5 Das Makromolekül als Festkörper und als...

21
344 5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 5.1 Strukturen 5.1.1 Klassifizierung Polymere Festkörper lassen sich in drei Klassen einteilen: (1) Thermoplaste Dazu gehören amorphe unvernetzte und teilkristalline unvernetzte Polymere. Sie sind schmelzbar und können durch Extrusion, Spritzguss oder im Spinnverfahren verarbeitet werden. In organischen Lösemitteln sind sie oft löslich. Sie enthalten sowohl kristalline als auch amorphe Bereiche. Die Makromolekülketten gehen dabei durch mehrere Bereiche und stellen so den Zusammenhalt des Polymers her (siehe Abbildung 5.1). (2) Elastomere Hierbei handelt es sich um amorphe, leicht vernetzte Polymere (Kautschuke). Sie sind dehnbar, können aber nicht in den geschmolzenen Zustand überführt werden. In Lösemitteln quellen sie; aber sie sind nicht löslich. (3) Duroplaste Sie besitzen die Struktur engmaschiger Netzwerke. Die Kettenwachstumsreaktion erfolgt gleichzeitig mit der Vernetzung bei hohen Temperaturen und Drücken im sogenannten Här- tungsprozeß. Duroplaste sind im ausgehärteten Zustand unschmelzbar, unlöslich und zeigen keine oder nur geringe Quellung. In Tabelle 5.1 sind einige Beispiele für Thermoplaste, Elastomere und Duroplaste aufgezählt. Abbildung 5.1: Zweiphasenmodell eines teilkristallinen polymeren Festkörpers. (A.V. Tobolsky, H.F. Mark, 1980) Tabelle 5.1: Ausgewählte Thermoplaste, Elastomere und Duroplaste Thermoplaste Elastomere Duroplaste Polyethylen Polyoxymethylen Polypropylen Polyamide teilkristallin U V | W | Polyvinylchlorid Polystyrol Polymethylacrylat amorph U V | W | Polyisobutylen Polydimethylsiloxan cis-Polyisopren Polybutadien Polyurethankautschuk Kautschuk BUNA-S Phenolformaldehydharz Harnstofformaldehydharz Epoxydharz ungesättigtes Polyesterharz

Transcript of 5 Das Makromolekül als Festkörper und als...

Page 1: 5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelzeextras.springer.com/2010/978-3-7643-8890-4/Kap51.pdf · monoklin ; ab c a ; ... Jedes System ist durch be-stimmte Lagen und Längenverhältnisse

344

5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze

5.1 Strukturen

5.1.1 Klassifizierung

Polymere Festkörper lassen sich in drei Klassen einteilen: (1) Thermoplaste Dazu gehören amorphe unvernetzte und teilkristalline unvernetzte Polymere. Sie sind schmelzbar und können durch Extrusion, Spritzguss oder im Spinnverfahren verarbeitet werden. In organischen Lösemitteln sind sie oft löslich. Sie enthalten sowohl kristalline als auch amorphe Bereiche. Die Makromolekülketten gehen dabei durch mehrere Bereiche und stellen so den Zusammenhalt des Polymers her (siehe Abbildung 5.1). (2) Elastomere Hierbei handelt es sich um amorphe, leicht vernetzte Polymere (Kautschuke). Sie sind dehnbar, können aber nicht in den geschmolzenen Zustand überführt werden. In Lösemitteln quellen sie; aber sie sind nicht löslich. (3) Duroplaste Sie besitzen die Struktur engmaschiger Netzwerke. Die Kettenwachstumsreaktion erfolgt gleichzeitig mit der Vernetzung bei hohen Temperaturen und Drücken im sogenannten Här-tungsprozeß. Duroplaste sind im ausgehärteten Zustand unschmelzbar, unlöslich und zeigen keine oder nur geringe Quellung.

In Tabelle 5.1 sind einige Beispiele für Thermoplaste, Elastomere und Duroplaste aufgezählt. Abbildung 5.1: Zweiphasenmodell eines teilkristallinen polymeren Festkörpers. (A.V. Tobolsky, H.F. Mark, 1980)

Tabelle 5.1: Ausgewählte Thermoplaste, Elastomere und Duroplaste

Thermoplaste Elastomere Duroplaste

PolyethylenPolyoxymethylenPolypropylenPolyamide

teilkristallin

UV|W|

PolyvinylchloridPolystyrolPolymethylacrylat

amorphUV|W|

Polyisobutylen Polydimethylsiloxan cis-Polyisopren Polybutadien Polyurethankautschuk Kautschuk BUNA-S

Phenolformaldehydharz Harnstofformaldehydharz Epoxydharz ungesättigtes Polyesterharz

Page 2: 5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelzeextras.springer.com/2010/978-3-7643-8890-4/Kap51.pdf · monoklin ; ab c a ; ... Jedes System ist durch be-stimmte Lagen und Längenverhältnisse

5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 345

5.1.2 Kristalline Polymere

5.1.2.1 Kristallinität

Viele Polymere kristallisieren zu einem bestimmten Anteil, wenn die Polymerschmelze unter den Schmelzpunkt der kristallinen Phase abkühlt. Das Röntgendiagramm zeigt dann einige mehr oder weniger scharfe Röntgeninterferenzen. Polymere kristallisieren aber sehr viel schwieriger als nie-dermolekulare Stoffe und nur sehr selten vollständig. Der Kristallisationsgrad hängt von verschie-denen Faktoren ab. Diese sind: die Abkühlgeschwindigkeit die Schmelztemperatur die chemische Zusammensetzung die Taktizität die Molmasse des Polymers der Grad der Kettenverzweigung Zusätze wie Nukleations-Agenzien.

Die Schmelzen industriell hergestellter Polymere werden vielfach sehr schnell abgekühlt. Der Kristallisationsgrad hängt dabei von der Kristallisationskinetik und der Abkühlrate ab. Es ist mög-lich, die Schmelze so schnell abzukühlen, dass die Kristallisation gar nicht erst stattfindet. Die Kris-tallisation kann aber nachträglich induziert werden. Das amorphe Polymer wird dazu bei einer Temperatur ausgekühlt, die leicht unterhalb der Schmelztemperatur Tm liegt.

5.1.2.2 Struktur der Kristalle

Ein Kristall besitzt verschiedene physikalische Eigenschaften. Diese ergeben sich aus seiner chemi-schen Zusammensetzung, der Symmetrie seines Aufbaus und der Art der Bindungen zwischen sei-nen Bausteinen. Für die Behandlung festkörperphysikalischer Probleme ist es deshalb notwendig, bestimmte kristallographische Grundlagen zu kennen, die hier kurz zusammengestellt werden.

Idealkristalle Kristalline Festkörper können aus einer Vielzahl von Kristallen unterschiedlicher Größe und Orientierung oder aus einem einzigen Kristall bestehen. Es wird zwischen Poly- und Einkristallen unterschieden. Die Wärmeschwingung der Kristallbausteine sorgt allerdings dafür, dass eine echte räumliche Ordnung (Periodizität) nur im Zeitmittel vorliegt. Das gilt auch für den absoluten Nullpunkt der Temperatur, denn nach der Quantenmechanik ist die Nullpunktsenergie des harmonischen Oszillators ungleich null.

In der Kristallographie wird zwischen Ideal- und Realkristallen unterschieden. Ein Kristall heißt Idealkristall, wenn die periodische Anordnung der Bausteine zeitlich konstant und mathema-tisch exakt ist, sonst heißt er Realkristall.

Die aus der Schmelze gezogenen Polymerkristalle weisen in der Regel viele Defekte auf. Ein höherer Grad an Perfektion wird bei Polymerkristallen gefunden, die in verdünnten Polymerlösun-gen entstehen. Die Polymere treten dort als isolierte Knäuel auf, und die Kristallisation wird nicht durch Verhakungen behindert.

Es existieren in der Natur viele Einkristalle (z.B. Diamant). Für andere Materialien, wie bei Metallen und Halbleitern, ist die Herstellung von Einkristallen aus der Schmelze mittlerweile Rou-tine. Es ist dagegen nicht möglich, polymere Einkristalle herzustellen. Am perfektesten sind noch die Diacetylen-Kristalle. Der Kristallisationsgrad dieser Polymere kann fast 100 % betragen.

Basisgitter und Punktgitter Die periodisch angeordneten Bausteine eines Idealkristalls sind identisch. Sie können aus einem einzelnen Atom, aber auch aus sehr vielen verschiedenen Atomen (Segmenten) bestehen. Die Identität der Bausteine beinhaltet dabei die Gleichheit in der Atomzu-sammensetzung, der Atomanordnung und in der Orientierung im Raum. Die Lage jedes Bausteins

Page 3: 5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelzeextras.springer.com/2010/978-3-7643-8890-4/Kap51.pdf · monoklin ; ab c a ; ... Jedes System ist durch be-stimmte Lagen und Längenverhältnisse

5.1 Strukturen 346

wird durch einen für alle Bausteine gleichartigen Punkt im Koordinatensystem, z.B. durch den Schwerpunkt, festgelegt. Man erhält dadurch ein Punktgitter (siehe Abbildung 5.2).

Abbildung 5.2: Kristallstruktur a) Basisgitter b) Punktgitter

Das Punktgitter ist aber nur eine Abstraktion. Um die wahre Struktur des Kristalls zu beschreiben, muss außerdem bekannt sein, welcher als Basis bezeichneter Baustein jeden der Gitterpunkte be-setzt (vergleiche Abbildung 5.2). Wir können also sagen: Das Punktgitter und eine die Gitterpunkte besetzende Basis bestimmen die Struktur eines Kristalls.

Gittergeraden und Netzebenen Eine durch mindestens zwei Gitterpunkte gehende Gerade heißt Gittergerade. Zueinander parallele Geraden bilden eine Geradenschar. Eine Netzebene ist ein zwei-dimensionales Punktgitter. Sie enthält mindestens drei nicht kollineare Gitterpunkte und wird durch kongruente Vielecke bedeckt, deren Eckpunkte die Gitterpunkte sind. Zueinander parallele Netz-ebenen bilden eine Netzebenenschar.

Elementarvektoren und Elementarzelle Die von einem Gitterpunkt zu drei benachbarten, nicht komplanaren Gitterpunkten weisenden Vektoren a, b und c eines dreidimensionalen Punktgitters heißen Elementarvektoren. Das von a, b und c aufgespannte Parallelepiped ist die Elementarzelle. Durch die fortgesetzte Translation der Elementarzelle erhält man das gesamte Gitter. Das Punktgit-ter kann dabei durch verschiedene Elementarzellen aufgebaut werden. Einige Typen von Elemen-tarzellen für ein zweidimensionales Punktgitter zeigt Abbildung 5.3. Abbildung 5.3: Verschiedene Elementarzellen eines zwei- dimensionalen Punktgitters. Die Zellen a, b und c sind primitiv, Zelle d ist zentriert.

Eine Elementarzelle heißt primitiv, wenn ausschließlich die Eckpunkte der Zelle durch Git-terpunkte besetzt sind. Es ist aber auch möglich, dass im Innern der Elementarzelle Gitterpunkte vorhanden sind. Die Zelle heißt dann zentriert. Im dreidimensionalen Punktgitter existieren zwei Arten der Zentrierung: innenzentrierte Elementarzellen besitzen einen Gitterpunkt im Schnittpunkt der Raumdiagonalen, flächenzentrierte einen Gitterpunkt im Schnittpunkt der Diagonalen der betreffenden Fläche.

Symmetrieoperationen und Bravais-Gitter Jede Transformation, die ein gegebenes Gitter in sich selbst überführt, ist eine „Symmetrieoperation“. Die einfachste Symmetrieoperation ist die Translation. Weitere Symmetrieoperationen sind Drehungen an Achsen, Spiegelungen an Ebenen und deren Zusammensetzungen. Eine sehr wichtige Zusammensetzung ist die Inversion. Es handelt

Page 4: 5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelzeextras.springer.com/2010/978-3-7643-8890-4/Kap51.pdf · monoklin ; ab c a ; ... Jedes System ist durch be-stimmte Lagen und Längenverhältnisse

5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 347

sich dabei um eine Halbdrehung ( = 180°) und die nachfolgende Spiegelung an einer Ebene senk-recht zur Drehachse. Operationen, bei denen mindestens ein Punkt des Gitters in sich selbst abge-bildet wird, heißen Punktsymmetrieoperationen. Beispiele sind die Drehung, Spiegelung und Inver-sion. Bei der Inversion bleibt der Schnittpunkt zwischen der Drehachse und der Spiegelebene raum-fest. Er heißt Symmetriezentrum. Symmetrieelemente sind Drehachsen, Spiegelebenen und Sym-metriezentren.

Ein Punktgitter kann natürlich nicht durch jede Drehung mit sich selbst zur Deckung gebracht werden. Es sind nur die Drehungen erlaubt, bei denen die Drehachse parallel zu einer Gittergeraden und senkrecht zu einer Netzebene liegt. Die Drehachse heißt n-zählig, wenn die Gittersymmetrie bei der Drehung um den Winkel 360°/n erhalten bleibt. Es existieren nur ein-, zwei-, drei-, vier- und sechszählige Drehachsen, wobei n = 1 die Identität mit der Ausgangslage bedeutet.

Die Kristalle, bei denen die gleichen Punktsymmetrieoperationen möglich sind, bilden eine Kristallklasse. Es existieren 32 solcher Kristallklassen. Wenn man noch die Translation dazunimmt, treten zwei zusätzliche Symmetrieoperationen auf. Das sind die Schraubung (Drehung verknüpft mit Translation) und die Gleitspiegelung (Spiegelung verknüpft mit Translation). Die Kristalle las-sen sich dadurch in 230 verschiedene Raumgruppen unterteilen.

Tabelle 5.2: Kristallsysteme und Bravais-Gitter des dreidimensionalen Punktgitters

Kristallsystem Geometrie der Elementarzelle Bravais-Gitter

triklin a b c a ; ; , , 90 triklin

monoklin a b c a ; 90 primitiv monoklin basisflächenzentriert monoklin

rhombisch a b c a ; 90 primitiv rhombisch basisflächenzentriert rhombisch innenzentriert rhombisch allseitig flächenzentriert rhombisch

hexagonal a b c ; ; 90 120 hexagonal

rhomboedrisch a b c ; , 90 120 rhomboedrisch

tetragonal a b c ; 90 primitiv tetragonal innenzentriert tetragonal

kubisch a b c ; 90 primitiv kubisch innenzentriert kubisch allseitig flächenzentiert kubisch

Die 32 Kristallklassen kann man in sieben Kristallsysteme einordnen. Jedes System ist durch be-stimmte Lagen und Längenverhältnisse der Elementarvektoren charakterisiert. Die Elementarzellen können dabei primitiv oder zentriert sein. Es gibt insgesamt 14 wesentlich verschiedene Gitterty-pen. Sie unterscheiden sich durch ihre Symmetrie und durch die Zentrierung der Elementarzellen. Diese 14 Gittertypen heißen Bravais-Gitter. Eine Übersicht gibt Tabelle 5.2. a, b und c sind die Längen der Elementarvektoren. ist der Winkel zwischen den Vektoren b und c, der zwischen a und c und der zwischen a und b.

Weißsche und Millersche Indizes Translationen werden durch den Gittervektor

(5.1) , , , ,m n p m n p m n p r a b c Z

Page 5: 5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelzeextras.springer.com/2010/978-3-7643-8890-4/Kap51.pdf · monoklin ; ab c a ; ... Jedes System ist durch be-stimmte Lagen und Längenverhältnisse

5.1 Strukturen 348

beschrieben. Sind die ganzen Zahlen m, n und p teilerfremd, so weist der Gittervektor rm,n,p von irgendeinem Gitterpunkt zum in der Richtung von rm,n,p gelegenen nächstbenachbarten Gitterpunkt. Alle zu ihm parallelen Gittergeraden werden durch das in eckige Klammern gesetzte Zahlentripel [m n p] gekennzeichnet.

Die Lage der Netzebenen eines Gitterpunktes werden ähnlich beschrieben. Wir betrachten da-zu die Netzebene in Abbildung 5.4, linkes Bild. Diese schneidet die durch a, b und c gegebenen Achsen bei m a, n b und p c. Alle Ebenen, die parallel zu dieser Ebene sind, lassen sich durch eine einzige Netzebene charakterisieren. Diese besitzt nach Weiß den kleinsten Abstand vom Koordina-tenursprung. Für sie sind die Zahlen m, n und p (Weißsche Indizes) teilerfremd. Bei der Röntgen-strukturanalyse ist es allerdings praktischer, eine Netzebenenschar durch die Millerschen Indizes h, k und l zu beschreiben. Sie sind das Tripel der kleinsten ganzen Zahlen, für welche die folgende Beziehung erfüllt ist:

1 1 1m n p h k: : : : l (5.2)

Das reziproke Gitter Für die Auswertung von Röntgenbeugungsdiagrammen ist es zweckmäßig, das reziproke Gitter einzuführen. Es wird durch die Elementarvektoren

2 π , 2 π , 2 π

a c c a a bA B C

a b c b c a c a b

(5.3)

aufgespannt. Die Vektoren a, b und c sind die Elementarvektoren des ursprünglichen Punktgitters. Ein Gittervektor des reziproken Gitters besitzt die Form:

G A B Ch k l h k l h k l, , , , Za f (5.4)

Er steht senkrecht zu der Netzebenenschar (h k l). Da 0 a c a a a b ist, gilt außerdem

(5.5) 2 πG a

Der Abstand d (siehe Abbildung 5.4, rechtes Bild) zweier benachbarter Netzebenen in der Schar (h k l) ist somit gleich:

0 dG a G G a (5.6)

Mit Gleichung (5.5) folgt schließlich:

G 2 d (5.7)

Abbildung 5.4: Linkes Bild: Zur Bezeichnung der Netzebenen; m = 3, n = 2 und p = 2 Rechtes Bild: Zwei Netzebenen im Abstand d ; G0 ist der Einheitsvektor

Page 6: 5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelzeextras.springer.com/2010/978-3-7643-8890-4/Kap51.pdf · monoklin ; ab c a ; ... Jedes System ist durch be-stimmte Lagen und Längenverhältnisse

5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 349

5.1.2.3 Röntgenstrukturanalyse

Die Röntgenstrukturanalyse ist ein Untersuchungsverfahren zur Bestimmung der Kristallsymmetrie, der Größe der Elementarzelle sowie der Lage der Atomkerne und der Elektronendichteverteilung in der Elementarzelle. Das Verfahren basiert auf der 1912 von Max von Laue entdeckten Erscheinung, dass Röntgenstrahlen an Kristallgittern gebeugt werden, wenn die Strahlung unter einem festen Winkel auf den Kristall trifft. Die anschauliche Erklärung dieses Sachverhalts gelang 1914 W.H. Bragg (Vater) und W.L. Bragg (Sohn).

Abbildung 5.5 I: Röntgen-Streuung an einem Kristallgitter. Abbildung 5.5 II: a) Schematische Darstellung der Versuchsanordnung von Debye und Scherrer, b) Debye-Scherrer-Diagramm

Die Braggs nahmen an, dass die Partikel eines Kristalls ein Raumgitter bilden. Fällt Röntgenstrah-lung auf das Gitter, so treten Interferenzen auf. Die einfallenden Wellen werden an den Partikeln kohärent gestreut. Wir betrachten dazu Abbildung 5.5 I. Der Kristall besteht aus den Netzebenen mit dem Abstand d. Die Röntgenstrahlen fallen unter dem Winkel ein. Sie werden an den Netz- ebenen (den Kristallpartikeln) reflektiert. Für den Gangunterschied der reflektierten Strahlen gilt:

AB BC d 2 sin (5.8)

Um ein Intensitätsmaximum (konstruktive Interferenz) zu erhalten, muss die Bedingung

2 d z zsin 1 2 3 , , , ...a f (5.9)

erfüllt sein. Sie heißt Bragg-Bedingung, der Winkel ist der Glanzwinkel. Die wohl wichtigste Methode zur Strukturuntersuchung von Kristallen ist das Debye-

Scherrer-Verfahren. Das zu untersuchende Material wird dabei pulverisiert und in die Form eines Stäbchens gepresst. Das Stäbchen wird in die Mitte eines kreiszylindrisch gebogenen Films ge-bracht (siehe Abbildung 5.5 II) und senkrecht bestrahlt. Die Kristalle sind regellos innerhalb des Stäbchens verteilt. Es sind deshalb stets Kristalle vorhanden, welche die Braggsche Reflexionsbe-dingung bzgl. dieser oder jener Netzebene erfüllen. Die an gleichen Netzebenen gebeugten Strahlen liegen auf einem Kegelmantel, dessen Achse mit der Richtung des einfallenden Strahls zusammen-fällt. Verschiedene Netzebenen erzeugen Beugungskegel mit verschiedenen Öffnungswinkeln. Die Schnittlinien der Kegelmäntel mit dem Film ergeben die Debye-Scherrer-Diagramme (siehe Abbil-dung 5.5 II b) und Abbildung 5.6 a)).

Bei dem von Debye und Scherrer entwickelten Verfahren ist bekannt, und wird gemessen. Der Netzebenenabstand d wird mit Hilfe von Gleichung (5.9) berechnet. Mit den Abständen d der verschiedenen Netzebenenscharen und den zugehörigen Millerschen Indizes wird dann mit den Gleichungen (5.4) bis (5.7) das reziproke Gitter aufgebaut. Dieses liefert unter Berücksichtigung der Gleichungen (5.2) und (5.3) die Elementarzelle des ursprünglichen Gitters.

Page 7: 5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelzeextras.springer.com/2010/978-3-7643-8890-4/Kap51.pdf · monoklin ; ab c a ; ... Jedes System ist durch be-stimmte Lagen und Längenverhältnisse

5.1 Strukturen 350

Abbildung 5.6: Röntgenbeugungsdiagramme. a) -Crystobalit, b) ungestretchtes und c) gestretchtes Polyisobutylen (J.T. Randall, The Diffraction of X-Rays and Electrons by Amorphous Solids, Liquids and Gases, Wiley (1934); C.S. Fuller et al., J.Am.Chem.Soc., 62(1940)1905)

Polymere erfordern eine spezielle Untersuchungstechnik. Sie werden nicht pulverisiert, wohl aber zu Stäbchen geformt. Die Stäbchen werden zu langen Fasern gedehnt. Die Verhakungen der Polymerketten in der Probe werden dadurch zum Teil aufgehoben. Die Ketten werden parallel zur Stretchrichtung ausgerichtet. Es entstehen kristalline Regionen gebündelter Polymerketten. Jeweils eine Achse der Elementarzellen der kristallinen Regionen ist parallel zur Faserachse ausgerichtet. Die beiden anderen Achsen sind zufällig zur Faserachse orientiert. Das Röntgenbeugungsdiagramm ähnelt deshalb dem Rotationsdiagramm eines Einkristalls, wenn man eine Achse des Einkristalls fixiert und den Einkristall um diese Achse dreht. Einige Beispiele für Röntgenbeugungsdiagramme zeigt Abbildung 5.6. Das Polyisobutylen in Abbildung 5.6 b) ist nicht gestretcht, das Polyisobutylen der Abbildung 5.6 c) ist gestretcht. Abbildung 5.6 a) zeigt das Pulverdiagramm von -Crystobalit.

Röntgenbilder vom Typ der Abbildung 5.6 c) heißen Faserdiagramme. Sie unterscheiden sich in bestimmten Punkten von den Rotationsdiagrammen echter Einkristalle. (1) Die Röntgenreflexe sind sehr viel diffuser als bei echten Einkristallen. Erklärung: Die kristalline Ordnung erstreckt sich jeweils nur über kleine Bereiche des Polymers. (2) Die Reflexe sind kurze Bögen und keine Spots. Dies ist auf die nicht perfekte Anordnung der kristallinen Regionen zurückzuführen. Nicht alle Re-gionen sind genau parallel zur Faserachse ausgerichtet. (3) Es werden weniger Reflexe als beim Einkristall beobachtet. Die kristallinen Zonen des Polymers sind relativ klein. Reflexe, die von grösseren interplanaren Distanzen herrühren, fehlen deshalb. (4) Die Faser besitzt viele nichtkristal-line Regionen. Es wird deshalb eine starke Hintergrundstrahlung beobachtet.

Die Interpretation eines Faserdiagrammes ähnelt der eines Röntgendiagrammes von Einkris-tallen. Die Strukturanalyse ist bei Polymeren aber schwieriger. Auch wenn der Kristallchemiker alle (h k l)-Reflexe sehr genau vermessen hat, besitzt er in den meisten Fällen nicht genügend Informa-tionen, um die Kristallstrukur eindeutig zu bestimmen. Er ist auf Vermutungen und Erfahrungswerte angewiesen. Das sind: (1) Polymerketten nehmen innerhalb eines Kristalls die Konformation mit der niedrigsten Energie an, (2) die Ketten sind meistens so angeordnet, dass sie den zur Verfügung stehenden Raum möglichst effizient ausfüllen. (3) Die Kristallstrukturen chemisch verwandter Po-lymere sind oft bekannt. Sie können als Startpunkt für die Strukturbestimmung des zu untersuchen-den Polymers dienen. (4) Die stereochemische Natur der Polymerketten hängt von der Synthese-Methode ab. Es ist somit wichtig, diese zu kennen. (5) Spektroskopische Methoden liefern die de-taillierte Mikrostruktur der Polymermoleküle. Sie kann Informationen über die Konformation und die Anordnung der Ketten innerhalb des Kristalls liefern. (6) Es ist auch für verschiedene Struktur-modelle möglich, die Kristallstruktur mit der niedrigsten Energie zu berechnen. Das ist allerdings sehr schwierig, weil man dazu die Art der Wechselwirkungen zwischen den Gitterpunkten kennen muss. Hat man eine in Frage kommende Struktur gefunden, so ist es auf alle Fälle notwendig, die gemessenen Positionen und Intensitäten der (h k l)-Reflexe mit den theoretisch berechneten zu ver-gleichen. Die Übereinstimmung zwischen Theorie und Experiment ist aber niemals perfekt. Die vorgeschlagene Struktur muss solange verfeinert werden, bis man einen besten Fit für die gemesse-

Page 8: 5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelzeextras.springer.com/2010/978-3-7643-8890-4/Kap51.pdf · monoklin ; ab c a ; ... Jedes System ist durch be-stimmte Lagen und Längenverhältnisse

5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 351

nen Daten gefunden hat. Auch die dann gefundene Kristallstruktur stellt nur eine Idealisierung dar. In vielen Fällen ist es möglich, bessere Fits (Modelle) zu finden. Die in den Lehrbüchern diskutier-ten Kristallstrukturen besitzen deshalb eine statistische Sicherheit von nur höchstens 90%.

5.1.2.4 Polymer-Kristallstrukturen (ausgewählte Beispiele)

Zurzeit sind die Kristallstrukturen von einigen hundert Polymeren bekannt. Ausgewählte Beispiele sind in Tabelle 5.3 zusammengestellt.

Tabelle 5.3: Kristallstrukturen einiger Polymere (B. Wunderlich, 1973)

Polymer- Grundbaustein

Kristallsystem Raumgruppe

Achsen der Elementarzelle in Å (a, b u. c)

Grundbau- steine pro Ele-

mentarzelle

/(g/cm3)

Polyethylen I CH2

OrthorhombischPnam

7,42 4,95 2,55

90° 90° 90°

4

0,997

Polyethylen II CH2

Monoklin C2/m

8,09 2,53 4,79

90° 107,9°

90°

4

0,998

Polytetrafluorethylen I CF2

Triklin P1

5,59 5,59

16,88

90° 90°

119,3°

13

2,347

Polytetrafluorethylen II CF2

Trigonal P31 oder P32

5,66 5,66

19,50

90° 90°

120°

15

2,302

Polypropylen (isotaktisch) CH2CHCH3

Monoklin P21/c

6,66 20,78 6,49

90° 99,6° 90°

12

0,946

Polypropylen (syndiotaktisch) CH2CHCH3

OrthorhombischC2221

14,50 5,60 7,40

90° 90° 90°

8

0,930

Polyvinylchlorid (syndiotaktisch) CH2CHCl

OrthorhombischPbcm

10,40 5,30 5,10

90° 90° 90°

4

1,477

Polyvinylalkohol (ataktisch) CH2CHOH

Monoklin P2/m

7,81 2,51 5,51

90° 97,7° 90°

2

1,350

Polyvinylfluorid (ataktisch) CH2CHF

OrthorhombischCm2m

8,57 4,95 2,52

90° 90° 90°

2

1,430

1,4-Polyisopren (cis) CH2CCH3=CHCH2

OrthorhombischPbac

12,46 8,86 8,10

90° 90° 90°

8

1,009

1,4-Polyisopren (trans) CH2CCH3=CHCH2

OrthorhombischP212121

7,83 11,87 4,75

90° 90° 90°

4

1,025

Nylon66, (CH2)6NHCO (CH2)4CONH

Triklin P1

4,9 5,4

17,2

48,5° 77°

63,5°

1

1,240

Page 9: 5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelzeextras.springer.com/2010/978-3-7643-8890-4/Kap51.pdf · monoklin ; ab c a ; ... Jedes System ist durch be-stimmte Lagen und Längenverhältnisse

5.1 Strukturen 352

Nylon66, (CH2)6NHCO (CH2)4CONH

Triklin P1

4,9 8,0

17,2

90° 77° 67°

2

1,250

Ausgewählte Beispiele Eines der einfachsten Polymere ist Polyethylen, (CH2CH2)n. Es ist hochkristallin. Die Kettenkonformation mit der niedrigsten Energie ist die alltrans-Konformation, d.h. die ebene Zick-Zack-Kette. Die Elementarzelle ist entweder orthorhombisch oder monoklin.

Abbildung 5.7: Elementarzelle des orthorhombischen Polyethylenkristalls. (C.W. Bunn, Trans. Farad. Soc. 35 (1939) 482)

Abbildung 5.7 zeigt das Modell der Elementarzelle eines orthorhombischen Polyethylen-

Kristalls. Die Achsen der gestreckten Molekülketten sind parallel zur c-Achse ausgerichtet. Sie werden durch van-der-Waals-Bindungen in ihrer Position gehalten. Die Wechselwirkungen zwi-schen den H-Atomen bestimmen den Platzwinkel in der Zelle. Das ist der Winkel, den die „moleku-laren Zick-Zacks“ mit der a- bzw. b-Achse bilden. Die orthorhombische Kristallstruktur (Polyethy-len I) ist die stabilere Struktur. Die monokline Modifikation (Polyethylen II) wird erhalten, wenn man Polyethylen I mechanisch deformiert. Die Kettenmoleküle von Polyethylen II besitzen eben-falls die Gestalt einer ebenen Zick-Zack-Kette. Ihre Segmente sind aber in der Elementarzelle an-ders angeordnet als die von Polyethylen I (siehe Tabelle 5.3).

Polytetrafluorethylene kommen in zwei Modifikationen vor. Bei tiefen Temperaturen (T 19 °C), ist die Modifikation I stabil. Modifikation II wird bei Temperaturen oberhalb von T = 19 °C beobachtet. F-Atome sind deutlich größer als H-Atome. Eine Anordnung der Grundbausteine CF2 in der Form einer ebenen Zick-Zack-Kette ist deshalb aus rein sterischen Gründen nicht möglich. Polytetrafluorethylen-Moleküle besitzen die Konformation einer Helix. Unterhalb von T = 19 °C treten die Moleküle als 13/6 Helix und oberhalb dieser Temperatur als 15/7 Helix auf.

Ataktische Vinylpolymere (CH2CHX)n kristallisieren nur dann, wenn der Substituent X genügend klein ist. OH-Gruppen sind relativ klein. Polyvinylalkohol kristalliert deshalb in der Form der ebenen Zick-Zack-Kette zu monoklinen Strukturen ähnlich wie Polyethylen. Vinylpoly-mere müssen aber entweder iso- oder syndiotaktisch sein, damit sie überhaupt kristallisieren. Iso-taktische Vinylpolymere kristallisieren in Form einer Helix. So besitzt isotaktisches Polypropylen

Page 10: 5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelzeextras.springer.com/2010/978-3-7643-8890-4/Kap51.pdf · monoklin ; ab c a ; ... Jedes System ist durch be-stimmte Lagen und Längenverhältnisse

5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 353

die Form einer 3/1 Helix. Die Grundbausteine nehmen dabei abwechselnd trans- und gauche-Positionen ein. In syndiotaktischen Vinylpolymeren hängt die Konformation der Moleküle von der Größe des Substituenten ab. Für größere X finden wir die Helix und für genügend kleine X die ebe-ne Zick-Zack-Konformation.

Nylon ist ein Polyamid. Die Kettenmoleküle sind hier durch Wasserstoffbrücken-Bindungen zwischen den CO- und NH-Gruppen verknüpft. Sowohl Nylon6 als auch Nylon6.6 kristallisieren in der ebenen Zick-Zack-Konformation. Die verschiedenen Modelle für die Kristallmodifikationen von Polyamid werden bei Wunderlich diskutiert.

5.1.2.5 Morphologie und Textur

Die kristallinen Zonen (Kristallite) eines Polymers besitzen verschiedene Gestalten. Es wird zwi-schen den Extremgestalten Fransenkristallit und Faltungskristallit unterschieden (siehe Abbildung 5.8). Abbildung 5.8: Fransenkristallit Faltungskristallit

Der Fransenkristallit besteht aus mehreren Polymerketten, die parallel zueinander angeordnet sind. Die Enden der Ketten hängen wie Fransen aus dem Kristallit heraus und bilden eine amorphe Phase. Jede einzelne Polymerkette durchläuft mehrere Kristallite und mehrere amorphe Zonen.

Die Polymerketten eines Faltungskristallits bilden regelmäßige Falten. Sehr enge Falten sind aber aus Spannungsgründen nicht möglich. Die Oberflächen der Faltungsbögen können regelmäßig oder unregelmäßig aufgebaut sein. In der Regel ist die Oberfläche „unscharf“. Sie enthält neben „scharfen Falten“ auch längere Schlaufen und heraushängende Kettenenden. Sie ist amorph.

Ungestreckte synthetische Polymere, wie Polyamide, Polyester und Polyolefine, bilden Fal-tungskristallite. Native Faserpolymere, wie Cellulose und Proteine, sind Fransenkristallite. Bei den meisten Polymeren ist die Kristallitgestalt noch unbekannt. Die Struktur der Kristallite lässt sich überdies durch äußere Einflüsse verändern. Werden z.B. verstreckte, gut kristallisierende Polymere wie HDPE temperiert, so finden tiefgreifende Strukturveränderungen statt. Aus der fibrillären Struktur wird eine „Querstruktur“. Diese ist durch relativ große, senkrecht zur Streckrichtung orien-tierte Lamellen gekennzeichnet. Mit steigender Temperatur wird die Struktur geordneter. Die Di-cken- und Abstandsschwankungen der Lamellen werden kleiner. Ihre seitliche Ausdehnung nimmt zu. Amorphe und kristalline Regionen werden durch die Temperaturerhöhung zum Teil entmischt. Die Perfektion und die Dichte der Kristall-Lamellen wird dadurch größer und die Dichte der amor-phen Regionen kleiner (siehe Abbildung 5.9).

Page 11: 5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelzeextras.springer.com/2010/978-3-7643-8890-4/Kap51.pdf · monoklin ; ab c a ; ... Jedes System ist durch be-stimmte Lagen und Längenverhältnisse

5.1 Strukturen 354

Abbildung 5.9: Strukturmodell von HDPE (1) kalt verstreckt, nicht getempert (2) nach Verstreckung getempert l = seitliche Ausdehnung einer kristallinen Zone

Die Gesamtheit der Orientierungen der in einem Werkstoff vorhandenen Kristallite heißt Tex-tur (Gefüge). Sie beeinflusst die Werkstoffeigenschaften ganz entscheidend. So ändert sich bei ge-walzten und in rekristallisierten Polymeren die Dehnbarkeit bezüglich der verschiedenen Raumrich-tungen. Die Art der Textur hängt von den Kristallisationsbedingungen ab. Enthält das Material viele heterogene Keime, so bilden sich feinkristalline Strukturen aus. Diese haben eine hohe Transparenz und häufig verbesserte mechanische Eigenschaften. Bei relativ kleiner Keimkonzentration entstehen wenige, aber relativ große, annähernd radialsymmetrische Sphärolithe (siehe Abbildung 5.10). Die Sphärolithe sind im Anfangsstadium der Kristallisation (bevor sie sich berühren), kugelartig und wachsen dann zu einer polygonalen Struktur mit ebenen oder schwach gekrümmten Grenzflächen zusammen. Ihr Durchmesser liegt im Mittel bei etwa 0,01 bis 0,1 mm. Für die Feinstruktur der Sphärolithe gilt: Sphärolithe sind aus Lamellen aufgebaut. Diese stellen ihrerseits Faltungskristallite dar. Die Lamellen sind verästelt und in sich verdrillt. Das Zentrum eines Sphärolithen ist ein an den Enden auseinandergespreiztes garbenförmiges Büschel von Einkristallamellen. Zwischen den La-mellen befinden sich die heterogenen Keime.

Abbildung 5.10: Modell eines Sphärolithen (1) Gesamtstruktur (2) vergrößerter Zentralbereich (3) vergrößerter Radialbereich (M. Hoffmann, H. Krömer, R. Kuhn, 1977)

Page 12: 5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelzeextras.springer.com/2010/978-3-7643-8890-4/Kap51.pdf · monoklin ; ab c a ; ... Jedes System ist durch be-stimmte Lagen und Längenverhältnisse

5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 355

5.1.2.6 Kristallisationsgrad

Der Kristallisationsgrad eines Polymers ist von großer praktischer Bedeutung. Es gibt verschiedene Methoden, ihn zu bestimmen. Diese liefern aber nur bedingt die gleichen Resultate. Die wichtigste Methode zur Bestimmung des Kristallisationsgrades ist die Dichte-Methode. Die Dichte eines Po-lymerkristalls ist größer als die Dichte des geschmolzenen Polymers.

Vk sei das Gesamtvolumen aller Kristallite und Va das Gesamtvolumen aller amorphen Regio-nen in einem Polymer. Das Gesamtvolumen des Polymers sei V. Es gilt also:

V V V k a

a

(5.10)

m sei die Gesamtmasse des Polymers. Das bedeutet:

(5.11) m m m k

wobei mk und ma die Massen der kristallinen und amorphen Regionen in der Probe sind. Die Dichte ist als Masse pro Volumen definiert. Es folgt:

k a k k a am V m m V V V V (5.12)

mit k k k m V/ und a a a m V/ . Das Verhältnis k k V V/ gibt den Volumenbruch der Kristallite an. Für die amorphen Regionen gilt: a 1 k . Gleichung (5.12) lässt sich damit umformen zu:

k a k a (5.13)

Der Massenbruch wk der Kristallite ist ähnlich definiert. Es gilt:

k k k k k kw m m V V (5.14)

woraus folgt:

wk k a k a b g b g b g (5.15)

wk wird in der Makromolekularen Chemie Kristallisationsgrad genannt. Er ist nach Gleichung (5.15) mit der Probendichte und den Dichten der kristallinen und amorphen Phasen, k und a, verknüpft.

Die Dichte einer Polymerprobe wird oft durch Flotation in einer Dichte-Gradient-Säule be-stimmt. Das ist ein langes vertikal aufgestelltes Rohr, welches eine Mischung von Flüssigkeiten verschiedener Dichten enthält. Die Säule ist so belegt, dass die Dichte der Flüssigkeitsmischung kontinuierlich vom oberen Ende bis zum unteren Ende des Rohrs zunimmt. Sie wird mit einer Rei-he von Flotern, deren Dichte bekannt ist, geeicht. Die Dichte der zu untersuchenden Polymerprobe ergibt sich aus der Eintauchposition, den sie in der Säule einnimmt.

Die Dichte k der Kristallite ist im allgemeinen bekannt. Sie lässt sich aus der Kristallstruktur berechnen (siehe Tabelle 5.3). Die Dichte a der amorphen Phasen kann man bestimmen, indem man das Polymer in die amorphe Form überführt. Man muss dazu das Polymer nur genügend schnell aus der Schmelze abkühlen. a kann aber auch bestimmt werden, indem man die Dichte der Schmelze für verschiedene Temperaturen ermittelt und diese auf die Kristallisationstemperatur Tk extrapoliert.

Eine weitere wichtige Methode zur Bestimmung des Kristallisationsgrades ist die Weit-Winkel-Röntgenstreuung (WWR). Abbildung 5.11 zeigt eine typische WWR-Kurve für das teilkris-talline Polymer Polyethylen. Die gestreute Intensität I ist gegen den Streuwinkel 2 aufgetragen. Die scharfen Peaks rühren von der Streuung der Kristallite her. Der darunterliegende schattierte Untergrund ist auf die Streuung der amorphen Regionen zurückzuführen. Wenn sich die Streuung in beiden Regionen additiv verhält, gilt:

k k k a1I I I , (5.16)

Page 13: 5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelzeextras.springer.com/2010/978-3-7643-8890-4/Kap51.pdf · monoklin ; ab c a ; ... Jedes System ist durch be-stimmte Lagen und Längenverhältnisse

5.1 Strukturen 356

wobei die Indizes k und a für kristallin und amorph stehen. Die Schärfe der Kristallitinterferenzen wird durch verschiedene Faktoren beeinflusst. Diese möchte man möglichst kompensieren. Es wird deshalb nicht die Intensität bei einem festen Winkel gemessen, sondern über den gesamten Winkel-bereich integriert. Der Kristallisationsgrad ergibt sich dann aus den Flächen Ak und Aa der „kristal-linen und amorphen Streuung“. Es gilt:

k k k aw A A A (5.17)

Die Abtrennung des diffusen Untergrundes erfolgt dabei rein subjektiv. Die röntgenographisch er-mittelten Kristallisationsgrade stimmen deshalb nur näherungsweise mit den Werten überein, die man mit der Dichte-Methode erhält. Abbildung 5.11: WWR-Kurve für Polyethylen. Der amorphe Untergrund ist schattiert. (R.J. Young, 1981)

Die Kristallisationsgrade einiger Polymere sind in Tabelle 5.4 zusammengestellt. Sie liegen zwischen 0,1 und 0,95. Es sei aber betont, dass die Werte aus Tabelle 5.4 nur Näherungswerte dar-stellen. Die Gleichungen (5.15) und (5.17) sind nämlich nur dann exakt, wenn eine Polymerprobe keine Löcher oder Lücken aufweist. a muss zudem für alle amorphen Bereiche der Probe den glei-chen Wert besitzen. Das ist in der Praxis fast nie der Fall. Die Polymere besitzen Gitterfehler, und a hängt von der thermischen Vorbehandlung der Probe ab.

Tabelle 5.4: Kristallisationsgrade einiger Polymere; Messmethode: Röntgenographie

Polymer Kristallisationsgrad

Polyethylen, linear Polyethylen, verzweigt Polyvinylchlorid Polyacrylnitril Polyamid Baumwolle Kunstseide

80 – 95 60 10 40

60 – 80 70 40

Page 14: 5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelzeextras.springer.com/2010/978-3-7643-8890-4/Kap51.pdf · monoklin ; ab c a ; ... Jedes System ist durch be-stimmte Lagen und Längenverhältnisse

5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 357

5.1.2.7 Kristallitdicke

Kristallite besitzen eine bestimmte Dicke. Sie lässt sich mit den Methoden der Elektronenmikro-skopie und der Röntgenkleinwinkel-Streuung bestimmen.

Die Dicke dk eines Kristallites hängt von verschiedenen Faktoren wie Molmasse, Zeit und Druck ab. Der wichtigste Einflussfaktor ist die Kristallisationstemperatur Tk. Die Kristallitdicke ist in der Regel umso größer, je größer Tk ist. Das gilt sowohl für Polymerkristalle in Lösung, als auch für Polymerkristalle, die aus der Schmelze entstanden sind. Ein Beispiel zeigt Abbildung 5.12 a). Die Dicke von Polyoxyethylen-Kristallen ist dort für verschiedene Lösemittel gegen die Kristallisa-tionstemperatur Tk aufgetragen. Wir erhalten für jedes Lösemittel eine Kurve. Alle diese Kurven können wir zu einer Master-Kurve vereinigen, indem wir dk gegen 1 1/ / ( )T T T l k auftragen (siehe Abbildung 5.12 b)). Tl ist dabei die Lösungstemperatur. Der Kristallisationsprozeß ist also in erster Linie durch die Differenz T T T l k bestimmt. Die Kristallisationstemperatur Tk selbst spielt eine untergeordnete Rolle. Diese Tatsache ist von großer Wichtigkeit für die Theorie der Kris-tallisationskinetik.

b) a)

Abbildung 5.12: Die Abhängigkeit der Kristallitdicke dk von a) der Kristallisationstemperatur Tk und b) der reziproken Unterkühlung 1/T = 1/(Tl Tk). Lösemittel: (■) Phenol, (∆) m-Cresol, (▲) Furfurylalkohol, (О) Benzylalkohol, (●) Acetophenon (J.H. Magill, 1977)

5.1.2.8 Kristallitfehler

Die Kristalle der meisten Materialien besitzen Fehler wie Punktdefekte oder Versetzungen. Das gilt auch für die kristallinen Zonen der Polymere. Beispiele für Kristallitfehler zeigt Abbildung 5.13.

Abbildung 5.13: Kristallitfehler a) Reneker-Defekt, b) Kinke, c) jog-Block und d) Schraubenversetzung mit jog-Block

Page 15: 5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelzeextras.springer.com/2010/978-3-7643-8890-4/Kap51.pdf · monoklin ; ab c a ; ... Jedes System ist durch be-stimmte Lagen und Längenverhältnisse

5.1 Strukturen 358

Der Reneker-Defekt ist ein Punktfehler. Die mittlere Polymerkette in Abbildung 5.13 a) ist so tordiert, dass sie um die auf die Kettenachse projizierte Länge von 1 bis 10 CC-Bindungen ver-kürzt wird. Die Ausbuchtung kann dabei entlang der Kette diffundieren und Kristallisationskeime transportieren. Das Dickenwachstum von Polymerkristalliten bei der Temperaturerhöhung lässt sich auf diese Weise erklären.

Abbildung 5.13 b) zeigt eine isolierte Kinke (planare Stufe). Die seitliche Kettenversetzung ist kleiner als der Achsenabstand zweier benachbarter Ketten. Die Kinke ist eine relativ kleine loka-le Störung. Ist sie größer als der Kettenabstand im Kristallit, so spricht man von einem „jog“. Meh-rere zueinander versetzte jogs stellen einen jog-Block dar. Dieser wird meist durch das freie Ende einer Kette induziert.

Eine dreidimensionale Versetzung wird durch die Versetzungsstufe AB und den Burgers-Vektor b charakterisiert. Man spricht von einer Schraubenversetzung, wenn der Vektor b parallel zu der Strecke AB steht. Der Vektor b kann auch senkrecht zu AB stehen. Die Versetzung heißt dann Eckenversetzung (siehe Abbildung 5.14).

Abbildung 5.14: Schraubenversetzung Eckenversetzung (R.J. Young, 1981)

5.1.2.9 Kristallisationskinetik

Grundlagen Die Kristallisation ist ein Prozeß, bei dem eine anfänglich ungeordnete Phase in eine geordnete Phase übergeht. Es werden zwei Vorgänge unterschieden, die Keimbildung (nuclea-tion) und das Kristallwachstum (growth). Die Keimbildung wird durch Schwankungen in der Schmelze oder der Lösung hervorgerufen. Infolge der Molekularbewegung lagern sich einzelne Ketten zu kurzlebigen, sehr kleinen kristallähnlichen Gebilden, den Embryonen, zusammen. Ober-halb der Schmelztemperatur sind die Embryonen instabil. Sie zerfallen wieder. Unterhalb der Schmelztemperatur existiert eine kritische Embryogröße. Die Embryonen, die größer als die „kriti-schen Embryonen“ sind, besitzen eine Freie Enthalpie, die kleiner als die der Schmelze ist. Sie wachsen weiter und werden Keime genannt. Die anderen Embryonen lösen sich wieder auf.

Es existieren zwei Arten der Keimbildung. Bei der homogenen Keimbildung lagern sich meh-rere Polymerketten zufällig zu einem Cluster zusammen. Es sind keine weiteren Stoffe beteiligt. Sehr viel häufiger ist aber die heterogene Keimbildung. Hierbei lagern sich die Polymerketten an Fremdstoffen, wie Staubpartikeln oder sonstigen niedermolekularen Verunreinigungen an. Die An-zahl der gebildeten Keime hängt, wenn alle anderen Faktoren konstant gehalten werden, von der Kristallisationstemperatur Tk ab. Liegt Tk nur leicht unterhalb der Schmelztemperatur, so bilden sich nur sporadisch Keime. Es entstehen wenige, aber große Kristallite. Ist Tk dagegen sehr viel kleiner als Tm, so bilden sich viele Keime. Die Kristallite sind dann relativ klein.

Das Wachstum der Kristallkeime kann in einer, zwei oder drei Dimensionen erfolgen. Es ent-stehen stäbchen-, scheiben- oder kugelartige Gebilde. Noch freie Polymerketten werden von den Kristallkeimen inkorporiert. Experimentell zugänglich sind die Veränderungen in den linearen Di-

Page 16: 5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelzeextras.springer.com/2010/978-3-7643-8890-4/Kap51.pdf · monoklin ; ab c a ; ... Jedes System ist durch be-stimmte Lagen und Längenverhältnisse

5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 359

mensionen der Kristallite. Größen wie Länge und Radius werden gewöhnlich linear mit der Zeit t größer, wenn Tk konstant ist. Für den Radius r eines kugelartigen Kristallits bedeutet dies:

r k t w (5.18)

Die Konstante kw heißt Wachstumsrate. Gleichung (5.18) gilt, solange die Kristallite noch klein sind und nicht zusammenwachsen also nur in der Anfangsphase des Kristallitwachstums. Die Wachs-tumsrate kw ist aber keine Universalkonstante. Sie hängt von der Kristallisationstemperatur Tk ab (siehe Abbildung 5.15).

Abbildung 5.15: Die Wachstumsrate kw als Funktion von Tk für Poly(tetramethyl-p- phenylen)siloxane verschiedener Molmassen (Mw in g/mol). (J.H. Magill, 1977)

Für Tk > Tm gilt: kw = 0. Unterhalb von Tm wird kw zunächst schnell größer. Bei weiterer Abkühlung durchläuft kw ein Maximum und wird dann wieder kleiner. Das Vorhandensein des Maximums ist auf zwei miteinander konkurrierender Prozesse zurückzuführen. Die thermodynamisch treibende Kraft der Kristallisation wird mit abnehmender Temperatur stärker. Gleichzeitig nimmt die Viskosi-tät der Schmelze (Lösung) zu. Der Transport der Polymerketten zu den Wachstumspunkten wird dadurch erschwert. An der Stelle des Maximums sind beide „Kräfte“ im Gleichgewicht. Bei weite-rer Abnahme der Temperatur überwiegt die hemmende Wirkung der Viskosität. Die Kristallite hören auf zu wachsen.

Allgemeine Kristallisationskinetik Gegeben sei eine Polymerschmelze der Masse m0. Diese werde auf eine Temperatur Tk unterhalb der Schmelztemperatur Tm abgekühlt. Es entstehen Kristal-lite. Diese seien kugelartig. Die Anzahl der Keime nk, die pro Zeiteinheit und pro Volumeneinheit gebildet werden, sei konstant. Die Anzahl der Keime, die in dem Zeitintervall dt entstehen, ist dann gleich n m tk md0 / , wobei m die Dichte der Schmelze ist. Die Keime wachsen zu Kristalliten heran. Der Radius der Kristallite zum Zeitpunkt t sei r. Die Masse eines Kristallits ist gleich ( )4 3k tw

3k / 3 . Die Gesamtmasse dm aller Kristallite, die sich innerhalb des Zeitintervalls dt

bilden, ist zum Zeitpunkt t gleich:

3 3w k k 0d 4 π 3m k t n m t md (5.19)

Die Kristallitmasse mk, die insgesamt bis zum Zeitpunkt t gebildet wird, ist:

3 3k w k k 0

0

d 4 π 3t

m t k n m t m (5.20)

Es folgt:

3 4k 0 k w k mπ 3m m n k t (5.21)

Page 17: 5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelzeextras.springer.com/2010/978-3-7643-8890-4/Kap51.pdf · monoklin ; ab c a ; ... Jedes System ist durch be-stimmte Lagen und Längenverhältnisse

5.1 Strukturen 360

m0 ist gleich mk + mm, wobei mm die Masse der noch flüssigen Schmelze zum Zeitpunkt t ist. Glei-chung (5.21) lässt sich damit umformen zu:

3 4m 0 k w k m1 π 3m m n k t (5.22)

Wir erkennen folgendes: Der Massenbruch mk/m0 der Kristallite wächst anfangs mit t4. Das gilt al-lerdings nur, solange wie die Keimbildungsgeschwindigkeit nk konstant ist. Werden alle Keime gleichzeitig, z.B. zum Zeitpunkt t = 0 gebildet, so ist nk = 0, und mk/m0 ist proportional zu t3.

Die Gleichungen (5.21) und (5.22) gelten nur im Anfangsstadium der Kristallisation. Für gro-ße t wachsen die Kristallite zusammen. Eine Theorie, die dieses Zusammenwachsen berücksichtigt, wurde 1939 von Avrami entwickelt. Es gilt:

m m k t nk

A0 1b g d exp A i (5.23)

kA ist die Avrami-Konstante, und nA ist der Avrami-Exponent. Die Bedeutung dieser Parameter geht aus Tabelle 5.5 hervor.

Tabelle 5.5: Avrami-Konstanten und Avrami-Exponenten.

Art des Kristallwachstums Konstante Keimkonzentration

Konstante Keimbildungsgeschwindigkeit

kA 1) 3w k4 π 3 k N 2) 3

w kπ 3 k n

nA = 1 eindimensional (Stäbchen) ------ nA = 2 zweidimensional (Scheibe) Stäbchen nA = 3 dreidimensional (Kugel) Scheibe nA = 4 ----- Kugel

1) kA = Avrami-Konstante für kugelförmige Kristallite 2) Nk = Keimkonzentration zum Zeitpunkt t = 0, z.B. in cm3

In der Schmelze entstehen normalerweise kugelförmige kristalline Gebilde. Diese wachsen mit konstanter Geschwindigkeit, d.h. kw ist konstant. Der zu erwartende Avrami-Exponent nA ist also je nach der Art der Keimbildung drei oder vier. Für nA = 4 gilt z.B.:

3 4k 0 w k1 exp π 3m m k n t (5.24)

Die Exponentialfunktion können wir für kleine t in eine Reihe entwickeln und diese nach dem zweiten Glied abbrechen. Wir erhalten:

3k 0 w kπ 3m m k n t 4 (5.25)

Diese Gleichung stimmt mit Gleichung (5.21) überein, wenn k m ist. Es sei deshalb betont, dass Gleichung (5.24) nur dann benutzt werden darf, wenn die folgendenVoraussetzungen erfüllt sind: 1) Die Anzahl der Keime ist entweder konstant, oder sie ist zu Beginn der Kristallisation gleich null

und nimmt mit konstanter Geschwindigkeit zu. 2) Die Keime sind statistisch in der Polymerprobe verteilt. 3) Kristallite und Schmelze besitzen die gleiche Dichte. 4) Die Kristallitform (z.B. Kugel) bleibt während der Kristallisation die gleiche. 5) Die Dichte der Kristallite ist zu allen Zeiten die gleiche.

Vom experimentellen Standpunkt aus betrachtet ist es leichter, Änderungen im spezifischen Volumen als Änderungen in der Masse der Kristallite zu bestimmen.0, t und seien die spezifi-schen Volumina der Probe zu den Zeitpunkten t = 0, t und t = . Es gilt:

t m m m m m m k k k m m kb g b g b g b g0 1 1 (5.26)

Page 18: 5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelzeextras.springer.com/2010/978-3-7643-8890-4/Kap51.pdf · monoklin ; ab c a ; ... Jedes System ist durch be-stimmte Lagen und Längenverhältnisse

5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 361

Da 0 0 m / m und m0 / k ist, folgt:

m 0 0 0t m m m (5.27)

Gleichung (5.27) lösen wir nach mm/m0 auf. Das Ergebnis setzen wir in die Gleichung (5.23) ein. Wir erhalten dann:

Am 0 0 exp n

tm m k t A (5.28)

Die Volumendifferenzen t und 0 lassen sich mit einem Dilatometer messen. Gleichung (5.28) enthält somit nur zwei Unbekannte, kA und nA. Diese ermitteln wir, indem wir Gleichung (5.28) zweimal logarithmieren. Wir erhalten dadurch die Geradengleichung:

0 Aln ln ln lnt k n t A (5.29)

Der Achsenabschnitt ist ln (kA), und die Steigung ist nA. Für nA findet man Werte, die zwischen zwei und sechs liegen, meistens aber zwischen drei

und vier. Da nA nicht ganzzahlig ist, spricht man von fraktalen Dimensionen. Die Ursache für die Abweichungen zwischen den experimentellen Ergebnissen und der Avrami-Theorie sind: 1) ist experimentell nicht genügend genau bestimmbar. Es ist oft unklar, ob die Kristallisation

schon beendet ist oder ob sie noch weiterläuft. 2) Die Voraussetzungen der Avrami-Theorie sind in der Praxis nur bedingt erfüllt. 3) Es kommt oft zu einer Nachkristallisation oder „sekundären Kristallisation“. Der Kristallini-

tätsgrad der bereits gebildeten kristallinen Zonen wird dadurch stark erhöht, häufig um 10 – 20 %.

4) Heterogene Verunreinigungen können als zusätzliche Keime wirken. 5) Nicht kristallisationsfähige Anteile, die sich in der Restschmelze anreichern, führen zu einer

dauernden Verringerung der Wachstumsgeschwindigkeit während der Kristallisation. Es existieren Versuche, die Avrami-Gleichung durch realistischere theoretische Ansätze zu er-

setzen. Eine Anwendung dieser erweiterten Gleichungen ist nur bedingt sinnvoll. Die Ursachen für die Abweichungen zwischen Theorie und Experiment sind nämlich meistens nicht bekannt.

Keimbildung Wir unterscheiden zwei Arten der Keimbildung bei Polymeren, die Primär- und die Sekundärkeimbildung. Bei der Primärkeimbildung lagern sich die Kettenmoleküle zu einem zylin-drischen Keim vom Radius r und der Höhe h zusammen. Die Zylinderachse zeigt in Kettenrichtung, und h ist sehr viel kleiner als die Länge l des gestreckten Moleküls. Bei einem Faltenkeim sind die Ketten an den Deckflächen des Zylinders regelmäßig zurückgefaltet, bei einem Fransenkeim ver-laufen sie fransenartig in die Umgebung. Für die Bildung der Oberflächen des Zylinders ist eine bestimmte Energie erforderlich. Die Flächenbildungsenergie der Deckflächen sei D und die der Mantelfläche M. Gleichzeitig wird die Kristallisations- oder Kettenfusionsenergie frei. Diese wol-len wir mit GF bezeichnen und auf eine Masseneinheit beziehen. GF ist eine spezifische Freie Enthalpie. Es gilt:

G H T SF F F (5.30)

HF ist die spezifische Fusionsenthalpie, SF die spezifische Fusionsentropie und T die Temperatur, bei der die Kristallisation stattfindet. Im Schmelz-Gleichgewicht ist GF = 0 und T = Tm. Dort gilt:

S H TF F m (5.31)

Die Kristallisation findet in der Regel bei einer Temperatur T = Tk statt, die kleiner als Tm ist. GF ist deshalb endlich (negativ). Wir nehmen an, dass SF temperaturunabhängig ist. Gleichung (5.30) lässt sich dann umformen zu:

Page 19: 5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelzeextras.springer.com/2010/978-3-7643-8890-4/Kap51.pdf · monoklin ; ab c a ; ... Jedes System ist durch be-stimmte Lagen und Längenverhältnisse

5.1 Strukturen 362

F F k F m F m kG H T H T H T T T m (5.32)

Die Temperaturdifferenz T Tm k heißt Unterkühlung. Wir wollen sie mit T bezeichnen. Die Freie Schmelzenthalpie GP lässt sich jetzt berechnen. Es gilt:

G r h G r r hP k F D M2 22 2 (5.33)

wobei der Index P für Primärkeim steht. Ein Keim (Embryo) besitzt bestimmte kritische Abmessungen rc und hc. Der Keim ist stabil,

wenn r > rc und zugleich h > hc ist. Im anderen Fall ist er instabil. Die kritischen Werte von rc und hc können wir berechnen. Wir müssen dazu GP partiell nach r und h differenzieren und die Resul-tate gleich null setzen. Es gilt:

c c

P c c k F c D c,2 π 4 π 2 π 0

r hG r r h G r h m (5.34)

und c c

2P c k F c,

π 2 π 0r h

G h r G r M (5.35)

Diese Gleichungen lösen wir nach rc und hc auf. Es folgt:

c M F k M m k F2 2r G T H T (5.36)

c D F k D m k F4 4h G T H T (5.37)

und G G T HP,c M D k2

F2

M D m2

k2

F 8 82 2 2 2 d i b g a fe jT (5.38)

rc und hc sind umso kleiner, je größer die Unterkühlung T ist. Die Temperatur Tk darf natürlich nicht beliebig tief gewählt werden. hc kann nicht kleiner als die Kuhnsche Segmentlänge lK sein. Die Bildung der Sekundärkeime kann in vollkommen analoger Weise erklärt werden. Es handelt sich hierbei um die Bildung von Kristallitkeimen auf der Oberfläche schon fertiger Kristallite. Die-se bilden in der Regel monomolekulare Schichten der Länge l, der Breite b und der Höhe a (siehe Abbildung 5.16).

Abbildung 5.16: Sekundärkeim auf der Oberfläche eines Kristalliten

Für die kritischen Abmessungen des Sekundärkeims gilt:

a G b G G l Gc M F k c D F k S,c M D F k 2 2 4 b g b g b g; ; (5.39)

lc ist gleich l, weil die Länge des Sekundärkeims durch die Kristallfläche vorgegeben ist. GS,c ist deutlich kleiner als GP,c. Die Sekundärkeimbildung setzt deshalb schon bei viel ge-

ringerer Unterkühlung T ein als die Primärkeimbildung. Ein schönes Beispiel ist lineares Poly-ethylen. Die notwendige Unterkühlung für eine gut messbare Keimbildungsgeschwindigkeit liegt für Sekundärkeime bei 10 15 °C, bei Primärkeimen beträgt sie 50 70 °C. Auch die Freie Enthal-pie der heterogenen Keimbildung an einer Fremdoberfläche ist viel kleiner als GP,c. Kleine Men-

Page 20: 5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelzeextras.springer.com/2010/978-3-7643-8890-4/Kap51.pdf · monoklin ; ab c a ; ... Jedes System ist durch be-stimmte Lagen und Längenverhältnisse

5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 363

gen an Verunreinigungen können deshalb bereits bei geringen Unterkühlungen eine so starke Kris-tallisation durch Sekundärkeimbildung hervorrufen, dass die Primärkeimbildung bedeutungslos wird. Dieses ist in der Praxis oft der Fall. Es ist deshalb sehr wichtig, die heterogene Sekundär-keimbildung genauer zu erforschen.

5.1.3 Amorphe Polymere

5.1.3.1 Morphologie

Die Moleküle eines amorphen Polymers sind nicht zu Kristallgittern angeordnet. In ihnen gibt es keine physikalisch ausgezeichnete Richtung. Ihre physikalischen Eigenschaften sind richtungsun-abhängig. Beispiele für amorphe Polymere sind anorganische Silikatgläser, Harze und ataktisches Polystyrol. Auch vernetzte Polymere, die oberhalb der Schmelztemperatur gummielastisch bis zäh-elastisch sind (wie z.B. SBR, PF und UF), können sich bei der Abkühlung in feste amorphe Gläser umwandeln.

Wird die Schmelze eines amorphen Polymers abgekühlt, ohne dass es zu einer geometrischen Ordnung kommt, so bleibt die amorphe Struktur im Festkörper erhalten. Das Volumen V eines sol-chen Polymers weist einen ganz charakteristischen Temperaturverlauf auf. Er ist in Abbildung 5.17 dargestellt. Abbildung 5.17: V(T) und die Glastemperatur Tg zu verschiedenen Zeiten t für Polyvinylacetat. (Kovacs, J.Polym.Sci. 30(1958)131)

Die Übergangstemperatur Tg heißt Glastemperatur. Sie ergibt sich als der Schnittpunkt der Tangenten an die beiden linearen Äste von V(T). Einen ähnlichen Kurvenverlauf wie V(T) besitzt die Enthalpie H(T). Man kann Tg deshalb auch kalorimetrisch durch Messung der spezifischen Wärmekapazität Cp(T) ermitteln (siehe Kapitel 5.2).

Der Nachweis, dass ein Polymer amorph oder kristallin ist, erfolgt meist über Messungen zur Neutronen-, Röntgen- oder Lichtkleinwinkelstreuung. Das Ergebnis ist: Die Molekülketten in ei-nem amorphen Polymer besitzen ähnliche Konformationen wie in der konzentrierten Lösung. Sie bilden statistische Knäuel, die sich gegenseitig durchdringen. Viele Eigenschaften der amorphen Polymere können auf diese Weise befriedigend erklärt werden. Es existieren aber auch Hinweise, dass amorphe Schmelzen und Gläser eine Nahordnung besitzen. So sind die kurzkettigen Moleküle des Paraffins in der Schmelze annähernd parallel angeordnet. Diese Nahordnung reicht allerdings nicht über die erste Koordinationssphäre der Moleküle hinaus.

Page 21: 5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelzeextras.springer.com/2010/978-3-7643-8890-4/Kap51.pdf · monoklin ; ab c a ; ... Jedes System ist durch be-stimmte Lagen und Längenverhältnisse

5.1 Strukturen 364

5.1.3.2 Mesomorphe Phasen

Die mesomorphen Phasen stellen ein Mittelding zwischen der amorphen und der kristallinen Phase dar. Es gibt die smektische, die nematische und die cholesterische Phase (siehe Abbildung 5.18). In der smektischen Phase sind die durchweg länglichen Moleküle parallel zueinander orientiert. Sie bilden Schichten, die aneinander abgleiten können. Die Moleküle der nematischen Phase sind eben-falls parallel angeordnet. Sie liegen aber nicht mehr in Schichten. Bei der cholesterischen Phase liegen die Moleküle wieder in Schichten. Die Richtung der Längsachsen der Moleküle ist jedoch in aufeinanderfolgenden Schichten jeweils gegen die vorhergehende Schicht verdreht.

smektisch

nematisch cholesterisch

Abbildung 5.18: Mesomorphe Phasen (J.L. Fergason, Scientific American 211(1964)77)

Die Viskosität smektischer und cholesterischer Systeme ist relativ hoch; nematische Flüssig-keiten haben Viskositäten wie gewöhnliche Flüssigkeiten.

Eine Reihe von Polymeren bildet mesomorphe Phasen. So geht das isotaktische Polypropylen durch schnelles Abkühlen aus der Schmelze in eine smektische Modifikation über. Die Molekülket-ten liegen dabei als 3/1-Helices vor (3 Monomere kommen auf eine Windung). Sie sind parallel zueinander angeordnet. Ein nematisch/smektischer Phasenübergang tritt beim HDPE auf. Am häu-figsten begegnet man den mesomorphen Phasen aber bei Biopolymeren. Offenbar sind Biopolymere in der Lage, auf kleinstem Raum spezielle Umgebungen zu schaffen und diese (für eine bestimmte chemische Reaktion) gegen die übrige Umgebung abzuschirmen.