60REISEN UNTERWEGS VONANNETTE PROSINGER Ganz ohne … · mit 21 Seegräsern und 15 bis 20 Tagen...

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Fragt man einen x-beliebigen Insula- ner nach seinen Vorfahren, dann hört man oft eine Geschichte von visionä- ren Unternehmern, die nach Austra- lien oder Amerika ausgewandert und mit frischem Geld und neuen Ideen nach Salina zurückgekehrt sind. Von wohlhabenden Malvasia-Weinhänd- lern oder wenigstens von Bauern, die neben Trauben und Mandeln auch die wertvollen Kapern angebaut haben. Und die dank ihres Reichtums ein paar prächtige Paläste in die Hänge über der Küste stellen konnten. VON PATRICIA ENGELHORN „Unsere Insel war eben immer be- sonders“, sagt der auf Salina geborene Künstler Pippo Cafarella. Ein Vulkan reichte nicht, es mussten zwei sein. Beide sind zwar längst erloschen, doch ihr schwarzes, senfgelbes oder leuch- tend rotes Gestein prägt die spektaku- läre Landschaft. Besonders ist auch, dass das 2500-Menschen-Eiland Salina sich selbst regiert, im Gegensatz zu den anderen Äolischen Inseln – die Filmdiva Stromboli zählt dazu, aber auch Panarea, Vulcano sowie die Fel- senflecken Alicudi und Filicudi, die von der Hauptinsel Lipari aus verwal- tet werden. Salina zählt drei eigen- ständige Kommunen, die jeweils über einen Hafen, einen Stadtrat und einen eigenen Bürgermeister verfügen. Der nördlich von Sizilien im Mittel- meer liegende Archipel zählt seit 20 Jahren zum Unesco-Weltnaturerbe und ist bis weit in den Herbst hinein ein lohnendes Urlaubsziel. Gebadet wird noch im November, Wanderer klettern auf erloschene und nicht erlo- schene Vulkane oder spazieren zwi- schen Weinbergen und Kapernfeldern. Jede der sieben bewohnten Inseln ist auf ihre Art einmalig, doch Salina gilt unter Kennern als die schönste und speziellste von allen. Die Einheimischen behielten das lange für sich. Sie wollten verhindern, dass Salina so glamourös wie Panarea oder so berühmt wie Stromboli wird. Die Schaffung touristischer Infra- struktur wurde bewusst vernachläs- sigt, nur wenige Hotels boten wenige Zimmer, wer Urlaub auf Salina machen wollte, brauchte ein eigenes Haus. Dann kam Regisseur Michael Radford und drehte 1994 „Il Postino“ („Der Postmann“). Die Freundschafts- geschichte zwischen dem Dichter Pablo Neruda und seinem Postboten rührte viele Kinozuschauer zu Tränen und machte sie neugierig: Wo befindet sich das Dörfchen Pollara, durch das der Postbote radelt? Wo ist die einsame Bucht zu finden, an der Neruda spazie- ren geht? Und wo steht das rosafarbene Haus des Dichters? Auf alle drei Fragen lautet die Antwort: auf Salina. SOGAR DER FERRARI-CHEF BLITZTE HIER AB Mit dem Film wurde die Insel populär. Pippo Cafarella, dem das malerische Filmhaus gehört, hätte seinen Besitz mehrfach verkaufen können: Schau- spieler, Industrie-Kapitäne, öffentliche Ämter und sogar das belgische Königs- paar interessierten sich dafür. Doch er denkt nicht daran, auf sein Haus mit verwildertem Garten zu verzichten. „No“, sagte auch Patrizia Lopes, als der ehemalige Ferrari-Chef Luca di Montezemolo vier Millionen Euro für ihre verwitterte Villa über dem Hafen von Rinella bot. „Villa L’Ariana war das Ferienhaus meiner Großeltern, ich le- be hier, weshalb sollte ich verkaufen?“ Lieber vermietet sie einige Zimmer des pfirsichfarbenen Anwesens mit seinen Terrassen und dem auffälligen Büsten-Spalier auf dem Dach an Urlau- ber: „Manche Gäste kommen seit 30 Jahren, soll ich sie vor die Tür setzen?“ Und überhaupt: „Was will Signor di Montezemolo in Rinella?“ Tatsächlich bietet der Ort nicht ge- rade viel: einen kleinen Supermarkt, EINE wie keine Schroffe Küsten, verwunschene Dörfer, erloschene Vulkane: Salina ist die spannendste der Äolischen Inseln. Und weil die Bewohner so eigensinnig sind, gibt es bis heute keinen Massentourismus F WIE KOMMT MAN HIN? Flug nach Catania oder Palermo, zum Beispiel mit Lufthansa oder Easyjet. Die meisten Fährverbindun- gen nach Salina und zu den anderen Äolischen Inseln gibt es vom Hafen von Milazzo aus, etwa mit Liberty Lines (libertylines.it/en/) oder Sire- mar (carontetourist.it/en/siremar), Tickets ab 20 Euro (one way). WO WOHNT MAN GUT? „Hotel Mercanti di Mare“, neun im hübschen Inselstil eingerichtete Zimmer, zum Teil mit Blick auf die Uferpromenade von Santa Marina, DZ ab 100 Euro, hotelmercantidi- mare.it. „Hotel Signum“, charman- tes 30-Zimmer-Hotel in Malfa, das sich auf mehrere renovierte Insel- häuser in einer Gartenlandschaft verteilt, Restaurant mit Michelin- Stern, DZ ab 200 Euro, hotelsig- num.it. „I Cinque Balconi“, zehn Zim- mer mit Holzbalkendecken, antiken Bodenfliesen und Familien-Antiqui- täten in zwei historischen Kauf- mannshäusern in Santa Marina, DZ ab 80 Euro, icinquebalconi.it. Das „Capofaro“ ist ein zauberhaftes Relais&Châteaux-Resort in einem Weinberg mit Meerblick, 27 minima- listisch-elegante Zimmer, groß- zügiger Pool, Gourmet-Restaurant, DZ ab 260 Euro, capofaro.it (erst wieder ab 2021). WEITERE INFOS salinaturismo.it, visitsicily.info/en/salina/ Tipps und Informationen WELT AM SONNTAG NR. 36 6. SEPTEMBER 2020 60 REISEN Wohin nur, wenn die Liste der Coro- na-Risikogebiete immer länger wird? Immer mehr geliebte Orte fallen aus. Also muss man es mal mit der ande- ren Dimension probieren: mit der Zeit. Historische Touren sind in dieser Saison überaus beliebt, ob man nun mit Fontane die Mark Bran- denburg durchquert, die Allgäuer Barockroute abradelt oder Babylon in Berlin sucht. Eine Zeitreise anderer Art schlägt ein nun erschie- nenes Buch vor. In „Streifzüge durch die Nacht“ (Malik, 272 Seiten, 20 Eu- ro) erkundet Dirk Liesemer die dunkle Seite von Deutschland, Ös- terreich und der Schweiz. Er ist aus- schließlich nach Sonnenuntergang unterwegs, mal allein, mal in fach- kundiger Begleitung von Jägern, Astrophysikern, Spinnenkundlern, Glühwürmchenjägern, Naturfoto- grafen und – ja, das gibt es – einer Nachtmalerin. Immer auf der Suche nach den Geheimnissen, die die Nacht nur dem offenbart, der sich ihr ohne Licht nähert. Dunkelheit, so lernt der Leser schnell, hat sehr verschiedene Far- ben – und manchmal lustige Namen. Die erste Phase etwa, in der man noch eine Zeitung lesen kann, heißt bürgerliche Dämmerung. Und um nachts gut zu sehen, muss man vor allem Geduld mitbringen. Das menschliche Auge braucht eine halbe Stunde, um sich auf die Dämmerung einzustellen. Sternenlicht leuchtet einige Millionen Mal weniger als Sonnenlicht. Und selbst der Voll- mond hat nur ein Viertel Lux, zum Wandern reicht das, aber für den Straßenverkehr braucht es fünf Lux. Das sind 20 Vollmonde. Und ein Halbmond leuchtet nur ein Viertel so hell wie ein Vollmond – mit tages- heller arithmetischer Logik blickt man nachts eben noch lange nicht durch. Dafür lernt der Wanderer in der Dunkelheit erstaunliche Phäno- mene kennen: leuchtende Nacht- wolken, Positivblitze, die vom Boden in die Höhe schießen, er erfährt, wie man den Nordstern findet, was ein Iridiumflash ist und dass nachts keineswegs alle Wälder gleich finster sind; die dunkelsten Schatten werfen die Buchen. Nachts zu wandern ist anstren- gender als tagsüber. Aber ergiebiger. Liesemer vergleicht es mit einer Schwarz-Weiß-Fotografie, „man ach- tet nachts mehr auf Formen, Struk- turen und Linien“. Und einer seiner Begleiter gesteht: „Ich fühle mich umweht, als wäre ich von einem dunklen Tuch umgeben.“ Klar, ange- nehm ist das nicht immer. Zu der An- strengung der Nacht gehört es eben auch, die Energie aufzubringen, sich den Fährnissen der Dunkelheit zu stellen. Energie und Mut. Selbst wer viel nachts umherstreift, so erfährt Liesemer am eigenen Leib, findet immer wieder gute Gründe, sich im Dunkeln zu gruseln. Die Angst ver- lässt einen nie. Kein Zufall auch, dass alle Leute, mit denen er nachts umherstreifte, sich in der Dunkelheit an ihre Kind- heit erinnern. Und was, fragt sich der Autor, „ginge wohl verloren, wenn man als Kind den Nachthim- mel nicht mehr erleben könnte“? Die Lichtverschmutzung nimmt stetig zu, Orte, an denen es wirklich stock- finster ist, muss man in Europa su- chen. Wir erhellen unsere Städte und knipsen damit die Milchstraße aus. Im Lubmin auf Rügen erlebt Liesemer, wie menschengemachte nächtliche Helligkeit die Sehnsucht nach Dunkelheit wachsen lässt: Da verhängen die Einwohner ihre Fens- ter mit dicken Decken – weil das grelle Licht der Straßenlaternen sie sonst nicht schlafen ließe. Die Idee, dass Laternen sich ausschalten las- sen, kommt offenbar keinem mehr. Ganz ohne Taschenlampe VON ANNETTE PROSINGER UNTERWEGS Bei einer Zeitreise in die Nacht merkt man: Die Dunkelheit hat viele Farben DIRK LIESEMER Die Cervellera- Schwestern betreiben in Santa Maria ein Hotel – und denken nicht daran, es zu verkaufen GETTY IMAGES/ ANTONIO BUSIELLO; PATRICIA ENGELHORN

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Page 1: 60REISEN UNTERWEGS VONANNETTE PROSINGER Ganz ohne … · mit 21 Seegräsern und 15 bis 20 Tagen Arbeitsdauer. Für ihn wird qualitativ besseres Schilf verwendet, was den Hut leichter

Fragt man einen x-beliebigen Insula-ner nach seinen Vorfahren, dann hörtman oft eine Geschichte von visionä-ren Unternehmern, die nach Austra-lien oder Amerika ausgewandert undmit frischem Geld und neuen Ideennach Salina zurückgekehrt sind. Vonwohlhabenden Malvasia-Weinhänd-lern oder wenigstens von Bauern, dieneben Trauben und Mandeln auch diewertvollen Kapern angebaut haben.Und die dank ihres Reichtums ein paarprächtige Paläste in die Hänge überder Küste stellen konnten.

VON PATRICIA ENGELHORN

„Unsere Insel war eben immer be-sonders“, sagt der auf Salina geboreneKünstler Pippo Cafarella. Ein Vulkanreichte nicht, es mussten zwei sein.Beide sind zwar längst erloschen, dochihr schwarzes, senfgelbes oder leuch-tend rotes Gestein prägt die spektaku-

läre Landschaft. Besonders ist auch,dass das 2500-Menschen-Eiland Salinasich selbst regiert, im Gegensatz zuden anderen Äolischen Inseln – dieFilmdiva Stromboli zählt dazu, aberauch Panarea, Vulcano sowie die Fel-senflecken Alicudi und Filicudi, dievon der Hauptinsel Lipari aus verwal-tet werden. Salina zählt drei eigen-ständige Kommunen, die jeweils übereinen Hafen, einen Stadtrat und eineneigenen Bürgermeister verfügen.

Der nördlich von Sizilien im Mittel-meer liegende Archipel zählt seit 20Jahren zum Unesco-Weltnaturerbeund ist bis weit in den Herbst hineinein lohnendes Urlaubsziel. Gebadetwird noch im November, Wandererklettern auf erloschene und nicht erlo-schene Vulkane oder spazieren zwi-schen Weinbergen und Kapernfeldern.Jede der sieben bewohnten Inseln istauf ihre Art einmalig, doch Salina giltunter Kennern als die schönste undspeziellste von allen.

Die Einheimischen behielten daslange für sich. Sie wollten verhindern,dass Salina so glamourös wie Panareaoder so berühmt wie Stromboli wird.Die Schaffung touristischer Infra-struktur wurde bewusst vernachläs-sigt, nur wenige Hotels boten wenigeZimmer, wer Urlaub auf Salina machenwollte, brauchte ein eigenes Haus.

Dann kam Regisseur MichaelRadford und drehte 1994 „Il Postino“(„Der Postmann“). Die Freundschafts-geschichte zwischen dem Dichter Pablo

Neruda und seinem Postboten rührteviele Kinozuschauer zu Tränen undmachte sie neugierig: Wo befindet sichdas Dörfchen Pollara, durch das derPostbote radelt? Wo ist die einsameBucht zu finden, an der Neruda spazie-ren geht? Und wo steht das rosafarbeneHaus des Dichters? Auf alle drei Fragenlautet die Antwort: auf Salina.

SOGAR DER FERRARI-CHEFBLITZTE HIER ABMit dem Film wurde die Insel populär.Pippo Cafarella, dem das malerischeFilmhaus gehört, hätte seinen Besitzmehrfach verkaufen können: Schau-spieler, Industrie-Kapitäne, öffentlicheÄmter und sogar das belgische Königs-paar interessierten sich dafür. Doch erdenkt nicht daran, auf sein Haus mitverwildertem Garten zu verzichten.

„No“, sagte auch Patrizia Lopes, alsder ehemalige Ferrari-Chef Luca diMontezemolo vier Millionen Euro fürihre verwitterte Villa über dem Hafenvon Rinella bot. „Villa L’Ariana war dasFerienhaus meiner Großeltern, ich le-be hier, weshalb sollte ich verkaufen?“Lieber vermietet sie einige Zimmerdes pfirsichfarbenen Anwesens mitseinen Terrassen und dem auffälligenBüsten-Spalier auf dem Dach an Urlau-ber: „Manche Gäste kommen seit 30Jahren, soll ich sie vor die Tür setzen?“Und überhaupt: „Was will Signor diMontezemolo in Rinella?“

Tatsächlich bietet der Ort nicht ge-rade viel: einen kleinen Supermarkt,

EINEwie keine

Schroffe Küsten,verwunschene Dörfer,erloschene Vulkane: Salinaist die spannendste derÄolischen Inseln. Und weildie Bewohner soeigensinnig sind, gibt esbis heute keinenMassentourismus

F WIE KOMMT MAN HIN?Flug nach Catania oder Palermo,zum Beispiel mit Lufthansa oderEasyjet. Die meisten Fährverbindun-gen nach Salina und zu den anderenÄolischen Inseln gibt es vom Hafenvon Milazzo aus, etwa mit LibertyLines (libertylines.it/en/) oder Sire-mar (carontetourist.it/en/siremar),Tickets ab 20 Euro (one way).

WO WOHNT MAN GUT?„Hotel Mercanti di Mare“, neun imhübschen Inselstil eingerichteteZimmer, zum Teil mit Blick auf dieUferpromenade von Santa Marina,DZ ab 100 Euro, hotelmercantidi-mare.it. „Hotel Signum“, charman-tes 30-Zimmer-Hotel in Malfa, dassich auf mehrere renovierte Insel-

häuser in einer Gartenlandschaftverteilt, Restaurant mit Michelin-Stern, DZ ab 200 Euro, hotelsig-num.it. „I Cinque Balconi“, zehn Zim-mer mit Holzbalkendecken, antikenBodenfliesen und Familien-Antiqui-täten in zwei historischen Kauf-mannshäusern in Santa Marina, DZab 80 Euro, icinquebalconi.it. Das„Capofaro“ ist ein zauberhaftesRelais&Châteaux-Resort in einemWeinberg mit Meerblick, 27 minima-listisch-elegante Zimmer, groß-zügiger Pool, Gourmet-Restaurant,DZ ab 260 Euro, capofaro.it (erstwieder ab 2021).

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WELT AM SONNTAG NR. 36 6. SEPTEMBER 202060 REISEN

Wohin nur, wenn die Liste der Coro-na-Risikogebiete immer länger wird?Immer mehr geliebte Orte fallen aus.Also muss man es mal mit der ande-ren Dimension probieren: mit derZeit. Historische Touren sind indieser Saison überaus beliebt, obman nun mit Fontane die Mark Bran-denburg durchquert, die AllgäuerBarockroute abradelt oder Babylonin Berlin sucht. Eine Zeitreiseanderer Art schlägt ein nun erschie-nenes Buch vor. In „Streifzüge durchdie Nacht“ (Malik, 272 Seiten, 20 Eu-ro) erkundet Dirk Liesemer diedunkle Seite von Deutschland, Ös-terreich und der Schweiz. Er ist aus-schließlich nach Sonnenuntergangunterwegs, mal allein, mal in fach-kundiger Begleitung von Jägern,Astrophysikern, Spinnenkundlern,Glühwürmchenjägern, Naturfoto-grafen und – ja, das gibt es – einerNachtmalerin. Immer auf der Suchenach den Geheimnissen, die dieNacht nur dem offenbart, der sichihr ohne Licht nähert.

Dunkelheit, so lernt der Leserschnell, hat sehr verschiedene Far-ben – und manchmal lustige Namen.Die erste Phase etwa, in der mannoch eine Zeitung lesen kann, heißtbürgerliche Dämmerung. Und umnachts gut zu sehen, muss man vorallem Geduld mitbringen. Dasmenschliche Auge braucht eine halbeStunde, um sich auf die Dämmerungeinzustellen. Sternenlicht leuchteteinige Millionen Mal weniger alsSonnenlicht. Und selbst der Voll-mond hat nur ein Viertel Lux, zumWandern reicht das, aber für denStraßenverkehr braucht es fünf Lux.Das sind 20 Vollmonde. Und einHalbmond leuchtet nur ein Viertelso hell wie ein Vollmond – mit tages-heller arithmetischer Logik blicktman nachts eben noch lange nichtdurch. Dafür lernt der Wanderer inder Dunkelheit erstaunliche Phäno-mene kennen: leuchtende Nacht-wolken, Positivblitze, die vom Bodenin die Höhe schießen, er erfährt, wieman den Nordstern findet, was einIridiumflash ist und dass nachtskeineswegs alle Wälder gleich finstersind; die dunkelsten Schatten werfendie Buchen.

Nachts zu wandern ist anstren-gender als tagsüber. Aber ergiebiger.Liesemer vergleicht es mit einerSchwarz-Weiß-Fotografie, „man ach-tet nachts mehr auf Formen, Struk-turen und Linien“. Und einer seinerBegleiter gesteht: „Ich fühle michumweht, als wäre ich von einemdunklen Tuch umgeben.“ Klar, ange-nehm ist das nicht immer. Zu der An-strengung der Nacht gehört es ebenauch, die Energie aufzubringen, sichden Fährnissen der Dunkelheit zustellen. Energie und Mut. Selbst werviel nachts umherstreift, so erfährtLiesemer am eigenen Leib, findetimmer wieder gute Gründe, sich imDunkeln zu gruseln. Die Angst ver-lässt einen nie.

Kein Zufall auch, dass alle Leute,mit denen er nachts umherstreifte,sich in der Dunkelheit an ihre Kind-heit erinnern. Und was, fragt sichder Autor, „ginge wohl verloren,wenn man als Kind den Nachthim-mel nicht mehr erleben könnte“? DieLichtverschmutzung nimmt stetigzu, Orte, an denen es wirklich stock-finster ist, muss man in Europa su-chen. Wir erhellen unsere Städteund knipsen damit die Milchstraßeaus. Im Lubmin auf Rügen erlebtLiesemer, wie menschengemachtenächtliche Helligkeit die Sehnsuchtnach Dunkelheit wachsen lässt: Daverhängen die Einwohner ihre Fens-ter mit dicken Decken – weil dasgrelle Licht der Straßenlaternen siesonst nicht schlafen ließe. Die Idee,dass Laternen sich ausschalten las-sen, kommt offenbar keinem mehr.

Ganz ohneTaschenlampe

VON ANNETTE PROSINGER

UNTERWEGS

Bei einer Zeitreise in die Nacht merktman: Die Dunkelheit hat viele Farben

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eine Eisdiele, eine Kirche und einenwinzigen Strand, der – wie die meistenauf der Insel – aus dunkelgrauem Lava-Sand besteht. Doch mit dem Motor-boot ist man schnell in einer karibik-blauen Bucht und mit der Vespa in ei-ner der Osterien.

Zum Beispiel in der „Villa Carla“ inLeni. Zwischen blühenden Rosensträu-chern steht eine Handvoll Tische, derBlick geht aufs Meer, aus der Küchekommen Insel-Spezialitäten wie Raviolimit Kapern-Füllung und Fisch in einerKruste aus Semmelbröseln, Minze undOrangenschale. Dazu passt der stroh-gelbe Malvasia vom Weingut Capofaro,das hoch über dem Meer thront. Es ge-hört der sizilianischen AdelsfamilieTasca d’Almerita, die auf Salina nichtnur diesen wunderbar trockenen Weiß-wein anbaut, sondern auch ein luxuriö-ses Hotel führt. Die Zimmer und Suitensind in mit Bougainvilleen bewachse-nen Häusern zwischen Weinreben oderim 1884 errichteten Leuchtturm unter-gebracht und punkten mit schickem,angenehm kühlen Insel-Design.

Von hier ist es nur ein Katzensprungbis nach Malfa, einem Dorf mit schma-len Gassen, fotogen verblassten Haus-fassaden, einem Kirchplatz mit Pal-men und ein paar Cafés, in denen gro-ße Becher mit Mandel- oder Maulbeer-granita serviert werden. Am Ortsrandlockt der von dunklen Felsen umgebe-ne Scario-Strand, der für sein glaskla-res Wasser geschätzt wird, aber auchfür die winzige Bar „Maracaibo“, in der

EINEwie keine

Das Dörfchen Pollaramit seinen in den Felsgehauenen Bootshäu-sern und einer Bade-bucht zum Abtauchen

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6. SEPTEMBER 2020 WELT AM SONNTAG NR. 36 REISEN 61

Nationalsymbolaus Seegras

VON KATHARINA KOPPENWALLNER

Die Autorin bereist für ihren Berliner Laden „InternationalWardrobe“ die Welt. Was sie dort findet, stellt sie hier vor

Der Sombrero Vueltiao ist nicht nuroffizielles Nationalsymbol Kolum-biens, sondern auch der schönsteHut des Landes. Er wird aus speziel-lem Seegras geflochten, das im Deltades Rio Magdalena wächst, der Hei-mat der Zenú, einer indigenen Ge-meinschaft, deren Kultur hier zwi-schen 200 v. Chr. bis zur Ankunft derSpanier im 16. Jahrhundert existier-te. Der Stamm wäre damals aufgrundhoher Steuern, Zwangsarbeit undeingeschleppter Krankheiten fastausgestorben. Heute leben rund300.000 Zenú zwischen Sucre undCórdoba. Seit ungefähr 1000 Jahrenstellen sie Hüte aus Seegras her, vorallem als Sonnenschutz. Mit demHut demonstrierten die Zenú früherauch ihre Stellung in der Gesell-schaft, und er galt als förderlich fürdie Fruchtbarkeit.

Der Name Sombrero Vueltiao be-zieht sich darauf, dass der Hut wäh-rend der Herstellung gedreht wird,vuelta bedeutet auf Spanisch Dre-hung, Rotation. Der Hut besteht auszusammengenähten, geflochtenenSchilfbändern, zusammen etwa 20Meter lang. Hierfür wird Seegrasnach der Ernte in Streifen geschnit-ten und sein Inneres mit einem Mes-ser ausgeschabt. Die schwarzenStreifen erhalten ihre Farbe in einerSuppe aus dunklem Lehm.

Vom Sombrero Vueltiao gibt esfünf verschiedene Typen. Der ein-fachste besteht aus 15 Gräsern, die indie Bänder geflochten werden, erheißt quinciano, seine Herstellungdauert drei Tage. Die nächste Stufeist der etwas weichere diecinueva,hier werden 19 Gräser pro Band ein-geflochten, die Fertigung dauert eineWoche. Dann kommt der veintiunomit 21 Seegräsern und 15 bis 20 Tagen

Arbeitsdauer. Für ihn wird qualitativbesseres Schilf verwendet, was denHut leichter und beweglicher macht.Ab der nächsten Stufe wird der Som-brero nur auf Bestellung maßgefer-tigt: Es gibt den veintitres mit 23 See-gräsern und bis zu 20 Arbeitstagensowie das feinste, teuerste Modell,den veintisiete mit 27 Seegrasbündelnund einem Monat Arbeitszeit. Erkann in eine kleine Tasche gestecktwerden, ohne zu zerbrechen.

Jahrzehntelang war der Hut alsKleidung der Bauern verpönt. Wiekam es dazu, das er zum nationalenSymbol aufstieg? Los ging der Hype1985, als ihn der kolumbianische Box-weltmeister Miguel „El Happy“ Loratrug. Es folgten ein Jahr später PapstJohannes Paul II. und 2000 Bill Clin-ton auf Staatsbesuch. Die eigens an-gefertigten Ehren-Hüte wurden da-mals vom „Vater aller Sombreros Vu-eltiao“ gemacht: Medardo de JesúsSuárez. Er versah die Hüte mit vielenkleinen Mustern und machte sie aufdiese Weise unverwechselbar. Da-nach wollte jeder in Kolumbien so ei-ne Kopfbedeckung haben, 2004 er-hob sie der Kongress zum National-symbol. Heute gibt es an die 40 ver-schiedene Muster, ein Großteilkommt von Suárez. Er starb 2014 mit76 Jahren, sein Erbe wird von seinemdamaligen Lehrling Marcial AntonioMontalvo weitergeführt.

Die Hauptstadt der SombrerosVueltiao ist Tuchin. Hier gibt es vielekleine Familienbetriebe mit eigenemSchilfanbau. Auf dem Markt vonTuchin kostet ein einfacher Hut 35Dollar, in Fachgeschäften in Cali dasDoppelte. Je nach Typ steigt natür-lich der Preis. Stilgerecht bezahlenSie mit dem 20.000-Peso-Schein –auf seiner Rückseite ist seit 2016 einSombrero Vueltiao abgebildet.

SOUVENIR

Glühende LandschaftenVon brodelnden Schlammseen bis zu Bilderbuch-Fischerdörfern:Salinas schöne Schwestern eignen sich wunderbar zum Insel-Hopping

Auf der größten der ÄolischenInseln gibt es Autos, Schulen, einKrankenhaus, ein archäologischesMuseum und einen lang gezoge-nen Sandstrand mit Badeanstal-ten. Dazu jede Menge Hotels undPensionen, Trattorien und Cafés.Am Abend, wenn die Tagesaus-

flügler weg sind, trifft mansich am Hafen des hüb-

schen Fischerdorfs Mari-na Corta und trinkt in

aller Ruhe einen Ape-ritivo. Danach bestelltman in einem derRestaurants am bes-ten Garnelen-Tatarund Pistazien-Pasta.

LIPARI

VULCANO

Zwar bietet die postkartenhüb-sche Insel keinen einzigen Strand,dafür aber eine Vielzahl vorgela-gerter Inselchen und genügendFischerboote, die sich für Aus-flüge anheuern lassen. Insiderkaufen im Mini-Markt das Mittag-essen und tauchen später in daskristallklare Wasser um die Felsenvon Basiluzzo, Dattilo oder LiscaBianca. Panarea eignet sich auchzum Leutegucken: Wenn jemandim „Hotel Raya“ wie NaomiCampbell aussieht, dann ist esNaomi Campbell, und in der „Bardel Porto“ ist das Who is who dersizilianischen Schickeria beimabendlichen Apéro zu sehen.

PANAREA

Wem es auf Filicudi zu stressigwird, der fährt nach Alicudi. Dortleben nur 150 Einwohner und einpaar Esel. PATRICIA ENGELHORN

ALICUDI

Das Eiland ist ein knapp zehnQuadratkilometer großer, schrof-fer Felsen. Die drei Vulkankegelsind erloschen, in ihrer aktivenZeit haben sie Filicudi eine Reiheschöner Grotten beschert. Hierurlauben fast ausschließlich Ita-liener mit eigener Villa und Boot,es geht also ruhig zu. Nur auf demWasserweg ist das aus wenigenHäusern bestehende HafendorfPecorini zu erreichen. Das Res-taurant mit Beach Club „La Sire-na“ bietet den einzigen öffent-lichen gesellschaftlichen Treff-punkt weit und breit.

FILICUDI

STROMBOLI

Bei Stromboli denkt man an den gleichnamigen Film von Ro-berto Rossellini mit Ingrid Bergman in der Hauptrolle. Auf derInsel leben knapp 400 Einwohner in zwei verwunschenen Dör-fern zu Füßen eines Vulkans, der regelmäßig Lava spukt. Son-nenanbeter zieht es an die schwarzen Strände von Ficogrande,wo auch das schicke Hotel „La Sirenetta“ mit Pool und Blickauf den Strombolicchio-Felsen steht. Gourmets schätzen dasRistorante „Punta Lena“ mit bester Inselküche und Terrassedirekt über den Klippen.

Zugegeben: Die Insel riecht nachfaulen Eiern. Heißer Dampfströmt aus diversen Erdlöchern,stellenweise wirkt Vulcano wieeine bizarre Mondlandschaft.Allerlei Schwefelquellen speisennatürliche Schlammseen, derenheilende Eigenschaften schonvon den Römern geschätzt wur-den und die Einheimischen undTouristen als gesundheitsför-dernder Treffpunkt dienen. DieNase muss man dort halt zu-kneifen. Eleganter badet man im„Therasia Resort Sea & Spa“, dasals eines der besten Wellness-hotels südlich von Rom gilt.

Sombrero Vueltiao heißt der typische kolumbianische Hut

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man belegte Foccacia, Bier und bunteLuftmatratzen bekommt.

AUCH IM HOCHSOMMER ISTES HIER NICHT VOLLMalfas Bürgermeisterin Chiara Ramet-ta beobachtet genau, was auf ihrer In-sel passiert: „Wir sehen mehr Urlauberals vor zehn Jahren. Früher kamen nurItaliener, und sie kamen nur im August.Jetzt reisen die ersten Feriengäste zuPfingsten an, die letzten kommen imOktober. Und es kommen auch inter-nationale Urlauber. Aber es ist immernoch ein sehr diskreter Tourismus.“ Zuspüren ist er ohnehin kaum – Malfawirkt selbst in der Hochsaison ver-schlafen und angenehm provinziell,erst recht im Corona-Sommer 2020.

Etwas urbaner präsentiert sich San-ta Marina, von den 900 Bewohnernschlicht „la città“ genannt. Hier gibt esRestaurants, einen Yachthafen und ei-ne Einkaufsstraße mit hübschen Ge-schäften wie „Le Signorine“, in demRossana und Serena Cervellera ihre ei-gene salinische Schmucklinie und me-diterrane Haus-Accessoires anbieten.Den eleganten Schwestern gehörtauch das Hotel „Mercanti di Mare“ ander Uferpromenade. Das schöne Ge-bäude mit großzügiger Loggia habensie von ihren Großeltern geerbt. Na-türlich hätten sie es verkaufen können,Interessenten gab es genug. Aber daskommt für sie nicht infrage: „Es ist dasHaus unserer Familie. Wir geben esnicht her.“