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5. Psychologische Grundlagen des Lernens

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5. Psychologische Grundlagen des Lernens

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Lerneinheit: Psychologische Grundlagen

Es mag Ihnen vielleicht überzogen erscheinen, in einem Kurs zum In-

verted Classroom auch die grundlegende Frage nach dem Lernen an

sich zu stellen. Es ist jedoch grundsätzlich vorteilhaft, sich im Wust der

Lerntheorien und Gedächtnis-Modelle auszukennen und eine Richtli-

nie beim Gestalten eigener (digitalen) Lernmaterialien zu haben, an der

Sie sich orientieren und die Sie als Folie für ihre (Lehr-)Evaluationen

heranziehen können. Der Exkurs in die Lernpsychologie berücksichtigt

darüber hinaus auch eine der zentralen Thesen Meyers: „Erfolgreicher

Unterricht beachtet die bekannten Gesetzmäßigkeiten des Lernens.“

(Jank/Meyer 2014, S. 199)

Warum das so ist, erklärt Meyer anhand des Ranschburg-Phäno-

mens. Vielleicht sind Sie bereits mit Piagets Assimilation, Akkomodati-

on und Adaption in Berührung gekommen und fragen sich nun wieder,

worin genau sie sich unterscheiden. Wenn Sie sich unsicher sind, mag

das an der Ähnlichkeit der Konzepte (und der Alliteration der Begrif-

fe) liegen, die sie beschreiben. Doch nicht nur das: Sie werden in den

Lehrbüchern auch stets in kurzer zeitlicher Taktung abgehandelt, so-

dass die Verwechslungsgefahr noch größer wird. Meyer folgert: „Das

Beispiel der Ähnlichkeitshemmung [d. i. das Ranschburg-Phänomen]

macht deutlich, dass jeder, der lehrt, in seinem Unterricht psycholo-

gische Gesetzmäßigkeiten des Lernens berücksichtigen sollte, wenn er

nicht unerwünschte Effekte erzielen will.“ (Jank/Meyer 2014, S. 175)

eine Notwendig-

keit

Ranschburg-

Phänomen

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Lerneinheit: Psychologische Grundlagen

Möglicherweise haben Sie sich in einem anderen Zusammenhang auch

schon alle relevanten Inhalte der Lerneinheit angeeignet. Die folgende

Aufstellung soll Ihnen dabei helfen, einzuschätzen, ob und welche Ka-

pitel Sie überspringen können:

• Lernen

• Lernen als aktiver und passiver Vorgang

• Wissen und Können

• Lernen im Behaviorismus

• Lernen im Kognitivismus

• Lernen im Konstruktivismus

• Das Gedächtnis

• Das semantische Gedächtnis

• Konzepte

• Neurobiologische Sicht

• Strukturmodelle des Gedächtnisses

• Das Vorreitermodell von Attkinson/Shiffrin

• Das erweiterte Modell von Baddeley/Hitch

Wenn Sie sich noch unsicher sind, ob Sie diese Lerneinheit übersprin-

gen können, helfen Ihnen diese Fragen vielleicht weiter. Diese werden

Sie spätestens nach dem Durcharbeiten für sich beantworten können:

• Welches Lernmodell wählen Sie als generellen Kompass für Ihre

Lehre?

• Wie schnell erwarten Sie Lernerfolge, wenn Sie Studierenden nä-

herbringen wollen, wie ExpertInnen in Ihrem Fach arbeiten?

• Wie würden Sie eine Lerneinheit aufbereiten, in der ein grundle-

gendes Konzept aus Ihrem Fach vermittelt werden soll?

• Könnten Sie je eine Präsenzsitzung planen, die behavioristisch, ko-

gnitivistisch und konstruktivistisch geprägt ist?

überspringen oder

weiterlesen?

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Lerneinheit: Psychologische Grundlagen

Lernen

Sofern Sie keine pädagogische Grundausbildung haben, ist es durchaus

wahrscheinlich, dass Sie bis heute nie auf wissenschaftlichem Niveau

mit der Frage, was es heißt zu lernen, konfrontiert worden sind. Dies

soll nun nachgeholt werden. Eine einfache Antwort wird Ihnen diese

Lerneinheit jedoch nicht geben können. Eher noch wird sie Sie mögli-

cherweise verwirren, scheinen sich die hier präsentierten Modelle und

Theorien doch zu widersprechen.

Lernen als aktiver und passiver Vorgang

Passives LernenEines der populärsten Modelle des Lernens stellt der Nürnberger

Trichter dar, durch den „Inhalte“ ohne Umweg von „außen“ in den

Kopf des Lernenden gelangen können. Freilich müssen die Lerninhalte

zunächst durch eine Verengung, was auch mal zu einer Verstopfung

führen kann. Was aber im Kopf ist, ist bis auf Weiteres „gewusst“. Mus-

tergültig drückt dieses Modell das passive Verständnis von Lernen

aus: Inhalte werden in den Kopf des Lernenden transferiert. Lernen

heißt: Aufsaugen von Informationen. In dieser Tradition stehen die

Lerntheorien des Behaviorismus und zum Teil auch des Kognitivismus.

Einher geht diese Vorstellung des Lernens mit der Auffassung, Wissen

sei objektivierbar – jeder könne also genau dasselbe nach einer Lehr-

veranstaltung wissen. Siebert bezeichnet dies auch als objektivistisches

Transfermodell (Siebert 2005, S. 81).

Aktives LernenGanz anders sehen Konstruktivisten und Neurobiologen das Lernen.

Ihnen zufolge ist Lernen das Ergebnis aktiver Konstruktionsprozesse

im Gehirn. Lerninhalte gelangen nicht einfach „irgendwie“ in das Ge-

dächtnis: Texte, Bilder, Videos, Anschauungsobjekte werden mehr oder

viele Perspektiven

objektivistisches

Transfermodell

objektive Konstruk-

tionen

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Lerneinheit: Psychologische Grundlagen

weniger wahrgenommen und in Impulse umgewandelt – abhängig von

der aktuellen Stimmung, der Sozialisation und Vorerfahrungen (vgl.

Siebert 2005, S. 81f). Diese Impulse formen nach und nach das Netz

aus Neuronen, aus dem das Gehirn besteht. Das geschieht umso besser,

„je bunter und bewegter, je lustiger und spielähnlicher, je interaktiver

und leibhaftiger diese zu lernenden Inhalte dargeboten würden […]“

(Spitzer 2006, S. 2). Wissen, wie es im Nürnberger Trichter verstanden

wird, ist für Konstruktivisten träge und damit unbrauchbar.

Generell sind Erkenntnisse im Konstruktivismus subjektiver

Natur – mit allen Konsequenzen. Konstruktivisten sprechen daher

auch nicht von „Wissen“, sondern von „Viabilität“. Gemeint ist damit

die Brauchbarkeit von subjektiven Konstruktionen für das alltägliche

(Über-)Leben. Es gibt also offenbar zwei unversöhnliche Positionen be-

züglich des Lernens. Wie ist damit umzugehen?

Zu leicht würde man es sich wohl machen, sich gänzlich einer die-

ser Positionen zu verschreiben und die andere zu verwerfen. Es scheint

vielmehr so zu sein, dass sowohl aktiv als auch passiv gelernt wird, nur

eben je anderes auf je andere Weise. Wichtig für Sie ist, sich dieser zwei

Standpunkte bewusst zu sein, denn innerhalb dieses Spannungsfeldes

müssen Sie Ihre didaktischen Entscheidungen treffen. Der praktische

Nutzen dieser grundsätzlichen Positionen und der Modelle, die aus ih-

nen erwachsen, liegt vor allem in zwei Aspekten begründet:

• Sie stellen für Sie einen Kompass dar, nach dem Sie ihre didakti-

schen Überlegungen ausrichten können

• Sie dienen als Folie, auf der Sie Ihr didaktisches Handeln und Ihre

Entscheidungen nachträglich reflektieren können. Wie bedeutend

dieser Punkt tatsächlich ist, wird im psychologischen Modell voll-

ständigen Handelns nach Hacker deutlich (vgl. Lerneinheit „Didak-tische Theorie“).

subjektive Konst-

ruktionen

beides ist richtig,

beides ist falsch

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Lerneinheit: Psychologische Grundlagen

Wissen und Können

Könnten Sie Ihren Studierenden aus dem Stegreif detailliert näherbrin-

gen, wie Sie eine Forschungsfrage finden und entwickeln? Den meisten

Dozierenden fällt das in der Regel sehr schwer. David Pace bezeich-

net dieses fachspezifische Methodenwissen als „disciplinary unconsci-

ous“ (Pace 2017, S. 32ff.). In seinem Decoding-the-Disciplines-Ansatz

geht es vor allem darum, dem unbewussten Fachwissen auf die Spur zu

kommen, um es an die Studierenden weitergeben zu können (vgl. Ler-

neinheit „Decoding the Disciplines“). Es ist ein anstrengender und

mühevoller Ansatz, der nicht einfach innerhalb weniger Minuten allei-

nigen Grübelns zu Erfolgen führt. Deswegen wird im Rahmen dieser

Lerneinheit auch nicht erwartet, dass Sie auf obige Frage tatsächlich

eine Antwort finden.

Manfred Spitzer, dessen Vokabular hier auch verwendet wird,

spricht hier nicht von einem „unbewussten Methodenwissen“, sondern

in Abgrenzung zum „Wissen“ von „Können“.

KönnenWir können unsere Muttersprache sprechen, ein Instrument spielen,

verschiedene Sportarten ausüben. Aber in aller Regel wissen wir nicht,

welche grammatischen Regeln wir anwenden, wenn wir sprechen. Wir

wissen möglicherweise auch nicht, welche Handbewegungen wir kon-

kret ausführen, wenn wir Violine spielen (und das Instrument beherr-

schen). Wir können wohl auch nicht den exakten Bewegungsablauf

beim Joggen artikulieren. Sobald wir die Handlungen aber ausführen,

funktioniert es ganz ohne Nachdenken – vielleicht wäre das sogar eher

schädlich für die Durchführung. Dieses „Können“ hat sich nicht durch

„Pauken“ entwickelt, sondern durch wiederholtes Ausführen. Es han-

delt sich um prozedurales Wissen (vgl. Spitzer 2006, S. 60), das sich

über einen sehr langen Zeitraum bei häufigem Wiederholen nur lang-

sam aufbaut.

the disciplinary

unconscious

prozedurales

Wissen

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Lerneinheit: Psychologische Grundlagen

Spannend ist nun, dass Sie die Ausführungsregeln nicht lernen

müssen, um etwas zu können – das Regelhafte wird anhand der vielen

Beispiele vom Gehirn selbst erkannt. Damit es dies kann, braucht es

– wie gesagt – „Beispiele. Sehr viele Beispiele und wenn möglich die

richtigen und gute Beispiele.“ (Ebd., S. 78)

Sehr wahrscheinlich ist auch dies alles nicht neu für Sie: Letztlich

ist von Bedeutung, dass Sie sich den Unterschied zwischen „Wissen“

und „Können“ – dem „disciplinary unconscious“ – bewusst vor Augen

zu führen. Vielleicht haben Sie (unbewusste) Erwartungen an Ihre Stu-

dierenden, die immer wieder enttäuscht werden. Dann kann fehlendes

fachliches „Können“ der Studierenden eine Ursache dafür sein. Beson-

ders im Bereich des wissenschaftlichen Schreibens können nicht arti-

kulierte Ansprüche an die Qualität der Arbeiten für Frust sorgen. Auch

das Schreiben ist eine Tätigkeit, die – wie ein Instrument – in jahre-

langer Übung angeeignet und perfektioniert werden muss (vgl. Kellogg

2014).

Lernen aus der Sicht von lerntheoretischen Grundposi-tionen

Lernen findet irgendwo zwischen passiver Aufnahme von Informati-

onen und aktiver Konstruktion im Gedächtnis statt. Diese sehr grobe

Einteilung soll nun etwas ausdifferenziert werden.

Von den bedeutendsten lerntheoretischen Grundpositionen ha-

ben Sie sicher schon in der einen oder anderen Form gehört. Dazu sind

zu zählen

• der Behaviorismus

• der Kognitivismus

• und der Konstruktivismus.

Im Kontinuum „passives Lernen – aktives Lernen“ lassen sie sich rela-

tiv leicht einordnen – wo und warum jeweils genau wird im Folgenden

Aneignen ohne

„lernen“

wissenschaftliches

Schreiben

drei Grundpositio-

nen

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Lerneinheit: Psychologische Grundlagen

erörtert. An anderer Stelle werden die Positionen außerdem genauer

beleuchtet. Hier soll Ihnen zunächst Orientierungswissen angeboten

werden, durch das Sie Fachliteratur und weitere Modelle, die Ihnen

künftig vielleicht noch begegnen werden, besser einsortieren und deren

Grundhaltung einschätzen können.

Lernen im BehaviorismusSicher kennen Sie den pawlowschen Hund, dessen Speichelfluss beim

Läuten einer Glocke angeregt wird, weil sie für ihn eine unmittelbar

anstehende Fütterung ankündigt. Vielleicht sagt Ihnen auch die Skin-

ner-Box etwas: Ein Käfig, in der vornehmlich Ratten eigenständig ler-

nen, z. B. einen Hebel zu betätigen, um an Futter zu gelangen.

Die Ergebnisse der Versuche von Pawlow und Skinner – bekannt

als klassische Konditionierung und instrumentelle Konditionierung –

sind typisch für den Behaviorismus, in dem Lernen ausschließlich als

Änderung von Verhaltensweisen verstanden wird. Diese eingeschränk-

te Sicht ergibt sich aus der empirisch-analytischen Grundhaltung der

Behavioristen: Wissenschaftlich untersucht werden können lediglich

beobachtbare Phänomene; im Falle des Lernens ist das die Änderung

im Verhalten. „Zielorientierungen, Motivation und Denkprozesse spie-

len sich [dagegen] gewissermaßen in einer Black Box ab […]“ (Zander

et al. 2012, S. 18) und sind der wissenschaftlichen Erkenntnis nicht zu-

gänglich.

Wenn sich Lernen nur in beobachtbarem Verhalten zeigt, dann

müssen Lernziele operationalisiert formuliert werden: Sie können sich

nur sicher sein, dass Ihre Studierenden etwas gelernt haben, wenn Sie

ein sichtbares, konkretes Verhalten als Ziel beschreiben, das Ihre Stu-

dierenden nach Beenden der Lehrveranstaltung an den Tag legen kön-

nen. Das Auftreten oder Fehlen dieses Verhaltens bildet gleichzeitig die

Grundlage für die Leistungsbeurteilung.

pawlowscher

Hund

klassische und inst-

rumentelle Konditi-

onierung

operationalisierte

Lernziele

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Lerneinheit: Psychologische Grundlagen

Der Einfluss des Behaviorismus auf die Lehre zeigt sich vor allem

in der Forderung, Lernziele zu operationalisieren – und bei Vokabel-

trainer-Programmen. Ihr Aufbau entspricht in der Regel der skinner-

schen programmierten Instruktion (die auch in vielen anderen web-

basierten Lernprogrammen Anwendung findet). Der Lernfortschritt

erfolgt in vielen kleinen Schritten; stets begleitet von hochfrequentier-

ten, einfachen Übungsaufgaben. Richtige Antworten werden dabei so-

fort positiv verstärkt (ganz wie in der Skinner-Box), falsche Antworten

indes ignoriert, um negative Effekte zu vermeiden. Stattdessen wird

dieselbe Frage zu einem späteren Zeitpunkt erneut gestellt.

Behavioristen meinen, mit ihren Annahmen und Methoden sämt-

liches Lernen erklären zu können (vgl. Jank/Meyer 2014, S. 176). Kom-

plexeres Wissen würde sich im Gegensatz zum Lernen von Vokabeln

nur dadurch unterscheiden, dass viele Verhaltensweisen zu kompli-

zierteren Strukturen gekoppelt werden. Im Kern würde Lernen jedoch

stets gleich ablaufen.

Lernen im KognitivismusGerade mit Blick auf das universitäre Setting ist klar, dass die Auffas-

sung des Behaviorismus bezüglich des Lernens als Grundlage für di-

daktisches Handeln ungeeignet ist. Nicht um passives Aufnehmen und

„Abspulen von Informationen“ geht es, sondern um das aktive Arbeiten

mit und Schaffen von neuem Wissen. Gleichzeitig wird von Ihnen im

Rahmen der Bologna-Reform gefordert, operationalisierte Lernziele

für Ihre Veranstaltungen anzugeben und Ihre Studierenden auf die an-

gestrebten Verhaltensweisen hin zu prüfen. Vielleicht sehen Sie bereits

den nahenden Konflikt. Doch so viel vorab: Dieser Kurs wird ihn nicht

lösen können und Sie in einem paradoxen Spannungsfeld zurücklassen

müssen. Gerade dieser Umstand räumt Ihnen aber Freiheiten ein und

ermöglichen Ihnen, Ihre Lehrpersönlichkeit entfalten zu können.

Nachdem all das, was sich im Kopf des Lernenden abspielt, em-

pirisch nicht sicht- und belegbar ist, müssen sich Behavioristen auf das

Vokabeltrainer

umfassende

Erklärung?

Spannungsfeld

Behaviorismus –

Kognitivismus

Black Box der

Behavioristen

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wahrnehmbare Verhalten bei und nach Lernprozessen beschränken

und das Innerpsychische ausklammern. So gesehen wäre der Mensch

ein vollständig reaktives Wesen – es könnte niemals aus sich heraus

agieren und könnte immer nur das, wozu es von außen konditioniert

würde.

Glücklicherweise verhält sich der Mensch in der Regel anders. Er

hat Ziele, die er verfolgt; er kann kreativ und innovativ sein. Das alles

jedoch spielt sich im Gedächtnis – in der Black Box der Behavioristen –

ab. Besonders Kognitionspsychologen versuchen, die Vorgänge in dieser

Black Box zu identifizieren und zu beschreiben. Ergebnisse dieser Bemü-

hungen sind unter anderem die Mehrspeichermodelle des Gedächtnisses.

Im Kognitivismus lässt sich jedoch nicht die eine Position bestim-

men. Für eine gangbare Vereinfachung soll im Folgenden von zwei Cha-

rakteristika des Kognitivismus ausgegangen werden:

• So ist Wissen zum einen objektivierbar. Dieselbe Information kann

in verschiedene Köpfe auf die gleiche Weise transferiert werden (vgl.

Issing et al. 2012, S. 20).

• Informationen müssen jedoch, bevor sie gelernt wurden, im Gedächt-

nis verarbeitet werden. Hier setzen die Mehrspeichermodelle an. Sie

versuchen zu erklären, wie und auf welchem Weg aus einer Wahrneh-

mung von außen Wissen im „Langzeitspeicher“ wird.

Auch der Kognitivismus ist nicht frei von Problemen. Besonders laut ist

die Kritik aus dem Lager der Konstruktivisten und Neurobiologen. Prob-

lematisch ist demnach vor allem die Vorstellung, das Gedächtnis würde

aus verschiedenen Speichern bestehen: „Die drei Gedächtnisse, die Käs-

ten, gibt es im Kopf nicht. Sie sind nichts als handliche Abstraktionen

[…].“ (Spitzer 2006, S. 5) Vielmehr konnten neurologische Untersuchun-

gen zeigen, dass „[e]in bestimmter Inhalt nicht von einem Kasten zum

nächsten weitergereicht (dieses Bild ist vollkommen falsch!), sondern im

Kopf verarbeitet, von verschiedenen Arealen des Gehirns zugleich und

interaktiv verarbeitet [wird] […]“ (ebd., S. 6).

Blick in die Black

Box

Facetten des

Kognitivismus

Kritik

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Lerneinheit: Psychologische Grundlagen

Konstruktivisten hingegen geben zu bedenken – auf Berufung der

Erkenntnisse aus der Neurobiologie – dass Information nicht verarbeitet,

sondern allererst im Gehirn konstruiert werden müssen. Damit ist jedes

Wissen potenziell rein subjektiver Art – abhängig davon, wie jedes ein-

zelne Gehirn Wahrnehmungen umwandelt und in das bestehende Wis-

sensnetz integriert.

Lernen im Konstruktivismus

Beim Kontruktivismus handelt es sich streng genommen nicht um eine

lerntheoretische Position, sondern um eine erkenntnistheoretische

Sichtweise, die einen Paradigmenwechsel in vielen Fachbereichen aus-

gelöst hat. Konstruktivistische Didaktiken versuchen, diese epistemo-

logischen Erkenntnisse in die (Hochschul-)Lehre zu übersetzen.

Für das angestrebte Überblickswissen reicht zunächst, das gene-

relle Verständnis von Lernen im Konstruktivismus zu beleuchten. Die-

ses ist maßgeblich geprägt von den Erkenntnissen aus der Neurobio-

logie, nach denen Wahrnehmungen nicht nur gefiltert, sondern auch

kodiert – in Form von Impulsen – im Gedächtnis verarbeitet werden.

Die Verarbeitung ist zusätzlich bedingt durch das persönliche Vorwis-

sen. Neue Informationen müssen in vorhandene Strukturen eingearbei-

tet werden, wie auch Siebert für den Bereich der Erwachsenenbildung

konstatiert: „Das Lernen Erwachsener ist selten ein völliges Neulernen,

sondern meist ein ‚Anschlusslernen‘ […].“ (Siebert 2005, S. 64)

Wissen kann – so verstanden – also nicht einfach passiv aufge-

nommen werden. Es sind aktive Konstruktionsprozesse im Gedächtnis

nötig, um die eingehenden Impulse zu verarbeiten und Neuronen mit

Wahrnehmungen zu „matchen“. Das wiederum macht Wissen subjek-

tiv: Welche Information wie aufgenommen und verarbeitet wird, lässt

sich vom Lehrenden praktisch nicht vorhersagen.

Wenn Informationen nicht ohne weiteres von einer Person zur

nächsten weitergegeben werden können und jedes Wissen letztlich nur

Vielschichtigkeit

Neurobilologie

subjektive Konst-

ruktionsprozesse

institutionalisierte

Lehre?

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subjektiv sein kann und aktiv konstruiert werden muss, sollte das ei-

gentlich erhebliche Konsequenzen für die Lehre haben: Das traditionel-

le Lehren müsste sich verbieten, Lernende könnten Lerngegenstände

(was wären überhaupt Lerngegenstände für jeden Einzelnen?) nur per-

sönlich aktiv erarbeiten, Prüfungen würden hinfällig werden – oder das

einzige Kriterium müsste die subjektive Viabilität sein. Institutionali-

siertes Lehren und Lernen wäre schlicht nicht mehr halt- und sinnvoll

durchführbar. Und dennoch: „Trotz aller Unterschiede im Lernprozess

führt [traditionelle] Lehre im Großen und Ganzen zu den gewünschten

Ergebnissen […].“ (Tiberius 2011, S. 151)

Die Ideen des Konstruktivismus sind radikal – man möchte von

einem Paradigmenwechsel sprechen. Die Folgen für die Lehre sind aber

praktisch nicht spürbar. Je konsequenter der Konstruktivismus in der

Didaktik verfolgt wird, desto unbrauchbarer wird er. Gleichzeitig gilt:

Je gemäßigter man ihn umzusetzen versucht, desto gesichtsloser und

ununterscheidbarer zu anderen didaktischen Modellen wird er. Dies ist

dann auch der eigentliche Kritikpunkt, den Meyer gegen diese Grund-

position anbringt (vgl. Jank/Meyer 2014, S. 141).

Zwischenfazit

Sie haben drei verschiedene Positionen zum Lernen kennengelernt, die

sich scheinbar nicht in Einklang bringen lassen wollen. Doch wie kön-

nen und sollen Sie nun damit umgehen?

In vielerlei Hinsicht geht es in diesem Seminar darum, Span-

nungsfelder aufzuzeigen und Räume zu definieren, innerhalb derer

Sie sich als Dozierende schon immer bewegt haben und aus denen Sie

auch gar nicht heraus kommen. Sobald Sie sich in diesen „Feldern“ und

„Räumen“ orientieren können, dienen Ihnen die – zugegebenermaßen

noch sehr theoretischen – „Ränder“ als Kompass: Wollen Sie im Rah-

men einer Einführungsveranstaltung Faktenwissen vermitteln, hilft

Ihnen eine behavioristische Sicht auf das Lernen vielleicht mehr als in

gemäßigte Reali-

sation

Kompassfunktion

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Lerneinheit: Psychologische Grundlagen

einer Lehrveranstaltung eines Masterstudienganges, in der Studieren-

de erste eigene Forschungsversuche unternehmen sollen.

Wie Sie auf der didaktischen Landkarte nach Jank und Meyer

(2014) sehen können, implizieren die verschiedenen Lernpositionen

jeweils andere Lehr-Lern-Formen, die sich besonders eignen. Das Ver-

ständnis von Lernen hat also nicht unerhebliche Auswirkungen auf alle

anderen didaktischen Überlegungen.

Das (Langzeit-)Gedächtnis

Im Folgenden werden vorrangig die kognitivistischen Mehrspeicher-

modelle des Gedächtnisses behandelt. Sie sind nicht frei von Proble-

men, werden in der (E-Learning-)Literatur aber gehäuft herangezogen,

um Gestaltungsrichtlinien für die digitale Aufbereitung von Lernmate-

rial zu begründen. „Gedächtnis“ meint – im Hinblick auf die Mehrspei-

chermodelle des Gedächtnisses – im Folgenden stets das Langzeitge-

dächtnis. Diese Anmerkung ist wichtig, damit Sie die Informationen,

die Sie hier erhalten, in die Modelle einordnen können.

Die Mehrspeichermodelle gehen von einer strukturellen Auftei-

lung des Gedächtnisses aus. Es besteht – grob gesagt – aus:

kognitivistische

Sicht

Mehrspeichermo-

delle

Dialektische Wissenschaften Hermeneutische Wissenschaften Konstruktivistische Wissenschaften Empirisch-analytische Wissenschaften

Hegel

Marx

Dialektischer Materialismus

(Marx, Engels, Lukács)

Kritische Theorie der Gesellschaft

(= Frankfurter Schule der Soziologie)

(Adorno, Horkheimer, Benjamin)

Theorie kommunika-tiven Handelns

(Habermas)

Handlungsorientier-ter/offener/erfahrungs-bezogener/schülerori-

entierter Unterricht(Jank/Meyer)

KantSchleier-macher

Geisteswissenschaften(Dilthey,Nohl)

Kritisch-konstrukti-ve Erziehungswis-senschaft (1980)

(Klafki)

Kritisch-konst-ruktive Didaktik

(Klafki)

Entwicklung als Konstruktionspro-

zess(Piaget)

Systemtheorie(Bateson/Watzla-wick, Luhmann)

Radikaler Konstruktivismus(von Foerster, von Glasersfeld, Maturana)

gemäßigter Konst-ruktivismus

Didaktik nach Horst

Siebert

Didaktik nach

Kersten Reich

Berliner Modell (Heimann, Schulz, Otto)

Ham-burger Modell

Comte

Positivismus

Behaviorismus

Kritischer Rationalis-mus

(Popper)

lernzielorien-tierte

Didaktik ProgrammierteInstruktion

Didaktische Landkarte nach Jank/Meyer 2014

Abbildung 1: Didaktische Landkarte

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• einem sensorischen Gedächtnis

• einem Kurzzeitgedächtnis

• und einem Langzeitgedächtnis.

Letzteres wird weiterhin nach der Art des gespeicherten Wissens unter-

schieden. Darunter fallen:

• das semantische Gedächtnis, das Faktenwissen und Konzepte spei-

chert

• das biographische Erlebnisse enthaltende episodische Gedächtnis

• das prozedurale Gedächtnis.

Das semantische Gedächtnis

Im Normalfall werden Sie im Rahmen Ihrer Lehrveranstaltungen „In-

halte“ vermitteln, die im semantischen Gedächtnis der Studierenden

abgespeichert werden sollen: Regeln, Gesetze, Konzepte, Fakten oder

Formeln gehören dazu. Die meisten Informationen liegen dort jedoch

nicht isoliert vor, sondern sind gebündelt zu chunks bzw. Konzepten.

Wie detailliert ein Konzept im semantischen Gedächtnis repräsentiert

ist, hängt dabei im Wesentlichen vom Expertenlevel des Lernenden ab:

Eine Literaturwissenschaftlerin mag ein sehr viel beschränkteres Kon-

zept von „Steinen“ als ein Geologe haben, dafür ein erheblich größeres

von „Poesie“.

Konzepte werden in den Mehrspeichermodellen herangezogen,

um das Behalten von mehr als sieben Informationseinheiten im Kurz-

zeitspeicher – der Auslastungsgrenze des Kurzzeitgedächtnisses – zu

erklären. Nicht nur deswegen soll die Konzeptbildung nun noch etwas

genauer vorgestellt werden: „Die Gesamtheit aller Konzepte und der

zwischen ihnen bestehenden Assoziationen bilden [nämlich] die Struk-

tur des semantischen Gedächtnisses, gewissermaßen die Struktur un-

seres Wissens.“ (Hoffmann/Engelkamp 2013, S. 79)

chunks / Konzepte

sieben chunks

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Lerneinheit: Psychologische Grundlagen

Konzepte

Hoffmann und Engelkamp beschreiben Konzepte als Zusammenfas-

sungen von einander ähnlichen Objekten (vgl. Hoffmann/Engelkamp

2013, S. 80). Ein möglicher Grund für das Subsumieren in Kategorien

liegt in der funktionalen Äquivalenz: Gegenstände werden im Gedächt-

nis unter demselben Konzept gespeichert, weil ihre Verwendung in der

gleichen Situation zu demselben Ergebnis führt: Unter „Datenbank“

wird demnach alles gespeichert, was eine Suchmaske hat und entspre-

chende Ergebnisse liefern kann. Erst mit wachsendem Expertenwissen

wird das Konzept „Datenbank“ diffiziler, sodass Datenbanken auch

hinsichtlich ihrer Architekturen unterschieden werden können (und

diese die möglichen Suchergebnisse stark beeinflussen!). So entstehen

ganze Konzept-Taxonomien.

Nun gibt es nicht nur wiederkehrende und sich ähnelnde Objekte,

die zusammengefasst werden können. Abhängig vom Kulturkreis wer-

den auch Konzepte von räumlichen Strukturen und zeitlichen Abfolgen

von Handlungen gebildet: Erstere werden frames genannt (sicher wer-

den Sie nicht lange brauchen, um einen Hörsaal zu erkennen), letztere

Skripte. Der Gang in die Mensa kann ein solches Skript sein: Sie treffen

sich zur immer gleichen Zeit mit Ihren KollegInnen, stehen an der Aus-

gabe, gehen an die Kasse, wechseln vielleicht ein paar kurze Worte mit

der Servicekraft und tragen das Tablett nach dem Essen zur Rückga-

bestation. Nicht nur Sie werden diesen Ablauf haben, sondern alle, die

Ihre Mittagspause in der Mensa verbringen. Skripte und frames wer-

den daher von praktisch allen Mitgliedern einer (Sub-)Kultur geteilt.

Besonders in der Kommunikation mit anderen sind Skripte und frames

bedeutend, denn „[o]hne diese Fähigkeit, nicht geteilte Informationen

aus dem Gedächtnis zu ergänzen oder auch ungeordnete Meinungen

skripttypisch zu ordnen, würden wir in normalen Unterhaltungen ver-

mutlich ständig nachfragen müssen.“ (Hoffmann/Engelkamp 2013, S.

100)

funktionale

Äquivalenz

frames und Skripte

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Lerneinheit: Psychologische Grundlagen

Neurobiologische Sicht auf Konzepte

Zwar ist nun klar, wofür Konzepte stehen können – räumliche Anord-

nungen, Objektklassen, Handlungsabfolgen – doch ist noch nichts dar-

über gesagt, wie genau Konzepte im Gedächtnis repräsentiert sind. Ein

Blick in das Gehirn, wie es die Neurobiologie ermöglicht, kann diesbe-

züglich Aufschluss geben:

Wesentlich für die Bildung von Konzepten sind demnach die Mil-

liarden von Neuronen im Gehirn. Sie können verstanden werden als

Platzhalter für Dinge in der Welt: „Wird ein Neuron durch einen Input

aktiviert, so repräsentiert es diesen Input.“ (Spitzer 2006, S. 49) Im

Prinzip steht so ein Neuron beispielsweise für genau ein Wort. Wird

dieses Wort gelesen und erkannt, ist das entsprechende „Wort-Neu-

ron“ aktiv. Bei Konzepten feuert hingegen eine ganze Reihe von Neu-

ronen. Je detaillierter dabei das Konzept, desto mehr Neuronen sind

eingebunden.

Konzepte entstehen auch, ohne dass sie erst in einer institutionel-

len Einrichtung gelernt werden müssten, denn „Gehirne sind Regelex-

traktionsmaschinen. Sie können gar nicht anders.“ (Ebd., S. 75) Es ist

die Eigenart des Gehirns, anhand vieler Beispiele das „Konzeptuelle“ zu

extrahieren und in neuronalen Verbindungen zu speichern, statt sich

jedes einzelne Exemplar zu merken.

Zugriffe auf das semantische Gedächtnis

Es klingt zunächst banal: Da Wörter in der Regel arbiträr sind, Sachen

und Sachverhalte also mit willkürlichen Bezeichnungen versehen sind,

sind sie nicht zwingend neuronal mit den Konzepten verbunden. Zwar

erkennt wohl jeder Tablettenverpackungen, wenn er sie sieht – dass

die Verpackungsart jedoch „Blister“ heißt, ist vielleicht nicht jedem ge-

läufig. Wort- und Bildmarken müssen also erst aktiv im Gedächtnis zu-

sammengebracht werden; die Vokabeln müssen erst gelernt sein, bevor

Neuronen

Regelextraktion

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die dazu gehörigen Konzepte zusätzlich aktiviert werden können. Doch

selbst dann können Wörter manchmal „abhandenkommen“: „Wir ken-

nen vermutlich alle den Zustand, in dem wir eine klare anschauliche

Vorstellung von einem Objekt oder einer Person haben, uns sein Name

aber partout nicht einfallen will.“ (Hoffmann/Engelkamp 2013, S. 102)

Hoffmann und Engelkamp schließen daraus einen generellen Behal-

tensunterschied zwischen sprachlichen und bildhaften Informationen.

Strukturmodelle des Gedächtnisses

In diesem Kapitel sollen im Schnelldurchlauf zunächst zwei wesentli-

che Mehrspeicher- bzw. Strukturmodelle des Gedächtnisses vorgestellt

werden. Diese sind wichtig, um die in der E-Learning-Literatur immer

wiederkehrenden Gestaltungsrichtlinien verstehen zu können. Die

meisten von ihnen fußen nämlich auf die Vorstellung des Gedächtnis-

ses als Mehrspeichersystem.

Für Ihre persönliche Einschätzung, ob und inwieweit Sie dieses Kapitel

bearbeiten müssen, hier wieder zwei Fragen:

• Aus welchen „Speichern“ besteht das Gedächtnis?

• Wie erklären Mehrspeichermodelle das Zustandekommen kogniti-

ver Überlastung?

Das Vorreitermodell von Atkinson/Shiffrin

Dieses einfach gehaltene Modell geht davon aus, dass sich das Gedächt-

nis aus drei Teilen zusammensetzt:

• das sensorische Register: Es filtert aus dem ständigen Strom der

Wahrnehmungen die relevanten Informationen heraus. Was nicht

überspringen oder

weiterlesen?

sensorisches

Register

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Lerneinheit: Psychologische Grundlagen

im Fokus der Aufmerksamkeit ist, wird binnen Zehntelsekunden

wieder vergessen

• der Kurzzeitspeicher bzw. das Kurzzeitgedächtnis: In ihm werden

Informationen aus dem sensorischen Register und das Wissen aus

dem Langzeitgedächtnis verglichen und verarbeitet. Auch dieser

Speicher hat nur eine relativ kurze Behaltensdauer, sodass Inhalte

stetig wiederholt werden müssen, sollen sie nicht vergessen werden.

Das „Volumen“ dieses Speichers wird als sehr begrenzt postuliert –

in der Literatur findet man Angaben zwischen fünf und neun In-

formationseinheiten. Was hierzu jedoch angemerkt werden muss:

„Die Kapazitätsbegrenzung auf ca. sieben Reize tritt [nur] auf, wenn

sinnarmes verbales material benutzt wird wie Silben“ (Hoffmann/

Engelkamp 2013, S. 120) – was bei sehr vielen Versuchen zum Ge-

dächtnis der Fall ist.

• der Langzeitspeicher: Er entspricht dem Langzeitgedächtnis, wie es

oben besprochen wurde.

Kurzzeitspeicher

Langzeitspeicher

Sensorische Register

Kurzzeit- gedächtnis

Langzeit-gedächtnis

Abbildung 2: Mehrspeichermodell nach Atkinson und Shiffrin

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Lerneinheit: Psychologische Grundlagen

Das erweiterte Modell von Baddeley/Hitch

Das simple Modell von Atkinson/Shiffrin wurde von Baddeley/Hitch

weiter ausdifferenziert. Die Beschäftigung mit diesem ausgebauten Mo-

dell ist notwendig, weil es die Grundlage für die Cognitive Load Theory

of Multimedia Learning darstellt, von der wiederum viele Handrei-

chungen für die Erstellung von (E-Learning-)Lernmaterial abgeleitet

werden.

In Grundzügen bleibt die Dreiteilung des Gedächtnisses im er-

weiterten Strukturmodell erhalten. Demnach geht das Modell von Bad-

deley/Hitch von folgenden Bestandteilen des Gedächtnisses aus:

• dem sensorischen Register

• dem Arbeits- statt eines Kurzzeitgedächtnisses

• dem Langzeitgedächtnis.

Das Verdienst von Baddeley/Hitch liegt in der näheren Beschreibung

des Arbeitsgedächtnisses. Dieses ist ebenfalls dreigeteilt und besteht in

seiner ursprünglichen Form aus:

• einem räumlich-visuellen Notizblock (engl: visuospatial sketch-

pad): In ihm sollen räumliche Informationen verarbeitet werden.

Kritisch anzumerken ist jedoch, dass er „unzulänglich beschrieben

ist und eine eindeutige Messmethode fehlt“ (Hoffmann/Engelkamp

2013, S. 126).

• einer akustischen Schleife (engl.: phonological loop): Sie entspricht

im Wesentlichen dem Kurzzeitgedächtnis nach Atkinson/Shiffrin.

Die Behaltensdauer liegt nun aber lediglich bei zwei Sekunden, so-

fern die Information danach nicht wiederholt wird. Auch gelesene

Wörter werden in der akustischen Schleife bearbeitet. Hoffmann

und Engelkamp sprechen diesem Teil des Arbeitsgedächtnisses

jedoch nur eine sehr begrenzte Bedeutung zu: „Eine intakte pho-

nologische Schleife ist die Voraussetzung für den Erwerb neuer

Lautgestalten. Der Erwerb einer neuen Verbindung zwischen zwei

bekannten Wörtern erfolgt [jedoch] über andere, nichtphonologi-

Grundlage für

E-Learning-

Literatur

Dreiteilung des

Gedächtnisses

Dreiteilung des

Kurzzeitspeichers

räumlich-visueller

Notizblock

aktustische

Schleife

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sche Prozesse.“ (Ebd., S. 123) Die Hauptfunktion scheint also allein

im Lauterwerb (im Kindesalter) zu liegen.

• einer zentralen Exekutive: Hier laufen die Informationen aus dem

sensorischen Register, dem Langzeitgedächtnis und den beiden an-

deren Teilen des Arbeitsgedächtnisses zusammen und werden ver-

arbeitet.

In vielen Lehrbüchern werden diese Mehrspeichermodelle vorgestellt

und als Begründung für die Designempfehlungen von E-Learning-Ange-

boten herangezogen . Zwar ist ihr Aufbau jeweils eingängig und einpräg-

sam, sie sind jedoch simplifizierend und auch nicht unproblematisch.

Zum einen mögen sie einen falschen Eindruck von der Struktur des

Gedächtnisses vermitteln. Die Modelle wurden von Psychologen entwi-

ckelt, die – anders als Neurobiologen – ihren Blick nicht direkt auf das

Gehirn richten. So gibt der Neurologe Manfred Spitzer zu bedenken:

„Die drei Gedächtnisse, die Kästen, gibt es im Kopf nicht. Sie sind nichts

anderes als handliche Abstraktionen […].“ (Spitzer 2006, S. 5) Die kor-

respondierende Sicht auf das Gedächtnis haben wir in bereits im zweiten

Kapitel betrachtet.

zentrale Exekutive

Kritik

Phono-logische-schleife

Räumlich-visueller

Notizblock Zentrale

Exekutive

Abbildung 3: Mehrspeichermodell nach Baddeley und Hitch

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Hoffmann und Engelkamp wiederrum bemängeln, dass die be-

sprochenen Mehrspeichermodelle das episodische Gedächtnis unbe-

rücksichtigt lassen: „Es wird [in Lehrbüchern] nicht diskutiert, dass der

klassische Kurzzeitspeicher und die phonologische Schleife von Bad-

deley das Kurzzeitgedächtnis auf den Spezialfall des Nachsprechens

von kurzen Listen sinnarmer verbaler Reize reduzieren und dass dies

keine Leistung des episodischen Gedächtnisses ist.“ (Hoffmann/Engel-

kamp 2013, S. 131) Und weiter: „Der Beitrag der PL [phonological loop]

ist wichtig. Er zeigt aber zugleich, dass der PL ein spezifischer Speicher

ist und kein Speicher für episodische Informationen.“ (Ebd., S. 124)

Wenn Sie die Fragen zum Einstieg nicht auf Anhieb beantworten konn-

ten, dann sicher nun:

• Welches Lernmodell wählen Sie als generellen Kompass für Ihre

Lehre?

• Wie schnell erwarten Sie Lernerfolge, wenn Sie Studierenden nä-

herbringen wollen, wie ExpertInnen in Ihrem Fach arbeiten?

• Wie würden Sie eine Lerneinheit aufbereiten, in der ein grundle-

gendes Konzept aus Ihrem Fach vermittelt werden soll?

• Könnten Sie je eine Präsenzsitzung planen, behavioristisch, kogniti-

vistisch und konstruktivistisch geprägt ist?

Wir werden in der Präsenzphase mit dem Mehrspeichermodell von

Baddeley und Hitch aktiv weiterarbeiten. Stellen Sie also bitte sicher,

dass Sie sich mit diesem Modell intensiver auseinandergesetzt haben.

Aufgabe

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Literatur

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Kellogg, Ronald. 2014. „Schreibkompetenz schulen. Eine Perspektive der kognitiven Ent-

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ben. Grundlagentexte zur Theorie, Didaktik und Beratung, Opladen; Toronto: Bar-

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Peterßen, Wilhelm. 2001. Lehrbuch Allgemeine Didaktik. München: Oldenbourg.

Siebert, Horst. 2005. Pädagogischer Konstruktivismus. Lernzentrierte Pädagogik in Schule

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Spitzer, Manfred. 2006. Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Berlin;

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Springer.

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Rostock: Universität Rostock.