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Page 1: 5 Der axiomatische Wahrscheinlichkeitsbegriff · PDF file5 Der axiomatische Wahrscheinlichkeitsbegriff 5.1 Wahrscheinlichkeitsr¨aume Immer dann, wenn die Mathematiker Probleme damit

5 Der axiomatische Wahrscheinlichkeitsbegriff

5.1 Wahrscheinlichkeitsraume

Immer dann, wenn die Mathematiker Probleme damit haben, grundlegende Eigenschaften innerhalb einerTheorie herzuleiten oder zu beweisen, bleibt ihnen nichts anderes ubrig, als den bescheideneren Weg zuwahlen und diese grundlegenden Eigenschaften einfach ohne Beweis vorauszusetzen. Diese Eigenschaftennennt man dann Axiome. Da es in der Wahrscheinlichkeitsrechnung nicht moglich ist, einen Wahrschein-lichkeitsbegriff bzw. die Wahrscheinlichkeit selbst als Grenzwert festzulegen – was man jahrhundertelangversucht hat –, hat sich A. N. Kolmogorov 1933 zu einer Axiomatisierung des Wahrscheinlichkeitsbe-griffs durchgerungen.

Definition 1 Sei Ω 6= ∅ die (hochstens abzahlbare) Ergebnismenge eines Zufallsexperimentes. Eine aufder Ereignismenge P(Ω) definierte Funktion P : P(Ω) → [0; 1] heißt Wahrscheinlichkeitsmaß, falls gilt:

1. P (Ω) = 1 (Normiertheit)

2. P (A) ≥ 0 fur alle A ⊆ Ω (Nichtnegativitat)

3. A ∩B = ∅ ⇒ P (A ∪B) = P (A) + P (B) fur alle A,B ⊆ Ω (Additivitat)

Das Paar (Ω, P ) heißt dann Wahrscheinlichkeitsraum. Fur das Ereignis A ⊆ Ω heißt P (A) Wahrschein-lichkeit von A.Die zugehorige Funktion p : Ω → [0; 1] mit p(ω) = P (ω) heißt Wahrscheinlichkeitsfunktion.

Zu beachten ist, dass jede solche Funktion P ein Wahrscheinlichkeitsmaß darstellt. Insbesondere heißtdas, dass in keinster Weise auf irgendwelche statistischen Befunde (wie z.B. Haufigkeiten) Bezug genom-men werden muss, um P festzulegen.Die in Definition 1 genannten Bedingungen werden kunftig außer durch den in Klammern genanntenNamen mit Axiom 1, Axiom 2 bzw. Axiom 3 angesprochen.

5.2 Beispiele

1. Wurfeln mit einem Wurfel und Feststellen der Augenzahl:Grundraum Ω1 = 1, 2, 3, 4, 5, 6. Die Wahrscheinlichkeitsfunktion p1 : Ω1 → [0; 1] mit p1(ω) = 1

6fur alle ω ∈ Ω1 liefert ein Wahrscheinlichkeitsmaß P1 auf P(Ω1). Dieses Modell beschreibt einenfairen Wurfel.

2. Wurfeln mit einem Wurfel und Feststellen der Augenzahl:Grundraum Ω2 = Ω1. Die Wahrscheinlichkeitsfunktion p2 : Ω2 → [0; 1] mit p2(6) = 1

2 und p2(ω) =110 fur alle ω ∈ Ω2 \ 6 liefert ein weiteres Wahrscheinlichkeitsmaß – P2 – auf P(Ω2). Der Wurfel,der durch dieses Modell beschrieben wird, ware wohl eher als gezinkt zu bezeichnen.Die Wahrscheinlichkeitsraume (Ω1, P1) und (Ω2, P2) haben zwar den gleichen Grundraum, sind aberdennoch verschieden.

3. Werfen eines Reißnagels:Die Wahrscheinlichkeitsfunktion p3 : O,U → [0; 1] mit p(O) = 0, 34 und p(U) = 0, 66 setzt einWahrscheinlichkeitsmaß P3 fest (O steht fur ”Spitze nach oben“, U steht fur ”Spitze nach unten“).

Fur die haufig auftretenden Zufallsexperimente mit gleichen Wahrscheinlichkeiten aller Ergebnisse – wiedas Werfen eines fairen Wurfels – fuhrt man eine spezielle Bezeichnung ein.

Definition 2 Sei (Ω, P ) ein Wahrscheinlichkeitsraum mit endlichem Grundraum Ω.Falls gilt: P (ω) = 1

|Ω| fur alle ω ∈ Ω, so heißt (Ω, P ) Laplacescher Wahrscheinlichkeitsraum1. Daszugehorige Zufallsexperiment heißt dann Laplace-Experiment.

1Pierre Simon Marquis de Laplace, 1749–1827, frz. Mathematiker und Astronom.

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5.3 Folgerungen

Fur das so festgelegte Wahrscheinlichkeitsmaß gelten die folgenden ”vernunftigen“ Aussagen:

Satz 1 Es seien (Ω, P ) ein Wahrscheinlichkeitsraum und A,B,A1, A2, . . . An(n ≥ 2) Ereignisse. Danngelten:

1. P (∅) = 0

2. A1, A2, . . . , An paarweise disjunkt ⇒ P (A1 ∪A2 ∪ . . . ∪An) =∑n

i=1 P (Ai) (endliche Additivitat)

3. P (A) = 1− P (A) (komplementare Wahrscheinlichkeit)

4. A ⊆ B ⇒ P (A) ≤ P (B) (Monotonie)

5. P (A ∪B) = P (A) + P (B)− P (A ∩B) (Additionsgesetz)

6. P (∪ni=1Ai) ≤

∑ni=1 P (Ai) (Subadditivitat)

Beweis: Die jeweiligen Mengenzerlegungen mache man sich durch eine Skizze klar!

1. Ω = Ω ∪ ∅ ist eine disjunkte Vereinigung. Daher gilt nach den Axiomen 1 und 3:1 = P (Ω) = P (Ω ∪ ∅) = P (Ω) + P (∅). Hieraus folgt unmittelbar P (∅) = 0.

2. Dies ergibt sich durch vollstandige Induktion aus dem Axiom 3.

3. Fur alle A ⊆ Ω ist Ω = A ∪ A eine disjunkte Vereinigung. Daher gilt nach den Axiomen 1 und 3:1 = P (Ω) = P (A ∪A) = P (A) + P (A). Hieraus folgt unmittelbar P (A) = 1− P (A).

4. Falls A ⊆ B ist B = A ∪ (B \A) eine disjunkte Vereinigung. Daher ist (Axiom 3):P (B) = P (A) + P (B \A) ≥ P (A). Hierbei folgt die letzte Ungleichheit aus der Tatsache, dass alleWahrscheinlichkeiten nichtnegativ sind (Axiom 2), insbesondere auch P (B \A).

5. Wir zerlegen A ∪B disjunkt: A ∪B = (A \B) ∪ (A ∩B) ∪ (B \A). Dann gilt wegen Folgerung 2:

P (A ∪B) = P (A \B) + P (A ∩B) + P (B \A).

Da außerdem P (A) = P (A∩B)+P (A \B) und P (B) = P (A∩B)+P (B \A), folgt duch Auflosennach P (A \B) bzw. P (B \A) und Einsetzen in die erste Beziehung die Behauptung.

6. Aus 5. folgt wegen der Nichtnegativitat der Wahrscheinlichkeit P (A ∪ B) ≤ P (A) + P (B) undhieraus durch vollstandige Induktion die Behauptung.

In Anbetracht der Tatsache, dass die Potenzmenge einer Menge schon bei geringer Machtigkeit derselbensehr viele Elemente enthalten kann, ist es beruhigend, sich klarzumachen, dass es genugt, die Wahr-scheinlichkeiten fur alle Elementarereignisse zu kennen, d. h. die Wahrscheinlichkeitsfunktion. Aus ihrlassen sich aufgrund der Additivitat alle Wahrscheinlichkeiten der Ereignisse A ∈ P(Ω) ermitteln. (DieUmkehrung hiervon ist ja schon aufgrund der Definition offensichtlich.)Obwohl fur praktische Berechnungen das Wahrscheinlichkeitsmaß wichtiger ist, ist die Wahrscheinlich-keitsfunktion fur die Festlegung eines Wahrscheinlichkeitsraumes also handlicher.

5.4 Ubungen

1. Geben Sie ein Wahrscheinlichkeitsmaß fur einen gezinkten Wurfel an, der sehr oft die 6 liefert,ganz selten die gegenuberliegende Zahl und alle anderen Zahlen mit gleicher Wahrscheinlichkeit,die dazwischen liegt. (Das konnte der Fall sein, wenn gegenuber der 6 ein Zusatzgewicht eingebautwird.)

2. Beim Wurf eines fairen Wurfels seien folgende Ereignisse definiert:A: ”Es wird eine ungerade Augenzahl gewurfelt.“B: ”Es wird eine Augenzahl großer als 3 gewurfelt.“Bestimmen Sie folgende Ereignisse (als Mengen) und deren Wahrscheinlichkeit:A, B, C = A ∩B, D = A ∪B, F = C, G = D, H = A ∪B, I = A ∩B.

3. Geben Sie ein Wahrscheinlichkeitsmaß fur die mit zwei fairen Wurfeln gewurfelten Augenzahlenvon 2 bis 12 an. Bestimmen Sie die Wahrscheinlichkeit fur folgende Ereignisse (vgl. Beispiel 1.2.1.):A: ”Es wird eine 9 oder eine 4 gewurfelt.“B: ”Es wird eine 8 oder eine 12 gewurfelt.“

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4. In einem Wahrscheinlichkeitsraum (Ω, P ) seien A,B Ereignisse mit P (A) ≥ 0, 99 und P (B) ≥ 0, 97.Zeigen Sie: P (A ∩B) ≥ 0, 96.