

Diese Annahmen widersprechen zunehmend den Tatsachen. Zur Zeit gleichen weniger als 15 Prozent der amerikanischen Fa-milien dem normativen Ideal eines Zuhauses, das von einem Ehe-mann, der Alleinernährer ist, seiner Ehefrau, die Vollzeit-Haus-frau ist, sowie von ihrem Nachwuchs geteilt wird. Dennoch legen die Normen der »separaten Sphären« die Struktur des sozialstaat-lichen Systems fest. Sie bestimmen, daß es ein Subsystem enthält, das auf den primären Arbeitsmarkt bezogen ist, und ein anderes Subsystem, das auf die Familie oder den Haushalt bezogen ist. Darüber hinaus bestimmen sie, daß diese Subsysteme geschlechts-spezifisch sind: das auf den primären Arbeitsmarkt bezogene System soll implizit »maskulin« und das auf die Familie bezogene System soll implizit »feminin« sein. Infolgedessen ist der normativ gebotene, idealtypische Nutznießer des am primären Arbeits-markt orientierten Programms ein (weißer) Mann, wohingegen der normativ gebotene, idealtypische, erwachsene Klient des auf dem Haushalt beruhenden Programms weiblich ist.

Der unterlegte Geschlechtertext des amerikanischen Wohl-fahrtssystems wird bestätigt, wenn wir einen zweiten Blick auf die Zahlen über die Inanspruchnahme des Systems werfen. Betrach-ten wir nochmals die Zahlen über die »femininen«, also die fami-lienbezogenen Programme, die ich oben Programme mit »Bedürf-tigkeitsnachweis« genannt habe: bei mehr als 81 Prozent der Haushalte, die Familienhilfe (AFDC) erhalten, ist der Haushalts-vorstand weiblich ebenso wie bei mehr als 70 Prozent der Haus-halte, die Wohnbeihilfen erhalten und wie bei über 60 Prozent von denjenigen, die medizinische Hilfe (Medicaid) und Lebensmittel-marken erhalten. Nun werden in diesen Zahlen nicht weibliche

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Individuen mit männlichen Individuen, sondern weiblich gelei-tete Haushalte mit männlich geleiteten Haushalten verglichen. Deshalb bestätigen die Zahlen vier Dinge: (1) Diese Programme haben eine unverwechselbare administrative Form, die darin be-steht, daß ihre Adressaten nicht individualisiert, sondern familia-risiert werden; (2) sie dienen den als unvollständig angesehenen Familien, die überwiegend Familien ohne einen männlichen Er-nährer sind; (3) ihr idealtypischer (erwachsener) Klient ist weib-lich; und (4) diese Klientin macht ihre Beihilfen auf der Grundlage des Status einer unbezahlten häuslichen Arbeitskraft, als eine Hausfrau und Mutter, geltend, nicht als ein bezahlter Arbeitneh-mer, der in den Arbeitsmarkt integriert ist.

Nun vergleichen wir dies mit dem Fall eines typischen, auf den Arbeitsmarkt bezogenen und daher »maskulinen« Programms, nämlich der Arbeitslosenversicherug. Hier sinkt der Prozentsatz weiblicher Antragsteller auf 38 Prozent, eine Zahl, die nicht weib-lich und männlich geleiteten Haushalten, sondern weibliche und männliche Individuen gegenüberstellt. Wie Diana Pearce festhält, gibt dieses Absinken zumindest zwei verschiedene Tatsachen wie-der.18 Erstens zeigt es sehr deutlich den niedrigeren Anteil der Frauen unter den bezahlten Arbeitnehmern. Zweitens gibt es den Sachverhalt wieder, daß viele Frauen in entlohnten Arbeitsverhält-nissen nicht berechtigt sind, an diesem Sozialprogramm teilzuneh-men, zum Beispiel bezahlte Hausangestellte, Teilzeitarbeitskräfte, schwangere Arbeitnehmerinnen und Arbeitskräfte in der »Schat-tenwirtschaft« wie Prostituierte, Babysitter und Schreibkräfte in Heimarbeit. Der Ausschluß dieser weiblichen, entlohnten Ar-beitskräfte bezeugt die Existenz eines geschlechtlich segmentierten Arbeitsmarktes, der in »erstrangige« und »zweitrangige« Beschäf-tigungen geteilt ist. Er spiegelt die ganz allgemeine Annahme wider, daß die Einkünfte von Frauen »bloß zusätzliche« sind, daß sie mit denen der erstrangigen (männlichen) Ernährer nicht gleichgestellt sind. Zusammengefaßt sagen uns die Zahlen über sozialstaatliche Programme wie die Arbeitslosenversicherung folgendes: (1) Diese Programme werden in einer Weise verwaltet, die ihre Adressaten eher individualisiert als familiarisiert; (2) sie sollen die Auswirkun-gen des Hauptarbeitsmarktes kompensieren, wie beispielsweise die zeitweilige Entlassung eines hauptsächlichen Ernährers; (3) der idealtypische Adressat ist männlich; und (4) dieser Adressat macht seinen Anspruch auf der Grundlage seiner Identität als bezahlter

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Arbeitnehmer geltend, nicht als eine unbezahlte häusliche Arbeits-kraft oder als Elternteil.

Ein letztes Beispiel soll das Bild abrunden. Das Sozialversiche-rungssystem (Social Security) stellt in der Rentenversicherung den interessanten Fall eines Hermaphroditen oder Androgynen dar. Ich werde gleich zeigen, daß dieses System auf Grund seiner Ver-bindung mit der Zugehörigkeit zum Kreis der bezahlten Arbeit-nehmer Eigenschaften eines »maskulinen« Programms aufweist. Gleichwohl ist es intern zweigeteilt und geschlechtlich strukturiert und steht daher wie ein Mikrokosmos für das gesamte duale Sozi-alleistungssystem. Während eine Mehrheit — 61,6 Prozent - der erwachsenen Leistungsempfänger weiblich ist, beanspruchen nur wenig mehr als die Hälfte davon - oder 33,3 Prozent aller Empfän-ger- Sozialleistungen auf der Grundlage nachgewiesener, eigener, bezahlter Arbeit.19 Die übrigen weiblichen Empfänger beanspru-chen die Sozialleistungen auf der Grundlage von Berechtigungs-nachweisen ihres Ehemanns, das heißt als Witwen oder unbezahlte häusliche Arbeitskräfte. Im Gegensatz dazu stellen so gut wie keine Männer Anträge auf Sozialleistungen als Ehemänner. Im Gegenteil, sie erheben Anspruch auf Sozialleistungen als bezahlte Arbeitnehmer mit einer dem Arbeitsmarkt und nicht der Familie zugeordneten Identität. Das System der Rentenversicherung (So-cial Security) ist also hermaphroditisch oder androgyn; es ist intern eingeteilt in »feminine« Sozialleistungen auf familiärer Grundlage einerseits und auf dem Arbeitsmarkt beruhenden, »maskulinen« Sozialleistungen andererseits. Daher erhält auch dieses System seine Struktur von den geschlechtsspezifischen Normen und Prämissen.

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Bisher habe ich die dualistische Struktur des Systems der sozialen Sicherung in den USA und den unterlegten Geschlechtertext die-ses Dualismus herausgearbeitet. Nun kann ich die impliziten Nor-men des Systems und seine stillschweigenden Voraussetzungen besser herausfiltern, indem ich seine Wirkungsweise untersuche. Um zu sehen, wie sozialstaatliche Programme die Bedürfnisse von Frauen interpretieren, müssen wir überlegen, worin die Soziallei-stungen bestehen. Um erkennen zu können, wie die Programme

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die Frauen als Subjekte einstufen, müssen wir die Verwaltungs-praktiken untersuchen. Ganz allgemein werden wir sehen, daß die »maskulinen« und die »femininen« Subsysteme nicht nur ge-trennt, sondern auch ungleich sind.

Zu berücksichtigen ist, daß die »maskulinen« Programme zur sozialen Sicherung Sozialversicherungspläne sind. Sie umfassen die Arbeitslosenversicherung (unemployment insurance), die Ren-tenversicherung (Social Security), die Krankenversicherung mit Altersnachweis (Medicare) und die Invaliditäts- oder Arbeitsunfä-higkeitsversicherung derjenigen, die bezahlte Arbeit nachweisen können (Supplement Social Security Insurance). Diese sozialstaat-lichen Programme sind beitragspflichtig (Lohnarbeiter und ihre Arbeitgeber zahlen in Treuhandfonds ein), sie werden auf natio-naler Basis verwaltet, und die Leistungsniveaus sind im ganzen Land gleich. Obwohl sie bürokratisch organisiert und verwaltet werden, erfordern sie im Vergleich mit den »femininen« Program-men einen geringeren und weniger erniedrigenden Aufwand der Leistungsbezieher, um die Zugangsberechtigung zu erlangen und zu behalten. Sie sind im weitaus geringeren Maß aufdringlichen Kontrollen unterworfen, und in den meisten Fällen gibt es gar keine Form der Überwachung. Tendenziell verlangen sie den Lei-stungsbeziehern auch einen geringeren Aufwand bei der Einlö-sung ihrer Leistungsansprüche ab, wobei die Arbeitslosenversi-cherung eine bemerkenswerte Ausnahme macht.

Kurz, die »maskulinen« Sozialversicherungspläne stufen ihre Adressaten vorrangig als Träger von Rechten ein. Die Nutznießer dieser Programme werden in der Mehrheit nicht stigmatisiert. We-der durch die Verwaltungspraktiken noch in der gängigen Mei-nung werden sie zu »Almosenempfängern« gemacht. Sie werden vielmehr so dargestellt, als erhielten sie, was ihnen zusteht; für das sie in »Partnerschaft« mit ihren Arbeitgebern bereits »eingezahlt« haben und auf das sie deshalb ein Anrecht haben. Außerdem wer-den diese Leistungsbezieher zu kaufenden Verbrauchern gemacht. Sie erhalten häufig Bargeld im Gegensatz zu den Beihilfen »in Naturalien« und werden also hingestellt, als hätten sie »die Frei-heit, den bestmöglichen Handel abzuschließen, indem sie Ange-bote ihrer Wahl auf dem offenen Markt kaufen«. Kurz, diese Leistungsbezieher sind, was C . B . MacPherson »besitzende Indi-viduen« nennt.20 Als Besitzer ihrer eigenen Person, die freiwillig vertraglich zugesichert haben, ihre Arbeitskraft zu verkaufen,

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werden sie zu Sozialversicherungsnehmern und damit auch zu zahlenden Verbrauchern sozialer Dienste. Sie sind als soziale Staatsbürger wirklich in dem vollen Sinn qualifiziert, den dieser Begriff im Rahmen einer männlich beherrschten, kapitalistischen Gesellschaft annehmen kann.

All das steht in schroffem Gegensatz zum »femininen« Sektor des sozialen Sicherungssystems in den USA. Dieser Sektor besteht aus Fürsorgeprogrammen wie der Familienhilfe (AFDC), den Le-bensmittelmarken, dem Programm der medizinischen Versorgung und dem Sozialwohnungsprogramm. Diese Programme sind nicht beitragspflichtig, sondern werden vom allgemeinen Steuerauf-kommen finanziert (gewöhnlich zu einem Drittel aus den Fonds der Bundesregierung und zu zwei Dritteln aus denen der Bundes-staaten); und sie werden nicht auf nationaler Ebene, sondern von den einzelnen Bundesstaaten verwaltet. Infolgedessen weichen die Niveaus der Sozialleistungen drastisch voneinander ab, obwohl sie nirgends, da sie vorsätzlich unterhalb der offiziellen Armuts-grenze festgesetzt werden, ausreichen. Die Fürsorgeprogramme sind nur allzu bekannt für die Vielzahl administrativer Demüti-gungen, die sie den Klienten zumuten. Sie verlangen beträchtliche Bemühungen, um die Bewilligung zu bekommen und auch zu erhalten, und beinhalten zudem ein hohes Maß an Überwa-chung.

Diese Programme stufen ihre Subjekte nicht in irgendeinem ge-wichtigen Sinn als Träger von Rechten ein. Ihre Adressaten wer-den nicht im entferntesten betrachtet, als hätten sie ein Recht auf das, was sie erhalten. Sie werden vielmehr als »Nutznießer staat-licher Freigebigkeit« oder als »Klienten öffentlicher Wohltätig-keit« definiert.21 Davon abgesehen wird ihre wirkliche Behand-lung nicht einmal dieser Definition gerecht, denn sie werden als »Schnorrer«, »Abweichler« und »menschliche Versager« behan-delt. In dem androzentrischen, administrativen Kontext gelten »Sozialhilfe-Mütter« als Personen, die nicht arbeiten, und werden manchmal dazu aufgefordert - das heißt gezwungen -, durch »Arbeitsverpflichtung« ihre erhaltenen Sozialleistungen »abzuar-beiten« . Auf diese Weise werden sie zu Insassen eines »Arbeitshau-ses ohne Mauern«, wie Diana Pearce es nennt.22 Tatsächlich ist der einzige Sinn, in dem die Kategorie der Rechte auf die Lage dieser Klienten zutrifft, der etwas fragwürdige der Berechtigung, nach Standards der formalen, bürokratischen, prozeduralen Rationali-

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tat behandelt zu werden. Aber selbst wenn dieses Recht als Schutz vor behördlicher Willkür ausgelegt wird, wird es weithin und rou-tinemäßig mißachtet.

Außerdem werden die Empfänger öffentlicher Fürsorgeleistun-gen allgemein nicht als kaufkräftige Verbraucher eingestuft. Ein bedeutender Anteil ihrer Sozialleistungen besteht »in Sachbezü-gen«, und was sie an Bargeld erhalten ist bereits aufgeteilt und für spezielle, administrativ bestimmte Zwecke vorgesehen. Diese Empfänger sind daher wesensmäßig Klienten-, eine Subjekt-Posi-tion, die in den kapitalistischen Gesellschaften weitaus weniger Macht und Würde mit sich bringt als die alternative Stellung des Käufers. In diesen Gesellschaften ein Klient zu sein (in dem Sinne, in dem Sozialhilfeempfänger Klienten sind) ist gleichbedeutend damit, verachtenswert abhängig zu sein. Tatsächlich hat dieser Be-griff die Konnotation eines Autonomieverlusts, so wie wir z .B. auch von den »Klientel-Staaten der Imperien und Supermächte« sprechen. Als Klienten also sind die Empfänger der Sozialhilfe die Negativbilder besitzender Individuen. Den vom Markt als Arbei-ter und Verbraucher größtenteils Ausgeschlossenen, die auch So-zialleistungen nicht als Individuen, sondern nur als Mitglieder »gescheiterter« Familien beanspruchen können, werden effektiv die Insignien des sozialen Staatsbürgerstatus, so wie er innerhalb männlich beherrschter, kapitalistischer Gesellschaften definiert ist, verweigert.23

Natürlich schafft dieses System für Frauen, die Kinder ohne einen männlichen Ernährer aufziehen, eine Zwickmühle. Indem es das System unterläßt, diesen Frauen eine Tagesbetreuung für ihre Kinder, berufliche Bildung oder eine Stelle, die einen »Fami-lienlohn« einbringt, anzubieten oder eine Kombination dieser Möglichkeiten, entwirft es ihre Rolle ausschließlich als die der Mutter. Infolgedessen interpretiert es ihre Bedürfnisse als mütter-liche Bedürfnisse und die »Familie« als ihren Tätigkeitsbereich. Nach der Ideologie der separaten Sphären soll dies nun eine ehren-volle soziale Identität sein. Doch das System würdigt diese Frauen nicht. Im Gegenteil, statt ihnen als eine Sache von Rechten ein garantiertes Einkommen zu verschaffen, das einem Familienlohn gleichkommt, stigmatisiert, erniedrigt, quält es sie. Praktisch ver-ordnet es gleichzeitig den Frauen, ideale Mütter zu sein und es doch nicht sein zu können.

Die Art und Weise, wie das System sozialer Sicherung in den

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USA »Mütterlichkeit« und »die Familie« interpretiert, ist darüber hinaus rassen- und kulturspezifisch. Diese Voreingenommenheit macht Carol Stacks Untersuchung All Our Kin deutlich.24 Stack analysiert die häuslichen Verhältnisse sehr armer, schwarzer Sozi-alhilfeempfänger in einer Stadt des amerikanischen Mittelwestens. Wo konservative Ideologen die »Desorganisation der schwarzen Familie« sehen, findet sie komplexe, hochgradig organisierte Ver-wandtschaftsstrukturen vor. Diese Strukturen umfassen auf der Verwandtschaft beruhende Vernetzungen, in denen Ressourcen zusammengeführt und ausgetauscht werden. Sie ermöglichen es den in äußerster Armut Lebenden, ökonomisch und gemein-schaftlich zu überleben. Diese Netzwerke organisieren den zeit-lich verschobenen Austausch - »Geschenke« im Sinn von Mauss25 - von zubereiteten Mahlzeiten, Lebensmittelmarken, von Kochen und Einkaufen, von Lebensmitteln, Möbeln, Schlafplät-zen, Bargeld (worin Löhne und AFDC-Zahlungen eingeschlossen sind), von Transporten, Kleidung, Kinderbetreuung, ja selbst Kindern. Sie umspannen mehrere, äußerlich abgegrenzte Haus-halte und gehen so über die oberste administrative Kategorie hinaus, nach der die Fürsorgeprogramme organisiert sind. Es ist bezeichnend, daß sich Stack große Mühe gab, die Identität ihrer Untersuchungspersonen zu verbergen; sie ging sogar so weit, die Identität der Stadt zu verheimlichen. Der unausgesprochene Grund ist offenkundig: diese Menschen würden ihre Soziallei-stungen verlieren, falls die Verwaltung erführe, daß diese Zuwen-dungen nicht innerhalb der Beschränkungen und Grenzen eines »Haushalts« verwendet werden.

Wir können den Separatismus und die Ungleichheit, die das zweistufige, geschlechtsspezifische, rassisch und kulturell vorein-genommene System sozialer Sicherung in den USA charakterisie-ren, zusammenfassend so bestimmen: Diejenigen, die am »mas-kulinen« Subsystem partizipieren, werden als Rechte innehabende Nutznießer und kaufkräftige Verbraucher von Dienstleistungen eingestuft, also als besitzende Individuen. Diejenigen, die am »fe-mininen« Subsystem partizipieren, werden hingegen als abhän-gige Klienten oder als Negativbilder besitzender Individuen ein-gestuft.

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Es ist eindeutig so, daß die Identitäten und die Bedürfnisse, die das System sozialer Sicherung den Betroffenen vorgibt, interpretierte Identitäten und Bedürfnisse sind. Überdies handelt es sich um höchst politische Interpretationen, und als solche sind sie prinzi-piell bestreitbar. Doch werden diese Bedürfnisse und Identitäten nicht immer als Interpretationen wahrgenommen. Allzu häufig verstehen sie sich von selbst und werden gegenüber Analyse und Kritik abgeschirmt. Eine Ursache für diesen »Verdinglichungsef-fekt« ist zweifellos, daß geschlechtliche Bedeutungen und Nor-men tief in unsere allgemeine Kultur eingebettet sind. Aber es mag noch einen anderen Grund geben, der eher im Wohlfahrtssystem selber liegt.

Ich möchte noch einen anderen Weg zur Analyse des amerikani-schen Systems sozialer Sicherung vorschlagen, diesmal als Analyse eines »juristisch-administrativ-therapeutischen Staatsapparats« (JAT).26 Es geht darum, einen unverwechselbaren Funktionsstil herauszuheben. Das Wohlfahrtssystem funktioniert als JAT, in-dem es eine Reihe juristischer, administrativer und/oder therapeu-tischer Verfahren miteinander verbindet. Infolgedessen tendiert es dazu, politische Fragen, welche die Interpretation von Bedürfnis-sen der Menschen betreffen, in gesetzliche, administrative und/ oder therapeutische Angelegenheiten zu übersetzen. Dadurch setzt das System politische Maßnahmen in einer Weise um, die unpolitisch erscheint und tendenziell entpolitisierend wirkt.

Abstrakt betrachtet, können die Subjekt-Positionen, die für Leistungsbezieher sowohl der »maskulinen« als auch der »femini-nen« Komponente des Systems kontruiert werden, als Kombina-tionen aus drei unterschiedlichen Elementen analysiert werden. Das erste Element ist ein juristisches, das die Betroffenen dem Rechtssystem gegenüber einstuft, indem es ihnen unterschiedliche Rechte gewährt oder verweigert. Demnach hat das Subjekt des »maskulinen« Subsystems ein Recht auf Sozialleistungen und ist vor einigen rechtlich sanktionierten Formen administrativer Will-kür geschützt, wohingegen dem Subjekt des »femininen« Subsy-stems Rechte weitgehend versagt sind.

Dieses juristische Element ist mit einem zweiten, dem admini-strativen Element verknüpft. Um Sozialleistungen bewilligt zu bekommen, müssen die Betreffenden einem Verwaltungsapparat

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gegenüber die Haltung von Antragstellern einnehmen; sie müssen Anträge stellen bei einer bürokratischen Institution, die dazu er-mächtigt ist, über ihre Ansprüche auf der Grundlage administrativ festgelegter Kriterien zu entscheiden. In dem »maskulinen« Sub-system beispielsweise müssen die Antragsteller nachweisen, daß ihre »Fälle« den administrativ definierten Kriterien der An-spruchsberechtigung entsprechen; im »femininen« Subsystem müssen die Antragsteller eine Erfüllung der administrativ definier-ten Kriterien des Bedarfs nachweisen. Ungeachtet der enormen qualitativen Unterschiede zwischen den beiden Verfahrenstypen, sind beide Verfahren Variationen des gleichen administrativen Spe-zifikums. Beide verlangen von den Antragstellern, die erlebten Situationen und ihre Lebensprobleme in verwaltbare Bedürfnisse zu übersetzen und ihre Notlage auf Treu und Glauben als ein Beispiel für eine bestimmte Lebenssituation darzustellen, in die prinzipiell jeder geraten kann.27

Falls und sobald sie als anspruchsberechtigt anerkannt sind, werden die Antragsteller entweder als kaufkräftige Verbraucher oder als abhängige Klienten eingestuft. In jedem Fall werden ihre Bedürfnisse als Korrelate bürokratisch verwalteter Bedarfsdek-kungen umdefiniert. Dies bedeutet, sie werden quantifiziert, zu Äquivalenten einer Geldsumme gemacht.28 So werden Klienten im »femininen« Subsystem passiv an ihren Platz gestellt, um monetär bemessene, vordefinierte und vorgefertigte Unterstützungen ent-gegenzunehmen; im »maskulinen« Subsystem andererseits erhal-ten die Sozialleistungsbezieher einen festgelegten Geldbetrag.

In beiden Subsystemen sind die Bedürfnisse der Menschen einer Art Umschreibung ausgesetzt. Die erfahrenen Situationen und die Lebensprobleme werden in verwaltbare Bedürfnisse übersetzt; und da die letzteren den ersteren nicht notwendig strukturell ent-sprechen, kann sich eine Kluft zwischen ihnen auftun. Diese Mög-lichkeit ist besonders wahrscheinlich im »femininen« Subsystem, weil dort, wie wir sahen, die Klienten als abweichende Personen konstruiert werden und die Bereitstellung von Unterstützung den Charakter der Normalisierung hat - obgleich die Normalisierung mehr auf Stigmatisierung als auf »Reform« angelegt ist.

Hier ergibt sich dann der Einsatzpunkt für das dritte, das thera-peutische Moment der Funktionsweise des JAT. Besonders im »fe-mininen« Subsystem schließt die Gewährung von Unterstützung eine implizite oder explizite therapeutische oder quasi-therapeuti-

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sehe Dimension ein. Im Familienhilfeprogramm (AFDC) zum Bei-spiel befassen sich die Sozialarbeiter mit den Aspekten der »geisti-gen Gesundheit« im Leben ihrer Klienten, indem sie diese häufig als »Charakterprobleme« auslegen. Ausdrücklicher und weniger moralistisch gesagt, die städtischen Programme für arme, unver-heiratete schwangere Teenager umfassen nicht nur Schwangeren-vorsorge, Unterweisung in der Babypflege und Anleitung oder Schulung, sondern auch Beratungssitzungen mit psychiatrischen Sozialarbeitern. Wie Prudence Rains beobachtet hat, sollen solche Sitzungen die Mädchen dazu bringen, das zu erkennen, was für ihre wahren, tiefen, latenten, emotionalen Probleme gehalten wird. Das alles auf Grund der Annahme, dies werde sie befähigen, zu-künftige Schwangerschaften zu vermeiden.29 So lächerlich dies auch klingt, ist es doch nur ein extremes Beispiel des verbreite-ten Phänomens, bei »femininen« sozialstaatlichen Programmen, geschlechterpolitische und politisch-ökonomische Probleme als individuelle psychologische Probleme auszugeben. Im Grunde können einige therapeutische oder quasi-therapeutische Wohl-fahrtsdienste als Unterstützungen zweiter Ordnung angesehen werden, welche die schwächende Wirkung der Unterstützungen erster Ordnung ausgleichen müssen. Jedenfalls ermutigt die thera-peutische Dimension im amerikanischen sozialstaatlichen System die Klienten, die Lücken zwischen ihrer kulturell geformten, ge-lebten Erfahrung und ihrer administrativ definierten Situation zu schließen, indem erstere der letzteren ausgeglichen wird.

Diese Analyse des sozialen Sicherungssystems der USA als eines »juristisch-administrativ-therapeutischen Staatsapparats« veran-laßt uns »feminine« und »maskuline« Subsysteme kritischer zu sehen. Sie läßt den Schluß zu, daß nicht nur Frauen durch die Verweigerung eines sozialen Staatsbürgerstatus im »femininen« Subsystem entmündigt werden - obgleich sie es werden -, sondern auch, daß Frauen und Männer durch die Realisierung einer andro-zentrischen, besitzindividualistischen Form des sozialen Staats-bürgerstatus im »maskulinen« Subsystem entmündigt werden. In beiden Subsystemen, selbst im maskulinen, stuft der JAT seine Subjekte in einer Weise ein, die sie zu »Fällen« degradiert und wirkt so ihrer kollektiven Identifikation entgegen. Er zwingt ih-nen monologische, administrative Situations- und Bedürfnisdefi-nitionen auf und belegt im voraus eine dialogisch zustande gebrachte Selbstdefinition und Selbstbestimmung mit Beschlag.

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Er stuft seine Subjekte als passive Klienten oder konsumierende Leistungsempfänger ein und nicht als an der Gestaltung ihrer Le-bensbedingungen aktive Beteiligte. Letztlich denkt der J AT die an diesen Verhältnissen erlebte Unzufriedenheit als Ausgangsmate-rial für die anpassungsorientierte, gewöhnlich sexistische Therapie und nicht als Ausgangsmaterial für Prozesse, die zur Bewußtseins-bildung ermächtigen.

Insgesamt besehen, ist also selbst die im besten Teil des sozialen Sicherungssystems der USA konstruierte Form des sozialen Staatsbürgerstatus eine degradierte und entpolitisierte. Es ist eine Form des passiven Staatsbürgerstatus, bei der der Staat im voraus die Bedürfnisse der Menschen definiert und zu befriedigen be-hauptet. Diese Form des passiven Staatsbürgerstatus ergibt sich zum Teil aus der eigentümlichen Funktionsweise des JAT. Der JAT behandelt die Interpretation der Bedürfnisse als vorgegeben und unproblematisch, während er selbst die Bedürfnisse zu solchen umdefiniert, die den systemkonformen Befriedigungen entspre-chen. So lenkt der JAT die Aufmerksamkeit von der Frage ab, wer soziale Bedürfnisse interpretiere, und wie sie interpretiert werden. Er tendiert dazu, die Politik der Bedürfnisinterpretation durch das juristische, administrative und therapeutische Management der Bedürfnisbefriedigung zu ersetzen. Das heißt, er ist bestrebt, dia-logische, partizipatorische Prozesse der Bedürfnisinterpretation durch monologische, administrative Prozesse der Bedürfnisdefini-tion zu ersetzen.30

Gewöhnlich sind die Analysen sozialer Gebilde als »institutionali-sierte Interpretationsmuster« implizit oder explizit funktionali-stisch. Sie beabsichtigen zu zeigen, wie kulturell hegemoniale Bedeutungssysteme dauerhaft stabilisiert und reproduziert wer-den. Infolgedessen blenden solche Analysen oft »dysfunktionale« Geschehnisse wie mikro- und makropolitische Widerstände und Konflikte aus. Allgemeiner gesagt, tendieren sie dazu, die aktive Seite des sozialen Prozesses zu verdunkeln. Sie verstellen die For-men, in denen selbst die routinierteste Praxis der sozialen Agenten die aktive Konstruktion, Dekonstruktion und Rekonstruktion der sozialen Bedeutungen beinhaltet. Es ist also kein Wunder, daß

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viele feministische Wissenschaftlerinnen den funktionalistischen Methodologien gegenüber mißtrauisch geworden sind. Denn, auf die Geschlechterproblematik angewandt, geben diese Methoden dem weiblichen Handeln einen okkulten Anstrich und fassen Frauen als die bloß passiven Opfer männlicher Herrschaft auf.

Um einen solchen Eindruck hier zu vermeiden, möchte ich mit der Einordnung der vorhergehenden Analyse in eine breitere, nicht-funktionalistische Perspektive schließen. Ich möchte ein Bild entwerfen, in dem der sozialstaatliche Apparat eine Kraft unter anderen Kräften in einer größeren politischen Arena mit heftigen Auseinandersetzungen ist.

Nun wirken die ideologischen Effekte (im Gegensatz zu den ökonomischen), die der JAT mit seiner Art der Bedürfnisinterpre-tation produziert, innerhalb eines spezifischen und verhältnismä-ßig neuen gesellschaftlichen Handlungsraums. Diesen Raum nenne ich »das Gesellschaftliche«, um deutlich zu machen, daß er sich nicht mit den bekannten institutionalisierten Handlungsräu-men der Familie und der offiziellen Ökonomie deckt. Nach mei-ner Auffassung ist das Gesellschaftliche weder gleichbedeutend mit der traditionellen, öffentlichen Sphäre des politischen Diskur-ses, wie sie von Jürgen Habermas definiert wird;31 noch deckt es sich mit dem Staat. Das Gesellschaftliche ist vielmehr der Sitz des Diskurses über die Bedürfnisse der Menschen, besonders über diejenigen Bedürfnisse, die aus der häuslichen und/oder der offi-ziellen ökonomischen Sphäre ausgebrochen sind, in denen sie zuvor als »private Angelegenheiten« eingeschlossen waren. Dem-zufolge ist das Gesellschaftliche ein Ort des Diskurses über pro-blematische Bedürfnisse, über Bedürfnisse, die die anscheinend (aber nicht wirklich) selbstregulativen, häuslichen und offiziell ökonomischen Institutionen der männlich beherrschten, kapitali-stischen Gesellschaften überschritten haben.32

Als Ort dieser Überschreitung ist das Gesellschaftliche per defi-nitionem ein Terrain der Auseinandersetzung. Es ist ein Raum, in dem die Konflikte zwischen rivalisierenden Interpretationen von Bedürfnissen der Menschen ausgetragen werden. Demnach würde man erwarten, »im« Gesellschaftlichen auf eine Vielzahl von kon-kurrierenden Weisen des Sprechens über Bedürfnisse zu stoßen. Und tatsächlich finden wir hier zumindest drei wichtigere Arten: (1) »Expertendiskurse« über Bedürfnisse, geführt zum Beispiel im Wohlfahrtssektor von Sozialarbeitern und Therapeuten einerseits

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und von Administratoren, Planern und denjenigen, die die politi-schen Maßnahmen realisieren, andererseits, (2) oppositionelle Diskurse über die Bedürfnisse innerhalb der sozialen Bewegun-gen, z .B. von Feministinnen, Lesben und Schwulen, Farbigen, Arbeitern und Klienten der Wohlfahrt und (3) »Reprivatisierungs-diskurse« in der Wählerschaft, die versuchen, neu problematisierte Bedürfnisse wieder in ihre früheren häuslichen oder offiziell öko-nomischen Enklaven zu repatriieren. Solche und andere Diskurse konkurrieren darin, ihre potentiellen Anhänger in ihren gespalte-nen sozialen Identitäten anzusprechen.33

Von diesem Standpunkt aus gesehen, hat das Gesellschaftliche einen doppelten Charakter. Es ist gleichzeitig ein neues Feld staat-lichen Handelns und, was ebenso wichtig ist, ein neues Terrain der breiteren politischen Auseinandersetzung. Es ist der Heimplatz des JAT und zugleich ein Kampfplatz, auf dem der JAT lediglich als ein Akteur unter anderen agiert. Es wäre also ein Fehler, den JAT als den unbestrittenen Herrn auf dem Terrain des Gesellschaftlichen zu behandeln. Tatsache ist, daß ein Großteil des Wachstums und der Aktivität im sozialen Sektor des Staates aus der Reaktion auf die Aktivitäten der sozialen Bewegungen resultiert, insbesondere der Arbeiter- und der Schwarzenbewegung, der feministischen und der Reformbewegung. Darüber hinaus ist der Sozialstaat, wie Theda Skocpol gezeigt hat, nicht einfach ein einheitlicher, gelassen in sich ruhender politischer Akteur.34 Er ist vielmehr in bedeutenden Hin-sichten ein komplexer und polyvalenter Nexus, der sich aus Kom-promißbildungen ergibt, in denen sowohl die Ergebnisse vergan-gener Kämpfe als auch die Bedingungen für gegenwärtige und zukünftige Kämpfe sedimentiert sind. Und selbst dann, wenn der JAT als Handelnder auftritt, hat es häufig unbeabsichtigte Resul-tate. Wenn er die Verantwortung für Angelegenheiten übernimmt, die zuvor der Familie und/oder der offiziellen Ökonomie überlas-sen waren, tendiert er dazu, diesen Angelegenheiten ihre Natur-wüchsigkeit zu nehmen und riskiert so, ihre weitergehende Politi-sierung zu fördern.

Jedenfalls agieren auch die sozialen Bewegungen auf dem Ter-rain des Gesellschaftlichen (wie es auch in einer kleineren Größen-ordnung die Klienten tun, die den JAT in mikropolitischen Widerstand und Verhandlungen verwickeln). Faktisch kann der monologische, administrative Ansatz des JAT bei der Bedürfnis-definition auch als Strategie gesehen werden, soziale Bewegungen

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einzudämmen. Solche Bewegungen tendieren schon auf Grund ihrer Natur dazu, dialogisch und partizipatorisch zu sein. Sie re-präsentieren die bei frisch politisierten Gruppen zutage tretende Fähigkeit, scheinbar natürliche und vorpolitische Interpretatio-nen abzuschütteln, die ihre Bedürfnisse in der offiziellen Ökono-mie und/oder Familie umschließt. In den sozialen Bewegungen kommen die Menschen dahin, alternative, politisierte Interpreta-tionen ihrer Bedürfnisse zu artikulieren, da sie sich in Prozessen des Dialogs und des kollektiven Kampfes engagieren. Die Kon-frontation solcher Bewegungen mit dem JAT auf dem Terrain des Gesellschaftlichen ist deshalb eine Konfrontation zwischen kon-fligierenden Logiken der Bedürfnisdefinition.

Auch die Feministinnen sind Akteure auf dem Terrain des Ge-sellschaftlichen. Allerdings können wir aus dieser Perspektive mehrere analytisch geschiedene, aber praktisch vermischte Arten feministischer Kämpfe unterscheiden, die das Engagement in den kommenden Wohlfahrtskriegen wert sind. Erstens gibt es die Kämpfe, die den politischen Status der Bedürfnisse von Frauen sichern wollen, das heißt Kämpfe, welche die Bedürfnisse von Frauen als genuin politische Themen legitimieren wollen, im Ge-gensatz zu »privaten« häuslichen Angelegenheiten oder den Ange-legenheiten des Marktes. In diesem Fall würden die Feministinnen insbesondere die antisozialstaatlich gesonnenen Verteidiger der Privatisierung angreifen. Zweitens gibt es Kämpfe um die inter-pretierten Gehalte der Bedürfnisse von Frauen, Kämpfe, welche die scheinbar natürliche, traditionellen Interpretationen in Frage stellen, die noch immer den Bedürfnissen anhängen, die erst vor kurzem aus den häuslichen und offiziell ökonomischen Enklaven der Privatheit freigesetzt wurden. Hierbei würden Feministinnen all jene Kräfte in der Kultur angreifen, die androzentrische und sexistische Interpretationen der Bedürfnisse von Frauen perpetu-ieren, einschließlich, aber nicht nur, des Sozialstaats. Drittens gibt es die Kämpfe um das Wer und das Wie der Bedürfnisinterpreta-tionen, Kämpfe, welche die Frauen befähigen, ihre Bedürfnisse selbst zu interpretieren und das sozialstaatliche System in seiner qua JAT antipartizipatorischen, monologischen Vorgehungsweise herauszufordern. Viertens gibt es die Kämpfe zur Entwicklung und zur breiteren Unterstützung einer Politik, die auf feministi-schen Interpretationen der Bedürfnisse von Frauen beruht. Es sind Kämpfe für eine Politik, die sowohl die Scylla des privaten Patriar-

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chats als auch die Charybdis des öffentlichen Patriarchats vermei-det.

In allen genannten Fällen läge der Schwerpunkt ebensosehr auf der Bedürfnisinterpretation wie auf der Bedürfnisbefriedigung. Das ist nur richtig so, denn alle Bedürfnisbefriedigungen, die wir erreichen können, werden in dem Maße problematisch sein, in dem wir darin versagen, die Schlacht der Interpretation zu schla-gen und zu gewinnen.

Anmerkungen

Ich danke Sandra Bartky, John Brenkman, Jane Collier, Ann Garrv, Vir-ginia Held, Thomas McCarthy, Carole Pateman, Birte Siim, Howard Winant, Terry Winant, Iris Young und den Mitgliedern der Midwest Society for Women in Philosophy für ihre hilfreichen Kommentare, Anregungen und Kritik. Bei Drucilla Cornell und Betty Safford bedanke ich mich für die Einladungen, die mir Gelegenheit zur Ausarbeitung dieses Aufsatzes boten, beim The Stanford Humanities Center für ein förderliches Arbeits-umfeld und finanzielle Unterstützung sowie bei Dee Marquez und Marina Rosiene für die ausgezeichnete Textverarbeitung.

1 James O'Connor, Die Finanzkrise des Staates, Frankfurt a. M. 1974. 2 Diana Pearce, Women, Work, and Welfare: The Feminization of Po-

verty, in: Karen Wölk Feinstein (Hg.), Working Women and Families, Beverly Hills, Calif. 1979.

3 Barbara Ehrenreich/Frances Fox Piven, The Feminization of Poverty, in: Dissent 31, Nr. 2/Frühjahr 1984, S. 162-170.

4 Diana Pearce, Women, Work, and Welfare, a .a .O. ; Nancy S. Barrett, The Welfare Trap, American Economic Association, Dallas, Texas 1984; Steven P. Erie/Martin Rein/Barbara Wiget, Women and the Rea-gan Revolution: Thermidor for the Social Welfare Economy, in: Irene Diamond (Hg.), Families, Politics, and Public Policies: A Feminist Dia-logue on Women and the State, New York 1983.

5 Carol Brown, Mothers, Fathers, and Children: From Private to Public Patriarchy, in: Lydia Sargent (Hg.), Women and Revolution: A Discus-sion of the Unhappy Marriage of Marxism and Feminism, Boston 1981. Ich glaube, die Begriffe von C. Brown sind aus zwei Gründen einfach. Erstens aus Gründen, die Gayle Rubin anführt in The Traffic in Wom-en: Notes on the >Political Economy< of Sex, in: Rayna R. Reiter (Hg.), Towards an Anthropology of Women, New York 1975. Ich ziehe es vor, das »Patriarchat« nicht als einen Gattungsbegriff für männliche Dominanz zu verwenden, sondern zur Bezeichnung einer spezifi-

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sehen, historischen Gesellschaftsformation. Zweitens vereinfacht der Gegensatz »öffentlich/privat« bei C. Brown sowohl die Struktur des laissez-faire-Kapitalismus als auch des wohlfahrtsstaatlichen Kapitalis-mus. Denn mit diesem Gegensatz werden zwei zentrale gesellschaft-liche Zonen behauptet, während es eigentlich vier gibt (die Familie, die offizielle Ökonomie, der Staat und die Sphäre des öffentlichen politi-schen Diskurses), und es werden zwei unterschiedliche öffentlich/ privat-Teilungen verschmolzen. (Zur Erörterung des zweiten Problems siehe das sechste Kapitel dieses Bandes.) Ungeachtet dieser Probleme ist es unbestritten, daß C. Browns Begriffe sehr suggestiv sind und daß wir momentan keine bessere Terminologie haben. Daher gebrauche ich mangels einer Alternative im folgenden gelegentlich die Bezeichnung »öffentliches Patriarchat«.

6 Zur Analyse der Dynamik, in der spätkapitalistische politische Sy-steme dazu tendieren, bestimmte Interessentypen zu berücksichtigen, während sie andere ausschließen, siehe Claus Offe, Political Authority and Class Structure: An Analysis of Late Capitalist Societies, in: Inter-national Journal of Sociology 2, Nr. 1/Frühjahr 1972, S. 73-108; ders., Klassenherrschaft und politisches System. Zur Selektivität politischer Institutionen, in: C. Offe, Strukturprobleme des kapitalistischen Staa-tes, Frankfurt a. M. 1972;ders., The Separation of Form and Content in Liberal Democratic Politics, in: Studies in Political Economy 3, Früh-jahr 1980, S. 5-16. Zu einer feministischen Anwendung des Offeschen Ansatzes siehe Drude Dahlerup, Overcoming the Barriers: An Ap-proach to the Study of How Women's Issues are kept from the Political Agenda, in: Judith H. Stiehm (Hg.), Women's Views of the Political World of Men, Dobbs Ferry, N. Y. 1984.

7 Diese Formulierung ist inspiriert von Jürgen Habermas, Legitimations-probleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a. M. 1979.

8 Diesen Ausdruck verdanke ich einem Gespräch mit Thomas McCar-thy.

9 Erie/Rein/Wiget, Women and the Reagan Revolution, a. a. O.; Barbara J. Nelson, Women's Poverty and Women's Citizenship: Some Political Consequences of Economic Marginality, in: Signs: Journal of Women in Culture and Society 10, Nr. 2/Winter 1984, S. 209-231.

10 Nelson, Women's Poverty and Women's Citizenship, a .a .O. 11 Erie/Rein/Wiget, Women and the Reagan Revolution, a .a .O.

Nelson, Women's Poverty and Women's Citizenship, a. a. O. 12 Erie/Rein/Wiget, Women and the Reagan Revolution, a. a. O. 13 Ebenda. 14 Ehrenreich/Piven, The Feminization of Poverty, a. a. O. 15 Hilary Land, Who Cares for the Family?, in: Journal of Social Policy 7,

Nr. 3/Juli 1978, S. 257-285. 16 Den Ausdruck »unterlegter Geschlechtertext« (gender subtext) ver-

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danke ich Dorothy Smith (vgl. Anm. 25 im sechsten Kapitel). Mehrere Autoren haben den dualen Charakter des sozialstaatlichen Systems in den USA bemerkt. Andrew Hacker (Welfare: The Future of an Illu-sion, in: New York Review of Books, 28. Februar 1985, S. 37-43) korreliert den Dualismus mit Klasse, nicht aber mit Geschlecht. Diana Pearce (Women, Work, and Welfare, a. a. O.) und Erie/Rein/Wiget (Wo-men and the Reagan Revolution, a. a. O.) korrelieren den Dualismus mit Geschlecht und mit dem dualen Arbeitsmarkt, der selbst ge-schlechtsbezogen ist. Barbara Nelson (Women's Poverty and Women's Citizenship, a .a.O.) korreliert den Dualismus mit Geschlecht, mit dem dualen Arbeitsmarkt und der geschlechtlichen Teilung der Arbeit in bezahlte und unbezahlte Arbeit. Meine Darstellung verdankt diesen Autoren viel, ganz besonders Barbara Nelson.

17 Hilary Land, Who Cares for the Family a .a .O. , arbeitet ähnliche Voraussetzungen im sozialstaatlichen System Großbritanniens heraus. Meine Beschreibung ist ihr sehr verpflichtet.

18 Pearce, Women, Work, and Welfare, a. a. O. 19 Nelson, Women's Poverty and Women's Citizenship, a .a .O. ; Erie/

Rein/Wiget, Women and the Reagan Revolution, a. a. O. 20 C . B . MacPherson, Die politische Theorie des Besitzindividualismus:

Von Hobbes bis Locke, Frankfurt a. M. 1967. 21 Diese Formulierungen verdanke ich einem Gespräch mit Virginia

Held. 22 Pearce, Women, Work, and Welfare, a. a. O. 23 Ich gehe hier auf einige linke Theoretiker ein, die der Meinung sind, die

in Sachbezügen geleistete Sozialhilfe stelle als »Dekommodifikation« eine emanzipatorische oder fortschrittliche Entwicklung dar. In dem Kontext eines dualen Wohlfahrtssystems wie des hier beschriebenen, ist diese Annahme eindeutig falsch, weil Sozialleistungen in Naturalform den entsprechenden Waren qualitativ und quantitativ unterlegen sind und weil sie dazu dienen, diejenigen zu stigmatisieren, die sie erhal-ten.

24 Carol B. Stack, All Our Kin: Strategies for Survival in a Black Commu-nity, New York 1974.

25 Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archai-schen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1968.

26 Dieser Begriff verweist auf Louis Althussers Begriff vom »ideologi-schen Staatsapparat«. (Louis Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg/Berlin 1977.) Das sozialstaatliche System in den USA, so wie es in diesem Abschnitt beschrieben wurde, gilt sicher-lich als ein »ISA« im Sinne Althussers. Ich bevorzuge jedoch den Begriff »juristisch-administrativ-therapeutischer Staatsapparat«, weil er kon-kreter und deskriptiver in bezug auf die spezifischen Formen ist, in denen wohlfahrtsstaatliche Programme eine Ideologie produzieren und

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reproduzieren. Ganz allgemein kann der JAT also als Unterklasse eines ISA verstanden werden. Abgesehen von der Begrifflichkeit, die derjeni-gen Althussers ähnelt, wird der Leser aber feststellen können, daß die Darstellung in diesem Abschnitt Michel Foucault und Jürgen Haber-mas mehr verdankt als Althusser. (Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1976; Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1981.) Natürlich sind weder Habermas noch Foucault sensibel für den geschlechtlich strukturierten Charakter der sozialstaatlichen Pro-gramme. Zu einer diesbezüglichen Kritik von Habermas siehe das sechste Kapitel dieses Bandes. Zu meiner Sicht von Foucault siehe die ersten drei Kapitel.

27 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1981.

28 Ebenda. 29 Prudence Mors Rains, Becoming an Unwed Mother: A Sociological

Account, Chicago 1971. 30 Diese Formulierungen beruhen weitgehend auf Jürgen Habermas, Le-

gitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a.M. 1979 und Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1981.

31 Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, a. a. O. und Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, a. a. O.

32 Ich entlehne den Begriff des »Gesellschaftlichen« (the social) Hannah Arendt, The Human Condition, Chicago 1958, dt. Vita activa oder Vom täglichen Leben, München 1981. Mein Gebrauch weicht jedoch von ihrem in wesentlichen Beziehungen ab. Erstens verstehen Arendt und ich das Gesellschaftliche als einen historisch aufkommenden ge-sellschaftlichen Raum, der für die Moderne typisch ist. Wir verstehen beide das Aufkommen des Gesellschaftlichen als die Tendenz, eine frü-here, klarere Trennung der öffentlichen und der privaten Sphäre zu unterlaufen oder zu verwischen. Aber Arendt behandelt das Aufkom-men des Gesellschaftlichen als einen Niedergang oder Verfall, und sie beurteilt die vorherige Trennung des Öffentlichen vom Privaten als einen vorzugswürdigen Zustand, der der »Condition Humaine« ange-messen sei. Ich hingegen mache weder Annahmen über die Condition Humaine, noch bedauere ich das Verschwinden der Trennung »öffent-lich/privat«, noch halte ich das Aufkommen des Gesellschaftlichen für einen Niedergang oder einen Verfall. Zweitens halten es Arendt und ich übereinstimmend für ein hervorstechendes, definierendes Merkmal des Gesellschaftlichen, daß zuvor »private« Bedürfnisse ins öffentliche Blickfeld geraten. Arendt behandelt das jedoch als eine Verletzung der richtigen Ordnung der Dinge: Sie geht davon aus, daß Bedürfnisse völlig natürlich sind und für immer dazu verurteilt sind, Tatsachen schieren Zwangs zu sein. Deshalb nimmt sie an, daß die Bedürfnisse

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keine genuin politische Dimension haben können und daß ihr Hervor-treten aus der Privatsphäre und ihr Eintritt ins Gesellschaftliche den Tod authentischer Politik bedeutet. Ich hingegen gehe davon aus, daß Bedürfnisse irreduzibel interpretativ sind und daß die Bedürfnisinter-pretationen im Prinzip anfechtbar sind. Demnach markiert es generell eine positive Entwicklung, daß die Bedürfnisse aus dem »Privaten« heraustreten und in den Raum des Gesellschaftlichen eintreten; denn die Bedürfnisse streifen den auratischen Schein der Natürlichkeit in dem Maße ab, in dem ihre Interpretationen zum Gegenstand der Kritik und Auseinandersetzung werden. Deshalb nehme ich an, daß dies eher die (mögliche) Blüte als den (notwendigen) Tod der Politik bedeutet. Und schließlich geht Arendt davon aus, daß das Aufkommen des Ge-sellschaftlichen und der öffentlichen Thematisierung der Bedürfnisse zwangsläufig den Triumph der Verwaltung und der instrumentellen Vernunft bedeutet. Ich hingegen gehe davon aus, daß die instrumenteile Vernunft nur eine mögliche Form ist, um soziale Bedürfnisse zu defi-nieren und zu artikulieren, und daß die Verwaltung nur einen mög-lichen Weg darstellt, um das Gesellschaftliche zu institutionalisieren. Deshalb würde ich die Existenz einer anderen Möglichkeit geltend ma-chen: die Möglichkeit einer alternativen, sozialistisch-feministischen, dialogischen Weise der Bedürfnisinterpretation und einer partizipato-risch-demokratischen Institutionalisierung des Gesellschaftlichen.

33 Zu einer vollständigeren Diskussion dieser Ideen siehe das achte Kapi-tel dieses Bandes.

34 Theda Skocpol, Political Response to Capitalist Crisis: Neo-Marxist Theories of the State and the Case of the New Deal, in: Politics and Society /0/1980, S. 155-201.

Kapitel 8

Der Kampf um die Bedürfnisse: Entwurf für eine sozialistisch-feministische kritische Theorie der politischen Kultur im

Spätkapitalismus

»Das Bedürfnis (ist) auch ein sorgfältig gepflegtes, kalkuliertes und ausgenutztes politisches Instrument.«

Michel Foucault, Überwachen und Strafen1

In den spätkapitalistischen, sozialstaatlichen Gesellschaften ist die auf Bedürfnisse zentrierte Rede eine wichtige Form des politischen Diskurses. In den USA streiten wir beispielsweise darüber, ob die Regierung die Bedürfnisse der Bürger erfüllen soll. So fordern die Feministinnen eine staatliche Deckung des Bedarfs an Kinderta-gesstätten, während die sozial Konservativen darauf bestehen, die Kinder bedürften der Betreuung durch die Mutter, und die ökono-misch Konservativen behaupten, der Markt, nicht der Staat, sei die beste Institution, um den Bedürfnissen zu entsprechen. Ebenso diskutieren die Amerikaner darüber, ob die bestehenden Sozial-hilfeprogramme wirklich die Bedürfnisse erfassen, die sie zu be-friedigen beabsichtigen, oder ob sie vielmehr diese Bedürfnisse verfehlen. Zum Beispiel behaupten Kritiker der Rechten, die Fa-milienhilfe (Aid to Families with Dependent Children) zerstöre den Anreiz zur Arbeit und unterminiere die Familie. Linke Kriti-ker dagegen lehnen Vorstöße zur Arbeitsverpflichtung als unzu-mutbare Zwangsmaßnahmen ab, während viele arme Frauen mit kleinen Kindern den Wunsch nach einer gut entlohnten Arbeit äußern. In all diesen Fällen gibt es Streit darüber, was genau die verschiedenen Gruppen wirklich benötigen und wer in diesen An-gelegenheiten das letzte Wort haben sollte. Mehr noch, in all diesen Fällen fungiert die auf Bedürfnisse zentrierte Rede als ein Medium, in dem politische Forderungen aufgestellt und bestritten werden: Es ist ein Idiom, in dem der politische Konflikt ausgetra-gen wird und durch das Ungleichheiten auf symbolischer Ebene entfaltet und angefochten werden.

Die auf Bedürfnisse zentrierte Rede ist für die politische Kultur

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des Westens nicht immer zentral gewesen. Man hat sie häufig in Antithese zur Politik gedacht und an die Ränder des politischen Lebens verwiesen. Dennoch ist sie in sozialstaatlichen Gesell-schaften als ein maßgebliches Vokabular des politischen Diskurses institutionalisiert worden.2 Sie führt eine, wenngleich oft be-schwerliche Koexistenz mit der auf Rechte und auf Interessen zentrierten Rede im eigentlichen Zentrum des politischen Lebens. Doch ist dieses seltsame Nebeneinander von einem Diskurs über Bedürfnisse und den Diskursen um Rechte und Interessen ein Charakteristikum der politischen Kultur im Spätkapitalismus.

Für die Feministinnen (und für andere), die in diese Kultur ein-greifen wollen, können die folgenden Fragen von Nutzen sein: Warum wurde die bedürfniszentrierte Rede in der politischen Kul-tur der sozialstaatlichen Gesellschaften so maßgeblich? Welche Beziehung besteht zwischen dieser Entwicklung und den Verände-rungen in der spätkapitalistischen Sozialstruktur? Was impliziert das Aufkommen eines Idioms der Bedürfnisse für die Verschie-bungen der Grenzen zwischen der »politischen«, »ökonomi-schen« und »häuslichen« Lebenssphäre? Deutet es auf eine Aus-dehnung der politischen Sphäre hin oder vielmehr auf eine Kolonalisierung dieses Gebiets durch neuere Arten der Macht und der sozialen Kontrolle? Was sind die wichtigsten Spielarten der bedürfniszentrierten Rede, und wie interagieren sie konflikthaft miteinander? Welche Chancen und/oder Hindernisse stellt die Sprache der Bedürfnisse für Bewegungen wie den Feminismus dar, die eine weitreichende soziale Veränderung anstreben?

Im folgenden skizziere ich einen Ansatz vor allem, um über solche Fragen nachzudenken, und weniger, um definitive Antwor-ten auf sie vorzuschlagen. Was ich zu sagen habe, gliedert sich in fünf Teile. Im ersten Abschnitt plädiere ich für einen Bruch mit den üblichen theoretischen Ansätzen, indem ich den Untersu-chungsschwerpunkt weg von den Bedürfnissen hin zu den Diskur-sen über Bedürfnisse und weg von der Distribution der Mittel zur Bedarfsdeckung hin zur »Politik der Bedürfnisinterpretation« ver-schiebe. Entsprechend schlage ich ein Modell des sozialen Diskur-ses vor, das den umstrittenen Charakter der bedürfniszentrierten Rede in den sozialstaatlichen Gesellschaften deutlich herausarbei-ten soll. Im zweiten Abschnitt beziehe ich dann dieses Diskurs-modell auf sozialstrukturelle Überlegungen, besonders auf die Grenzverschiebungen zwischen der »politischen«, der »ökonomi-

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sehen« und der »häuslichen« oder »persönlichen« Lebenssphäre. Im dritten Abschnitt identifiziere ich drei Hauptstränge der be-dürfniszentrierten Rede in der politischen Kultur des Spätkapita-lismus, und ich zeige einige der Formen auf, in denen sie um potentielle Anhänger konkurrieren. Im vierten Abschnitt wende ich das Modell auf einige konkrete Beispiele für die gegenwärtige Politik der Bedürfnisse in den Vereinigten Staaten an. Schließlich gehe ich in einer kurzen Schlußfolgerung auf einige moralische und erkenntnistheoretische Aspekte ein, die von dem Phänomen der auf Bedürfnisse zentrierten Rede aufgeworfen werden.

I

Ich möchte beginnen, indem ich einige der Eigenheiten des von mir vorgeschlagenen Ansatzes erläutere. Bei meinem Ansatz liegt der Untersuchungsschwerpunkt nicht auf den Bedürfnissen, son-dern auf den Diskursen über die Bedürfnisse. Es geht darum, unseren Blickwinkel auf die Politik der Bedürfnisse zu verlagern. Gewöhnlich wird die Politik der Bedürfnisse so verstanden, als sei sie dem Bereich der Distribution von Mitteln für Bedarfsdeckun-gen zugeordnet. Im Gegensatz dazu steht im Mittelpunkt meines Ansatzes die Politik der Bedürfnisinterpretation.

Mein Beweggrund dafür, die Diskurse und Interpretationen in den Mittelpunkt zu rücken, ist, den kontextuellen und umstritte-nen Charakter der Bedürfnisansprüche sichtbar zu machen. Wie schon viele Theoretiker bemerkt haben, besitzen Bedürfnisan-sprüche eine relationale Struktur; implizit oder explizit haben sie die Form »A benötigt x damit y«. Nun gibt diese Um-zu-Struktur keine Probleme auf, wenn wir sehr allgemeine oder elementare »dünne« [thin] Bedürfnisse betrachten, wie Nahrung und Unter-kunft schlechthin. So können wir, ohne Widerspruch hervorzuru-fen, sagen, daß Obdachlose wie alle Menschen, die in einem nichttropischen Klima leben, eine Unterkunft zum Leben brau-chen. Und die meisten Menschen werden folgern, der Staat als Garant für Leben und Freiheit hätte eine Verantwortung, für dieses Bedürfnis zu sorgen. Sobald wir jedoch auf eine weni-ger allgemeine Ebene herabsteigen, werden die Bedürfnisansprü-che weitaus kontroverser. Was brauchen in einer dichten Beschrei-bung die Obdachlosen, um vor der Kälte geschützt zu sein?

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Welche spezifischen Formen der Versorgung gehen damit einher, sobald wir einmal ihr ganz allgemeines, elementares Bedürfnis an-erkannt haben? Brauchen Obdachlose Nachsichtigkeit, so daß sie ungestört neben einem Heizungsschacht an der Straßenecke schla-fen können? Brauchen sie einen Platz im Tunnel der Untergrund-bahn oder in einem Busbahnhof? Vorübergehend ein Bett in einem Obdachlosenasyl? Ein dauerhaftes Heim? Nehmen wir letzteres an. Was für eine dauerhafte Behausung benötigen die Obdachlo-sen? Mieteinheiten in Hochhäusern zentral gelegener Stadtge-biete, weit entfernt von guten Schulen, Diskountläden und Ar-beitsmöglichkeiten? Einfamilienhäuser für Familien mit zwei Elternteilen und einem Einzelverdiener? Und was brauchen Ob-dachlose sonst noch, um dauerhaft eine Wohnung zu haben? Mietzuschüsse? Einkommenszuschläge? Arbeitsstellen? Beruf-liche Bildung und Erziehung? Tagesbetreuung der Kinder? Und was ist letztlich auf der Ebene der Wohnungspolitik notwendig, um einen angemessenen Bestand an erschwinglichen Wohnungen sicherzustellen? Steueranreize, um private Investitionen in Woh-nungen für Bezieher niedriger Einkommen zu ermutigen? Zusam-mengezogene oder verstreut angelegte öffentliche Wohnungsbau-projekte im Rahmen eines generell kommerzialisierten Wohnens? Mietenregulierung? Entkommerzialisierung des städtischen Woh-nens?

Wir könnten unendlich damit weitermachen, solche Fragen zu stellen. Und gleichzeitig würden wir die Kontroverse laufend aus-dehnen. Das genau ist der Punkt mit den Bedürfnisansprüchen. Diese Ansprüche sind meist ineinander verschachtelt, tendieren dazu, in verzweigten Ketten von »um zu«-Relationen miteinander verbunden zu sein. Und wenn diese verzweigten Verkettungen im Laufe politischer Auseinandersetzungen entwirrt werden, lassen die Meinungsverschiedenheiten nicht etwa nach, sondern vertie-fen sich gewöhnlich. Wie solche Verkettungen genau aufgelöst werden, hängt davon ab, welche Hintergrundannahmen die Ge-sprächspartner teilen. Versteht es sich von selbst, daß die Politik, die sich mit der Obdachlosigkeit befassen soll, die grundlegenden Eigentumsverhältnisse und die Investitionsstruktur bei den städti-schen Immobilien nicht antasten darf? Oder ist das ein Punkt, an dem die Annahmen und die normativen Einstellungen der Men-schen auseinandergehen?

Es sind die in umstrittenen Vernetzungen von Um-zu-Rela-

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tionen implizierten Bedürfnisansprüche, auf die ich die Auf-merksamkeit richte, wenn ich von der Politik der Bedürfnisin-terpretation spreche. Dünne Theorien der Bedürfnisse, die die Erforschung solcher Vernetzungen unterlassen, können die Be-dürfnispolitik kaum erhellen. Solche Theorien gehen davon aus, daß es in der Bedürfnispolitik nur darum geht, ob verschiedene vordefinierte Bedürfnisse erfüllt werden sollen oder nicht. Infol-gedessen lenken sie die Aufmerksamkeit von einer Reihe wichtiger Fragen ab.3 Erstens halten sie die Interpretation menschlicher Be-dürfnisse schlicht für gegeben und unproblematisch; sie verstellen deshalb die interpretative Dimension der Bedürfnispolitik, also die Tatsache, daß nicht bloß Befriedigungen, sondern Bedürfnis-interpretationen politisch umstritten sind. Zweitens gehen sie da-von aus, daß es nicht ins Gewicht fällt, wer, aus welcher Perspek-tive und im Licht welcher Interessen die fraglichen Bedürfnisse interpretiert. Sie übersehen daher die Tatsache, daß es selbst ein Politikum ist, wem es gelingt, maßgebende dichte Definitionen menschlicher Bedürfnisse zu etablieren. Drittens halten sie es für selbstverständlich, daß die sozial autorisierten Formen des öffent-lichen Diskurses, die für die Interpretation menschlicher Bedürf-nisse verfügbar sind, angemessen und fair sind. Sie vernachlässigen daher die Frage, ob diese Formen des öffentlichen Diskurses zum Vorteil der Selbstdeutungen und Interessen der herrschenden so-zialen Gruppen verzerrt sind und sich so zum Nachteil unterge-ordneter oder oppositioneller Gruppen auswirken. Mit anderen Worten, sie verschließen sich der Tatsache, daß die Mittel des öf-fentlichen Diskurses ihrerseits in der Bedürfnispolitik zur Debatte stehen könnten.4 Viertens versagen solche Theorien darin, die so-ziale und institutionelle Logik in den Prozessen der Bedürfnisin-terpretation zu problematisieren. Sie vernachlässigen daher solche wichtigen politischen Fragen wie: Wo in der Gesellschaft, in wel-chen Institutionen, werden die maßgebenden Bedürfnisinterpre-tationen entwickelt? Welcher Art sind die geltenden sozialen Beziehungen unter den Gesprächspartnern oder Ko-Interpreten.

Um diese blinden Flecken zu beseitigen, plädiere ich für eine politisch kritischere, diskursorientierte Alternative. Ich begreife die Bedürfnispolitik als einen Zusammenhang von drei Momen-ten, die analytisch unterschieden, aber praktisch verbunden sind. Der erste Moment ist der Kampf darum, den politischen Status eines gegebenen Bedürfnisses zu etablieren oder zu verweigern,

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der Kampf, das Bedürfnis als eine Angelegenheit des legitimen politischen Interesses zu bestätigen, oder es als eine unpolitische Materie zu einer Enklave zu machen. Das zweite Moment ist der Kampf um die Interpretation des Bedürfnisses, der Kampf um die Macht, es zu definieren und so auch festzulegen, wodurch es zu befriedigen ist. Das dritte Moment ist der Kampf um die Befriedi-gung des Bedürfnisses, der Kampf darum, die Versorgung zu sichern oder zu verweigern.

Nun verlangt der Schwerpunkt auf der Politik der Bedürfnisin-terpretation ein Modell des sozialen Diskurses. Das Modell, das ich entwickelt habe, rückt den polyvalenten und umstrittenen Charakter der bedürfniszentrierten Rede in den Vordergrund, also die Tatsache, daß uns in den sozialstaatlichen Gesellschaften einer Vielfalt konkurrierender Arten des Redens über menschliche Be-dürfnisse begegnen. Das Modell faßt theoretisch, was ich »die soziokulturellen Mittel der Interpretation und Kommunikation« (MIK) nenne. Damit meine ich das historisch und kulturell spezi-fische Ensemble diskursiver Ressourcen, die den Mitgliedern eines gegebenen sozialen Kollektivs verfügbar sind, um den Forderun-gen gegeneinander Nachdruck zu verleihen. Unter diesen Res-sourcen befinden sich:

1. Die offiziell anerkannten Idiome, in denen Forderungen nachdrücklich vorgebracht werden können; zum Beispiel die auf Bedürfnisse zentrierte Rede, die auf Rechte zentrierte Rede, die auf Interessen zentrierte Rede. 2. Die verfügbaren Vokabulare, um Forderungen in diesen anerkannten Idiomen anzumelden; auf die Rede über Bedürfnisse bezogen: Welche Vo-kabulare sind verfügbar, um Bedürfnisse zu interpretieren und mitzutei-len? Zum Beispiel therapeutische, administrative, religiöse, feministische, sozialistische Vokabulare. 3. Die Paradigmen der Argumentation, die als maßgeblich für die Ent-scheidung zwischen konfligierenden Forderungen akzeptiert sind; in be-zug auf die bedürfniszentrierte Rede heißt das: Wie werden Konflikte um die Interpretation von Bedürfnissen gelöst? Durch die Anrufung wissen-schaftlicher Experten? Durch vermittelte Kompromisse? Durch Wahlen gemäß der Mehrheitsregel? Durch die Privilegierung der Interpretationen derer, deren Bedürfnisse zur Diskussion stehen? 4. Die narrativen Konventionen, die zur Verfügung stehen, um die indivi-duellen und kollektiven Geschichten zu konstruieren, die für die sozialen Identitäten der Menschen konstitutiv sind. 5. Die Subjektivierungsweisen; die Formen, in denen die verschiedenen Diskurse die Menschen einordnen und in denen die Menschen als be-

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stimmte Subjektsorten, die mit spezifischen Arten von Handlungsfähig-keiten ausgestattet sind, angesprochen werden, zum Beispiel als »normal« oder als »abweichend«, als kausal bedingt oder als sich frei selbstbestim-mend, als Opfer oder als potentielle Aktivisten, als einzigartige Individuen oder als Mitglieder sozialer Gruppen.5

Nun gibt es in den wohlfahrtsstaatlichen Gesellschaften eine Pluralität der Formen des Zusammenschlusses, der Rollen, Grup-pen, Institutionen und Diskurse. Deshalb sind die Mittel der Interpretation und Kommunikation nicht aus einem Guß. Sie bil-den nicht ein kohärentes, monolithisches Gewebe, sondern eher ein heterogenes, polyglottes Feld unterschiedlicher Möglichkeiten und Alternativen. Tatsächlich ist es in den sozialstaatlichen Gesell-schaften typischerweise so, daß sich die Diskurse über Bedürf-nisse zumindest implizit auf alternative Interpretationen bezie-hen. Die einzelnen Behauptungen über Bedürfnisse sind »intern dialogisiert«; unausgesprochen oder ausdrücklich rufen sie Reso-nanzen bei konkurrierenden Bedürfnisinterpretationen hervor.6

Sie verweisen deshalb auf einen Konflikt der Bedürfnisinterpreta-tionen. Zum Beispiel halten die Gruppen, welche den Schwanger-schaftsabbruch einschränken oder ganz verbieten möchten, der »Heiligkeit des Lebens« die »schiere Bequemlichkeit« der »Kar-rierefrauen« entgegen; so kleiden sie ihre Forderungen in Begriffe, die sich ganz gleich wie abschätzig, auf die feministischen Inter-pretationen reproduktiver Bedürfnisse beziehen.7

Natürlich sind die spätkapitalistischen Gesellschaften nicht ein-fach pluralistisch. Sie sind vielmehr durch soziale Gruppen, die in bezug auf Status, Macht und den Zugang zu Ressourcen ungleich sind, stratifiziert und differenziert und von allgegenwärtigen Di-mensionen der Ungleichheit entlang der Trennlinien von Klasse, Geschlecht, Rasse, Ethnizität und Alter durchzogen. Die MIK in diesen Gesellschaften sind ebenfalls stratifiziert und in Formen organisiert, die mit den gesellschaftlichen Mustern der Herrschaft und Unterordnung übereinstimmen.

Daraus folgt, daß wir unterscheiden müssen zwischen jenen Elementen der MIK, die hegemonial, autorisiert und offiziell sanktioniert sind, einerseits und jenen Elementen, die nicht hege-monial, disqualifiziert und nicht gefragt sind, andererseits. Einige Weisen des Redens über Bedürfnisse sind in den zentralen diskur-siven Arenen der spätkapitalistischen Gesellschaften institutiona-

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lisiert: in den Parlamenten, Akademien, Gerichten und Massen-medien. Andere Formen des Redens über Bedürfnisse sind als subkulturelle Soziolekte in Enklaven eingeschlossen und norma-lerweise aus den zentralen diskursiven Arenen ausgeschlossen.8

Zum Beispiel sind moralisierende und wissenschaftliche Diskurse über die Bedürfnisse der von AIDS infizierten Menschen und der Menschen mit AIDS-Risiken in den Regierungskommissionen durchaus präsent; dagegen sind die Interpretationen jener Bedürf-nisse, die von Aktivisten für Schwulen- und Lesbenrechte stam-men, weitgehend ausgeschlossen.

Aus dieser Perspektive erscheint die auf Bedürfnisse zentrierte Rede als ein Kampfplatz, auf dem Gruppen mit ungleichen diskur-siven (und nicht-diskursiven) Ressourcen konkurrieren, um ihre jeweiligen Interpretationen legitimer sozialer Bedürfnisse als he-gemoniale Interpretationen zu etablieren. Die herrschenden Gruppen artikulieren Bedürfnisinterpretationen, die Gegeninter-pretationen ausschließen, entschärfen und/oder kooptieren sol-len. Auf der anderen Seite artikulieren die untergeordneten oder oppositionellen Gruppen Bedürfnisinterpretationen, die herr-schende Interpretationen anfechten, ersetzen und/oder modifizie-ren sollen. Weder im einen noch im anderen Fall sind die Interpre-tationen einfach »Repräsentationen«. Sie sind vielmehr in beiden Fällen Handlungen und Einmischungen.9

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Nun möchte ich das soeben skizzierte Diskursmodell mit Blick auf einige sozialstrukturelle Merkmale der spätkapitalistischen Gesellschaften einordnen. Damit soll hier das Aufkommen einer politisierten, bedürfniszentrierten Rede in Beziehung gesetzt wer-den zu Verlagerungen der Grenzen, die »politische«, »ökonomi-sche« und »häusliche« Dimensionen des Lebens voneinander trennen. Jedoch anders als viele Sozialtheoretiker werde ich die Begriffe »politisch«, »ökonomisch« und »häuslich« mehr als kul-turelle Klassifikationen und ideologische Etiketten und weniger als Bezeichnungen von Strukturen, Sphären oder Dingen behan-deln.10

Zunächst möchte ich feststellen, daß die Begriffe »Politik« und »politisch« stark umstritten sind und eine Reihe verschiedener Be-

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deutungen haben.11 Im gegenwärtigen Kontext sind insbesondere zwei dieser Bedeutungen wichtig. Erstens gibt es den institutio-nellen Sinn, in dem eine Angelegenheit dann für »politisch« erach-tet wird, wenn sich mit ihr direkt die Institutionen des offiziellen Regierungssystems, einschließlich der Parlamente, der Verwal-tungsapparate und ähnliches, befassen. Was in diesem Sinne »poli-tisch« ist - ich nenne es »offiziell politisch« -, kontrastiert mit dem, womit sich Institutionen wie die »Familie« und die »Ökono-mie« befassen, die beide der Definition nach außerhalb des offi-ziellen politischen Systems stehen, obwohl sie in Wirklichkeit von diesem abgestützt und reguliert werden. Zweitens ist da der dis-kurstheoretische Sinn, in dem etwas »politisch« ist, wenn es über ein Spektrum verschiedener diskursiver Arenen hinweg und in-nerhalb einer Bandbreite unterschiedlicher Öffentlichkeiten um-stritten ist. Was in diesem Sinne »politisch« ist - ich nenne es »diskursiv-politisch« oder »politisiert« -, kontrastiert mit dem, was öffentlich unbestritten ist, und mit dem, was lediglich in rela-tiv spezialisierten, enklavisch eingefaßten und/oder segmentierten Öffentlichkeiten bestritten wird. Diese zwei Bedeutungen stehen nicht zusammenhanglos nebeneinander. In der Theorie der De-mokratie, wenn auch nicht immer in der Praxis, wird eine Angele-genheit gewöhnlich erst dann ein Gegenstand der legitimen Staats-intervention, nachdem sie in breiten diskursiven Öffentlichkeiten debattiert wurde.

Ganz allgemein gibt es a priori keine Zwänge, die diktierten, ob einige Angelegenheiten wesensmäßig politisch und andere we-sensmäßig unpolitisch seien. Die Grenzen von Kultur zu Kultur und von historischer Periode zu historischer Periode werden un-terschiedlich gezogen. Die generative Reproduktion beispiels-weise wurde um 1890 in den Vereinigten Staaten inmitten einer Panik um »Rassenselbstmord« eine höchst politische Angelegen-heit. Um 1940 jedoch gab es den Konsens, daß die Geburten-kontrolle eine »private« Sache sei. Schließlich wurde mit dem Aufkommen der Frauenbewegung in den sechziger Jahren die ge-nerative Reproduktion wiederum politisiert.12

Es wäre jedoch eine irreführende These, daß die Grenze zwi-schen dem, was politisch ist, und dem, was nicht politisch ist, für jede Gesellschaft zu jeder Phase einfach festgelegt oder vorgege-ben wäre. Im Gegenteil, diese Grenze kann selbst der Gegenstand eines Konflikts sein. Die Kämpfe um die Armengesetz-»Reform«

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im England des 19. Jahrhunderts waren zum Beispiel auch Kon-flikte um den Geltungsbereich des Politischen. Und wie ich gleich darlegen werden, dreht sich einer der primären sozialen Konflikte in den spätkapitalistischen Gesellschaften um eben jene Frage, nach den Grenzen des Politischen.

Ich will nun einige der Prämissen und Implikationen der dis-kurstheoretischen Bedeutung von »Politik« erläutern. Dieser Be-deutung zufolge, ist eine Angelegenheit dann »politisch« wenn sie über ein weites Spektrum verschiedener diskursiver Schauplätze hinweg und innerhalb einer Bandbreite verschiedener diskursiver Öffentlichkeiten umstritten ist. Es ist deshalb zu beachten, daß sie von einem Ideal diskursiver Öffentlichkeit abhängt. In dieser Konzeption wird die Öffentlichkeit aber nicht in einer einfachen, einheitlichen Weise als das undifferenzierte Gegenstück zu einer diskursiv strukturierten Privatheit verstanden. In der Annahme, daß es möglich ist, eine Pluralität unterschiedlicher Diskurs-Öf-fentlichkeiten zu identifizieren und die Beziehungen zwischen ihnen theoretisch zu beschreiben, wird die Öffentlichkeit als eine differenzierte Öffentlichkeit aufgefaßt.

Die Öffentlichkeiten können anhand einer Anzahl von ver-schiedenen Dimensionen eingeteilt werden, zum Beispiel nach der Ideologie (die Leserschaft von The Nation versus die Leserschaft von The Public Interest), nach Stratifikationsprinzipien wie denen des Geschlechtes (die Zuschauer von »Cagney and Lacey« versus die Zuschauer von »Monday Night Football«) und der Klasse (die Leserschaft der New York Times versus diejenige der New York Post), nach dem Beruf (die Mitglieder der »American Economic Association« versus die Mitglieder der »American Bar Associ-ation«) und nach der zentralen Mobilisierungsthematik (die Anti-nuklear-Bewegung versus die »pro-life«-Bewegung).

Öffentlichkeiten können auch nach ihrer relativen Macht unter-schieden werden. Einige sind groß, einflußreich und fähig, die Be-dingungen der Debatte für viele andere festzulegen. Andere sind klein, in sich geschlossen, eingekapselt und unfähig, jenseits ihrer eigenen Grenzen Spuren zu hinterlassen. Öffentlichkeiten der er-sten Art können häufig die Führung in der Bildung eines hegemo-nialen Blocks übernehmen: Verkettungen verschiedener Öffent-lichkeiten, die zusammen den gerade üblichen »common sense« konstruieren. Infolgedessen haben solche dominanten Öffentlich-keiten gewöhnlich die Hand im Spiel, wenn definiert wird, was -

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im diskurstheoretischen Sinne - »politisch« ist. Sie können eine Sa-che bereits dadurch politisieren, daß sie eine Auseinandersetzung um dieses Thema herum in Gang halten, denn eine solche Ausein-andersetzung wird selbstverständlich durch andere und auf andere Verbündete und opponierende Öffentlichkeiten übertragen. Da-gegen fehlt den kleineren, gegenhegemonialen Öffentlichkeiten generell die Macht, Themen auf diese Weise zu politisieren. Wenn sie darin erfolgreich sind, eine Auseinandersetzung um eine Sache zu schüren, die zuvor nicht »politisch« war, dann meist mit weit langsamer wirkenden und mühevolleren Mitteln. Im allgemeinen ist es die relative Macht vielfältiger Öffentlichkeiten, die das Er-gebnis der Kämpfe um die Grenzen des Politischen bestimmt.

Wie sollen wir also die Politisierung der Bedürfnisse in den spät-kapitalistischen Gesellschaften begrifflich fassen? Offensichtlich spielen hier Prozesse eine Rolle, in deren Folge bestimmte Angele-genheiten aus dem Bereich diskursiv strukturierter Privatheit und aus den spezialisierten oder Enklaven gleichenden Öffentlichkei-ten ausbrechen, um dann zu Brennpunkten einer allgemeineren Auseinandersetzung zu werden. Wenn dies geschieht, werden bis-lang für selbstverständlich gehaltene Interpretationen dieser An-gelegenheiten fragwürdig und vorher verdinglichte Verkettungen von Um-zu-Relationen werden in Frage gestellt.

Welche Zonen der Privatheit und welche spezialisierten Öffent-lichkeiten umschlossen zuvor die neu politisierten Bedürfnisse in den spätkapitalistischen Gesellschaften? In was für Institutionen wurden diese Bedürfnisse eingeschlossen, entpolitisiert und in ih-ren Interpretationen hypostasiert, indem diese Interpretationen in unbefragt hingenommenen Vernetzungen von Um-zu-Relationen eingelagert waren?

In den männlich beherrschten, kapitalistischen Gesellschaften wird das, was »politisch« ist, normalerweise über den Gegensatz zu dem definiert, was »ökonomisch«, »häuslich« oder »persön-lich« ist. Mithin können wir zwei Hauptgruppen von Institutio-nen identifizieren, die soziale Diskurse entpolitisieren. Es sind erstens die häuslichen Institutionen, besonders in ihrer normativ ausgezeichneteren häuslichen Gestalt, nämlich der modernen, eingeschränkten Kleinfamilie mit männlichem Haushaltsvor-stand; und zweitens die offiziellen ökonomischen Institutionen des kapitalistischen Systems, im einzelnen die Institutionen des bezahlten Arbeitsplatzes, Märkte, Kreditmechanismen und »pri-

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vate« Unternehmungen und Konzerne.13 Häusliche Institutionen entpolitisieren bestimmte Materien durch deren Personalisierung und/oder Familiarisierung. Sie schneiden sie auf häuslich-private oder persönlich-familiäre Angelegenheiten zu, im Gegensatz zu öffentlichen, politischen Angelegenheiten. Zum anderen entpoli-tisieren die offiziellen ökonomischen Institutionen des kapitalisti-schen Systems gewisse Materien durch deren Ökonomisierung. Das, worum es geht, wird dabei im Gegensatz zu politischen Din-gen auf anonyme Marktimperative, auf die Prärogative des Privat-eigentums oder auf technische Probleme für Manager und Planer zugeschnitten. Das Resultat ist in beiden Fällen eine Verkürzung der verketteten Um-zu-Relationen, die zur Interpretation der menschlichen Bedürfnisse herangezogen werden. Die Interpreta-tionsketten werden gekürzt und daran gehindert, sich über die Grenzen auszubreiten, die »das Häusliche« und »das Ökonomi-sche« von »dem Politischen« trennen.

Die häuslichen Institutionen und die offiziellen Institutionen des ökonomischen Systems unterscheiden sich in vielen wichtigen Hinsichten. In einer Hinsicht jedoch entsprechen sie sich exakt: beide kapseln gewisse Angelegenheiten in spezialisierte diskursive Schauplätze ein; beide schützen dadurch solche Angelegenheiten vor einer allgemeinen Auseinandersetzung und vor breit gestreu-ten Interpretationskonflikten; und infolgedessen befestigen sie beide die Autorität bestimmter spezifischer Bedürfnisinterpreta-tionen, indem sie diese in bestimmte spezifische, aber weitgehend unbezweifelte Ketten von Um-zu-Relationen einlagern.

Da sowohl die häuslichen Institutionen wie die offiziellen Insti-tutionen des ökonomischen Systems Verhältnisse der Herrschaft und Unterordnung unterstützen, tendieren gewöhnlich die spezi-fischen Interpretationen, die von ihnen naturalisiert werden, im ganzen dazu, herrschende Gruppen und Individuen zu bevorzu-gen und die Untergeordneten zu benachteiligen. Wenn beispiels-weise die Mißhandlung der Ehefrau als eine »persönliche« oder »häusliche« Angelegenheit in den Kleinfamilien mit männlichem Oberhaupt eingeschlossen wird, und wenn der öffentliche Dis-kurs über dieses Phänomen in spezialisierte Öffentlichkeiten kanalisiert wird, die, sagen wir, mit dem Familienrecht, der Sozi-alarbeit und der Soziologie und Psychologie der »Devianz« ver-bunden sind, dann dient dies der Reproduktion von Geschlechter-herrschaft und -Unterordnung. Wenn Fragen der Demokratie am

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Arbeitsplatz auf »ökonomische« oder »Direktions«-Probleme an den gewinnorientierten, hierarchisch gegliederten, bezahlten Ar-beitsplätzen eingegrenzt werden und wenn der Diskurs um diese Fragen in spezialisierte Öffentlichkeiten abgeschoben wird, die, sagen wir, mit der Soziologie »industrieller Beziehungen«, dem Arbeitsrecht und der »Managementwissenschaft« verbunden sind, dann dient dies ebenfalls dazu, die Klassenherrschaft (und ge-wöhnlich auch die Geschlechter- und Rassenherrschaft) und Klas-senunterordnung aufrechtzuerhalten.

Als Ergebnis dieses Prozesses internalisieren die Mitglieder un-tergeordneter Gruppen gemeinhin die Bedürfnisinterpretationen, die sich zu ihrem eigenen Nachteil auswirken. Manchmal werden auch kulturell herrschende Bedürfnisinterpretationen den latenten oder embryonalen oppositionellen Interpretationen übergestülpt. Das ist am wahrscheinlichsten dort, wo subkulturell überlieferte Traditionen des Widerstands, ganz gleich wie fragmentarisch sie sind, fortbestehen, wie in einigen Teilen der amerikanischen Arbei-terbewegung und im historischen Gedächtnis vieler Afro-Ameri-kaner. Zudem werden unter besonderen, theoretisch nur schwer zu spezifizierenden Umständen die Prozesse der Entpolitisierung ge-stört. An diesem Punkt beginnen die herrschenden Klassifikatio-nen der Bedürfnisse als »ökonomisch« oder »häuslich« - als dem »Politischen« entgegengesetzt - ihre »Selbstevidenz« zu verlieren, und alternative oppositionelle und politisierte Interpretationen er-scheinen an ihrer Stelle.14

Die Familie und die offizielle Ökonomie sind jedenfalls die we-sentlichen entpolitisierenden Enklaven, die von den Bedürfnissen überschritten werden müssen, um in den männlich beherrschten, kapitalistischen Gesellschaften im diskurstheoretischen Sinne »politisch« werden zu können. Die Entstehung der bedürfniszen-trierten Rede als ein politisches Idiom in diesen Gesellschaften ist daher die Kehrseite der gesteigerten Durchlässigkeit der häus-lichen und offiziellen ökonomischen Institutionen, ihrer wach-senden Unfähigkeit, bestimmte Materien vollständig zu entpoliti-sieren. Die zur Diskussion stehenden politisierenden Bedürfnisse in den spätkapitalistischen Gesellschaften sind also »durchgesik-kerte« oder »davongelaufene« Bedürfnisse: Es sind Bedürfnisse, die aus den Diskurs-Enklaven, die in und um die häuslichen und offiziellen ökonomischen Institutionen herum errichtet wurden, ausgebrochen sind.

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Davongelaufene Bedürfnisse bilden eine Art Überschuß mit Be-zug auf die normativ modernen, häuslichen und ökonomischen Institutionen. Zumindest am Anfang tragen sie den Stempel jener Institutionen, da sie in konventionelle Ketten von Um-zu-Rela-tionen eingebettet bleiben. Viele davongelaufene Bedürfnisse sind zum Beispiel in den männlich beherrschten, spätkapitalistischen Gesellschaften von der Prämisse gefärbt, daß »das Häusliche« von »dem Ökonomischen« getrennt sein soll. Deshalb war die Kinder-betreuung nahezu die gesamte amerikanische Geschichte hin-durch auf ein »häusliches«, weniger auf ein »ökonomisches« Bedürfnis zugeschnitten; es wurde mehr als ein Bedürfnis der Kin-der nach einer Vollzeitbetreuung durch die Mütter interpretiert denn als ein Bedürfnis der Arbeitnehmerinnen nach zeitlicher Entlastung von ihren Kindern, und die Befriedigung des Bedürf-nisses wurde eher als Frage eines »Erziehungsgelds« ausgelegt denn als Frage der Kindertagesbetreuung.15 Hier verkürzt die An-nahme von separaten Sphären die möglichen Ketten von Um-zu-Relationen, die alternative Interpretationen der sozialen Be-dürfnisse hervorbringen würden.

Wohin laufen nun die davongelaufenen Bedürfnisse, wenn sie aus den häuslichen oder offiziellen ökonomischen Enklaven aus-brechen? Ich meine, davongelaufene Bedürfnisse betreten eine historisch spezifischen und relativ neuen gesellschaftlichen Schau-platz. Im Anschluß an Hannah Arendt nenne ich diesen Hand-lungsraum »das Gesellschaftliche«, um deutlich zu machen, daß er sich nicht mit den Handlungsräumen der Familie, der offiziellen Ökonomie und des Staates deckt.16 Als eine Stätte des umstritte-nen Diskurses um davongelaufene Bedürfnisse durchschneidet »das Gesellschaftliche« diese traditionellen Teilungen. Es ist ein Schauplatz des Konfliktes zwischen rivalisierenden Bedürfnisin-terpretationen, die in rivalisierende Ketten von Um-zu-Relatio-nen eingelagert sind.17

Das Gesellschaftliche scheint mir eine Schaltstelle zu sein, an der heterogene Konfliktparteien aufeinandertreffen, die zum Teil mit ganz verschiedenen diskursiven Öffentlichkeiten assoziiert sind. Die Konfliktparteien reichen von den Befürwortern der Po-litisierung bis zu den Verteidigern der (erneuten) Entpolitisierung, von lose organisierten sozialen Bewegungen bis hin zu den Mit-gliedern spezialisierter Expertenöffentlichkeiten in und um den Sozialstaat herum. Außerdem variieren sie beträchtlich in ihrer

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relativen Macht. Einige sind mit dominanten Öffentlichkeiten ver-bunden, die fähig sind, die Bedingungen für die politische Debatte festzulegen; andere hingegen sind mit enklavisch begrenzten Öf-fentlichkeiten verknüpft und schwanken zwischen Marginalisie-rung und Kooptation.

Das Gesellschaftliche ist auch der Ort, an dem erfolgreich poli-tisierte, davongelaufene Bedürfnisse in Forderungen nach staat-licher Versorgung übersetzt werden. Hier werden rivalisierende Konzeptionen umgeformt, rivalisierende Bündnisse werden um rivalisierende politische Initiativen herum geschlossen, und un-gleich ausgestattete Gruppen konkurrieren darin, die formelle politische Agenda zu gestalten. In den Vereinigten Staaten rangeln heute zum Beispiel verschiedene Interessengruppen, Bewegun-gen, Berufsverbände und Parteien um Formulierungen, von denen ausgehend Bündnisse gebildet werden können, die mächtig genug sind, die Gestaltung der bevorstehenden »Wohlfahrtsreform« zu diktieren.

Wenn und sobald solche Auseinandersetzungen (zumindest vorübergehend) beigelegt werden, können die davongelaufenen Bedürfnisse gegebenenfalls zu Objekten der Staatsintervention werden. Sie werden dann zu Zielsetzungen und Druckmitteln für verschiedene Strategien des Krisenmanagements. Sie werden auch zur raison d'etre für die Vermehrung der verschiedenen Einrich-tungen, die den Sozialstaat ausmachen.18 Diese Einrichtungen sind damit beschäftigt, die Befriedigung sozialer Bedürfnisse zu regeln und/oder zu finanzieren und/oder für sie zu sorgen. Und indem sie das tun, sind sie an der Interpretation der fraglichen Bedürfnisse genauso beteiligt wie an ihrer Befriedigung. Das so-zialstaatliche System der USA beispielsweise ist gegenwärtig in zwei geschlechterspezifische und ungleiche Subsysteme geteilt: in ein implizit »maskulines« Subsystem der Sozialversicherung, das an die Mitgliedschaft in der »primären« Arbeitnehmerschaft ge-knüpft und auf weiße männliche »Ernährer« abgestimmt ist, und ein implizit »feminines« Subsystem der Sozialhilfe, das an ein Haushaltseinkommen gebunden ist und auf Hausfrauen-Mütter und ihre »unvollständigen« Familien (d.h. Familien mit weib-lichem Haushaltsvorstand) ausgerichtet ist. Wegen der zugrunde gelegten (aber den Tatsachen widersprechenden) Prämisse der »se-paraten Sphären« unterscheiden sich die beiden Subsysteme er-heblich im Grad der Autonomie, in den Rechten und in den

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unterstellten Verdiensten, die sie für die Leistungsbezieher gelten lassen sowie auch in ihrer Finanzierungsgrundlage, der Verwal-tungsweise und in der Beschaffenheit und dem Niveau der Lei-stungen.19 Daher sorgen die verschiedenen Einrichtungen, die das sozialstaatliche System ausmachen, für mehr als nur für materielle Hilfe. Sie versorgen auch die Klienten und die gesamte Öffent-lichkeit mit einer zwar stillschweigenden, aber machtvollen inter-pretativen Topografie normativ ausgezeichneter und unterschied-lich bewerteter Geschlechtsrollen und geschlechtlich bestimmter Bedürfnisse. Folgerichtig mischen auch die verschiedenen Zweige des Sozialstaats in der Politik der Bedürfnisinterpretation mit.20

Um es zusammenzufassen: In den spätkapitalistischen Gesell-schaften treten die davongelaufenen Bedürfnisse, die aus den häus-lichen oder den offiziellen ökonomischen Enklaven ausgebrochen sind, in den hybriden diskursiven Raum ein, den Arendt treffend »das Gesellschaftliche« nannte. Sie können dann zu Schwerpunk-ten der auf Krisenbewältigung ausgerichteten Staatsintervention werden. Diese Bedürfnisse sind also Kennzeichen größerer sozial-struktureller Verschiebungen der Grenzen, die das voneinander trennen, was als »politische«, »ökonomische« und als »häusliche« oder »persönliche« Lebenssphäre klassifiziert wird.

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Ich möchte nun ein Klassifizierungsschema für die vielen Spielar-ten der bedürfniszentrierten Rede in den spätkapitalistischen Ge-sellschaften vorschlagen. Es geht darum, einige unterschiedliche Diskurstypen zu identifizieren und die Konfliktlinien nachzu-zeichnen, entlang derer sie konkurrieren. Dies wiederum wird uns erlauben, einige zentrale Achsen der Bedürfnispolitik in den so-zialstaatlichen Gesellschaften theoretisch zu beschreiben.

Ich meine, es gibt drei Hauptformen von Diskursen über Be-dürfnisse in den spätkapitalistischen Gesellschaften. Erstens gibt es die, wie ich sie nenne, »oppositionellen« Formen der bedürfnis-zentrierten Rede, die dann auftreten, wenn Bedürfnisse »von unten« politisiert werden. Diese tragen auf Seiten der untergeord-neten sozialen Gruppen zur Kristallisierung neuer sozialer Identi-täten bei. Zweitens gibt es die, wie ich sie nenne, »Reprivatisie-rungsdiskurse«, die als Reaktion auf die ersteren auftreten. Sie

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artikulieren eingewurzelte Bedürfnisinterpretationen, die bislang selbstverständlich waren. Schließlich gibt es die von mir »Exper-tendiskurse« genannten Diskurse, welche die Volksbewegungen mit dem Staat verknüpfen. Sie können am besten im Kontext »so-zialer Problemlösungstechniken«, der Institutionenbildung und der Berufsgruppenbildung verstanden werden. Es ist im allgemei-nen die polemische Interaktion dieser drei Arten der bedürfnis-zentrierten Rede, die die Bedürfnispolitik in den spätkapitalisti-schen Gesellschaften strukturiert.21

Zuerst möchte ich auf die Politisierung davongelaufener Be-dürfnisse durch oppositionelle Diskurse eingehen. Dabei werden Bedürfnisse in dem Augenblick politisiert, in dem zum Beispiel Frauen, Arbeiter und/oder farbige Menschen damit beginnen, die ihnen bislang zugeschriebenen subalternen Identitäten und Rollen sowie die traditionell verdinglichten und nachteiligen Bedürfnis-interpretationen anzufechten, die sie sich bisher zu eigen machten. Indem sie darauf bestehen, über bislang entpolitisierte Bedürf-nisse öffentlich zu sprechen, indem sie für diese Bedürfnisse den Status legitimer politischer Themen beanspruchen, tun solche Per-sonen und Gruppen etliche Dinge gleichzeitig. Erstens bestreiten sie die etablierten Grenzen, welche die »Politik« von der »Ökono-mie« und dem »Häuslichen« trennen. Zweitens bringen sie alter-native Interpretationen ihrer Bedürfnisse vor, die in alternative Ketten von Um-zu-Relationen eingelagert sind. Drittens schaffen sie neue Diskurs-Öffentlichkeiten, von denen aus sie versuchen, die eigenen Interpretationen ihrer Bedürfnisse über ein breites Spektrum verschiedener diskursiver Öffentlichkeiten zu streuen. Schließlich stellen sie hegemoniale Elemente der Mittel zur Inter-pretation und Kommunikation in Frage, wandeln sie ab oder ersetzen sie. Sie erfinden neue Formen des Diskurses zur Interpre-tation ihrer Bedürfnisse.

Innerhalb der oppositionellen Diskurse ist die bedürfniszen-trierte Rede ein Moment in der Selbstkonstitution neuer kollekti-ver Akteure oder sozialer Bewegungen. Im Zuge eines intensivier-ten, feministischen Gärungsprozesses zum Beispiel haben die Frauengruppen unterschiedliche Bedürfnisse politisiert und rein-terpretiert, haben neue Vokabulare und neue Formen des gezielten Ansprechens eingeführt und wurden so zu »Frauen« in einem an-deren, aber nicht unumstrittenen oder einstimmigen Sinne. Indem sie das bislang Unaussprechbare öffentlich aussprachen, indem sie

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Begriffe prägten wie »Sexismus«, »sexuelle Belästigung«, »Verge-waltigung in der Ehe, durch den Freund und im Bekanntenkreis«, »geschlechtlich segmentierte Arbeitnehmerschaft«, »Doppelbela-stung«, »Mißhandlung in der Ehe« usw., sind die feministischen Frauen zu »Frauen« im Sinne eines sich diskursiv selbst konstitu-ierenden politischen Kollektivs geworden, obgleich eines sehr heterogenen und fraktionierten Kollektivs.22

Die Politisierung von Bedürfnissen in oppositionellen Diskur-sen geht selbstverständlich nicht unumstritten vor sich. Ein Typ der Gegenwehr umfaßt die Verteidigung der etablierten Grenzen, welche die »politische«, die »ökonomische« und die »häusliche« Sphäre voneinander trennen, in der Form von »Reprivatisierungs-diskursen«. Institutionell bezeichnet die »Reprivatisierung« In-itiativen, die darauf abzielen, die staatlichen Sozialleistungen abzubauen oder zu kürzen, nationalisierte Vermögenswerte zu veräußern und/oder das »private« Unternehmertum zu deregulie-ren; diskursiv betrachtet bedeutet das Entpolitisierung. Die Spre-cher in den Reprivatisierungsdiskursen wenden sich daher gegen staatliche Mittel für davongelaufene Bedürfnisse, und sie versu-chen, Formen der bedürfniszentrierten Rede einzudämmen, die sich über ein weites Spektrum von diskursiven Öffentlichkeiten hinweg auszubreiten drohen. Reprivatisierer beharren beispiels-weise darauf, daß die häusliche Mißhandlung kein legitimer Ge-genstand des politischen Diskurses ist, sondern eine familiäre oder religiöse Angelegenheit, oder sie beharren darauf, um ein anderes Beispiel zu nehmen, daß die Schließung einer Fabrik keine po-litische Frage ist, sondern ein unbezweifelbares Vorrecht des »privaten« Eigentums oder ein unangreifbarer Imperativ eines an-onymen Marktmechanismus. In beiden Fällen bekämpfen die Sprecher das Ausbrechen davongelaufener Bedürfnisse und versu-chen, sie (erneut) zu entpolitisieren.

Interessanterweise vermischen die Reprivatisierungsdiskurse das Alte und das Neue. Zum einen scheinen sie lediglich jene Be-dürfnisinterpretationen explizit zu machen, die sich früher von selbst verstanden. Zum anderen aber verändern sie diese gleichzei-tig durch genau den Akt der Artikulation solcher Interpretatio-nen. Die Reprivatisierungsdiskurse sind intern dialogisiert, weil sie auf konkurrierende, oppositionelle Interpretationen antwor-ten. Sie enthalten Bezüge auf Alternativen, denen sie Widerstand leisten, sogar noch, indem sie diese zurückweisen. Obwohl zum

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Beispiel die »pro-family«-Diskurse der sozialen Neuen Rechten ausdrücklich antifeministisch sind, nehmen manche von ihnen fe-ministisch inspirierte Motive in einer entpolitisierten Form auf, die das Recht der Frauen auf sexuellen Genuß und auch auf emotio-nale Unterstützung durch ihre Ehemänner implizieren.23

Die Reprivatisierungsdiskurse lehnen oft die Forderungen der oppositionellen Bewegungen nach einem legitimen politischen Status davongelaufener Bedürfnisse ab, indem sie die etablierte soziale Einteilung der Diskurse verteidigen. Indem sie das tun, tendieren sie jedoch dazu, diese Bedürfnisse in dem Sinne weiter zu politisieren, daß sie deren kanonischen Status als Fixpunkte der Auseinandersetzung festigen. Außerdem werden auch die Repri-vatisierungsdiskurse in einigen Fällen zu Vehikeln der Mobilisie-rung sozialer Bewegungen und der Umformung sozialer Identitä-ten. Zweifellos ist das erstaunlichste Beispiel der Thatcherismus in Großbritannien, wo eine Reihe von Reprivatisierungsdiskursen im Tonfall des autoritären Populismus die Subjektivitäten einer großen Bandbreite entfremdeter Wähler umgestaltet und sie in einer mächtigen Koalition vereint hat.24

Zusammen definieren die oppositionellen Diskurse und die Re-privatisierungsdiskurse eine Achse des Kampfes um die Bedürf-nisse in den spätkapitalistischen Gesellschaften. Aber es besteht auch eine zweite, ganz andere Konfliktlinie. Darin ist der zentrale Streitpunkt nicht mehr Politisierung versus Entpolitisierung, son-dern der interpretierte Gehalt umstrittener Bedürfnisse, nachdem ihr politischer Status schon erfolgreich gesichert wurde. Und die hauptsächlichen Widersacher sind oppositionelle soziale Bewe-gungen und organisierte Interessen wie das Business, die auf eine Beeinflussung öffentlicher Politik abzielen.

Die Kindertagesbetreuung beispielsweise gewinnt heutzutage in den Vereinigten Staaten wachsende Legitimation als ein politi-sches Thema. Infolgedessen beobachten wir eine starke Zunahme konkurrierender Interpretationen und programmatischer Kon-zeptionen. In einer Sichtweise würde die Tagesbetreuung den Bedürfnissen armer Kinder nach »Bereicherung« und/oder mora-lischer Aufsicht gerecht werden. In einer anderen Sichtweise würde es dem Bedürfnis des Steuerzahlers aus der Mittelklasse entgegenkommen, Empfänger der Familienhilfe (AFDC) von den Listen der Wohlfahrt zu streichen. Eine dritte Interpretation würde die Tagesbetreuung als eine Maßnahme zur Anhebung der

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Produktivität und Konkurrenzfähigkeit des amerikanischen Busi-ness ausgestalten, während eine vierte sie als Teil eines Maßnahme-pakets behandeln würde, das auf die Umverteilung von Einkom-men und Ressourcen zugunsten der Frauen bedacht ist. Jede dieser Interpretationen hat hinsichtlich der Finanzierung, der institutio-nellen Ansiedlung und Kontrolle, der Gestaltung des Dienstlei-stungsangebots und der Zugangsberechtigung eine unterschied-liche programmatische Orientierung. Wenn sie aufeinandertreffen, beobachten wir einen Kampf um die Formung des hegemonialen Verständnisses von Sinn und Zweck der Kindertagesbetreuung. Das hegemoniale Verständnis mag dann möglicherweise Eingang in die formelle politische Agenda finden. Offenkundig sind nicht nur die feministischen Gruppen, sondern auch die Interessen des Business, die Gewerkschaften, die Anwälte der Kinderrechte und die Erzie-her Widersacher in diesem Kampf, und sie weisen in hohem Maße variierende Machtpotentiale auf.25

Gewöhnlich verweist der Kampf um hegemoniale Bedürfnisin-terpretationen auf eine zukünftige Einbeziehung des Staats. Er antizipiert daher bereits eine dritte Achse des Kampfes um die Bedürfnisse in den spätkapitalistischen Gesellschaften. Hier steht der Gegensatz »Politik versus Verwaltung« im Mittelpunkt der Auseinandersetzung, und die Hauptgegner sind die oppositionel-len sozialen Bewegungen und die Experten und Einrichtungen im Umkreis des Sozialstaats.

Erinnern wir uns, daß »das Gesellschaftliche« ein Ort ist, wo Bedürfnisse, die im diskurstheoretischen Sinn politisiert worden sind, zu Anwärtern auf staatlich organisierte Versorgungsmittel werden. Diese Bedürfnisse werden folglich zum Gegenstand einer weiteren Gruppe von Diskursen: dem in verschiedenen »pri-vaten«, »halböffentlichen« und staatlichen Institutionen wurzeln-den Komplex von »Expertendiskursen« über öffentliche politi-sche Maßnahmen.

Die Expertendiskurse über Bedürfnisse sind die Vehikel zur Umsetzung der ausreichend politisierten, davongelaufenen Be-dürfnisse in Gegenstände der potentiellen Staatsintervention. Sie sind eng verbunden mit den Institutionen der Wissensproduktion und Wissensverwendung.26 Und sie schließen die Diskurse der mit qualitativen und besonders mit quantitativen Methoden arbeiten-den Sozialwissenschaften ein, die in den Universitäten und »Denk-fabriken« hervorgebracht werden, außerdem legale Diskurse, die

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in den juristischen Institutionen und in den um sie kreisenden Schulen, Zeitschriften und Berufsverbänden hervorgebracht wer-den, und administrative Diskurse, die in den verschiedenen Ein-richtungen des Sozialstaats zirkulieren, sowie therapeutische Dis-kurse, die in den öffentlichen und privaten medizinischen und sozialen Dienstleistungseinrichtungen zirkulieren.

Wie der Begriff nahelegt, neigen Expertendiskurse dazu, auf spezialisierte Teilöffentlichkeiten beschränkt zu bleiben. Daher sind sie mit der Bildung von Berufsgruppen und Institutionen und mit sozialer »Problemlösungstechnik« verbunden. Aber in man-chen Fällen wie denen des Rechts und der Psychotherapie werden die Expertenvokabulare und die Expertenrhetorik innerhalb eines breiteren Spektrums gebildeter Laien verbreitet, von denen einige in den sozialen Bewegungen aktiv sind. Zudem gelingt es den so-zialen Bewegungen manchmal, kritische, oppositionelle Segmente in den diskursiven Öffentlichkeiten der Experten neu aufzuneh-men oder zu schaffen. Aus all diesen Gründen erwerben die Teilöf-fentlichkeiten von Experten zuweilen eine gewisse Durchlässigkeit und die Expertendiskurse werden zu Brücken-Diskursen, die lok-ker organisierte soziale Bewegungen mit dem Sozialstaat verbinden.

Auf Grund dieser Überbrückungsfunktion neigen die Exper-tendiskurse über Bedürfnisse zu einer administrativen Rhetorik. Diese Diskurse bestehen aus einer Reihe von Umschreibungs-Operationen, von Verfahren zur Übersetzung politisierter Be-dürfnisse in verwaltbare Bedürfnisse. Das politisierte Bedürfnis wird typischerweise als das Korrelat einer bürokratisch verwaltba-ren Befriedigung, eines »sozialen Dienstes« umdefiniert. Das Be-dürfnis wird in den Begriffen einer offensichtlich allgemeinen Lage, in die im Prinzip jeder kommen kann, genauer bezeichnet, zum Beispiel Arbeitslosigkeit, Invalidität, Tod oder Trennung ei-nes Ehepartners.27 Infolgedessen wird das Bedürfnis zugleich aus einem Kontext herausgelöst und in einen Kontext gesetzt: Einer-seits wird es in Abstraktion von seiner Klassen-, Rassen- und Geschlechtsspezifität und von oppositionellen Bedeutungen -welche auch immer es im Laufe seiner Politisierung erworben ha-ben mag - dargestellt; andererseits wird es in Begriffe gefaßt, die stillschweigend solche befestigten, spezifischen Hintergrundinsti-tutionen wie (»erstrangige« versus »zweitrangige«) Lohnarbeit, das privatisierte Kinderaufziehen und ihre auf dem Geschlecht basierende Trennung voraussetzen.

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Als ein Ergebnis dieser Umdefinitionen durch Experten werden die Menschen, deren Bedürfnisse zur Diskussion stehen, anders eingestuft. Sie werden eher zu individuellen »Fällen« als zu Mit-gliedern sozialer Gruppen oder sozialer Bewegungen. Darüber hinaus werden sie passiv gemacht, mehr als potentielle Adressaten vordefinierter Sozialleistungen hingestellt und weniger als an der Interpretation ihrer Bedürfnisse beteiligte und ihre Lebensbedin-gungen gestaltende Handelnde.

Kraft dieser administrativen Rhetorik tendieren die Experten-diskurse über Bedürfnisse auch dahin, entpolitisierend zu wirken. Sie fassen die Personen gleichzeitig als rationale Nutzenmaximie-rer und als kausal bedingte, vorhersagbare und manipulierbare Objekte auf. Dabei blenden sie jene Dimensionen menschlichen Handelns aus, welche die Konstruktion und die Dekonstruktion sozialer Bedeutungen einschließen.

Wenn Expertendiskurse über Bedürfnisse in Staatsapparaten in-stitutionalisiert werden, tendieren sie außerdem dazu, normalisie-rend zu wirken, indem sie auf die »Besserung« oder häufiger auf die Stigmatisierung »devianter« Personen gerichtet sind.28 Dies wird zuweilen explizit, wenn die Sozialleistungen eine therapeuti-sche Dimension erhalten in der Absicht, die Lücke zwischen den widerspenstigen Selbstinterpretationen der Klienten und den in der administrativen Politik eingebetteten Interpretationen zu schließen.29 Nun wird der Rationale-Nutzenmaximierer-und-das-kausal-bedingte-Objekt zusätzlich zu einem tiefen Selbst, das therapeutisch erhellt werden muß.30

Um es zusammenzufassen: Wenn soziale Bewegungen zuvor entpolitisierte Bedürfnisse erfolgreich politisiert haben, betreten sie das Terrain des Gesellschaflichen, auf dem sie zwei andere Ar-ten des Kampfes erwarten. Erstens haben sie mächtige, organi-sierte Interessen zu bekämpfen, die darauf aus sind, die hegemo-nialen Bedürfnisinterpretationen nach ihren eigenen Zwecken zu gestalten. Zweitens treffen sie auf Expertendiskurse über Bedürf-nisse in und um den Sozialstaat herum. Diese Konfrontationen definieren zwei zusätzliche Achsen des Kampfes um die Bedürf-nisse in spätkapitalistischen Gesellschaften. Es sind hoch kom-plexe Kämpfe, weil die sozialen Bewegungen typischerweise die staatliche Versorgung ihrer davongelaufenen Bedürfnisse anstre-ben, obwohl sie dazu tendieren, sich gegen administrative und therapeutische Bedürfnisinterpretationen zu stellen. Daher gibt es

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in diesen Dimensionen des Kampfes auch Konflikte zwischen ri-valisierenden Interpretationen sozialer Bedürfnisse und rivalisie-renden Konstruktionen sozialer Identitäten.

4

Ich möchte das von mir entwickelte Modell nun auf einige kon-krete Fälle konfligierender Bedürfnisinterpretationen anwenden. Das erste Beispiel soll eine Tendenz in den sozialstaatlichen Ge-sellschaften nachweisen, nach der die Politik der Bedürfnisinter-pretation in das Management der Bedürfnisbefriedigungen über-geht. Im Kontrast dazu zeigt eine zweite Gruppe von Beispielen eine Gegentendenz, die von der Administration zum Widerstand und potentiell auch zurück zur Politik verläuft.31

Als erstes soll ein Beispiel für die Politik der Bedürfnisse erörtert werden, in dem es um die Mißhandlung der Ehefrau geht. Vor un-gefähr fünfzehn Jahren existierte der Begriff »Mißhandlung in der Ehe« noch nicht. Wenn überhaupt öffentlich von diesem Phäno-men die Rede war, wurde es als »Prügeln der Ehefrau« beschrieben und häufig komisch abgehandelt nach dem Motto: »Haben Sie auf-gehört, Ihre Frau zu verprügeln?« Auf der sprachlichen Ebene wur-de es zusammen mit der Disziplinierung von Kindern und Personal als eine »häusliche« - der »politischen« Sache entgegengesetzte -Angelegenheit klassifiziert. Dann belegten die feministischen Ak-tivistinnen diese Praktik mit einem Begriff aus dem Strafrecht und schufen eine neue Art des öffentlichen Diskurses. Sie behaupteten, die Mißhandlung sei kein persönliches, häusliches Problem, son-dern ein systemisches und politisches. Ihre Ätiologie sollte nicht auf die individuellen, emotionalen Probleme der Männer und Frauen zurückgeführt werden, sondern darauf, wie diese Pro-bleme das allgegenwärtige soziale Verhältnis männlicher Herr-schaft und weiblicher Unterordnung gebrochen wiedergaben.

So fochten die feministischen Aktivistinnen die etablierten, dis-kursiven Grenzen an und politisierten ein bis dahin entpolitisiertes Phänomen. Zudem interpretierten sie die Erfahrung der Miß-handlung und postulierten eine Reihe damit verknüpfter Bedürf-nisse. Hierbei ordneten sie die Bedürfnisse mißhandelter Frauen in eine lange Kette von Um-zu-Relationen ein, die sich über die herkömmliche Abtrennung der »Sphären« hinweg ausbreitete. Sie

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forderten, daß die geschlagenen Frauen zur Befreiung aus der Ab-hängigkeit von dem mißhandelnden Mann nicht nur eine zeitwei-lige Unterkunft brauchen, sondern auch Arbeitsstellen, die einen »Familienlohn« zahlen, Kindertagesbetreuung und erschwing-liche, dauerhafte Wohnungen. Desweiteren schufen die Femini-stinnen neue diskursive Öffentlichkeiten, neue soziale Räume und Institutionen, in denen solche oppositionellen Bedürfnisinterpre-tationen entwickelt werden konnten und von denen aus sie in der weiteren Öffentlichkeit verbreitet werden konnten. Schließlich änderten die Feministinnen Elemente der autorisierten Mittel der Interpretation und Kommunikation: Sie prägten neue Begriffe zur Beschreibung und Analyse und wiesen neue Wege, weibliche Sub-jekte anzusprechen. In ihrem Diskurs wurden die mißhandelten Frauen nicht als individualisierte Opfer angesprochen, sondern als potentielle feministische Aktivistinnen, als Mitglieder eines poli-tisch verfaßten Kollektivs.

Die diskursive Intervention wurde von den Bemühungen der Feministinnen begleitet, für einige der Bedürfnisse zu sorgen, die sie politisiert und interpretiert hatten. Die Aktivistinnen organi-sierten Schutzhäuser für die mißhandelten Frauen, Stätten der Zuflucht und der Bewußtseinsbildung. Die Organisation dieser Frauenhäuser war nicht hierarchisch. Es gab keine klare Trennung zwischen der Belegschaft und den Benutzerinnen. Viele der Bera-terinnen und Organisatorinnen waren selbst mißhandelt worden und viele der Frauen, die Zuflucht gefunden hatten, setzten es fort, andere mißhandelte Frauen zu beraten und wurden zu Akti-vistinnen der Bewegung. Damit einhergehend eigneten sich viele Frauen neue Beschreibungen ihrer selbst an. Während die meisten Frauen ursprünglich sich selbst beschuldigt hatten und ihre miß-handelnden Männer verteidigten, kamen nun viele dahin, diese Interpretation zugunsten einer politisierten Sichtweise abzuleh-nen, die ihnen neue Modelle menschlichen Handelns eröffnete. Diese Frauen veränderten außerdem ihre Bindungen und sozialen Identifikationen. Viele, die sich anfangs gefühlsmäßig zutiefst mit ihren mißhandelnden Männern identifiziert hatten, schlossen sich anderen Frauen an.

Diese organisatorischen Aktivitäten wirkten sich schließlich auf eine weitere diskursive Öffentlichkeit aus. In den siebziger Jahren hatten die Feministinnen weitgehend Erfolg damit, häusliche Ge-walt gegen Frauen als ein legitimes politisches Thema zu etablie-

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ren. Sie schafften es in einigen Fällen, die Einstellungen und die Maßnahmen von Polizei und Gerichten zu verändern, und sie konnten dieses Thema auf die informelle politische Tagesordnung setzen. Die Bedürfnisse der mißhandelten Frauen waren nun so-weit politisiert, daß Aussicht auf ihre Berücksichtigung durch die öffentliche Hand bestand. Schließlich begannen in einzelnen städ-tischen Gemeinden und Orten die Frauenhäuser der Bewegung finanzielle Mittel der örtlichen Verwaltungen zu bekommen.

Aus feministischer Perspektive stellte dies einen bedeutenden Sieg dar, aber er hatte seinen Preis. Die kommunale Finanzierung brachte eine Vielzahl neuer, administrativer Zwänge mit sich, die von Buchführungsverfahren bis hin zum Erfordernis der Satzung, der formalen Anerkennung und der Professionalisierung reichten. In der Folge erfuhren die öffentlich finanzierten Frauenhäuser eine Umgestaltung. Zunehmend wurde die Belegschaft aus professio-nellen Sozialarbeiterinnen gebildet, von denen die meisten selbst keine Mißhandlung erlebt hatten. Deshalb löste eine Teilung in Professionelle und Klienten das eher fließende Kontinuum der Beziehungen ab, das die Frauenhäuser in der Anfangszeit charak-terisiert hatte. Da viele Sozialarbeiterinnen zudem darin ausgebil-det sind, die Probleme in eine quasi-psychiatrische Perspektive zu rücken, strukturiert diese Perspektive die Praktiken vieler öffent-lich finanzierter Frauenhäuser, ganz ungeachtet der Absichten einzelner Mitglieder, von denen viele politisch engagierte Femini-stinnen sind. Infolgedessen individualisieren nun die Praktiken solcher Frauenhäuser stärker und sind weniger politisch. Mißhan-delte Frauen werden heute der Tendenz nach als Klienten einge-stuft. Sie werden zunehmend psychiatrisiert, als Opfer mit einem tiefen, komplizierten Selbst angesprochen, als potentielle femini-stische Aktivistinnen nur selten. In wachsendem Maße hat das Sprachspiel der Therapie dasjenige der Bewußtseinsbildung er-setzt. Und die neutrale wissenschaftliche Sprache vom »Miß-brauch der Ehefrau« hat die stärker politisch akzentuierte Rede von der »Männergewalt gegen Frauen« abgelöst. Schließlich sind die Bedürfnisse mißhandelter Frauen substantiell reinterpretiert worden. Die weitreichenden frühen Forderungen nach den sozia-len und ökonomischen Grundvoraussetzungen der Unabhängig-keit sind tendenziell einem enger gefaßten Schwerpunkt gewi-chen. Dieser Schwerpunkt liegt auf dem Problem der »geringen Selbstachtung« der einzelnen Frau.32

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Das Beispiel der Frauenhäuser für mißhandelte Frauen veran-schaulicht eine Tendenz der Politik der Bedürfnisse in den spätka-pitalistischen Gesellschaften: Die Tendenz, daß die Politik der Bedürfnisinterpretation in die Administration der Bedürfnisbe-friedigung übergeht. Es gibt jedoch auch eine Gegentendenz, die von der Verwaltung zum Widerstand der Klienten und von dort potentiell zurück zur Politik verläuft. Ich möchte diese Gegenten-denz mit vier Beispielen für den Widerstand von Klienten doku-mentieren. Die Beispiele reichen vom individuellen, kulturellen und informellen zum kollektiven, politischen und formell organi-sierten Widerstand.

Erstens können Individuen Spielräume für Manöver innerhalb des administrativen Rahmens einer Regierungsbehörde ausloten. Sie können unter Umständen die offiziellen Interpretationen der Behörden von ihren Bedürfnissen, auch ohne offenen Wider-spruch ersetzen und/oder abwandeln. Die Historikerin Linda Gordon hat Beispiele für diese Art des Widerstands in den Auf-zeichnungen von Kinderschutzbehörden, die sich auf die Progres-sive Era erstrecken, aufgedeckt.33 Gordon zitiert Fälle, in denen von ihren Ehemännern geschlagene Frauen Beschwerden einreich-ten, in denen der Vorwurf des Kindesmißbrauchs erhoben wurde. Weil sie die Sozialarbeiter für ihre Situation interessieren konnten, indem sie ein interpretiertes Bedürfnis anführten, das anerkann-termaßen legitim war und in die Zuständigkeit der Behörde fiel, gelang es ihnen, die Sozialarbeiter für ein Bedürfnis zu interessie-ren, das nicht anerkannt war. In einigen Fällen konnten die Frauen eine Intervention der Behörde unter der Rubrik des Kindesmiß-brauchs erreichen, die ihnen ein gewisses Maß an Schutz vor häus-lichen Mißhandlungen gewährte. Auf diese Weise erweiterten sie informell die Zuständigkeit der Behörde, so daß in diese Zustän-digkeit mittelbar ein bis dahin ausgeschlossenes Bedürfnis einbe-zogen wurde. Während sie die offizielle Definition des Sozialstaats für ihr Bedürfnis zitierten, verdrängten sie gleichzeitig diese Defi-nition und brachten sie in eine größere Übereinstimmung mit ihren eigenen Interpretationen.

Zweitens können informell organisierte Gruppen Praktiken und Bindungen entwickeln, die mit der Art und Weise, in der der Sozialstaat sie als Klienten hinstellt, unvereinbar sind. Indem sie dies tun, können sie die Gebrauchsweisen und Bedeutungen der staatlichen Sozialleistungen ändern, ohne diese überhaupt aus-

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drücklich in Frage zu stellen. Die Anthropologin Carol Stack hat Beispiele dieser Art von Widerstand in ihrer Untersuchung über »häusliche Verwandtschaftsnetzwerke« dokumentiert, die sie in den späten sechziger Jahren unter armen, schwarzen Empfängern von Familienhilfe (AFDC) in einer Stadt des Mittelwestens durch-führte.34 Stack beschreibt komplizierte verwandtschaftliche Ar-rangements, die den zeitlich verschobenen Austausch oder »Ge-schenke« von zubereiteten Mahlzeiten, Lebensmittelmarken, Lebensmitteln, Schlafplätzen, Bargeld (Löhne und AFDC-Bewil-ligungen eingeschlossen), Transporten, Bekleidung sowie von Ar-beiten wie Einkaufen, Kochen und Kinderbetreuung und sogar von Kindern organisieren. Es ist von Bedeutung, daß diese häus-lichen Verwandtschaftsnetzwerke mehrere, äußerlich abgegrenzte Haushalte umspannten. Denn das heißt, daß die Empfänger von Familienhilfe (AFDC) ihre Sozialhilfeleistungen jenseits der Grenzen, die von der zentralen administrativen Kategorie in den Sozialhilfeprogrammen gezogen werden, nämlich jenseits »des Haushalts« verwenden. Folglich umgehen diese Klienten die Pro-zeduren der Wohlfahrtsadministration, die sie zur Kleinfamilie machen wollen. Indem sie die Sozialleistungen außerhalb der Be-grenzungen eines »Haushalts« nutzen, ändern sie die staatlich definierten Bedeutungen dieser Sozialleistungen und der Bedürf-nisse, zu deren Deckung die Sozialleistungen vorgesehen sind. Zur gleichen Zeit ziehen sie die Art und Weise, in der der Staat sie zu Subjekten macht, indirekt in Zweifel. Während sich die Fami-lienhilfe (AFDC) an sie als Mütter im biologischen Sinn richtet, die zu devianten Kleinfamilien ohne einen männlichen Ernährer gehören, kombinieren sie diese Subjekt-Position mit einer an-deren. Nämlich mit der als Mitglieder von sozial konstituierten -im Gegensatz zu biologischen - Verwandtschaftsnetzwerken, die in der Selbstbehauptung gegen die äußerste Armut koope-rieren.

Drittens können Individuen und/oder Gruppen die therapeuti-schen Initiativen des Sozialstaats ablehnen und die materielle Hilfe trotzdem annehmen. Sie können die staatlich unterstützten, therapeutischen Konstruktionen ihrer Lebensgeschichten und Handlungsfähigkeiten ablehnen und statt dessen auf alternativen Erzählungen und Konzeptionen ihrer Identität beharren. Die So-ziologin Prudence Rains hat ein Beispiel dieser Art des Wider-stands in ihrer vergleichenden Untersuchung zur »moralischen«

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Karriere schwarzer und weißer schwangerer Teenager in den späten sechziger Jahren dokumentiert.35

Rains kontrastiert die Formen, in denen zwei Gruppen junger Frauen auf die therapeutischen Konstruktionen ihrer Erfahrung in zwei verschiedenen institutionellen Umgebungen reagierten. Die jungen weißen Frauen aus der Mittelklasse waren in einer teuren privaten Einrichtung mit Wohnheim untergebracht. Diese Ein-richtung verband traditionelle Leistungen wie garantierte Abge-schiedenheit und einen Deckmantel für »gute Mädchen, die einen Fehler begangen hatten«, mit neueren therapeutischen Diensten, die auf Wunsch individuelle oder Gruppensitzungen mit psychia-trischen Sozialarbeitern einschlossen. In diesen Sitzungen wurden die jungen Frauen als tiefes, kompliziertes Selbst angesprochen. Sie wurden ermuntert, ihre Schwangerschaft nicht als einfachen »Fehler« zu betrachten, sondern als unbewußt motivierte, bedeu-tungsvolle Tat, die latente emotionale Probleme ausdrückte. Das hieß, ein Mädchen sollte ihre Schwangerschaft - und der Sex war deren oberflächliche Ursache - als eine Form des Ausagierens, sa-gen wir, der Ablehnung elterlicher Autorität oder des Verlangens nach elterlicher Liebe, interpretieren. Die jungen Frauen wurden gewarnt, daß es ihnen wahrscheinlich nicht gelingen werde, zu-künftige »Fehler« zu vermeiden, wenn sie nicht dahin kämen, diese tiefen, versteckten Motive zu verstehen und anzuerkennen.

Rains dokumentiert den Prozeß, durch den die meisten der jun-gen weißen Frauen in dieser Einrichtung dazu veranlaßt wurden, diese Perspektive zu internalisieren und sich selbst in einem psych-iatrischen Idiom umzuschreiben. Sie zeichnete die Erzählungen auf, die sie im Verlauf der Umschreibung ihrer »moralischen Kar-rieren« entwarfen. Zum Beispiel:

»Zuerst, als ich hierher kam, hatte ich es mir so zurechtgelegt, daß Tom. . . es mir gewissermaßen eingeredet hatte und ich nachgab. Irgendwie schob ich alles auf ihn. Ich akzeptierte nicht wirklich meinen Anteil daran. . . . Hier betonten sie ziemlich, daß wenn du nicht begreifst, warum du hier bist und die emotionalen Gründe dahinter, daß es dann wieder passieren wird. . . . Ich merke jetzt, daß ich ein ziemlich volles Verständnis von dem habe, was ich tat, um hier zu landen, und daß es einen emotionalen Grund dafür gab. Ich akzeptiere auch mehr meinen Anteil daran. Es war nicht nur er.« (S. 93)

Diese Erzählung ist in verschiedenen Hinsichten interessant. Wie Rains festhält, verschaffte der Austausch einer Sicht, die einen

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»Fehler« in der Vergangenheit sieht, gegen eine psychiatrische Sicht bestimmte Bequemlichkeiten: Die neue Interpretation »schob die Vergangenheit nicht bloß beiseite, sondern erklärte sie, und erklärte sie in Formen, die es den Mädchen zu glauben er-laubte, daß sie in der Zukunft anders handeln würden« (S. 94). Auf diese Art bietet die psychiatrische Sichtweise den schwangeren Teenagern ein Handlungsmodell, das ihre Fähigkeit zur indivi-duellen Selbstbestimmung zu steigern scheint. Auf der anderen Seite ist die Erzählung höchst selektiv. Sie bekennt sich zu einigen Aspekten der Vergangenheit, während sie andere verleugnet. Sie spielt die Sexualität der Erzählerin herunter, indem sie ihr sexuel-les Verhalten und Begehren als nebensächliche »Manifestation[en] anderer, tieferer und nicht-sexueller, emotionaler Bedürfnisse und Probleme« behandelt (S. 93). Zusätzlich entschärft sie das mög-licherweise explosive Problem von Zustimmung versus Zwang innerhalb des heterosexuellen Teenagermilieus, indem sie Tom entschuldigt und das frühere Gefühl des Mädchens, daß sie sich über den Geschlechtsverkehr nicht einig waren, revidiert. Außer-dem schließt die Erzählung jede Frage nach der Legitimität »vor-ehelichen Sexes« dadurch aus, daß sie zumindest für eine Frau voraussetzt, solcher Sex sei moralisch falsch. In Anbetracht der Erklärungen der Mädchen, daß sie keine Empfängnisverhütung benötigen werden, wenn sie nach Hause zurückkehren und ihre dates wieder aufnehmen, hat die Erzählung letztlich noch eine andere Bedeutung. Da sie ein neues Bewußtsein von tiefen emo-tionalen Problemen birgt, wird sie zu einem Schutz gegen zukünf-tige Schwangerschaften, eine Prophylaxe. Anhand dieser Ausspa-rungen in der Geschichte könnte ein Skeptiker wohl schließen, daß das psychiatrische Versprechen einer gesteigerten Selbstbe-stimmung größtenteils illusorisch ist.

Die verhältnismäßige Leichtigkeit, mit der Rains' weiße Teen-ager die therapeutische Interpretation ihrer Situation internalisier-ten, steht in ausgeprägtem Gegensatz zu dem Widerstand, den die befragten schwarzen Teenager leisteten. Die jungen schwarzen Frauen waren Klientinnen in einer städtischen Einrichtung ohne Wohnheim, die Schwangerschaftsvorsorge, Ausbildung und Bera-tungssitzungen mit einer psychiatrischen Sozialarbeiterin bereit-stellte. Die Beratungssitzungen ähnelten in Absicht und Zuschnitt denen an der privaten Einrichtung. Die jungen Frauen wurden ermuntert, über ihre Gefühle zu sprechen und die vermeintlich

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tiefen, emotionalen Gründe ihrer Schwangerschaften zu prüfen. Dieser therapeutische Ansatz war indes im Fall der öffentlichen Einrichtung viel weniger erfolgreich. Die jungen schwarzen Frauen widersetzten sich den Begriffen des psychiatrischen Dis-kurses und dem Sprachspiel von Frage und Antwort, das in den Beratungssitzungen eingesetzt wird. Ihnen gefiel die nicht-direk-tive und moralisch neutrale Haltung der Sozialarbeiterin nicht -ihre Unwilligkeit zu sagen, was sie dachte -, und sie nahmen ihr übel, was sie als aufdringliche, allzu persönliche Fragen ansahen. Diese Mädchen gestanden ihr kein Recht zu, sie in einer solchen Weise zu befragen, vorausgesetzt sie konnten ihr nicht auch umge-kehrt »persönliche Fragen« stellen. Vielmehr legten sie »persön-liches Ausfragen« als ein Privileg aus, das engen Freunden und Vertrauten unter den Bedingungen der Reziprozität vorbehalten ist.

Rains dokumentiert mehrere Dimensionen des Widerstands der jungen schwarzen Frauen gegen die Elemente »geistiger Gesund-heit« innerhalb des Programms. In einigen Fällen griffen sie ganz offen die Regeln des therapeutischen Sprachspiels an. In anderen Fällen widersetzten sie sich indirekt, durch ein humorvolles, quasi absichtsvolles Mißverstehen der vagen, nicht-direktiven und eben doch »persönlichen« Fragen der Sozialarbeiterin. Zum Beispiel faßte ein Mädchen die Frage »Wie wurdest du schwanger?«, als eine »dumme« Frage auf und erwiderte: »Sollten Sie das nicht wissen?« (S. 136).

Einige andere unterzogen das ständige therapeutische »Was empfandest du dabei?« einer Operation, die nur »karnevalesk« genannt werden kann. Der Anlaß war eine Gruppensitzung, bei der die Sozialarbeiterin zu spät kam. Die zur Sitzung versammel-ten jungen Frauen fingen an, über ihren Verbleib zu spekulieren. Eine erwähnte, Mrs. Eckerd sei zum Arzt gegangen. Die Unter-haltung ging weiter:

»Um zu sehen, ob sie schwanger ist.« »Wahrscheinlich glaubt sie, daß man dort zu Babies kommt.« »Vielleicht wird ihr der Doktor ein Baby machen.« . . . Dann begann Bernice damit, ein Interview zu imitieren, indem sie vorgab, eine Sozialarbeiterin zu sein, die einer angeblich schwangeren Mrs. Eckerd Fragen stellt: »Sag mir, was hast du dabei empfunden? Gefiel es dir?« Das erzeugte ein großes Gelächter und jede ging daran, Fragen nachzuah-men, die ihnen vermutlich gestellt worden wären. Eine sagte: »Sie fragte

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mich, ob ich mein Baby zur Adoption stellen wollte und was ich denn dabei empfände?« Als Mrs. Eckerd schließlich kam, sagte May: »Warum stellen Sozialarbeiter so viele Fragen?« Mrs. Eckerd sagte: »Was für Fragen meinst du, May?« Bernice... sagte: »Solche wie >Was empfandest du dabei?«« Das löste einen Tumult aus (S. 137).

Auf diese Weise entwarfen Rains schwarze Untersuchungsperso-nen ein vielfältiges Repertoire an Strategien, um sich den therapeu-tischen Konstruktionen ihrer Lebensgeschichten und Handlungs-fähigkeiten zu widersetzen. Sie waren sich des Machttextes, der ihrer Interaktion mit der Sozialarbeiterin unterlegt war und der Normalisierungsdimension der therapeutischen Initiative deutlich bewußt. Diese jungen schwarzen Frauen blockten praktisch die Bemühungen ab, ihnen die Individualitäts- und Affektivitätsnor-men der weißen Mittelklasse einzuschärfen. Sie lehnten die An-reize der Sozialarbeiterin ab, sich als psychologisiertes Selbst umzuschreiben, wohingegen sie von dem Gesundheitsservice an der Einrichtung Gebrauch machten. So nutzten sie diejenigen Ele-mente des Programms, die für sie im Blick auf ihre eigenständig interpretierten Bedürfnisse nützlich waren, und ignorierten an-dere oder wichen ihnen aus.

Viertens gibt es zusätzlich zu den informellen und den ad hoc Formen sowie den strategischen und/oder kulturellen Formen des Widerstands auch formeller organisierte, explizit politische For-men. Die Klienten der sozialstaatlichen Programme können sich als Klienten zusammenschließen, um die administrativen Inter-pretationen ihrer Bedürfnisse in Frage zu stellen. Sie können die passiven, normalisierten und individualisierten oder familiarisier-ten Identitäten, die für sie in Expertendiskursen geformt wurden, in den Griff bekommen und sie in eine Basis für kollektives politi-sches Handeln umwandeln. Frances Fox Piven und Richard A. Cloward haben ein Beispiel dieser Art von Widerstand in ihrer Darstellung des Prozesses dokumentiert, durch den die Bezieher von A F D C in den sechziger Jahren die Bewegung für Wohlfahrts-rechte organisierten.36 Trotz der vereinzelnden und entpolitisie-renden Dimensionen der AFDC-Administration wurden diese Frauen in den Warteräumen der Wohlfahrtsbehörden zusammen-gebracht. Sie fingen also auf Grund ihrer Betroffenheit als Klien-ten an, gemeinsame Beschwerden zu formulieren und zusammen

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zu handeln. So schufen die gleichen wohlfahrtsstaatlichen Prakti-ken, die diese Beschwerden veranlaßten, die Bedingungen, die einen kollektiven Organisationsprozeß ermöglichten, um sie zu bekämpfen. Wie Piven es ausdrückt: »[Die] Struktur des Wohl-fahrtsstaats selbst hat dazu verholfen, neue Solidaritäten zu schaf-fen und die politischen Themen hervorzubringen, die diese Solida-ritäten fortwährend zementieren und galvanisieren.«37

Schlußfolgerung

Zum Schluß möchte ich einige Streitpunkte festhalten, die für die-ses Projekt zentral sind, die ich aber hier noch nicht erörtert habe. Ich habe mich in diesem Aufsatz zu Lasten der moralischen und erkenntnistheoretischen Fragen auf sozialtheoretische Fragen konzentriert. Diese zurückgestellten Fragen sind jedoch für ein Projekt wie meines, das auf eine kritische Sozialtheorie abzielt, sehr wichtig.

Meine Analyse der bedürfniszentrierten Rede wirft zwei sehr offenkundige und dringliche philosophische Probleme auf. Das eine Problem ist die Frage, ob und wie es möglich ist, bessere von schlechteren Interpretationen der menschlichen Bedürfnisse zu unterscheiden. Das andere ist die Frage nach dem Verhältnis zwi-schen Bedürfnisansprüchen und Rechten. Obwohl ich an dieser Stelle keine ausführlichen Antworten auf diese Fragen geben kann, möchte ich doch andeuten, wie ich sie angehen würde. Auch will ich meine Auffassungen in die gegenwärtige Debatte unter feministischen Theoretikerinnen einordnen.

Feministische Wissenschaftlerinnen haben immer wieder ge-zeigt, daß maßgebende Ansichten, die von sich behaupten, neu-tral und interesselos zu sein, in Wirklichkeit die partiellen und interessierten Perspektiven herrschender sozialer Gruppen aus-drücken. Zudem haben viele feministische Theoretikerinnen von den poststrukturalistischen Ansätzen Gebrauch gemacht, die eine Möglichkeit, berechtigte Ansprüche von Machtspielen zu unter-scheiden, verneinen. Infolgedessen gibt es nun eine wichtige rela-tivistische Strömung unter den Feministinnen. Zugleich bedauern viele andere Feministinnen, daß der Relativismus die Möglichkeit zum politischen Engagement untergrabe. Wie kann schließlich je-mand gegen die Möglichkeit berechtigter Ansprüche argumentie-

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ren und selbst solche Ansprüche geltend machen wie, die Exi-stenz eines Sexismus und seine Ungerechtigkeit zu behaupten?38

Diese Problematik um den Relativismus nimmt in dem vorhan-denen Kontext die Form der Frage an: Können wir bessere und schlechtere Interpretationen der menschlichen Bedürfnisse unter-scheiden? Oder aber: Sind alle Bedürfnisinterpretationen gleicher-maßen kompromittiert, da sie alle von spezifischen, interessebe-stimmten Lagen in der Gesellschaft ausgehen?

Ich behaupte, daß wir unter den Interpretationen menschlicher Bedürfnisse die schlechteren von den besseren unterscheiden kön-nen. Zu sagen, daß Bedürfnisse kulturell verfaßt und diskursiv interpretiert sind, heißt nicht, daß jede Bedürfnisinterpretation genauso gut ist wie jede andere. Im Gegenteil, es unterstreicht, wie wichtig eine Theorie der Rechtfertigung von Interpretationen ist. Ich denke jedoch nicht, daß die Rechtfertigung in traditionell ob-jektivistischen Begriffen als Korrespondenz gedacht werden kann. So als sei sie eine Sache des Auffindens derjenigen Interpretation, die die wahre Natur des Bedürfnisses trifft, so wie es wirklich an sich, unabhängig von jeglicher Interpretation, ist.39 Ich denke auch nicht, daß die Rechtfertigung auf einem vorab errichteten Punkt epistemischer Überlegenheit aufbauen kann, als wäre sie eine Sache des Auffindens derjenigen gesellschaftlichen Gruppe mit dem privilegierten »Standpunkt«.40

Worin sollte also eine Darlegung der interpretativen Rechtferti-gung bestehen? Meiner Ansicht nach gibt es zumindest zwei ver-schiedene Arten von Überlegungen, die eine solche Theorie einschließen und gewichten müßte. Erstens gibt es prozedurale Überlegungen, die den sozialen Prozeß betreffen, durch den ver-schiedene, konkurrierende Bedürfnisinterpretationen hervorge-bracht werden. Wie inklusiv oder exklusiv sind zum Beispiel die verschiedenen, rivalisierenden Diskurse über Bedürfnisse? Wie hierarchisch oder egalitär sind die Beziehungen unter den Ge-sprächspartnern? Prozedurale Überlegungen schreiben generell vor, daß bei sonst gleichen Umständen, die besten Bedürfnisinter-pretationen jene sind, die mittels kommunikativer Prozesse er-reicht werden, welche den Idealen von Demokratie, Gleichheit und Fairness möglichst nahe kommen.41

Außerdem gilt es bei der Rechtfertigung von Bedürfnisinterpre-tationen Folgen zu berücksichtigen. Das heißt, die alternativen distributiven Ergebnisse rivalisierender Interpretationen müssen

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verglichen werden. Würde beispielsweise die allgemeine Zustim-mung zu einer bestimmten Interpretation eines sozialen Bedürf-nisses einige Gruppen gegenüber anderen benachteiligen? Deckt sich die Interpretation mit den sozialen Mustern von Herrschaft und Unterordnung, statt sie in Frage zu stellen? Werden in den zueinander alternativen Ketten von Um-zu-Relationen, zu denen die konkurrierenden Bedürfnisinterpretationen gehören, die ideologischen Grenzen, die »separate Sphären« eingrenzen und dadurch die Ungleichheit rationalisieren, mehr oder weniger re-spektvoll eingehalten, statt sie zu überschreiten? Folgenorientierte Überlegungen schreiben generell vor, daß bei sonst gleichen Um-ständen diejenige als die beste Interpretation anzusehen ist, die nicht einige Gruppen gegenüber anderen benachteiligt.

Insgesamt gesehen verlangt die Rechtfertigung von einigen In-terpretationen sozialer Bedürfnisse als besser gegenüber anderen eine Balance zwischen prozeduralen und folgenorientierten Über-legungen. Einfacher gesagt, sie verlangt die Abwägung von Demo-kratie und Gleichheit.

Wie steht es mit dem Verhältnis von Bedürfnissen und Rechten? Auch das ist ein kontroverses Thema in der zeitgenössischen Theo-rie. Kritische Theoretiker des Rechts haben damit argumentiert, daß rechtliche Ansprüche der radikalen, sozialen Veränderung entgegenarbeiten, indem sie Grundsätze des bürgerlichen Indivi-dualismus bewahren. Mittlerweile schlagen einige feministische Moraltheoretikerinnen vor, eine Orientierung auf Verantwortlich-keiten sei einer Orientierung auf Rechte vorzuziehen.42 Zusam-mengenommen mögen diese Ansichten bei einigen dahin führen, zu glauben, die auf Bedürfnisse zentrierte Rede sei eine Alternative zu der auf Rechte zentrierten Rede. Zum anderen bedauern viele Feministinnen, daß die Kritik der Rechte von links unseren politi-schen Gegnern in die Hände spielt. Schließlich ziehen es die Kon-servativen traditionell vor, Hilfen als eine Sache von Bedürfnissen statt von Rechten zu vergeben. Und das genau deshalb, um Vor-stellungen einer Berechtigung zu vermeiden, die egalitäre Implika-tionen befördern könnten. Aus diesen Gründen bemühten sich einige feministische Aktivistinnen und Rechtswissenschaftlerin-nen, alternative Rechtsauffassungen zu entwickeln und zu vertei-digen.43 Ihr Ansatz könnte implizieren, daß entsprechend rekon-struierte Rechtsansprüche und Bedürfnisansprüche gegenseitig kompatibel, wenn nicht sogar ineinander übersetzbar sind.44

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Um es kurz zu machen, ich reihe mich bei denen ein, die es vorziehen, berechtigte Bedürfnisansprüche in soziale Rechte zu überführen. Wie viele radikale Kritikerinnen der bestehenden sozialstaatlichen Programme sehe ich mich zur Opposition ge-gen die Formen des Paternalismus verpflichtet, die entstehen, wenn Bedürfnisansprüche von Rechtsansprüchen getrennt wer-den. Und anders als kommunitaristische, sozialistische und femi-nistische Kritikerinnen glaube ich nicht, daß die auf Rechte bezogene Rede inhärent individualistisch, bürgerlich-liberal und androzentrisch ist - die Rede über Rechte nimmt diese Eigenschaf-ten nur an, wenn Gesellschaften die falschen Rechte etablieren. Dann zum Beispiel, wenn dem (vermeintlichen) Recht auf Privat-eigentum erlaubt ist, andere soziale Rechte auszustechen.

Die berechtigten Bedürfnisansprüche als Grundlage für neue soziale Rechte zu behandeln bedeutet außerdem, mit der Über-windung von Hindernissen zu beginnen, die der effiktiven Aus-übung einiger bereits existierender Rechte im Weg stehen. Es ist wahr, wie die Marxisten und andere behauptet haben, daß die klassischen liberalen Rechte auf freie Meinungsäußerung, auf Ver-sammlungsfreiheit und so weiter »bloß formal« sind. Aber das sagt mehr über den sozialen Kontext aus, in den sie gegenwärtig eingebettet sind, als über ihre Natur. Denn in einem Kontext, der frei von Armut, Ungleichheit und Unterdrückung ist, könnten die formalen liberalen Rechte zu substantiellen Rechten, sagen wir, der kollektiven Selbstbestimmung erweitert und umgestaltet wer-den.

Abschließend sollte ich betonen, daß diese Arbeit von der Überzeugung motiviert ist, daß wir es vorläufig so oder so mit der auf Bedürfnisse zentrierten Rede zu tun haben. In absehbarer Zu-kunft werden sich die politisch Handelnden einschließlich der Feministinnen auf einem Territorium bewegen müssen, auf dem die bedürfniszentrierte Rede die gültige diskursive Währung ist. Aber wie ich zu zeigen versucht habe, ist dieses Idiom von Haus aus weder emanzipatorisch noch repressiv. Es ist vielmehr polyva-lent und umstritten. Das weitere Ziel meines Projekts besteht darin, zur Klärung der Aussichten auf einen demokratischen und egalitären sozialen Wandel dadurch beizutragen, daß die emanzi-patorischen in Abgrenzung von den repressiven Möglichkeiten der bedürfniszentrierten Rede herausgefiltert werden.

283

Anmerkungen

Viele Ideen dieses Aufsatzes hatte ich erstmals in Social Movements versus Disciplinary Bureaucraäes (CHS Occasional Paper, No. 8, Center for Hu-manistic Studies, University of Minnesota 1987) entwickelt. Für hilfreiche Kommentare danke ich Sandra Bartky, Linda Gordon, Paul Mattick, Frank Michelman, Martha Minow, Linda Nicholson und Iris Young. Das Mary Ingraham Bunting Institute of Radcliffe College gab mir wichtige finanzielle Unterstützung und ermöglichte utopisch anmutende Arbeits-bedingungen.

1 Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnis-ses, Frankfurt a. M. 1977, S. 37.

2 In diesem Aufsatz werde ich die Begriffe >sozialstaatliche Gesellschaf-ten« und >spätkapitalistische Gesellschaften«, mit denen ich mich auf die industrialisierten Länder Westeuropas und Nordamerikas in der Ge-genwart beziehe, synonym verwenden. Selbstverständlich beginnt der Prozeß der Herausbildung des Wohlfahrtsstaates in diesen Ländern zu verschiedenen Zeiten, schreitet mit unterschiedlicher Geschwindigkeit voran und nimmt verschiedene Formen an. Dennoch gehe ich davon aus, daß es prinzipiell möglich ist, jenseits solcher Verschiedenheiten einige gemeinsame Merkmale dieser Gesellschaften zu identifizieren und zu charakterisieren. Allerdings stammen die meisten der hier ange-führten Beispiele aus dem Kontext der USA, und es ist möglich, daß dies die Darstellung verzerrt. Weitergehende vergleichende Arbeiten sind notwendig, um den genauen Anwendungsbereich des hier präsen-tierten Modells festzulegen.

3 Zu einem jüngeren Beispiel der Art von Theorie, an die ich hier denke, siehe David Braybrooke, Meeting Needs, Princeton 1987. Braybrooke behauptet, daß ein dünnes Bedürfniskonzept »einen substantiellen Bei-trag zur Festlegung auf politische Maßnahmen liefern kann, ohne zu einem Handgemenge führen zu müssen« (S. 68). Deshalb nimmt er keine der hier genannten Fragen auf.

4 Zu einer vollständigeren Diskussion dieses Punktes siehe meinen Auf-satz Toward a Discourse Ethic of Solidarity, in: Praxis International 5, Nr. 4/Januar 1986, S. 425-429.

5 Der Ausdruck >Subjektivierungsweise< ist von Michel Foucault inspi-riert, obwohl sein Ausdruck >Unterwerfungsweise< lautet und sein Begriffsgebrauch sich von meinem etwas unterscheidet; siehe Foucault, On the Genealogy of Ethics: An Overview of Work in Progress, in: Paul Rabinow (Hg.), The Foucault Reader, New York 1984, S. 340-373. Zu einer anderen Darstellung der Idee von den soziokulturellen Mitteln der Interpretation und Kommunikation siehe meinen Aufsatz Toward a Discourse Ethic of Solidarity, a. a. O.

6 Der Ausdruck >intern dialogisiert« stammt von Michail M. Bachtin. Ich

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führe ihn hier an, weil ich denke, daß die Bachtinsche Idee von einer »dialogischen Heteroglossia« (oder eines kreuz-referentiellen, viel-stimmigen Feldes der Signifikationen) zur Beschreibung der soziokul-turellen Interpretations- und Kommunikationsmittel in komplexen Gesellschaften geeigneter ist als die monolithischere Idee des Symboli-schen von Lacan oder die Saussuresche Idee eines nahtlosen Codes. Indem ich behaupte, die Bachtinschen Begriffe der Heteroglossia und der Dialogisierung seien besonders geeignet in bezug auf komplexe, differenzierte Gesellschaften einschließlich der spätkapitalistischen, sozialstaatlichen Gesellschaften, breche ich jedoch ganz bewußt mit Bachtins eigener Sicht. Denn er ging im Gegenteil davon aus, daß diese Konzeptionen ihre stärkste Ausprägung in der »karnevalesken« Kultur des spätmittelalterlichen Europas fanden und daß die nachfolgende Ge-schichte westlicher Gesellschaften eine Verflachung der Sprache mit sich brachte und eine Beschränkung der dialogischen Heteroglossia auf das spezialisierte, esoterische Gebiet »des Literarischen«. Das scheint offenkundig falsch zu sein - besonders dann, wenn wir einsehen, daß der dialogische, streitbare Charakter der Rede [speech] auf die in einer Kultur verfügbare Pluralität konkurrierender Diskurse und auf die Subjekt-Positionen bezogen ist, aus denen heraus sie artikuliert wer-den. Daher würde man unter konzeptuellen Gesichtspunkten erwar-ten, was, wie ich denke, tatsächlich der Fall ist: daß die Rede in komplexeren, differenzierten Gesellschaften für eine Analyse mit die-sen Kategorien Bachtins besonders geeignet wäre. Zu den Bachtin-schen Konzeptionen der Heteroglossia und der internen Dialogisie-rung siehe Bachtin, Discourse in the Novel, in: Michael Holquist (Hg.), The Dialogic Imagination: Four Essays, Austin, Texas 1981, S. 259-422. Eine hilfreiche Darstellung gibt Dominick LaCapra, Bakhtin, Marx-ism, and the Carnivalesque, in: Rethinking Intellectual History, Ithaca, N. Y. 1983, S. 294-324. Zu einer Kritik der romantischen, anti-modernen Schlagseite von Bachtin und LaCapra siehe meinen Aufsatz, On the Political and the Symholic: Against the Metaphysics of Textua-lity, in: Enclitic 9, Nr. 1-2/1987, S. 100-114.

7 Siehe Kristin Luker, Abortion and the Politics of Motherhood, Berkeley 1984.

8 Wenn der vorherige Punkt eine Bachtinsche Sicht verrät, so könnte man in diesem Punkt den Einfluß von Bourdieu sehen. Es gibt wahrschein-lich keinen zeitgenössischen Sozialtheoretiker, der fruchtbarer als Bourdieu daran gearbeitet hat, die kulturelle Auseinandersetzung in ihrem Verhältnis zur sozialen Ungleichheit zu verstehen. Siehe Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1976; ders., Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M. 1983.

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9 Hier zielt das Modell darauf ab, Bachtin mit Bourdieu zu verbinden. 10 Diese Formulierung verdanke ich Paul Mattick, Jr. Eine wohldurch-

dachte Diskussion der Vorteile eines solchen Ansatzes findet sich in seinem Aufsatz On Feminism as Critique (Vortrag auf der Socialist Scholars Conference, New York 1988).

11 Von diesen Bedeutungen werde ich nicht diskutieren: (1) den abwerten-den, umgangssprachlichen Sinn, wonach eine Entscheidung »poli-tisch« ist, wenn das persönliche Gerang'el um Macht über wichtige substantielle Überlegungen rücksichtslos hinweggeht; und (2) den ra-dikal politisch-theoretischen Sinn, wonach alle von Machtbeziehungen und Ungleichheit durchzogenen Interaktionen »politisch« sind.

12 Linda Gordon, Woman's Body, Woman's Right, New York 1976. 13 Ich beziehe mich in diesem Aufsatz durchgehend auf bezahlte Arbeits-

plätze, Marktkreditsysteme und so fort als »offizielle Institutionen des ökologischen Systems«, um die androzentrische Implikation zu ver-meiden, häusliche Institutionen seien nicht ebenso »ökonomisch«. Zu einer Diskussion dieser Frage siehe das sechste Kapitel dieses Bandes.

14 Die Schwierigkeit, theoretisch nicht im einzelnen angeben zu können, unter welchen Bedingungen die Prozesse der Entpolitisierung gestört werden, rührt von der Schwierigkeit her, das, was gewöhnlich und zweifellos irreführend unter »ökonomischen« und »kulturellen« »Fak-toren« verstanden wird, in einen Zusammenhang zu bringen. So scheint mir der Irrtum der Rational-Choice-Modelle darin zu liegen, daß sie »ökonomische« gegenüber »kulturellen« Determinanten über-bewerten; diese Überbewertung zeigt sich in der (nicht immer treffen-den) Prognose, derzufolge kulturell dominante, aber letztlich unvor-teilhafte Bedürfnisinterpretationen ihren Einfluß verlieren, wenn die ökonomische Prosperität verminderte Ungleichheit ankündigt und »steigende Erwartungen« befördert; siehe Jon Elster, Sour Grapes, in: Amartya Sen/Bernard Williams (Hg.), Utilitarianism and Beyond, Cambridge 1982, dt. Übers, einer geringfügig geänderten Fassung in: Jon Elster, Subversion der Rationalität, Frankfurt a. M. 1987, Kap. IV. Ein von Jane Jenson alternativ dazu entwickeltes Modell betont das kulturideologische Sieb, durch das »ökonomische« Wirkungen gefil-tert werden. Jenson bezieht die »Krisen im Regulationsmodus« auf Wechsel in den kulturellen »Paradigmen«, die schon zuvor vorhandene, aber unbetonte Elemente in den sozialen Identitäten der Menschen hervortreten lassen. Siehe Jane Jenson. Paradigms and Political Dis-course: Labor and Social Policy in the USA and France before 1914, Working Paper Series, Center for European Studies, Harvard Univer-sity, Winter 1989.

15 Siehe Sonya Michel, American Women and tbe Discourse of tbe Demo-eratic Family in World War II, in: Margaret Higonnet/Jane Jenson/ Sonya Michel (Hg.), Behind tbe Lines: Gender and tbe Two World

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Wars, New Haven, Conn. 1987, und Women to Women: The Nine-teenth-Century Origins of American Child Care Policy (vorgetragen am Department of History, University of California, Los Angeles, 28. i. 1988). Zu einer Darstellung des gegenwärtigen Systems sozialer Sicherung in den USA als eines zweispurigen, geschlechtlich struktu-rierten Systems, das auf der Prämisse getrennter ökonomischer und häuslicher Sphären basiert, siehe das siebte Kapitel dieses Bandes.

16 Siehe Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, besonders Kapitel 2. Allerdings muß beachtet werden, daß meine Auffassung »des Gesellschaftlichen« erheblich von der bei Arendt abweicht. Während sie das Gesellschaftliche als einen eindimensionalen Raum sieht, der gänzlich unter der Herrschaft von Verwaltung und instrumenteller Ver-nunft steht, sehe ich das Gesellschaftliche als etwas an, daß polyvalent und umstritten ist. So nimmt meine Auffassung einige Züge der Kon-zeption einer »Zivilgesellschaft« bei Gramsci auf.

17 Es ist bezeichnend, daß es Orte und Zeiten gab, in denen die Idee des »Gesellschaftlichen« ausdrücklich als eine Alternative zum »Politi-schen« entwickelt worden ist. In England des 19. Jahrhunderts zum Beispiel wurde »das Gesellschaftliche« als die Sphäre verstanden, in der sich die unterstellten, typisch häuslichen Tugenden der (Mittelschichts) Frau um des Allgemeinwohls willen verbreiten konnten, ohne daß die Frauen dazu »herabgewürdigt« wurden, an der von Konkurrenz ge-prägten Welt der »Politik« partizipieren zu müssen. Auf diese Weise wurde die »Sozialarbeit«, versinnbildlicht als »Mütterlichkeit in der Gemeinde«, als Alternative zum Frauenwahlrecht angepriesen; siehe Denise Riley, »Am I That Name?« Feminism and the Category of >Wo-men< in History, Minneapolis 1988. Die Erfindung der Soziologie verlangte ganz ähnlich die Konzeptualisierung einer von der »Politik« unterschiedenen Ordnung der »sozialen« Interaktion; siehe Jacques Donzelot, The Policing of Families, New York 1979.

18 Selbstverständlich ist der Sozialstaat kein einheitliches Gebilde, son-dern ein vielgestaltiger, differenzierter Komplex aus Abteilungen und Apparaten. In denVereinigten Staaten umfaßt der Sozialstaat eine Fülle von Unterabteilungen, die insbesondere das Department of Labor und das Department of Health and Human Services ausmachen - oder was davon heute übriggeblieben ist.

19 Zu einer Analyse der geschlechtlich bestimmten Struktur des Systems der sozialen Sicherung in den USA siehe das siebte Kapitel dieses Ban-des. Siehe auch Barbara J. Nelson, Women's Poverty and Women's Citizenship: Some Political Consequences of Economic Marginality, in: Signs: Journal of Women in Culture and Society 10, Nr. 2/1984, S. 209-231; und Diana Pearce, Women, Work, and Welfare: The Feminization of Poverty, in: Karen Wölk Feinstein (Hg.), Working Women and Fami-lies, Beverly Hills, Calif. 1979.

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20 Zu einer Analyse der sozialstaatlichen Einrichtungen in den USA als Zuträger und Verstärker der Bedürfnisinterpretationen siehe das siebte Kapitel dieses Bandes.

21 Dieses Bild widerspricht dem impliziten Bild in den Schriften von Fou-cault. Aus meiner Perspektive konzentriert sich Foucault auf Kosten der oppositionellen und Reprivatisierungsdiskurse zu einseitig auf die institutionenbildenden Expertendiskurse. So entgeht ihm die Dimen-sion der Auseinandersetzung unter konkurrierenden Diskursen und, daß das Ergebnis der Auseinandersetzung aus solchen Auseinanderset-zungen resultiert. Gemessen an all seinen theoretischen Reden über die Macht ohne Subjekt ist Foucaults Vorgehen als Sozialhistoriker über-raschend traditionell. Denn letztendlich werden allein die institutio-nenbildenden Experten als historische Subjekte betrachtet.

22 Der Punkt könnte skeptischer formuliert werden: Feministinnen ha-ben Diskurse entfaltet, die den Anspruch verkörpern, für »Frauen« zu sprechen. Tatsächlich ist gegenwärtig die Frage des »für->die-Frauen<-Sprechens« ein heißes Eisen in der feministischen Bewegung. Einen interessanten Blick darauf hat Riley geworfen: »Am I That Name?«, a.a.O. Eine gedankenreiche Diskussion des allgemeinen Problems der Konstitution und Repräsentation (in beiden Bedeutungen) sozialer Gruppen als soziologische Klassen und kollektiv Handelnde findet sich bei Bourdieu, The Social Space and the Genesis of Groups, in: Social Science Information 24, Nr. 2/1985, S. 195-220.

23 Siehe das Kapitel Fundamentalist Sex: Hitting helow the Bible Belt, in: Barbara Ehrenreich/Elizabeth Hess/ Gloria Jacobs, Re-making Love: The Feminization of Sex, New York 1987. Eine faszinierende Darstel-lung »postfeministischer« Frauen, die feministische Motive in ein wie-dergeborenes Christentum aufnehmen, gibt Judith Stacey, Sexism by a Subtle Name? Postindustrial Conditions and Postfeminist Conscious-ness in the Silicon Valley, in: Socialist Review, Nr. 96/Nov.-Dez. 1987, S. 7-28.

24 Siehe Stuart Hall, Moving Right, in: Socialist Review, Nr. 55/Jan.-Febr. 1981, S. 113-137. Zu einer Darstellung des Reprivatisierungsdis-kurses der Neuen Rechten in den Vereinigten Staaten siehe Barbara Ehrenreich, The New Right Attack on Social Weifare, in: Fred Block/ Richard A. Cloward/Barbara Ehrenreich/Frances Fox Piven (Hg.), The Mean Season: The Attack on the Welfare State, New York 1987, S. 161-195.

25 In diesem Punkt bin ich Teresa Ghilarducci zu Dank verpflichtet. 26 In Überwachen und Strafen liefert Michel Foucault eine nützliche Be-

schreibung einiger Elemente der Wissen produzierenden Apparate, die zu einer administrativen Neudefinition politisierter Bedürfnisse beitra-gen. Foucault übersieht jedoch die Rolle der sozialen Bewegungen in der Politisierung von Bedürfnissen und die Konflikte um die Interpre-

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tation, die zwischen solchen Bewegungen und dem Sozialstaat auftre-ten. Seine Beschreibung erweckt den Eindruck, daß Diskurse über politische Maßnahmen von einer Richtung ausgehen, nämlich von den spezialisierten Regierungs- oder Quasi-Regierungsinstitutionen. So läßt die Beschreibung das agonale Wechselspiel zwischen hegemonialen und nicht-hegemonialen, institutionell gebundenen und institutionell ungebundenen Interpretationen vermissen.

27 Vgl. die Diskussion der administrativen Logik der Bedürfnisdefinition in Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1981,8. 522-547.

28 Zu einer Darstellung der Normalisierungsdimensionen der Sozialwis-senschaft und der institutionalisierten sozialen Dienste siehe Foucault, Überwachen und Strafen, a .a .O.

29 Habermas diskutiert die therapeutische Dimension der sozialen Dien-ste des Wohlfahrtsstaates in: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, S. 522-547.

30 In Überwachen und Strafen erörtert Michel Foucault die Tendenz der sozialwissenschaftlich informierten administrativen Prozeduren, ein tiefes Selbst zu postulieren. In Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, Der Wille zum Wissen, Frankfurt a. M. 1977, diskutiert er das Postulat eines tiefen Selbst durch therapeutische, psychiatrische Diskurse.

31 Aus Gründen der Überschaubarkeit begrenze ich die behandelten Bei-spiele auf Fälle der Auseinandersetzung zwischen lediglich zwei Kräf-ten, wobei einer der Widersacher eine Agentur des Sozialstaats ist. Ich werde daher weder Beispiele einer dreiseitigen Auseinandersetzung noch Beispiele zweiseitiger Auseinandersetzungen zwischen den kon-kurrierenden sozialen Bewegungen berücksichtigen.

32 Zu einer geschichtlichen Darstellung der Frauenhäuser für mißhandelte Frauen siehe Susan Schechter, Women and Male Violence: The Visions and Struggles of the Battered Women's Movement, Boston 1982.

33 Linda Gordon, Feminism and Social Control: The Case of Child Abuse and Neglect, in: Juliet Mitchei/Ann Oakley (Hg.), What Is Feminism f A Re-Examination, New York 1986, S. 63-85, und Heroes of Their Own Lives: The Politics and History of Family Violence - Boston, 1880-1960, New York 1988.

34 Carol B. Stack, All Our Kin: Strategies for Survival in an Black Com-munity, New York 1974.

35 Prudence Mors Rains, Becoming an Unwed Mother: A Sociological Account, Chicago 1971; die zitierten Textstellen sind in meinem Text mit Seitenzahlen in Klammern angegeben. Kathryn Pyne Addelson verdanke ich es, daß ich auf Rains Arbeit aufmerksam wurde.

36 Frances Fox Piven/Richard A. Cloward, Regulierung der Armut. Die Politik der öffentlichen Wohlfahrt, Frankfurt a. M. 1977, S. 344-397; und dies., Aufstand der Armen, Frankfurt a.M. 1986. Leider ist der

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Ansatz von Piven und Cloward geschlechterblind und infolgedessen androzentrisch. Zu einer feministischen Kritik siehe Linda Gordon, What Does Welfare Regulate?, in: Social Research 55, Nr. 4/1988, S. 610-630. Eine geschlechtersensitivere Darstellung der Geschichte der NWRO gibt Guida West, The National Weif are Rights Movement: The Social Protest of Poor Women, New York 1981.

37 Frances Fox Piven, Women and the State: Ideology, Power, and the Welfare State, in: Socialist Review, Nr. 74/März-April 1984, S. n - 1 9 .

38 Zu der Meinung, Objektivität sei nur die Maske der Herrschaft, siehe Catharine A. MacKinnon, Feminism, Marxism, Method, and the State: An Agenda for Theory, in: Signs: Journal of Women in Culture and Society 7, Nr. 3/Frühjahr 1982, S. 515-544. Zu der Ansicht, der Relati-vismus untergrabe den Feminismus, siehe Nancy Hartsock, Rethink-ing Modernism: Minority vs. Majority Theories, in: Cultural Critique 7/Herbst 1987, S. 187-206. Eine gute Diskussion der Spannungen zwi-schen den feministischen Theorien in dieser Streitfrage (die meiner Ansicht nach jedoch keine überzeugende Lösung anbietet) gibt es bei Sandra Harding, The Instability of the Analytical Categories of Femi-nist Theory, in: Signs: Journal of Women in Culture and Society 1 1 , Nr. 4/1986, S. 645-664. Damit verwandte Fragen, die vom Phänomen der Postmoderne aufgeworfen werden, werden diskutiert bei Nancy Fraser/Linda Nicholson, Social Criticism without Philosophy: An En-counter between Feminism and Postmodernism, in: Theory, Culture, and Society 5, Nr. 2-3 Juni 1988, S. 373-394.

39 Zu einer Kritik des Korrespondenzmodells der Wahrheit siehe Richard Rorty, Der Spiegel der Natur: Eine Kritik der Philosophie, Frankfurt a.M. 1981.

40 Der »Standpunkte«-Ansatz wurde von Nancy Hartsock entwickelt. Siehe dies., Money, Sex, and Power: Toward a Feminist Historical Ma-terialism, New York 1983. Zu einer Kritik der Position von Hartsock siehe Harding, The Instability of the Analytical Categories of Feminist Theory, a. a. O.

41 In ihrem vordergründigen normativen Gehalt ist diese Formulierung von Habermas beeinflußt. Ich will Habermas jedoch nicht darin folgen, ihr eine transzendentale oder quasi-transzendentale Metainterpreta-tion zu geben. Während Habermas beabsichtigt, die »kommunikative Ethik« in den Bedingungen der Möglichkeit von Sprache, universali-stisch und ahistorisch verstanden, begründen zu wollen, betrachte ich sie als kontingent entwickelte und historisch spezifische Möglichkeit. Siehe J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1981; ders., Zur Rekonstruktion des Historischen Ma-terialismus, Frankfurt a.M. 1976; und ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a. M. 1983.

42 Argumente für und wider diese Sicht finden sich in den Aufsätzen des

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Bandes von E. F. Kittay/Diana T. Meyers (Hg.), Women and Moral Theory, Totowa, N . J . 1987.

43 Zu einer interessanten Diskussion der Gebrauchsweisen und Mißbräu-che des Rechtsdiskurses siehe Elizabeth M. Schneider, The Dialectic of Rights and Politics: Perspectives from the Women's Movement, in: New York University Law Review 61, Nr. 4/Okt. 1986, S. 589-652; und auch Martha Minow, Interpreting Rights: An Essay for Robert Cover, in: Yale Law Journal 96, Nr. 8/Juli 1987, S. 1860-1915; sowie Patricia J. Williams, Alchemical Notes: Reconstructed Ideals from Deconstruc-ted Rights, in: Harvard Civil Rights - Civil Liberties Law Review 22, Nr. 2/Frühjahr 1987, S. 401-433.

44 Diese Formulierung verdanke ich Martha Minow.