71. Jahrgang 08 7 Der Dalai Lama – Weltanschauungsfragen ... · Der Dalai Lama –...

44
MATERIALDIENST Zeitschrift für Religions- und Weltanschauungsfragen 71. Jahrgang 7 / 08 ISSN 0721-2402 H 54226 Evangelikalismus ist nicht Fundamentalismus Evangelische Identität im religiösen Pluralismus Heimliche Religion im Kriminalroman Der Dalai Lama – unangefochtener Fürst des Friedens? Weiterhin Klärungsbedarf Neuapostolische Kirche und Ökumene Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen

Transcript of 71. Jahrgang 08 7 Der Dalai Lama – Weltanschauungsfragen ... · Der Dalai Lama –...

MAT

ERIA

LDIEN

ST Zeitschrift fürReligions- undWeltanschauungsfragen

71. Jahrgang 7/08IS

SN 0

721-

2402

H 5

4226

Evangelikalismus ist nicht Fundamentalismus

Evangelische Identitätim religiösen Pluralismus

Heimliche Religion im Kriminalroman

Der Dalai Lama –unangefochtener Fürst des Friedens?

Weiterhin KlärungsbedarfNeuapostolische Kirche und Ökumene

Evangelische Zentralstellefür Weltanschauungsfragen

EZW, Auguststraße 80, 10117 BerlinPVSt, DP AG, Entgelt bezahlt, H 54226

umschlag07.qxd 24.06.2008 11:55 Seite 1

inhalt01.qxd 18.12.2007 08:11 Seite 2

Evangelikalismus ist nicht Fundamentalismus 243

Christoph SchwöbelEvangelische Identität im religiösen Pluralismus 245

Andreas FinckeDie Grab-Altar-Kapelle in der Schlosskirche zu OstrauEin anthroposophisches Kleinod 252

Lutz LemhöferHeimliche Religion im KriminalromanDas Beispiel Skandinavien 258

Reinhard BingenerFrühstück mit dem Fürsten des FriedensDas Bild des Westens vom Dalai Lama könnte Risse bekommen 265

ScientologyUrteil gegen Scientology ist rechtskräftig 267

Neuapostolische KircheOrientierungshilfe aus Baden-Württemberg irritiert 267

Stammapostel Leber zeigt sich selbstkritisch 269

IslamEin abgesagter Vortrag 270

INHALT MATERIALDIENST 7/2008

INFORMATIONENINFORMATIONEN

INFORMATIONENBERICHTE

ZEITGESCHEHEN

IM BLICKPUNKT

INFORMATIONENDOKUMENTATION

inhalt07.qxd 24.06.2008 11:54 Seite 1

Islam / JudentumOpen Letter von Muslimen an die Juden 271

GesellschaftSakrale Substanzen?Rückblick auf das „Welt Psychedelik Forum 2008“ in Basel 272

EsoterikEsoteriksender „Kanal Telemedial“ verliert Sendelizenz 275

Rainer FrommSchwarze Geister, Neue NazisJugendliche im Visier totalitärer Bewegungen 276

Mathias SchreiberWas von uns bleibtÜber die Unsterblichkeit der Seele 277

INFORMATIONENBÜCHER

inhalt07.qxd 24.06.2008 11:54 Seite 2

Evangelikalismus ist nicht Fundamentalis-mus. Einzelne Medienvertreter haben ge-genwärtig großes Interesse daran, die reli-giöse Situation in Deutschland so darzu-stellen, dass sie zum Abbild nordamerika-nischer Verhältnisse wird. Demnach gibtes auch in Deutschland die Gefahr einespolitisch einflussreichen christlichen Fun-damentalismus. Man sieht Kräfte amWerk, die auf der Grundlage eines wort-wörtlichen Bibelverständnisses Einflussnehmen und eine neue Ordnung für dasgesellschaftliche Zusammenleben ein-führen wollen. Verwiesen wird auf diewachsende Bedeutung neuer freikirchli-cher Gemeinschaftsbildungen für jungeMenschen, die Attraktivität enthusias-tischer Ausdrucksformen der christlichenFrömmigkeit, die öffentlichen Kontrover-sen über Veranstaltungen beim Christivalin Bremen. In Fernsehbeiträgen wie „Je-sus’ junge Garde“ (2005), „Jesus Camp“(2006) oder „Die Hardliner des Herrn“(2007) wurden Evangelikale teilweisepauschal mit christlichen Fundamenta-listen gleichgesetzt: Sie kämpfen gegenHomosexualität, Feminismus und Abtrei-bung, gegen die Evolutionslehre an öffent-lichen Schulen, gegen die historisch-kriti-sche Bibelforschung, mit Hilfe exorzis-tischer Praktiken gegen Dämonen undden Teufel. Sie erziehen unsere Kinderund Jugendlichen zu religiösen Eiferern.Ist eine christliche Rechte in Deutschlandauf dem Vormarsch? Verbinden sich dasErlebnis der Wiedergeburt und das Erfüllt-sein mit dem Geist erkennbar mit politi-schen Optionen? Ist die Betonung der un-bedingten Geltung der Heiligen Schriftmit der für fundamentalistische Bewegun-gen charakteristischen Überzeugung ver-knüpft, „auf der Grundlage der heiligenTexte eine neue Gesellschaft aufzubauen“

(Gilles Kepel)? Aus verschiedenen Grün-den ist die Gleichsetzung der evangelika-len Bewegung mit dem christlichen Fun-damentalismus unangemessen und nichtzutreffend:1. Deutschland gehört, wie der nordame-rikanische FundamentalismusforscherMartin Marty mit Recht sagt, zum „funda-mentalismusschwachen Gürtel, ... der vonEuropa über Kanada und die nördlichenTeile der Vereinigten Staaten bis nach Ja-pan reicht“. In Deutschland artikulierensich politisierte Formen des Fundamenta-lismus beispielsweise in christlichenKleinparteien, wie der Partei BibeltreuerChristen (PBC) oder der Christlichen Mitte(CM). Aus allen bisherigen Wahlergebnis-sen wird sichtbar, dass beide Parteien po-litisch einflusslos bleiben. Der christlicheFundamentalismus in seinen protestanti-schen oder katholischen Spielarten stelltsich in unserem Kontext vor allem als kir-chenpolitische, seelsorgerliche und öku-menische Herausforderung dar.2. Eine Gleichsetzung von Evangelikalis-mus und Fundamentalismus ist historischnicht gerechtfertigt. Die Wurzeln derevangelikalen Bewegung liegen im Pietis-mus, im Methodismus und in der Er-weckungsbewegung. Vorläufer hat sie inBibel- und Missionsgesellschaften, in derBewegung der Christlichen Vereine jungerMänner und Frauen, der Gemeinschafts-bewegung sowie der 1846 in London ge-gründeten Evangelischen Allianz. Bereitsdie geschichtliche Entwicklung belegt,dass der Evangelikalismus an „vorfunda-mentalistische Strömungen“ anknüpft undinnerhalb der Bewegung ein breites Spek-trum an Ausprägungen der Frömmigkeiterkennbar wird. Die fundamentalistischeBewegung ist nicht Fortsetzung des Evan-gelikalismus, sondern ein neues, moder-nes Phänomen, das aus einer Verengungdes evangelikalen Erbes hervorgegangenist.

243MATERIALDIENST DER EZW 7/2008

ZEITGESCHEHEN

inhalt07.qxd 24.06.2008 11:54 Seite 243

244 MATERIALDIENST DER EZW 7/2008

3. Der zu beobachtende Hang von Teilendes nordamerikanischen Evangelikalismuszur Verwischung der Grenze zwischenReligion und Politik kann im Blick auf Eu-ropa und Deutschland nicht bestätigt wer-den. Evangelikale Strömungen gewinnenzwar hier an Bedeutung, allerdings vor-rangig im gemeindlichen und kirchlichenKontext. Dabei wird auch deutlich, dass sich dieevangelikale Bewegung in Deutschland –zu ihr gehören nach Angaben der Deut-schen Evangelischen Allianz ungefähr 1,3Millionen Christinnen und Christenhauptsächlich aus evangelischen Landes-kirchen (ungefähr die Hälfte) und evange-lischen Freikirchen – keineswegs einheit-lich darstellt. Sie umfasst verschiedeneRichtungen und reicht von dem in denevangelischen Landeskirchen verwurzel-ten pietistischen Gemeinschaftschristen-tum bis zu enthusiastischen und separatis-tischen Gruppen. In der Außenperspektivelassen sich sehr verschiedene Positionenunter dem Stichwort Evangelikalismus zu-sammenfassen. Allzu pauschal wird oftvon den Evangelikalen gesprochen. Wel-che Evangelikalen sind gemeint? Die Be-kenntnisbewegung „Kein anderes Evange-lium“, die Initiativen wie ProChrist undWillow Creek pointiert ablehnt, oder dieDeutsche Evangelische Allianz, die Pro-Christ und Willow Creek mit Nachdruckunterstützt? Stellungnahmen zur evangeli-kalen Bewegung und zum christlichenFundamentalismus erfordern differenzie-rende Wahrnehmungen und Urteilsbil-dungen. Zwischen beiden gibt es Zusam-

menhänge und Übergänge. Beide sindgleichwohl zu unterscheiden.4. In einer Studie zu transkonfessionellenBewegungen aus dem Jahr 1974 wurdedarauf hingewiesen, dass die Herausfor-derung evangelikaler Bewegungen für diehistorischen Kirchen darin liegt, „ange-sichts einer oft formellen, unverbindlichenChristlichkeit ... die Notwendigkeit per-sönlicher Entscheidung und Verpflichtungzu erkennen und zu betonen ... und alleFormen kirchlichen Lebens, christlichenZeugnisses und kirchlichen Dienstes ...unter die Norm der Heiligen Schrift zustellen“. Ein solches Anliegen hat seineBerechtigung. Mit dem Begriff Fundamen-talismus wird wertend und kritisch auf dieSchattenseiten und Fehlentwicklungenprotestantischer Erweckungsfrömmigkeithingewiesen. Fundamentalismus ist dieGefährdung des Evangelikalismus. Beideswäre für den öffentlichen Diskurs überchristliche Orientierungen problematisch:wenn entschiedene Überzeugungen pau-schal unter Fundamentalismusverdachtgestellt würden; wenn die Frage nachchristlicher Identität hauptsächlich undprimär durch Abgrenzung – antiplura-listisch, antihermeneutisch, antifeminis-tisch, antievolutionistisch – beantwortetwürde, bei gleichzeitiger Aufrichtung vonstarker „patriarchalischer“ Autorität. VieleEvangelikale wissen das und sind an einerSelbstunterscheidung gegenüber demchristlichen Fundamentalismus interes-siert. Man kann Fundamente haben, ohneFundamentalist zu sein.

Reinhard Hempelmann

inhalt07.qxd 24.06.2008 11:54 Seite 244

245MATERIALDIENST DER EZW 7/2008

Was heißt religiöser Pluralismus?

Es scheint mir keine Frage zu sein, dasswir im weltweiten Kontext in einer Situa-tion leben, die weitgehend durch die Aus-einandersetzung der Religionen geprägtist. Es gibt keinen politischen Konflikt aufdieser Erde, der verstanden werdenkönnte, ohne dass man seine religiösenFaktoren versteht. Es gibt keine wirtschaft-liche Situation, die richtig interpretiertwerden könnte, ohne dass man sich deut-lich macht, wie sie auch von der Religionmitgeprägt ist. In dieser Hinsicht, soscheint es mir, hat die Theologie einenLernprozess durchzumachen. Nachdemsie im 20. Jahrhundert lange Zeit dasThema der Religion verdrängt hat, ist sienun herausgefordert, der Wirklichkeit ge-recht zu werden, in der die Religionen inunterschiedlichster Form unsere sozialeLebenswelt in globaler und lokaler Weiseprägen. Denn das haben wir gemerkt,dass wir in Westeuropa und Deutschlandnicht mehr auf einer Insel leben, in derwir uns selbstgenügsam mit der Aus-einandersetzung mit unseren Säkularisie-rungsprozessen begnügen könnten, son-dern dass wir von den religiösen Wieder-belebungsbewegungen in anderen Welt-teilen stets mitbeeinflusst werden und sieals Teil unserer Lebenswelt hierzulandeerleben. Das Globale und das Lokale grei-fen ineinander, und das gilt auch für dieReligion. Religiöser Pluralismus heißt, dass wir ineiner Situation leben, in der unterschied-liche Basisdeutungen der Wirklichkeit mit

Absolutheitsanspruch für die Handlungs-orientierung ihrer jeweiligen Anhängermiteinander in einem Verhältnis der Ko-existenz oder der Konkurrenz stehen. Re-ligiöser Pluralismus heißt: Religionen imWettbewerb – im Wettbewerb um gesell-schaftlichen Einfluss, um Anhängerschaft,um die Gestaltung des sozialen Lebens.Dieser Pluralismus wirkt sich gleichzeitigauf die Deutungen der religiösen Situationaus. Auch hier gibt es keine einheitlicheDeutung, sondern unterschiedliche Deu-tungen. Religiöser Pluralismus bringt mitsich, was man einen reflexiven Pluralis-mus nennen könnte, auch eine Pluralitätin der Deutung des religiösen Pluralismus. Die Frage ist, welche Deutung die Wirk-lichkeit genauer beschreibt und präzisereHandlungsorientierungen ermöglicht. Ei-nes jedenfalls ist klar: Die Ideologie derAufklärung, dass Religion Privatsache sei,ist am Anfang des 21. Jahrhunderts defini-tiv widerlegt. Denn die Religionen tau-chen im öffentlichen Bereich so stark aufwie wahrscheinlich seit dem Zeitalter derReligionskriege nicht mehr. Religion istein Faktum der öffentlichen Diskussionund nicht in den Bereich der Innerlichkeitabgedrängt. Insofern trifft Dietrich Bon-hoeffers Kritik an der Religion, die sichauf ein bestimmtes Phänomen innerhalbdes Christentums bezogen hat, auf dieseSituation ganz und gar nicht zu. Ich bindavon überzeugt, dass ein so aufmerksamseine Zeit diagnostizierender Theologewie Dietrich Bonhoeffer heute keinesfallsvon einem religionslosen Christentum re-den würde, sondern im Gegenteil auf-

IM BLICKPUNKTChristoph Schwöbel, Tübingen

Evangelische Identität im religiösen Pluralismus*

inhalt07.qxd 24.06.2008 11:54 Seite 245

merksam und wach die Renaissance desReligiösen in unserer Zeit reflektierenwürde, um daraufhin zu fragen, wie denndiese Zeitsituation zu deuten ist vor demHintergrund der Frage: Wer ist Jesus Chris-tus für uns heute in den Wandlungen un-serer religiösen Situation?Nun scheint mir, dass der Pluralismus derReligionen drei Hauptausprägungen hat.Die erste ist in dem Einflussgewinn derhistorischen Religionen im weltweitenMaßstab zu sehen. Das Christentum undder Islam wachsen im Weltmaßstab in ei-nem Ausmaß, wie wir es lange Zeit nichterlebt haben. Das Christentum ist die amschnellsten wachsende Religion in China.Der Islam wächst vor allen Dingen auchin Bereichen, die vormals christlich wa-ren. Hier merkt man die Konkurrenz- undKonfliktsituation, in der sich die Religio-nen befinden. Man kann sehr deutlichspüren, dass es eine Auseinandersetzungum den öffentlichen und politischen Be-reich ist, die die Revitalisierung der histo-rischen Religionen prägt. Sie alle wachsen– und das ist gleichzeitig eine ernste Her-ausforderung – in ihren konservativen Flü-geln. Nicht die Liberalen, die Toleranz aufihre Fahnen geschrieben haben, verzeich-nen in den unterschiedlichen Religionendie größten Wachstumszuwächse, son-dern diejenigen, die mit Ernst Christensein wollen, oder die, die ihren islami-schen Glauben in Deutlichkeit gegenüberihrer Umwelt präsentieren. Insofern ist die Auseinandersetzung mitder Frage des Fundamentalismus eine derentscheidenden Herausforderungen derSituation des religiösen Pluralismus.Gelöst werden kann diese Frage nur ausder Perspektive der jeweiligen Traditionenselbst. Der religiöse Fundamentalismuskann niemals von außen therapiert wer-den, sondern nur von innen, und es ist un-ser aller Aufgabe, uns an der Therapie deschristlichen Fundamentalismus zu beteili-

gen, indem wir zunächst einmal das Ge-spräch mit dem Fundamentalismus undden Fundamentalisten beginnen. Funda-mentalisten – das scheinen immer die an-deren zu sein. Wir müssten herausfinden,wo eigentlich in unserer Religion die Ten-denzen zum Fundamentalismus liegen,die dann geklärt und therapiert werdenmüssten. Meines Erachtens handelt es sichbeim Fundamentalismus um ein Phäno-men deplatzierter Fundamente, so dass –beim christlichen Fundamentalismus – andie Stelle des Glaubens an Gott derGlaube an die Bibel tritt und damit die Bi-bel als höchste Autorität den Platz Gotteseinnimmt. Aber diese Verwechslung zwi-schen dem Glaubenszeugnis und demGlaubensgegenstand kann nur aus derPerspektive des christlichen Glaubensselbst therapiert werden. Das zweite Phänomen ist das Anwachsenkombinatorischer Formen von Religiosität,die wir alle kennen. Es gibt viele Zeitge-nossen, für die es überhaupt kein Problemist, auf der einen Seite noch so ein biss-chen im Christentum zu verweilen, sichauf der anderen Seite an buddhistischerMeditation zu beteiligen, den Tanz derDerwische auch sehr interessant zu findenund im Übrigen der Kraft der Sterne nochein bisschen mehr zuzutrauen als derSchulmedizin. Wir leben keinesfalls in ei-nem skeptischen Zeitalter, sondern in ei-nem Zeitalter der Leichtgläubigkeit. Reli-giöse Ansprüche können dann miteinan-der kombiniert werden, wenn ihre Wahr-heitsansprüche vorerst suspendiert wer-den, wenn also die Wahrheitsansprücheder Religion als ästhetische Ansprüche fürmiteinander kombinierbar gehalten wer-den; denn über Geschmack lässt sichnicht streiten, und in Geschmacksfragenlässt sich vieles miteinander kombinieren,was sich als Wahrheitsanspruch aus-schließt. „Mix and match“ ist die Devisepostmoderner Kombi-Religiosität.

246 MATERIALDIENST DER EZW 7/2008

inhalt07.qxd 24.06.2008 11:54 Seite 246

Schließlich – das ist das dritte Phänomen– zeigt sich die Revitalisierung der Reli-gion auch im nichtreligiösen Bereich,nämlich in der religiösen Aufladung vonLebensbereichen, die vormals als rein sä-kular interpretiert wurden, zu derenSelbstverständnis der Abschied von derReligion geradezu dazugehörte. Die Wis-senschaft, die Wirtschaft und das Gesund-heitswesen gehören zu diesen Bereichen,in denen die Verwissenschaftlichung alseine Befreiung von der Religion verstan-den wurde. Max Weber hat in diesem Zu-sammenhang von der Entzauberung derWelt gesprochen. Wenn ich recht sehe,erleben wir gegenwärtig eine Wiederver-zauberung der Welt, indem die ehemalssäkular und antireligiös interpretierten Be-reiche selbst wieder interreligiös interpre-tiert werden. Das Buch von Richard Dawkins „The God Delusion“ („Der Got-teswahn“) ist nicht das Beispiel einer wis-senschaftlichen Kritik am Christentum,sondern vor allen Dingen ein herausra-gendes Beispiel einer naiven Wissen-schaftsgläubigkeit, die meint, religiöse An-sprüche wissenschaftlich erklären zu kön-nen. Diese Art von Wissenschaftsreligionist nicht eine wissenschaftliche Kritik derReligion, sondern eine Konkurrentin derReligion auf dem Gebiet der Orientierungin der Wirklichkeit. „Worauf du nun dein Herz hängst, das isteigentlich dein Gott.“ Mit dieser allerein-fachsten Religionsdefinition hat MartinLuther gearbeitet, und es kann mir nie-mand erzählen, dass die Ökonomisierungaller Lebensbereiche, die wir in unsererGesellschaft erleben, nicht auch ein reli-giöses Phänomen in diesem Sinne ist: dassMenschen ihr Herz auf das hängen, wasder Markt ihnen zuteilt, und dass deshalbder Markt – selbst in der Rede der Ökono-men – quasi gottheitliche Züge bekommt,Segen und Fluch austeilt, für Heil und Un-heil zuständig ist und immer mehr zu ei-

ner mythischen Größe wird, die unbe-rechenbar ist und deren Providenz vonunsichtbarer Hand, wenn sie den Reichengibt, auch den Armen etwas zuteilensollte. Unser Verhältnis zum Markt, zuden Gütern ist längst nicht mehr ein reinwirtschaftliches, sondern mehr und mehrvon religiösen Unbedingtheiten, vonHeilserwartungen und Unheilsängsten,mitgeprägt. Ein weiterer Bereich, bei dem es mir soscheint, als ob religiöse Haltungen unse-ren Umgang mit der Wirklichkeit und mituns selbst prägen, ist der Bereich der Ge-sundheit. „Healthism“ ist in den USAlängst ein von Religionssoziologen unter-suchter Bereich geworden. Denn „woraufdu nun dein Herz hängst, das ist eigent-lich dein Gott“: Das kann auch die eigeneGesundheit, das kann auch die eigeneKörperlichkeit sein. Das kann auch dassein, womit wir versuchen, auf dem müh-samen Weg endlich so fit zu werden, wiewir sein könnten, um nicht nur das Wohl,sondern auch das Heil zu realisieren. Eskann mir niemand erzählen, dass die Pla-gen, die man im Fitnessstudio auf sichnehmen muss, um einigermaßen fit zuwerden, nicht auch eine Form von religiö-ser Askese sind. Anders sind die Schmer-zen wohl kaum zu ertragen. Religion gehört also in eine Vielfalt vonsehr unterschiedlichen und unterschied-lich beschreibbaren Phänomenen. Wirmüssen sie nur in ihrer Orientierungskrafternst nehmen, die sie für Menschen ge-wonnen haben. Ein entscheidender As-pekt dieses Phänomens ist, dass es sichweitgehend auf der Ebene der Deutungenabspielt. Deshalb können statistische Un-tersuchungen so wenig über das Ganzeherausbekommen. Die unterschiedlichenReligionen begegnen sich auf der Ebeneihrer unterschiedlichen symbolischenDeutungen. Und die Frage, vor der wirstehen, lautet: Wer hat eigentlich die Deu-

247MATERIALDIENST DER EZW 7/2008

inhalt07.qxd 24.06.2008 11:54 Seite 247

tungskompetenz in Bezug auf die Wirk-lichkeit? Die Auseinandersetzungen, diewahren Machtverhältnisse in unserer Ge-sellschaft werden längst im Krieg der Sym-bolwelten entschieden. Es ist keine Über-raschung, dass der 11. September ein An-griff auf das World Trade Center war unddamit ein Angriff auf das entscheidendeSymbol der kapitalistischen Globalisie-rung. Kruzifix-, Kopftuch- oder Inszenie-rungs-Streit, all das sind Symbolstreitigkei-ten. Sie spielen sich nicht auf der Ebeneder realen Erfahrungen der Wirklichkeitab. Diese Auseinandersetzungen der Sym-bolwelten werden sich nur bewältigenlassen, wenn die Deutungskraft der Sym-bole an unserer erlebten Alltagswirklich-keit gemessen werden kann. Wie ist es an-ders zu erklären, dass immer neue Selbst-mordattentäter für Anschläge im Irak re-krutiert werden können, die überall her-kommen – nur nicht aus dem Irak? Das istnur möglich auf dem Wege der symbo-lischen Identifikation mit einem Konflikt,der nicht ihrer ist.

Was heißt Identität?

Wo uns alles nur noch im Pluralismus derVielfalt begegnet, da ist die Frage „Werbin ich und wer sind wir?“ die entschei-dende Frage, wenn es darum geht, sichselbst in der Wirklichkeit orientieren zukönnen. Religion erscheint als das besteMittel einer – wie auch immer motivier-ten – Identitätspolitik. Denn in der Reli-gion geht es um das Unbedingte, um das,wofür sich Menschen unbedingt einsetzenkönnen. Gelingt es mir, meine Identität re-ligiös zu begründen, dann ist diese Iden-tität unantastbar. Wir können sehen, dassIdentität hauptsächlich in der Abgrenzungvon anderen definiert wird. Wer sind wir?Wir sind die, die die anderen nicht sind.Und deshalb brauchen wir einen „IdentityMarker“, etwas, was unsere Identität un-

terscheidend von anderen abhebt. DasKopftuch ist im Islam vor allen Dingen einsolcher „Identity Marker“, der mit den re-ligiösen Grundüberzeugungen gar nichtszu tun hat. Es ist nicht eine der fünf Säu-len des Islam, aber fungiert erfolgreich als„Identity Marker“. Identitätspolitik als Politik der symboli-sierten Differenz: Das macht natürlich alleMöglichkeiten einer weltweiten Koopera-tion bei den uns schließlich gemeinsamangehenden Problemen sehr, sehr schwie-rig. Man muss an dieser Stelle also versu-chen zu vermeiden, dass Religion zum In-strument einer – vielleicht vorrangig garnicht religiös motivierten – Identitätspoli-tik missbraucht wird. Teile historischerIdentitätspolitik finden sich auch in dergegenwärtigen Erfahrung. Ein Beispiel: Alsich – durch das typische Umhängeschildleicht als Kirchentagsbesucher erkennbar– durch die Kölner Altstadt ging, rief mirvon der anderen Straßenseite einer zu:„Ach guck – schon wieder ein Ketzer!“Man sieht sehr deutlich: Identitätspolitikaus dem 16. Jahrhundert ist in Köln offen-sichtlich noch eine Realität. Das Entschei-dende ist, dass diese Form der Identitäts-politik durch Abgrenzung stets der Kritikdes Glaubens zu unterliegen hat. Dennnach christlichem Verständnis ist unserepersonale Identität ebenso wie unsereIdentität als christliche Gemeinschaftnicht eine Identität, die wir durch die Ab-grenzung von anderen gewinnen, sondernin der Beziehung zu Gott.Identität ist weder eine soziale Konstruk-tion, noch darf sie sozial dekonstruiertwerden. Sie wird nicht durch ein gutesGruppengefühl zugesprochen. Wenn dieanderen meine Identität konstruieren kön-nen, dann können sie sie auch dekonstru-ieren. In diesem Sinne hat Sartre Recht,wenn er sagt: „Die Hölle – das sind dieanderen!“ Das christliche Verständnis vonIdentität versteht diese als begründet in

248 MATERIALDIENST DER EZW 7/2008

inhalt07.qxd 24.06.2008 11:54 Seite 248

der Beziehung zu dem dreieinigen Gott.Sie wird jedem Menschen in der Taufe zu-gesprochen und ist deshalb unverfügbarund unveräußerlich. Für jeden von unsgilt: „Fürchte Dich nicht, ich habe Dichbei Deinem Namen gerufen. Du bistmein.“ Es ist eine unveräußerliche Iden-tität, die eine unveräußerliche Würde be-gründet. Für manche Jugendlichen ist dasdie konkrete Gestalt der Entdeckung desEvangeliums in der Pubertät: dass sie ver-stehen lernen, dass ihre Identität nicht dasProdukt ihrer Eltern ist. Und in dem Zu-sammenhang ist die von Gott verlieheneIdentität eine befreiende Nachricht: Ichbin mehr als das Produkt meiner biologi-schen Herkunft. In dieser Form kann alsoeine religiös begründete Identität eine be-freiende Identität sein, die auch befreit zurGemeinschaft mit anderen.

Was heißt evangelische Identität?

Mit diesen Überlegungen zur Identität inreligiöser Begründung sind wir schon zudem übergegangen, was evangelischeIdentität heißen kann. Denn evangelischsein, das heißt ja zunächst: sich ansteckenlassen von der Befreiungsbotschaft desEvangeliums. Und überall dort, wo dasEvangelium als Befreiungsbotschaft erlebtwird – auch gegenüber den Ansprücheneiner vielfältigen religiösen Welt – dort istdas Evangelium von Jesus Christus wirk-sam. Evangelische Identität ist dort zuspüren, wo Jesus Christus mein Herr ist,weil er mich befreit. Nur der, der letztgül-tige Freiheit schenkt, darf als Herr aner-kannt werden.Deshalb ist es für mich immer ungeheuerberührend gewesen, dass amerikanischeSklaven, die wahrhaftig genug davonwussten, wer ihr „Master“ war, in ihren„Hush Harbours“, den geheimen Treff-punkten, an denen sie sich versammelten,um ihre Spirituals zu singen, von Jesus

sagten: „My Master it’s my Lord“ – sehrgenau wissend, dass dieser Herr sie befreitund nicht neu knechtet. Evangelische Identität hat also mit Freiheitzu tun. Aber wie lässt sich diese Freiheitgewinnen, und wie lässt sich Identitätevangelisch bilden? Meines Erachtenssind die Hinweise, die die Reformation indieser Hinsicht gegeben hat, heute nochunübertreffbar gültig. Die Reformation hatzur Bildung evangelischer Identität zu-nächst gesagt, dass sie allein durch dieSchrift gebildet wird. Dabei muss man se-hen, dass die reformatorische These vomPriestertum aller Gläubigen und die These„allein die Schrift“ aufs Engste zusammen-hängen. Nur dann können alle Christenund Christinnen ihre Urteilskraft in Bezugauf die Lehre wirklich wahrnehmen,wenn sie alle das auf der Basis der Bibeltun können. Das Alphabetisierungspro-gramm in Sachen des Glaubens, das dieReformation darstellt, dient der Ermögli-chung eines eigenen Urteils, auch in derSituation des Pluralismus. Und deshalbbleibt die Bibel, die Grammatik und dasLexikon des christlichen Glaubens, dieZeichenwelt, in der Christen und Christin-nen ihre Welt deuten. In der Situation des religiösen Pluralismusstellt sich daher die Frage, wie diese Zei-chenwelt, in der der christliche Glaubelebt, erhalten werden kann und wie wirim Umgang mit ihr eingeübt werden kön-nen. Die Frage lautet ganz konkret fürviele unserer Kirchengemeinden: Wie ge-schieht diese Einübung in die Wirklich-keitsdeutung durch die Bibel, nachdemdie gute alte Bibelstunde abgeschafft unddurch den Männergesprächskreis und dasFrauenfrühstück abgelöst worden ist?Christlicher Glaube ist nicht überlebens-fähig ohne diese Basis und erhält seineRessourcen – auch die Ressourcen zurIdentitätsbildung – stets nur aus dem Um-gang mit der Schrift.

249MATERIALDIENST DER EZW 7/2008

inhalt07.qxd 24.06.2008 11:54 Seite 249

Das zweite Kriterium, das die Reforma-tion für evangelische Identität formulierthat, ist die Deutung des „Sola Scriptura – allein die Schrift“ – als „Solus Christus –Christus ist der, in dem Gott allein dasHeil für die Welt verwirklicht hat“. Chris-tus verträgt keine Addition. Deshalb kannman nicht Christus und die Heiligen undNothelfer sagen. Deshalb kann man nichtsagen: Christus plus Zazen (Meditations-technik des Zen-Buddhismus, Anmerkungder Redaktion) oder Tanz der Derwische.Die Heilsvermittlung geschieht in Christusallein. Zazen mag eine gute Konzentrati-onsübung sein, durch die wir viel lernenkönnen, und der Tanz der Derwische maguns bekannt machen mit der Begeiste-rungsfähigkeit unserer menschlichen Na-tur. Für Christen gehören sie auf die Seiteder Welt und nicht auf die Seite des reli-giösen Heils. Deshalb ist die Gottesfrage auch nurdurch den Verweis auf Jesus Christus zubeantworten. Die Begegnung von Chris-ten mit anderen Religionen geschieht im-mer so, dass sie in anderen Religionenaufmerksam hinhören, wo ihnen ein Echovon dem begegnet, was sie in der Chris-tuswirklichkeit erfahren haben. Denn dassdie Religionen auch mit Gott zu tun ha-ben, das müssen wir annehmen, wenn wiruns zu Gott als dem Allmächtigen unddem Allgegenwärtigen bekennen. Wiesollte denn Gott überall sein, aber nicht inden Religionen? Wie sollte er allmächtigsein, aber die Religionen nicht zur Reali-sierung seines Willens benutzen? Nurwird die Stelle, die die Religionen imHeilsplan Gottes haben, uns als Christennur im Blick auf Jesus Christus ersichtlich,in dem das Heil Gottes für die Welt zuge-sagt ist. Die Bibel wird also als Christus-buch interpretiert, und die Pointe des „al-lein in Christus“ ist, dass „allein in Chris-tus“ die Gnade Gottes erschienen ist.Christus ist also nicht der neue Gesetzge-

ber, nicht die neue Überlebensregel imKampf der Religionen, sondern in ihm istdie unbedingte Gnade Gottes für die Weltverwirklicht. Das Unterscheidungskriterium der evan-gelischen Identität zu den Formen der reli-giösen Pluralität ist deshalb stets: Begeg-net uns darin eine Botschaft der Gnadeoder ein neues Gesetz? Evangelische Christen und Christinnen sind stark in derUnterscheidung von Gesetz und Evange-lium. Und sie sehen die Religionen dort,wo sie nur das Gesetz bringen, bestenfallsals Zubringer zum Aufnehmen der Befrei-ungsbotschaft des Evangeliums. Das Ge-setz kann ungeheuer verführerisch sein,wenn es uns verspricht, durch bestimmteLebensregeln religiöser Art endlich dasewige Heil zu erreichen. Das Gesetz istfatal, wenn es auf unsere Identität ange-wandt wird. Denn aus der Perspektive desGesetzes ist der Mensch das, was er tut.Und dann haben alle schlechte Karten,die nicht auf irgendeinem Gebiet zu denHochleistungssportlern dieser Gesell-schaft gehören. Dann haben wir alleschlechte Karten – am Anfang und amEnde unseres Lebens. Deshalb ist die re-formatorische Botschaft „Allein ausGnade“: Der Mensch ist nicht das, was ertut, sondern der Mensch ist das, was ihmvon Gott geschenkt wird. Und dieses will„allein im Glauben“ angenommen wer-den. Evangelische Identität heißt, dass es je-dem einzelnen Christen, jeder einzelnenChristin zugemutet wird, in der Situationdes religiösen Pluralismus urteilsfähig undhandlungsfähig zu werden auf der Basisdessen, was uns vom christlichen Glau-ben eingeleuchtet hat. Christliche Über-zeugung kann nicht gemacht werden.Glaube kann nicht von Menschen ge-schaffen werden, auch nicht von unsselbst. Wir können uns nicht selbst in ei-nen Zustand stärkeren Glaubens hinein-

250 MATERIALDIENST DER EZW 7/2008

inhalt07.qxd 24.06.2008 11:54 Seite 250

251MATERIALDIENST DER EZW 7/2008

reden. Aus diesem Grund können wir denGlauben nur annehmen als das, was unseinleuchtet, als das, was uns gegebenwird, als Geschenk des Heiligen Geistes.Das, was uns so klar geworden ist, das be-deutet das „Sola fide“, „allein durch denGlauben“. Es ist dann für uns klar gewor-den, wenn es uns Orientierung bietet.Deshalb geht es bei der Frage nach evan-gelischer Identität im religiösen Pluralis-mus darum: Wie kann unsere Identität sogebildet werden, dass sie diesen Maßstä-

ben des „Sola Scriptura“, des Christus al-lein, des „allein aus Gnaden“ und des „al-lein aus Glauben“ entspricht? In dieserHinsicht hat sich im neuen Zeitalter desreligiösen Pluralismus am Grundauftragder evangelischen Kirche gar nichts geän-dert.

* Diesem Beitrag liegt ein Vortrag zugrunde, den derAutor am 7. Juni 2007 in der Werkstatt Weltan-schauungen beim 31. Deutschen Evangelischen Kir-chentag in Köln gehalten hat.

inhalt07.qxd 24.06.2008 11:54 Seite 251

252 MATERIALDIENST DER EZW 7/2008

Nördlich von Halle an der Saale, kurzhinter dem beliebten Ausflugsziel Peters-berg, liegt der kleine Ort Ostrau. In derdortigen Schlosskirche kann man Erstaun-liches entdecken: Vor 75 Jahren wurde diePatronatsloge zu einer anthroposophischinspirierten Grab-Altar-Kapelle umgebaut.Es dürfte keine zweite evangelische Kir-che in Deutschland geben, in die ein An-dachtsraum nach anthroposophischenVorstellungen eingebaut ist. In vielen Kirchen gibt es Patronatslogen.Das sind jene besonderen Räumlichkeitenim Kirchenschiff, die dem Patron bzw. Rit-tergutsbesitzer und seiner Familie vorbe-halten waren. Patronatslogen sind oftprunkvoll ausgestattet. Heute werden sieunterschiedlich genutzt. Die seitlich andas Kirchenschiff angebaute Patronatslogeder Schlosskirche zu Ostrau ist nicht groß,verfügt aber, nicht zuletzt wegen ihrerFenster, über einen außerordentlichenZauber. Sie kann mit Recht als ein beson-deres spirituelles Kleinod bezeichnet wer-den. Das Schloss Ostrau gehört zu den bedeu-tendsten Barockschlössern Sachsen-An-halts. Bis 1945 war es im Besitz der Fami-lie von Veltheim. Ludwig von Veltheimveranlasste im Jahr 1713 den Bau deszweigeschossigen, dreiflügligen Barock-schlosses. Ursprünglich stand hier eineWasserburg, deren Gräben auch das neueSchloss umgeben sollten. 1764 ließ Fried-

rich August von Veltheim einen erstenSchlosspark als sog. „Lustwald“ anlegen.Schon damals beeindruckte die Anlagemit ihrer Reichhaltigkeit an fremden undseltenen Bäumen und Sträuchern. 1927 erbte Hans-Hasso von Veltheim denFamilienbesitz. In den folgenden Jahrenließ er das Schloss vollständig sanierenund umbauen. Im Südflügel richtete ereine umfangreiche Bibliothek ein und trugeine ungewöhnliche Kunstsammlung zu-sammen. Besonderes Augenmerk richteteVeltheim auf die Pflege des großenSchlossparks. Hier ließ er eine Fülle exo-tischer Bäume und Pflanzen setzen. Teil-weise soll er die Samen von seinen Reisenselbst mitgebracht haben. Den Parkwegengab er Namen, die auf seine besonderenInteressen hinweisen. So entstand ein„Pfad der Ferne“, ein „Pfad der Nähe“ undein „Rudolf-Steiner-Pfad“.

Hans Hasso von Veltheim begegnet derAnthroposophie

Hans Hasso von Veltheim wurde am 15.Oktober 1885 in Köln geboren. Der Fami-lientradition folgend begann er eine Mi-litärlaufbahn, doch schon bald wandte ersich anderen Interessen zu. So studierte erGeschichte, Philosophie und Kunstge-schichte. 1912 promovierte er mit einerArbeit über burgundische Kleinkirchen.Schwierig waren die Jahre des ersten

Andreas Fincke, Berlin

Die Grab-Altar-Kapelle in der Schlosskirche zu OstrauEin anthroposophisches Kleinod

BERICHTE

inhalt07.qxd 24.06.2008 11:54 Seite 252

Weltkriegs. Veltheim war oft in Berlin.Hier hatte er eine folgenschwere Begeg-nung: Am Nachmittag des 27. Januar1918 traf er erstmals Rudolf Steiner, dengeistigen Vater der Anthroposophie. Dasvierstündige Gespräch berührte ihn tiefund gab seinem Leben eine ungeahnteWendung. Später hat er häufiger berich-tet, dass er Steiner und seiner Lehre vielverdankt und die finsteren Jahre zwischen1933 und 1945 nur dank Steiners Anthro-posophie überstehen konnte.1Man kann die Anthroposophie („Men-schenweisheit“) als eine esoterische Welt-anschauung beschreiben. Steiner war von1902 bis 1913 Generalsekretär der deut-schen Sektion der Theosophischen Gesell-schaft. Er trennte sich jedoch von denTheosophen und entwickelte ab 1913 dieAnthroposophie, für die er auch die Be-zeichnung „Geisteswissenschaft“ verwen-dete. Es handelt sich hierbei um einen Er-kenntnisweg, der „das Geistige im Men-schenwesen zum Geistigen im Weltenall“führen möchte. Für die Erkenntnis höhererWelten entwickelte Steiner einen entspre-chenden Schulungs- oder Meditations-weg. Er beruft sich bei der Darlegung derKosmologie und seines Menschenbildesauf übersinnliche Erkenntnis, die er ausder „Akasha-Chronik“, einer Art Weltge-dächtnis, gewonnen haben will. Steinerbezeichnet die Anthroposophie als „Ge-heimwissenschaft“, als Weg der Erkennt-nis, der nur Eingeweihten zugänglich ist,für Außenstehende jedoch „okkult“, ver-borgen, bleibt.2Einer breiteren Öffentlichkeit wurde dieAnthroposophie durch die Waldorf-pädagogik, die biologisch-dynamischeLandwirtschaft (Demeter) sowie durch Er-scheinungsformen alternativer Medizin(Weleda) bekannt. In besonderer Weisesieht sich die Allgemeine Anthroposophi-sche Gesellschaft, die ihren Sitz in Dor-nach bei Basel (Schweiz) hat, Steiners

Erbe verpflichtet. Auf religiösem Gebietwird der Einfluss der Anthroposophie inder Christengemeinschaft besonders deut-lich. Diese Gemeinschaft wurde 1922 imBeisein Rudolf Steiners gegründet. InDeutschland hat die Gemeinschaft mitdem Untertitel „Bewegung für religiöseErneuerung“ einige zehntausend Mitglie-der und Freunde. Bis zu Steiners Tod im Jahre 1925 hieltVeltheim intensiven Kontakt. 1920, alsSteiner im Schweizer Dornach bei Baseldas erste „Goetheanum“ einweihte, ver-brachte Veltheim gut vier Wochen im Zen-trum der anthroposophischen Bewegung. Hans Hasso von Veltheim wurde zu dem,was man im besten Sinne des Wortes alsWeltbürger bezeichnen kann. Er unter-nahm Reisen nach Indien, Afghanistanund Südostasien, schrieb zahlreicheBücher, traf sich mit vielen Geistesgrößenseiner Zeit und führte reichlich Korres-pondenz. Er begegnete Rainer Maria Rilke, GerhartHauptmann, Oswald Spengler, HermannGraf Keyserling, Alexander und Imogenvon Bernus, Emil Bock, Annie Besant undKrishnamurti. Politisch stand er mitWalther Rathenau, Gustav Stresemann,Aristide Briand und später auch mit denVerschwörern des 20. Juli 1944 in Verbin-dung. Eine engere Freundschaft verbandihn mit dem Sinologen Richard Wilhelmund dem Berliner Oberrabbiner Leo Baeck. So wurde der kleine und unschein-bare Ort Ostrau, genauer das OstrauerSchloss, zu einem Zentrum des Geistes-lebens. 1931 ließ Veltheim im Park ein Denkmalfür seinen im Vorjahr verstorbenenFreund, den Sinologen Richard Wilhelm,errichten. Den Stein zierte eine chine-sische Steinplastik, die eine Guanyin (einebuddhistische Göttin) darstellte. Es folgtenweitere Denkmäler und Statuen mit Be-zug zur östlichen Philosophie.

253MATERIALDIENST DER EZW 7/2008

inhalt07.qxd 24.06.2008 11:54 Seite 253

Die Gestaltung Grab-Altar-Kapelle

1933 erfolgte der ungewöhnlichsteSchritt. Veltheim ließ die Patronatsloge zueiner anthroposophisch inspirierten Grab-Altar-Kapelle umbauen. Über seine Bau-pläne hüllte er sich in Schweigen. Wieman hört, war nicht einmal der Pfarrer inder Lage, die Neugierde der Ostrauer zubefriedigen.3 Dabei gab es gute Gründe,ungeduldig zu sein: Merkwürdige Bauma-terialien wurden per Bahn herbeige-schafft, und ein Durchbruch durch diedicken Kirchenmauern bereitete den Ein-bau eines neuen Fensters vor. Veltheimhatte den anthroposophischen ArchitektenFelix Kayser aus Stuttgart für die Arbeitengewinnen können. Kayser gab dem Raumeine Form, die dem Dornacher Goethea-num nachempfunden ist. So wurden dieÜbergänge von den Wänden zur Deckemit Schrägen abgefangen, in den Eckenentstanden fünfseitige Flächen. Man fin-det diese Gestaltungsformen heute viel-fach in Waldorfschulen, anthroposophi-schen Kliniken und Einrichtungen derChristengemeinschaft. An zentraler Stelle ließ Veltheim einenGrab-Altar aus Gauinger Kalkstein aufstel-len. Dieser bildet den Mittelpunkt derkleinen Kapelle und zieht die Blicke derBetrachter auf sich. Erneut fallen jenefünfseitigen Flächen auf. Im unteren Teilbefindet sich eine Steinplatte mit einemKreuz darauf, das von sieben Sternen um-geben ist. Zweifellos weist das Kreuz aufTod und Auferstehung Christi hin, dieSterne lassen an die sieben Worte Jesu amKreuz denken. Hinter dieser Steinplattewar ein Hohlraum vorbereitet, in demVeltheims Urne einmal Platz finden sollte.Oben, auf der ebenen Fläche des Altarswurden Veltheims Name, der Geburtsortund die Geburtsstunde eingraviert. Für dieTodesdaten ließ man Platz. Auf dem Altarstand (und steht jetzt wieder) ein siebenar-

miger Leuchter. Je nach Sonnenlicht fallendem Besucher der Kapelle jedoch als er-stes die eindrucksvollen Glasfenster auf.Sie wurden von der ebenfalls anthroposo-phisch inspirierten Künstlerin Maria Stra-kosch-Giesler gestaltet. Strakosch-Giesler, geboren 1877, war von1902 bis 1906 Schülerin von Wassily Kan-dinski. Sie stand zeit ihres Lebens mit vie-len Mitgliedern der Künstlergruppe„Blauer Reiter“ in engem Kontakt. Verhei-ratet war sie mit Alexander Strakosch, derspäter Lehrer an der ersten Waldorfschulein Stuttgart wurde. Im März 1908 lerntenbeide Rudolf Steiner bei einem Vortrag inBerlin kennen. Es entstand eine enge Be-ziehung. Keine zweite bildende Künstle-rin hat derart viele konkrete Anregungenvon Rudolf Steiner in ihr Werk aufgenom-men wie Maria Strakosch-Giesler.4 Viergroße Bilder, die sie zum Thema „die vierElemente“ geschaffen hat, wurden im Sep-tember 1919 anlässlich der Eröffnung derersten Waldorfschule in Stuttgart ausge-stellt. 1938 musste das Ehepaar Strakosch-Giesler Deutschland verlassen und zogmittellos in die Schweiz. Nach 1945konnte sich Maria Strakosch-Giesler inder Welt der Kunst zurückmelden – eswurden zahlreiche Ausstellungen organi-siert. Sie blieb jedoch einer breiteren Öf-fentlichkeit unbekannt. 1970 starb sie inhohem Alter in Dornach. Ihr Nachlasswird im dortigen Goetheanum und beider Christengemeinschaft in Münchenaufbewahrt; zahlreiche Skizzen befindensich auch im Bauhaus-Archiv in Berlin.5Im Frühjahr 1935 trat Veltheim der Chris-tengemeinschaft bei.6 Dieser Schritt zeigt,welch großen Stellenwert die Anthroposo-phie in seinem Leben eingenommenhatte. Wenige Wochen nach diesemSchritt tagte die Synode der mitteldeut-schen Lenkerschaft der Christengemein-schaft auf Schloss Ostrau. Zu den Gästengehörten zahlreiche Gründergestalten der

254 MATERIALDIENST DER EZW 7/2008

inhalt07.qxd 24.06.2008 11:54 Seite 254

Christengemeinschaft, darunter EmilBock, der spätere Erzoberlenker der Ge-meinschaft und einer ihrer maßgeblichenRepräsentanten in jener Zeit. Die Chris-tengemeinschaft war damals in Bedräng-nis; ein erstes Verbot hatte man zwar 1935noch abwenden können, der politischeDruck war jedoch hoch. Die Synode vomFrühjahr 1935 ist aber auch aus einem an-deren Grund interessant: Man kann davonausgehen, dass bei dieser Gelegenheiterstmals der Kultus der Menschenweihe-handlung in der Grab-Altar-Kapelle zele-briert wurde.7In den nächsten Jahren hielt Veltheim wei-terhin engen Kontakt zur Christengemein-schaft. Er nutzte Reisen für zahlreiche Be-gegnungen und traf sich wiederholt mitFriedrich Rittelmeyer und Emil Bock. ImSommer 1941 wurde die Christengemein-schaft endgültig verboten. Die Gestapo er-schien auch bei Veltheim, befragte ihnmehrere Stunden lang und durchsuchtedas Haus.8 Trotz solcher Drohgebärdenließ Veltheim sich nicht einschüchtern;immer wieder lud er Vertreter dieser reli-giösen Minderheit in sein Schloss ein.

Schloss Ostrau in der Zeit der DDR

1945 wurde alles zerstört. Zwar wurdeOstrau zuerst von amerikanischen Trup-pen besetzt, nach deren Abzug kam je-doch die sowjetische Armee. Im Juli 1945wurde Hans-Hasso von Veltheim verhaf-tet. Durch Intervention eines Freundes,der auf seine Rolle in der Widerstandsbe-wegung hinwies, kam er jedoch wiederfrei. Mit der Bodenreform vom Herbst1945 wurde Veltheim enteignet und dasSchloss verstaatlicht. Am 1. November1945 floh er schwerkrank und weitgehendmittellos zu Freunden nach Niedersach-sen, oder, wie man damals sagte, „in denWesten“.

Teile der Bibliothek und der wertvollenKulturgüter wurden in die Martin-Luther-Universität überführt, einen nennenswer-ten Teil beschlagnahmten die sowjeti-schen Besatzungstruppen, ein weiterer fielPlünderungen zum Opfer. Zeitzeugen er-zählen, dass zahlreiche Bücher derSchlossbibliothek auf der Ostrauer Müll-kippe verbrannt wurden. Genaue Anga-ben sind kam möglich, aber eine Zahlkann den Aderlass verdeutlichen: In den1930er Jahren umfasste Veltheims Biblio-thek etwa 20 000 Exemplare. Rund 10 000 wurden zu DDR-Zeiten in derHalleschen Universitätsbibliothek inven-tarisiert.9 Der Rest fehlt. Das Schloss wurde später als Internat ge-nutzt. Der Park verwilderte nicht nur, son-dern erlitt mutwillige Zerstörung. Sowurde z. B. das Richard Wilhelm gewid-mete Denkmal demontiert, die Statuenach Halle geschafft und zunächst vomRobertinum der Martin-Luther-Universitätübernommen. Später kam sie in die Staat-liche Galerie Moritzburg. Dort kann mansie auch heute noch finden. Der Sockeldes Denkmals blieb vorerst im Schlossgar-ten – irgendwann war auch er verschwun-den. 1990 konnte der Ostrauer Pfarrer ihnaus dem Schlossgraben bergen. Heutesteht er im Pfarrgarten. Selbst der dasSchloss umgebende Wassergraben nahmzu DDR-Zeiten mehr Schaden, als mansich das vorstellen kann. Erst verlandeteer, dann leitete man die Gülle der LPG-Schweine hinein. Es roch entsprechend. Die Grab-Altar-Kapelle hat die DDR weit-gehend unbeschadet überstanden. Sie wardem Zugriff der Machthaber entzogen,weil sie Teil des Kirchengebäudes ist –und weil ein beherzter Pfarrer den Raumund seine Fenster mit einfachsten Mittelngerettet hat. Dieter Pretzsch, Pfarrer inOstrau von 1982 bis 1996, hat die Patro-natsloge erhalten und die Glasfenster mit-tels eines einfachen Gitters vor Steine

255MATERIALDIENST DER EZW 7/2008

inhalt07.qxd 24.06.2008 11:54 Seite 255

werfenden Jugendlichen gesichert. Er hatsich mit der ihm fremden Welt der Anthro-posophie beschäftigt und im Unterge-schoss der Patronatsloge eine kleine Aus-stellung über Hans Hasso von Veltheimeingerichtet. Diese wurde in den letztenJahren kontinuierlich erweitert und kannnach Absprache mit dem Ortspfarrer be-sichtigt werden. Hans Hasso von Veltheim verstarb am 13.August 1956 in Utersum auf der InselFöhr. Im Oktober 1956 wurde die Urnemit den sterblichen Überresten in Kölnbeigesetzt. Vorläufig, wie man damalssagte, denn Veltheim hatte sich eine Über-führung nach Ostrau gewünscht. Daranwar jedoch aufgrund der politischen Ver-hältnisse vorerst nicht zu denken. Erst mitdem Ende der DDR konnte der letzteWille realisiert werden. Im Oktober 1990wurde die Urne an dem dafür vorgesehe-nen Ort im Altar der Grab-Altar-Kapellebeigesetzt. Das Schloss Ostrau beherbergt heute eineGrundschule und einen Jugendklub. DerOstrauer Kulturverein hat einige Räumeim Schloss mit bescheidenen Mitteln wie-derhergestellt. Der Wassergraben und dieParkteiche wurden in den Jahren 1996 bis1998 gesäubert. 1999 konnte die Sanie-rung der dreibögigen Schlossbrücke been-det werden.

Vergangenheit und Gegenwart

Die Grab-Altar-Kapelle in der Schlosskir-che zu Ostrau ist ein Kleinod. Sie zeugtvon den vielseitigen Interessen eines Rit-tergutsbesitzers in der mitteldeutschenProvinz, der zwar Mitglied der NSDAPwar, sich jedoch ohne Zweifel in einer in-neren Gegnerschaft zum Nationalsozialis-mus befand. In den schweren Jahren hielter Freundschaft mit dem Berliner Ober-rabbiner Leo Baeck, und er setzte sich fürseine von den Nazis zum Tode verurteilte

Cousine Elisabeth von Thadden (1890-1944) ein. Als diese in Plötzensee auf ihreHinrichtung warten musste, ließ er ihr tröstende Briefe ins Gefängnis schmug-geln. Zu den Verhafteten aus Veltheimsengerer Umgebung gehörte auch seinArzt, der Leiter des Halleschen St. Elisa-beth-Krankenhauses.10

Das Schloss und der Park Ostrau wurdennach dem Einmarsch der Roten Armeeund der Machtübernahme durch die SEDweitgehend zerstört. Wer heute fragt,warum in Mitteldeutschland die Kirchenmarginalisiert sind, warum es kein Bürger-tum mit Sinn für Religion gibt, warum ost-deutsche Schulen nach wie vor ein Hortdes Atheismus sind, der findet in derNachkriegsgeschichte von Ostrau eineAhnung von der Zerstörung des Geistes-lebens in der DDR. Kurz vor seinem Todschrieb Hans Hasso von Veltheim: „DerVerlust der Vergangenheit steht ... in einermagischen Relation zur namenlosenAngst vor der völlig verhangenen Zu-kunft.“11

Anmerkungen

1 Vgl. Karl Klaus Walther, Hans Hasso von Veltheim.Eine Biographie, Halle 2005, 69.

2 Zur Anthroposophie vgl. genauer: R. Hempelmannu.a. (Hg.), Panorama neuer Religiosität. Sinnsucheund Heilsversprechen zu Beginn des 21. Jahrhun-derts, Gütersloh 22005, 248ff.

3 Vgl. die Erinnerungen von Dieter Pretzsch, WoDiesseits und Jenseits einander begegnen – dieGrab-Alter-Kapelle des Dr. Hans-Hasso von Velt-heim in der Schloßkirche zu Ostrau, in: Zeitschriftfür Heimatforschung Sachsen-Anhalt 10/2001, 63-72, hier 63.

4 Vgl. Otto Buchner, Die Malerin Maria Strakosch-Giesler. Über Ursprungsmotive anthroposophischerKunst, in: Die Drei 7/8, 1989, hier 513.

5 Vgl. Otto Buchner, Die Malerin Maria Strakosch-Giesler. Über Ursprungsmotive anthroposophischerKunst, in: Die Drei 7/8, 1989, hier 509.

6 Vgl. Karl Klaus Walther, Hans Hasso von Veltheim.Eine Biographie, Halle 2005, 268.

7 Vgl. Ekkehard Meffert: Der Asienreisende Hans-Hasso von Veltheim und seine Grab-Altar-Kapelle

256 MATERIALDIENST DER EZW 7/2008

inhalt07.qxd 24.06.2008 11:54 Seite 256

257MATERIALDIENST DER EZW 7/2008

auf Schloss Ostrau bei Halle a. d. Saale, in: DieDrei 5/2002, 15-30, hier 21.

8 Karl Klaus Walther, Hans Hasso von Veltheim, in:Die Christengemeinschaft 10/2003, 492-495, hier494.

9 Karl Klaus Walther, Hans Hasso von Veltheim. EineBiographie, Halle 2005, 245 und 242.

10 Vgl. Dieter Pretzsch, Er wusste, dass das Ende destausendjährigen Reiches kommen würde undpflanzte trotzdem Bäume – Dr. Hans Hasso vonVeltheim-Ostrau, in: Bitterfelder Heimatblätter, HeftXXIII, 2001, 93-98. hier 94.

11 Zit. nach: Dieter Pretzsch (Hg.), Wenn Du über dieBrücke gehst ..., Halle 2004, 4.

Literatur

Otto Buchner: Die Malerin Maria Strakosch-Giesler. Über Ursprungsmotive anthroposo-phischer Kunst, in: Die Drei 7/8, 1989, 509-518

Ekkehard Meffert: Der Asienreisende Hans-Hasso von Veltheim und seine Grab-Altar-Kapelle auf Schloss Ostrau bei Halle a. d.Saale, in: Die Drei 5/2002, 15-30

Dieter Pretzsch: Er wusste, dass das Ende destausendjährigen Reiches kommen würde undpflanzte trotzdem Bäume – Dr. Hans Hassovon Veltheim-Ostrau, in: Bitterfelder Heimat-blätter, XXIII, 2001, 93-98

Dieter Pretzsch: Wo Diesseits und Jenseits ein-ander begegnen – die Grab-Alter-Kapelle desDr. Hans-Hasso von Veltheim in derSchloßkirche zu Ostrau, in: Zeitschrift fürHeimatforschung Sachsen-Anhalt 10/2001,63-72

Dieter Pretzsch (Hg.): Wenn Du über dieBrücke gehst ..., Halle 2004

Karl Klaus Walther: Hans Hasso von Veltheim.Eine Biographie, Halle 2005

Karl Klaus Walther: Hans Hasso von Veltheim,in: Die Christengemeinschaft 10/2003, 492-495

inhalt07.qxd 24.06.2008 11:54 Seite 257

258 MATERIALDIENST DER EZW 7/2008

Das Genre Kriminalroman

„Der Kriminalroman trägt alle Merkmaleeines blühenden Literaturzweiges zurSchau.“1 Der Satz ist nicht neu, er stammtvon Bertolt Brecht, der ihn 1940 in einemEssay über die Popularität des Kriminalro-mans notiert hat. Heutzutage stimmt dieseAussage mehr denn je. Nach internationa-len Schätzungen sind 25% aller literari-schen Neuerscheinungen Kriminalro-mane; ebenso erklärt ein Viertel allerMenschen, die sich bei Umfragen als „Le-ser/-innen“ bezeichnen, sie läsen auchKrimis. Wenn man noch die Omnipräsenzdes Krimis im Film und besonders imFernsehen hinzunimmt, kann man die ge-sellschaftliche Bedeutung dieses Genresermessen. Das Genre verbindet auf glückliche WeiseErwartbares und Unerwartbares. Odernoch einmal mit Brecht: „Der Kriminalro-man hat ein Schema und zeigt seine Kraftin der Variation. Die Tatsache, dass einCharakteristikum des Kriminalromans inder Variation mehr oder weniger festge-legter Elemente liegt, verleiht demGanzen sogar das ästhetische Niveau.“2

Zum Schema gehört sicher dies: Ein Ver-brechen ist geschehen, ein amtlicher odernichtamtlicher Ermittler bemüht sich umAufklärung, die zumeist ihn und auch an-dere in bedrohliche Situationen bringt.Diese auch Spannung erzeugende Bedro-hung, der „thrill“, endet mit der Entlar-vung des Täters, mit der dann auch derGerechtigkeit genüge getan wird. DiesesSchema ist aber wiederum unglaublichaufnahmefähig für unterschiedlichste lo-

kale, regionale und gesellschaftliche Sub-texte. Das wird weidlich genutzt. Die rei-nen Rätsel-Krimis etwa von Edgar Wallacesind heute weit weg, wenn beispielsweisebei Henning Mankell die negative Seiteder Globalisierung in Form osteuropäi-scher Mafia oder politisch motivierter Kil-lerkommandos aus dem Südafrika derApartheid ins beschauliche Südschwedenschwappt – oder wenn im deutschen „Tat-ort“ zeitnah Themen wie NS-Vergangen-heit (Wehrmachtsausstellung), Sextouris-mus oder Wiedervereinigung die Folie kri-minalistischer Aufklärung bilden. Ich zi-tiere Jochen Vogt, einen der wenigen uni-versitären Krimi-Forscher: „Ungeachtetseiner durch und durch kommerziellenNatur hat sich ‚der Krimi’ zu einem Instru-ment entwickelt, mit dem die Gesellschaftsich selbst beobachten kann – geradeauch dort, wo sie sich immer weniger ver-steht.“3

Krimi und Religion

Dies gilt dann auch für den Bereich derReligion, wobei das nicht wirklich überra-schend kommt. Immer geht es schließlichum Gut und Böse, was ja der Theologienicht fern liegt. Für die theologische Be-trachtung hat das Genre Kriminalromaneinen weiteren entscheidenden Vorzug: Esgeht nie um Banalitäten. Per definitionembeschäftigt er sich mit extremen Situatio-nen: Mord und Totschlag, Schuld undSühne, Leidenschaft und Verzweiflung, Si-tuationen also, in denen es ums Ganzegeht und die nicht selten moralische undphilosophische Fragen aufwerfen. Da fin-

Lutz Lemhöfer, Frankfurt a. M.

Heimliche Religion im KriminalromanDas Beispiel Skandinavien

inhalt07.qxd 24.06.2008 11:54 Seite 258

den das Geistliche und der Geistlichedurchaus Raum.Dies kann auf dreierlei Weise geschehen:entweder durch einen geistlichen Fahn-der, der die Maßstäbe seines Berufsstan-des in die Suche nach dem Täter einbringtund damit unerwartete Perspektiven eröff-nen kann, oder durch ein religiöses Mi-lieu, in dem oder vor dessen Hintergrundein Verbrechen stattfindet. Höchst span-nend wird dann die Frage, ob dieses Mi-lieu – Kloster, Gemeinde, Kirchentag – le-diglich die zufällige Kulisse einer krimi-nellen Tat darstellt oder ob diese ihreWurzeln in dem religiös begründeten Be-ziehungsgeflecht findet. Drittens kannman manchmal auch ertragreich einenvöllig säkularen Krimi aus religiöser odertheologischer Perspektive betrachten.Schuld – Unschuld; Recht – Unrecht: Dassind ja nicht nur juristische Kategorien,sondern auch theologische.Diese dritte Fragestellung soll hier im Mit-telpunkt stehen, ohne die beiden anderenganz außen vor zu lassen. Denn die klas-sischen geistlichen Ermittler vom Schlageeines „Father Brown“ bei Gilbert K. Ches-terton sind nun doch schon etwas ange-jahrt (auch wenn es im deutschen Fernse-hen plattfüßige Adaptionen mit OttfriedFischer als neuzeitlichem „Pfarrer Braun“gibt), ebenso der klassische Pfarrhof etwain Dorothy Sayers’ „Der Glocken Schlag“.Hier geht es darum, religiösen Themenauch in einem sehr säkularen Milieunachzugehen, und dafür eignet sich diebei uns sehr populäre skandinavischeKrimi-Kultur besonders gut.

Religion in Skandinavien

Die religiös-weltanschauliche LandschaftSkandinaviens ist durch ein Paradox ge-kennzeichnet: eine weitgehend säkulari-sierte Mentalität trotz – oder sogar wegen– bis in die Gegenwart reichender staats-

kirchlicher Tradition. Norwegen, Finnlandund Dänemark haben bis heute eine lu-therische Staatskirche; ihre Stimme ist beiGesetzentwürfen gefragt. In Dänemarkbeispielsweise sind Pfarrerinnen und Pfar-rer Staatsbeamte. Die dänische Königinentscheidet gemeinsam mit der staatli-chen Kirchenministerin über Liturgie, Ri-tuale und Bibelübersetzungen.4 Ähnlichwar es bis vor rund zehn Jahren auch inSchweden; erst seit 1996 werden Schwe-den bei ihrer Geburt nicht mehr automa-tisch Lutheraner. Die Kirchengemeindenbildeten zugleich das Einwohnermelde-amt. Erst mit der Jahrtausendwende en-dete dort das Staatskirchentum. Trotz oderwegen dieser engen Verquickung mit demStaat war und ist die Zahl der Kirchgängerklein. Fünf Prozent der Schweden gehenregelmäßig in die Kirche, und weniger alsdie Hälfte der Bevölkerung glaubt lautUmfragen an einen persönlichen Gott.5Da überrascht es nicht, dass die Kommis-sare in den Krimis es auch nicht tun, zu-mindest nicht erkennbar.In diesen skandinavischen Krimis gibt eskeine Hauptfiguren wie den DetectiveSergeant Pete Decker in den Romanenvon Faye Kellerman, der sich, angestoßendurch die Liebe zu einer schönen ortho-doxen Jüdin, intensiv mit dem Judentumauseinandersetzt, sich im Verlauf der Ro-mane damit identifiziert und zum jüdi-schen Glauben konvertiert. Undenkbar istauch, dass – wie im englischen klassi-schen Krimi bei Dorothy Sayers – der er-mittelnde Polizist (Inspektor Parker vonScotland Yard, der Freund und Helfer deseigentlichen Detektivs Lord Peter Wimsey)in seiner kargen Freizeit die neuesten exe-getischen Kommentare zum Johannes-evangelium studiert.Wenn man davon ausgeht, dass sich imKriminalroman das Bild einer Gesellschaftbesonders aktuell widerspiegelt, dannwäre Skandinavien eine ziemlich säkulari-

259MATERIALDIENST DER EZW 7/2008

inhalt07.qxd 24.06.2008 11:54 Seite 259

sierte Region. Denn bei den 120 skandi-navischen Krimi-Autoren, deren Werkeauch auf Deutsch erscheinen, spielen Kir-che und Religion in der Regel keine Rolle;geistliche Detektive oder Detektivinnensind absolute Mangelware. Ob man diebekannten norwegischen Autorinnennimmt wie Anne Holt oder Karin Fossumoder die berühmten Schweden HenningMankell oder Håkan Nesser – das Boden-personal des lieben Gottes glänzt meistdurch Abwesenheit. Anders als beispiels-weise im klassischen englischen Krimispielt sich wenig in Kirche und Pfarrhofab. Die Protagonisten, die Polizisten undDetektive, schlagen sich zwar mit allenmöglichen persönlichen Problemenherum, aber kaum mit solchen von Glau-ben und Religion. Und wenn einmal reli-giöse Amtsträger o. ä. vorkommen, be-kommen sie kein eigentlich geistlichesProfil, sondern sind Teil eines sozialen Be-treuungsnetzes.

Geistliches Personal im skandinavischenKrimi

So ist es zum Beispiel bei Åke Edwardsonin seinen Göteborg-Krimis um die Gestaltdes eleganten Kommissars Erik Winter.Dieser selbst interessiert sich zwar nichtbesonders für Religion, aber im Polizei-präsidium gibt es eine Pastorin. Sie hältdort keine Andachten, sondern arbeitet alsseelsorgerische Beraterin. Sie bietet per-sönliche Gespräche in Krisensituationenan, hört zu und redet über das, worüberbei der Polizei sonst keiner redet: überGefühle, Ängste, Schwächen. Dabei ist sieselbst nun gar kein Halbgott in Schwarz,sondern ein Mensch mit den gleichenProblemen wie ihre Schäfchen. Die alleinerziehende Mutter einer aufs Heftigste pu-bertierenden Tochter kämpft mit ihren ei-genen Problemen mindestens so hart wiedie Klienten, die sie berät. Das macht sie

sympathisch, sie gehört dazu. Aber kei-nesfalls repräsentiert sie eine höhereMacht oder höhere Ordnung. Sie ist einkleines Rädchen im großen Getriebe derPolizei – und keineswegs das bedeutend-ste. Den entscheidenden Beitrag zur Ge-rechtigkeit leisten religiös indifferenteKommissare und Inspektoren.Diese Rollenverteilung gilt sogar dann,wenn eine Geistliche die Hauptfigur istwie die Theologin Eva Ström in einer klei-nen Serie von Büchern des Autors WillyJosefsson. Sie ist Pastorin in der südschwe-dischen Provinz. In einem Roman dieserSerie („Denn ihrer ist das Himmelreich“)wird ein kleiner Junge aus ihrem Kirchen-chor tot aufgefunden – ermordet, wie diePolizei bald feststellt. Der energischenFrau lässt das keine Ruhe. Sie untersuchtdas Umfeld, befragt Menschen, die eineVerbindung zu dem Jungen hatten, ent-deckt unter den Kindern weitere, die aufnicht durchschaubare Weise mit dem Op-fer zu tun hatten. Ihre Suche nach Täterund Motiv ist immer von der Angst getra-gen, es könnte in ihrer Gemeinde, ihremChor weitere Opfer geben – ein durchausgeistliches Motiv. Aber die Pastorin istkein Superdetektiv. Sie verrennt sich infalsche Spuren, vermasselt wichtige Ge-spräche und verstrickt sich in ein Ge-strüpp privater und dienstlicher Intrigen,mit denen andere ihr das Leben schwermachen. Durch manche Irrungen undWirrungen kommt sie schließlich dem Tä-ter auf die Spur, aber die Lösung ist tra-gisch und gestattet kein befriedigtes Aufat-men. Dass am Ende die Gerechtigkeitsiegt, kann man leider nicht behaupten.Erst recht garantiert das kirchliche Milieukeineswegs den Sieg des Guten. Im Ge-genteil: Bei manchen Autoren sind eherdie Täter dort zu Hause als die Aufklärer,so etwa bei Åsa Larsson. In ihrem erstenRoman „Sonnensturm“ erweist sich einepfingstlerische Freikirche nicht nur als

260 MATERIALDIENST DER EZW 7/2008

inhalt07.qxd 24.06.2008 11:54 Seite 260

Magnet für Sinnsucher und Visionäre, son-dern als ein frommes Wespennest. Neid,Missgunst, seelische und körperliche Ge-walt scheinen dort am meisten zu blühen,wo sie am heftigsten verleugnet werden:in den amtlichen Bastionen der Gottes-und Nächstenliebe. Dass die lutherischeStaatskirche da gut mithalten kann, hatÅsa Larsson in ihrem zweiten Roman„Weiße Nacht“ vorgeführt. Da wird einekantige feministische Pastorin Opfer eineskleinstädtisch-kirchlichen Umfelds, dasauf die Störung der vertrauten politisch-kirchlichen Verhältnisse mit mörderischerGereiztheit reagiert. Und beim Klassikerdes anspruchsvollen schwedischen Kri-mis, bei Henning Mankell, sind es im letz-ten Buch um den Protagonisten Kommis-sar Wallander religiöse Sektierer, die mitFeuer und Dynamit die Erde reinigen undGottes Reich herbeibomben wollen. Dasveranlasst sogar den völlig kirchenfernenKommissar zu einem theologischen Kom-mentar. Als seine Tochter ihn nach denMotiven der religiösen Fanatiker fragt, ant-wortet er: „Weil sie an Gott glaubten undihn liebten. Aber ich kann mir nicht den-ken, dass diese Liebe gegenseitig war.“

Polizisten als heimliche Priester?

Was im skandinavischen Krimi so gut wienicht vorkommt, sind der gläubige Prota-gonist als Aufklärer und Kämpfer für dieGerechtigkeit sowie der Glaube als Instru-ment, wie diese Gerechtigkeit zu errei-chen sei. Vielmehr rücken die Polizisten,zumeist im Polizeiteam, an diese Stelle.Helmut Heißenbüttel, Dichter und Krimi-Fan, hat schon früher ironisch vom Detek-tiv im Krimi als „bürgerlich getarntem Erz-engel“ gesprochen. Gerade im skandina-vischen Krimi nehmen Polizisten klamm-heimlich die Rolle des Priesters ein. Dasbetont etwa einer der besten deutschenKrimi-Fachjournalisten, Rezensent in der

ZEIT und der FAZ, Tobias Gohlis: „Es isterstaunlich, wie oft, mal als Stoßseufzer,mal als Anrufung in letzter Not, der NameGottes diese scheinbar so säkularen, offenmit Sex, Gewalt und Brutalität aller Formspielenden Romane durchzieht. Dochniemand vernimmt diese Hilfeschreie. Inbritischen zeitgenössischen Kriminalro-manen, etwa denen eines Andrew Tayloroder David Hewson, spielen Priester wie-der eine Rolle. Über die traditionellenWahrer der öffentlichen und privaten Mo-ral werden die Gewissenskriege der un-übersichtlichen Moderne ausgetragen.Nicht jedoch im protestantisch so stark,bis in die Trinkgewohnheiten hinein ge-prägten Norden. Hier sind es die gehobe-nen Beamten vom Schlage eines Wallan-der, Beck oder Hjelm, meist geschiedeneEigenbrötler mit Neigung zu Dickleibig-keit und Spintisierereien, die als schwa-che, zähe Stellvertreter Gottes fungieren.Bieder und biedermännisch bilden sie dasmoralische Widerlager zu McDonalds,KGB, CIA und Microsoft. Psoriasis undDiabetes sind die Stigmata dieser Auser-wählten, Einsamkeit und Erschöpfung ihreOrdensregeln. Ihre tapsige Hilflosigkeitweckt die Betreuungswünsche der Lese-rinnen, ihre Tapferkeit in aussichtsloserLage Bewunderung. Und ihr stures Fest-halten an den Regeln des Anstands, dieder Job vorschreibt (Wallander spricht ein-mal vom ‚Unteroffizier in sich’) lässt sieals die einzig authentischen Reformistenerscheinen: Tue nur deine Pflicht und alleswird gut werden. Sie wissen immerhin,worin ihre Pflicht besteht. Der nordischeKrimi ist die Apotheose des Polizeibeam-ten.“6

Der Dienst dieser Polizei gilt nicht einemreligiösen, sondern einem gesellschaftli-chen Ideal. Prägend für diesen Weg desgesellschaftspolitisch ambitionierten Kri-minalromans waren Maj Sjöwall und PerWahlöö. Ihre zehn Romane um Kommis-

261MATERIALDIENST DER EZW 7/2008

inhalt07.qxd 24.06.2008 11:54 Seite 261

sar Martin Beck und seine Kollegen (erstspäter kommt eine Kollegin dazu) von derReichsmordkommission nutzen den Span-nungsroman für den Transport radikalerGesellschaftskritik.„Der erste Roman, Roseanna (1965, dt.,Die Tote im Götakanal’, 1968) beruhtnoch auf dem Konzept amerikanischerPolizeiromane, doch schon mit MannenSom Gick Upp I Rök (1966, dt. ,DerMann, der sich in Luft auflöste’, 1969) be-gann das Ehepaar, seinen eigenen Stil zuentwickeln. Jedes Buch enthielt immerdeutlicher herausgearbeitete politischeElemente, und die beiden letzten Ro-mane, Polismörderen (1974, dt. ,Der Poli-zistenmörder’, 1974) und Terroristerna(1975, ,Die Terroristen’, 1977) sind keineKriminalromane im eigentlichen Sinnemehr, sondern dunkle und erschütterndeBilder einer Wohlfahrtsgesellschaft imNiedergang. Die politischen Sympathiendes Ehepaares lagen klar bei der Linken,und sie ritten scharfe Attacken gegen daspolitische Establishment und die unsensi-ble Behördenbürokratie. Die Tatsache,dass wirkliche Personen und Ereignissemehr oder weniger große Rollen im Ver-lauf der Handlung spielten, verlieh denRomanen einen Anschein von Glaubwür-digkeit, der noch von einer bislang nie ge-kannten Aufmerksamkeit der Autoren fürDetails verstärkt wurde. Die offen ausge-sprochene Kritik an der Gesellschaft unddas Überschreiten der recht engen Gren-zen, welche der Kriminalliteratur bis da-hin auferlegt waren, waren etwas ganzNeues und übten eine gewaltige Wirkungauf die kleine Welt der schwedischen Kri-miszene aus.“7

In der Nachfolge von Sjöwall und Wah-löö, deren Romane bis heute verfügbarsind und die aktuell fürs Fernsehen adap-tiert wurden und werden, stehen heuteviele nordische Autoren, nicht zuletzt derin Deutschland wohl bekannteste aktuelle

schwedische Krimi-Autor, Henning Man-kell. Sein Protagonist, Kommissar KurtWallander im beschaulichen Provinz-städtchen Ystad, ist so etwas wie ein kon-servativer Linker. Mit wachsendem Unbe-hagen erlebt er, wie selbst die beschauli-che Provinz Schonen in Südschwedenzum Schauplatz scheußlicher, geradezubizarr grausamer Verbrechen wird. Die in-ternationale Kriminalität schwappt in eineländliche Gegend hinein, in der Gemein-schaftssinn und Nachbarschaftshilfe hochgehalten wurden und niemand die Haus-tür abschließt. Dieses schwedische„Volksheim“, das einstige Gesell-schaftsideal der Sozialdemokraten, zer-bröckelt unter dem Ansturm der Globali-sierung von außen und wachsender ge-sellschaftlicher Spaltung im Inneren. Kom-missar Wallander macht sich oft Gedan-ken darüber: „Das Land, in dem er aufge-wachsen war, sein Schweden, das Land,das nach dem Krieg aufgebaut wordenwar, hatte nicht so fest auf Urgestein ge-standen, wie sie geglaubt hatten. Unterdem Ganzen hatte sich verdeckter Morastbefunden. Die Gesellschaft war härter ge-worden. Menschen, die sich in ihrem ei-genen Land überflüssig oder gar unwill-kommen fühlten, reagierten mit Aggressi-vität und Verachtung. Wallander wusste,dass es keine sinnlose Gewalt gab. JedeGewalt hatte für den, der sie ausübte, ei-nen Sinn. Erst wenn man es wagte, dieseWahrheit zu akzeptieren, durfte man hof-fen, die Entwicklung in eine andere Rich-tung zu lenken.“8

Diese Hoffnung wird freilich in der Ent-wicklung der Wallander-Romane immerschwächer, ähnlich wie in den älteren Ro-manen von Sjöwall und Wahlöö. Undauch hier wachsen die Zweifel am eige-nen Polizeiberuf. „Man konnte längstnicht mehr darüber hinweg sehen, dassdie Kriminalität in Schweden blühte wienie zuvor. Menschen, die Wirtschaftskri-

262 MATERIALDIENST DER EZW 7/2008

inhalt07.qxd 24.06.2008 11:54 Seite 262

minalität auf hohem Niveau betrieben,lebten in einem nahezu geschütztenRaum ... Doch Wallander sah keinerleiAnzeichen für energische Gegenmaßnah-men. Vielmehr wurden die Polizei und derRechtsapparat abgerüstet.“9

Gesellschaftsideal als Religion

Der Erfinder des Kommissars aus Ystad,der Autor Henning Mankell, hat nichts da-gegen, wenn man ihn als „Moralisten“ be-zeichnet oder „letzten Mohikaner, der alteWerte hoch hält“ – so in mehreren Inter-views (nachzulesen bei www.schweden-krimi.de). Von Religion würde er in die-sem Zusammenhang sicher nicht spre-chen. Wenn man freilich bei „Religion“nicht sofort an persönliche Götter oder ei-nen persönlichen Gott denkt, hat diesesmoralische Streben bei Mankell vielleichtdoch religiöse Züge. Ich beziehe mich da-bei auf einen Ansatz des Sozialpsycholo-gen Erich Fromm, mit Adorno und Hork-heimer Begründer der „FrankfurterSchule“. Er versteht unter Religion „jedesSystem des Denkens und Tuns, das von ei-ner Gruppe geteilt wird und dem Indivi-duum einen Rahmen der Orientierungund ein Objekt der Hingabe bietet ... Dadas Bedürfnis nach einem System der Ori-entierung und Hingabe einen wesentli-chen Bestandteil des menschlichen Da-seins ausmacht, ist die Intensität diesesBedürfnisses zu verstehen. Tatsächlich gibtes keine stärkere Energiequelle im Men-schen ... Wir müssen alle Ideale ein-schließlich derjenigen, die in weltlichenIdeologien in Erscheinung treten, als Aus-druck des selben menschlichen Bedürfnis-ses betrachten und sie danach beurteilen,wie viel Wahrheit sie enthalten, in wel-chem Maße sie der Entfaltung menschli-cher Kräfte dienen und bis zu welchemGrade sie dem menschlichen Bedürfnisnach Ausgeglichenheit und Harmonie in

seiner Welt tatsächlich entgegenkom-men.“10

In diesem Sinn hat nach Fromm jederMensch eine Religion, ob bewusst odernicht; entscheidend ist die Frage, ob diese„Religion“ destruktiv oder konstruktiv, le-bensfördernd oder lebensverneinend ist.In dieser Perspektive wären die Heldender nordischen Krimis durchaus als gläu-big zu bezeichnen. Denn sie glauben mitnachgerade religiöser Inbrunst an dieMöglichkeit gerechter Verhältnisse undgehen im Einsatz dafür nicht selten anihre persönlichen Grenzen. Von transzen-denten Mächten sprechen sie nicht, wohlaber von einem Ideal. Erich Fromm hättenicht gezögert, von einer Religion zusprechen. Die kommt freilich als Moraldaher: als fordernde, unbequeme, aberauch ganz unverzichtbare Grundregelmenschlichen Zusammenlebens. Sie wirdvon den Polizisten in einer Art trotzigerResignation verteidigt. Vorbei sind dieHoffnungen auf eine gesellschaftlicheUtopie, wie sie Sjöwall und Wahlöö nochim Kommunismus gesehen hatten. Es gehtfast nur noch darum, dem amoralischenZerfall der Gesellschaft Grenzen zu set-zen: ein sehr defensives Gesell-schaftsideal. In der Tradition des sozialkri-tischen Romans bleibt es insofern, alsnicht die Individuen, sondern die Gesell-schaft den Wurzelgrund des Bösen bildet,auch wenn – entsprechend den Gesetzendes Genres Kriminalroman – individuelleTäter ermittelt und bestraft werden. Abergerade Kommissar Wallander betont imGespräch mit der Frau eines Kollegen: „Esgibt kaum böse Menschen. Jedenfallsglaube ich, dass sie sehr selten sind. Da-gegen gibt es böse Umstände. Die dieseganze Gewalt auslösen. Und genau dieseUmstände müssen wir uns vornehmen. –Wird es nicht nur immer schlimmer undschlimmer? – Vielleicht, erwiderte Wallan-der zögernd. Aber wenn es so ist, dann

263MATERIALDIENST DER EZW 7/2008

inhalt07.qxd 24.06.2008 11:54 Seite 263

264 MATERIALDIENST DER EZW 7/2008

Anmerkungen

1 Bertolt Brecht, Über die Popularität des Kriminalro-mans. Gesammelte Werke, Bd. 19, Frankfurt/M.1969, 450.

2 Ebd.3 Jochen Vogt, Krimi international, in: Der Deutsch-

unterricht 2/2007, 4.4 Vgl. Robert von Lucius, Pastoren als Staatsbeamte,

in: FAZ vom 19.8.2003.5 Robert von Lucius, Der zivile Abweg, in: FAZ vom

20.4.2004.6 Tobias Gohlis, Nord ist Mord. Ein Streifzug durch

die nordische Kriminalliteratur, in: Jost Hinders-mann (Hg.), Fjorde, Elche, Mörder. Der skandinavi-sche Kriminalroman, Wuppertal 2006, 18f.

7 Johan Wopenka, Die schwedische Polizei über-nimmt den Tatort, in: Jost Hindersmann, a.a.O., 83f.

8 Henning Mankell, Die fünfte Frau, Wien 1998, 223.9 Henning Mankell, Mittsommermord, Wien 2000,

36.10 Erich Fromm, Analyse einiger Typen religiöser Er-

fahrung, in: ders., Psychoanalyse und Religion,München 1990, 27 und 30.

11 Henning Mankell, Die fünfte Frau, a.a.O., 411.12 Tobias Gohlis, a.a.O., 15.13 Willy Haas, Die Theologie im Kriminalroman, in:

Literarische Welt 26/1929, hier zit. nach JochenVogt, Der Kriminalroman. Zur Theorie und Ge-schichte einer Gattung, München 1971, 122.

liegt das daran, dass die Umstände sichverändern. Nicht daran, dass böse Men-schen heranwachsen.“11 Gerade MankellsWallander reflektiert ausführlich nicht nurüber Technik und Taktik der Ermittlung,sondern über Moral, Gerechtigkeit undein menschliches Zusammenleben. Ja, erklagt die Moral regelrecht ein. Das ist keinZufall. Manche Literaturkritiker gehen,wie der schon zitierte Tobias Gohlis, da-von aus, der Kriminalroman sei die geeig-netste, wenn nicht gar die einzige Formvon Literatur, in der noch moralische Fra-gen beantwortet werden können.12

Fazit

Gibt es so etwas wie heimliche Religionim Kriminalroman? Ich meine, ja: nämlichdann, wenn Religion nicht als Sonderwelt

begriffen wird, als ein System jenseitigerGedanken und abseitiger Rituale, nebendenen das wahre Leben vorbeiläuft, son-dern als eine Wahrnehmung von Lebens-fragen und als ein Antwortversuch aufdiese Fragen. Dass sie im fremden Ge-wand des Krimis eher ernst genommenwerden als im klassischen der Predigt,passt zu einer so säkularisierten Gesell-schaft wie unserer und der des Nordens.Als Beobachtung ist das aber nicht neu.Denn der Literaturkritiker Willy Haas no-tierte schon 1929 in der Zeitschrift „Litera-rische Welt“: „Das Theologische in unse-rer Welt äußert sich nicht offen, kann sichnicht offen äußern ... In einem gewissenSinn ist also der Kriminalroman ein Ersatzfür den fehlenden religiösen Glauben: ergibt die Zuversicht zum göttlichen Logos,zur göttlichen Gerechtigkeit.“13

inhalt07.qxd 24.06.2008 11:54 Seite 264

265MATERIALDIENST DER EZW 7/2008

Der Besuch in Deutschland hat es be-stätigt: Der 14. Dalai Lama bewegt sichauf dem Humus allgemeinen Wohlwol-lens, nicht auf dem harten Parkett kühlerRealpolitik. Auch wenn die Begeisterunggegenüber Tenzin Gyatso, dem jetzigenDalai Lama, in den letzten Jahren nachge-lassen hat, kann er weiter auf das Wohl-wollen der westlichen Öffentlichkeit set-zen. Das ist sein größtes politisches Kapi-tal – und es beeinflusst die Handlungenvon Politikern. Ein Frühstück mit dem Da-lai Lama lässt Machtpolitiker als Gewis-sensmenschen erscheinen. Die Weige-rung, ihn zu empfangen, gilt dagegen alsrechtfertigungsbedürftig.Auffällig ist, dass der Dalai Lama im Westen, wo Religionen auf politischemTerrain mit Skepsis begegnet wird, anderswahrgenommen wird als andere Religi-onsführer. Gegenüber den östlichen Reli-gionen scheinen geringere Vorbehalte zubestehen.Warum kann ein vergleichsweise absei-tiger Regionalkonflikt in Fernost über solange Zeit die Emotionen der westlichenBeobachter auf sich ziehen? Im DalaiLama vermuten viele die authentischePersonifikation östlicher Religiosität. Unddie gilt im Vergleich zu den monotheisti-schen Religionen als pluralistisch undtolerant. Diese Vermutung wurde in jün-gerer Zeit etwa durch Arbeiten desKulturwissenschaftlers Jan Assmann beför-dert. Ihm zufolge verstrickt sich der Gott

des Monotheismus durch die dem Eingott-glauben zugrundeliegende „mosaischeUnterscheidung“, also die strikte Ableh-nung anderer Götter, in die Sprache vonIntoleranz und Gewalt. Polytheistischeoder nicht-theistische Religionen habendagegen mit dem Gewaltpotential der Un-terscheidung zwischen falschen Götternund wahrem Gott nicht zu kämpfen.Andere Religionswissenschaftler schlageneinen gänzlich anderen Weg ein. Der We-sensschau von Religionen stehen sie skep-tisch gegenüber, da diese sich gegenüberempirischen Überprüfungen als zu ab-strakt erweist. Stattdessen suchen sie denGrund westlichen Wohlwollens für Bud-dhisten oder den Hinduismus MahatmaGandhis nicht im vermeintlich friedfer-tigen Wesen dieser Religionen, sondernuntersuchen die Geschichte der westli-chen Sympathie für diese Religionen.Als Vorbild für diesen Zugang dient das1978 erschienene Buch „Orientalism“ Ed-ward Saids. Der Literaturwissenschaftlerführte darin die westliche Repräsentationdes Orients auf das Bedürfnis des Westensnach einem kulturellen Gegenüber zu-rück. Nach Said imaginierten Bildungs-bürger des Westens den Orient als schwa-chen, weiblichen und unpolitischen Kon-trast zur eigenen Kultur und Religion.Ein ähnliches Bild ergibt sich beim Blickauf die westliche Wahrnehmung vonBuddhismus und Hinduismus. Die Kons-truktion der östlichen Religionen als der

Reinhard Bingener, Frankfurt a. M.

Frühstück mit dem Fürsten des FriedensDas Bild des Westens vom Dalai Lama könnte Risse bekommen

DOKUMENTATION

inhalt07.qxd 24.06.2008 11:54 Seite 265

266 MATERIALDIENST DER EZW 7/2008

rationaleren, friedfertigeren und spirituel-leren hat ihren Vorläufer im Religionskriti-ker David Hume, der zuerst den Mono-theismen eine strukturelle Intoleranz zu-schrieb – dem Polytheismus dagegen Tole-ranz. Die idealistischen Denker an derWende zum 19. Jahrhundert schätzten dieSanftheit und den Langmut der östlichenReligionen. Sie etablierten das Stereotypdes sanften Buddhismus. Hegel lobte die„einfache und milde“ Politik buddhisti-scher Gesellschaften, deren Mönche „instiller Beschauung des Ewigen leben,ohne an weltlichen Interessen teilzuneh-men“. Seinen Höhepunkt erreichte derEnthusiasmus für die „erfundene“ Fried-fertigkeit der östlichen Religionen um1900 in den theosophischen Netzwerken.Durch widersprechende Befunde lässtsich die westliche Begeisterung kaum irri-tieren: Weder die gewaltsame Unterdrü-ckung des mongolischen Schamanismusin der Zeit der ersten Dalai Lamas nochreligiös motivierte Morde an Vertreternkonkurrierender buddhistischer Strömun-gen veränderten die ungleiche Verteilungder Sympathien. Die Vermischung vonReligion und Politik in der Person des Da-lai Lamas oder seine Reden vor indischenHindu-Nationalisten, die zur Zerstörungvon Moscheen aufrufen, werden kaumnotiert.Erstaunlich ist, wie das westliche Bild vonden östlichen Religionen auf deren eigeneSelbstdarstellung zurückwirkt. Ein Brief-wechsel zwischen Mahatma Gandhi von1931 belegt, dass noch der Vorgänger desjetzigen Dalai Lamas mit der von Gandhi

ihm gegenüber als Grundsatz der Gewalt-losigkeit des Buddhismus erwähntenAhimsa-Lehre nichts anzufangen wusste.Auch lehnte der 13. Dalai Lama be-waffneten Kampf nicht grundsätzlich ab.Der jetzige Dalai Lama, der zwar schonan einen „Weg der Gewaltlosigkeit“glaubte, schrieb 1962, er könne Wider-standskämpfern „nicht mehr ehrlichenHerzens raten, Gewalt zu vermeiden“.Solche Äußerungen sucht man in der Au-tobiographie von 1990 vergeblich. Immerstärker rückte Tenzin Gyatso die Gewalt-losigkeit in die Mitte des Buddhismus undpasste damit seinen Buddhismus der Er-wartungshaltung des Westens an.Kratzer könnte dieses Bild durch die laut-starken, auch innertibetischen Proteste ge-gen den Dalai Lama bekommen, die beimBesuch in Deutschland unüberhörbar wa-ren. Sie kamen von einer Minderheit tibe-tischer Buddhisten, welche der GottheitShugden anhängt. Shugden ist der umstrit-tene Schutzgott der mächtigsten Gruppie-rung im tibetischen Buddhismus, aus derauch die Dalai Lamas hervorgehen. Seitden siebziger Jahren versucht der jetzigeDalai Lama, der anfänglich selbst diesenKult praktizierte, Shugden zu beseitigen.Er betreibt die Entfernung seiner Statuen,weil der Kult seiner Vorstellung desBuddhismus nicht entspricht.

Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitungvom 20. Mai 2008, S.4. © Alle Rechtevorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zei-tung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung ge-stellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

inhalt07.qxd 24.06.2008 11:54 Seite 266

267MATERIALDIENST DER EZW 7/2008

SCIENTOLOGY

Urteil gegen Scientology ist rechtskräftig.(Letzter Bericht: 5/2008, 189ff) Die„Scientology Kirche Deutschland e.V.“und die „Scientology Kirche Berlin e. V.“hatten 2003 Klage gegen die nachrichten-dienstliche Beobachtung durch das Bun-desamt für Verfassungsschutz eingereicht,die von dieser Behörde seit elf Jahrendurchgeführt wird. Das Verwaltungsge-richt Köln befand jedoch im Jahr 2004,dass die Beobachtung sachlich begründetund damit statthaft ist, wogegen Sciento-logy Widerspruch einlegte (vgl. MD1/2005, 31f). Im Februar dieses Jahres ent-schied nun die nächst höhere Instanz, dasOberverwaltungsgericht (OVG) Münster,dass das Bundesamt für Verfassungsschutzdie Scientology-Organisation in Deutsch-land weiter mit nachrichtendienstlichenMitteln observieren darf. Wie das OVGjetzt mitteilte, zog Scientology seine Be-schwerde gegen die Nichtzulassung einerRevision des Urteils am 28. April zurück.Damit ist das Urteil zur Überwachung derScientology-Organisation rechtskräftig(Az. 5 A 130/05).Das OVG erkannte in der Arbeit vonScientology Bestrebungen gegen die frei-heitlich-demokratische Grundordnung.Hinweise darauf ergäben sich aus einerVielzahl von Schriften und sonstigen Akti-vitäten. Scientology strebe eine Gesell-schaftsordnung an, in der zentrale Verfas-sungswerte wie die Menschenwürde unddas Recht auf Gleichbehandlung außerKraft gesetzt oder eingeschränkt werdensollten. Damit verwendet das Gericht die-selbe Argumentationslinie, die auch imkürzlich erschienenen Verfassungsschutz-bericht 2007 (S. 281-289) in Bezug aufdie Scientology-Organisation zu finden ist

INFORMATIONEN (www.verfassungsschutz.de). Das Gerichtließ die Frage, ob Scientology eine Religi-onsgemeinschaft ist, ausdrücklich offen.Das sei für die Entscheidung nicht rele-vant. Mit dem rechtskräftigen Urteil desOVG wird die Scientology-Organisationempfindlich in ihren Bemühungen umgesellschaftliche und religiöse Anerken-nung gestört.

Michael Utsch

NEUAPOSTOLISCHE KIRCHE

Orientierungshilfe aus Baden-Württem-berg irritiert. (Letzter Bericht: 4/2008,154f) Seit dem Jahr 2001 fanden regel-mäßige Gespräche zwischen der Arbeits-gemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK)in Baden-Württemberg und der Neuapos-tolischen Kirche (NAK) in Süddeutschlandstatt. Den bislang erzielten Gesprächs-stand dokumentiert nun eine „Orientie-rungshilfe“, die Ende April von der loka-len ACK herausgegeben wurde (siehe:http://ack.drs.de/lila/NAK-ACK.pdf). NachEinschätzung beider Seiten soll dieser Ge-sprächsstand Pilotcharakter für zukünftigeGespräche auf Bundesebene haben.In Bezug auf die Besetzung der Ge-sprächsrunde ist ein Ungleichgewicht fest-zustellen: Seitens der NAK waren leitendeAmtsträger an den Gesprächen beteiligt,während die ACK nur durch lokale Beauf-tragte vertreten war. Ist eine regionaleACK der richtige Ansprechpartner für denklar formulierten Wunsch der NAK, wiedie Adventisten ACK-Mitglied zu werden?In der Vergangenheit gab es häufiger Kon-flikte aufgrund einer zielgerichteten NAK-Strategie und unterschiedlicher Auffassun-gen lokaler, regionaler und bundesweiterACK-Verbände. Während NAK-Vertreterwie der württembergische BezirksapostelVolker Kühnle seit geraumer Zeit uner-müdlich die ökumenischen Annäherun-

inhalt07.qxd 24.06.2008 11:54 Seite 267

gen der NAK betonen, rief die Gastmit-gliedschaft der NAK in zwei bayerischenACKs auch kritische bis ablehnende kirch-liche Voten hervor (vgl. MD 12/2007,269ff).In den Vorbemerkungen der Orientie-rungshilfe wird betont, dass die NAK inden letzten beiden Jahren „bemerkens-werte Lehränderungen“ vorgenommenhabe, „etwa im Hinblick auf das Taufver-ständnis, das Amt des Stammapostels unddie bis 2006 sehr exklusiv formulierteHeilslehre“. Dadurch befinde sie sich aufeinem Weg, „der sie der ökumenischenGemeinschaft der Kirchen näher bringt“.Diese Darstellung in einer landeskirch-lichen Verlautbarung zu lesen verwundert,weil sie zwar das Selbstbild der NAKtransportiert, nicht jedoch kritische kirch-liche Anfragen dazu berücksichtigt. In den folgenden neun Punkten werdenpraktische Empfehlungen gegeben imHinblick auf die Taufanerkennung, Einla-dungen seitens der NAK zu besonderenAnlässen, die Beteiligung der NAK ankommunalen Veranstaltungen, zu denenauch die Mitgliedskirchen der ACK einge-laden sind, die Nutzung kirchlicherRäume, die Teilnahme und Beteiligung angottesdienstlichen Handlungen, konfessi-onsverschiedene Ehen mit einem NAK-Partner und die Übergabe von Geldspen-den zu diakonischen und karitativenZwecken. Die Informationsschrift appel-liert an die Gemeinden innerhalb derACK-Mitgliedskirchen in Baden-Württem-berg, der NAK Kirchenräume zur Verfü-gung zu stellen, wenn deren Räumlichkei-ten – etwa für Trauerfeiern – nicht aus-reichten. Ökumenische Trauungen seiennicht vorgesehen, jedoch könnten sichneuapostolische Geistliche außerhalb dereigentlichen liturgischen Handlung mitGebet oder Grußwort beteiligen. Die pragmatischen Vorschläge muten aufden ersten Blick hilfreich an. Wer aber die

Geschehnisse rund um die NAK in denletzten Monaten verfolgt hat, bei dem ruftdiese Orientierungshilfe Irritationen her-vor, weil sie schon nicht mehr vom aktuel-len Sachstand ausgeht. Sie übergeht dieWogen der Entrüstung, die der Informati-onsabend der NAK am 4.12.2007 inZürich ausgelöst hat (vgl. MD 2/2008,53ff). Vermutlich war der Text der Orien-tierungshilfe schon vorher verabschiedetworden, weshalb die jüngsten Entwick-lungen nicht mehr aufgenommen werdenkonnten. Es ist schwer geworden, die le-bendige und unberechenbare Verände-rungsdynamik der NAK in statischen Pa-pieren zu erfassen. Trotzdem: Weisen dieim Januar 2006 in Uster verkündigten„Lehrkorrekturen“ und die Taufanerken-nung wirklich auf substantielle Verände-rungen hin? Unmissverständlich stelltdoch die Orientierungshilfe aus Baden-Württemberg klar, dass die Taufe im Ver-ständnis der NAK nur „in ein erstes Nähe-verhältnis zu Gott führt; erst gemeinsammit der Heiligen Versiegelung bewirkt siedie ... Gotteskindschaft“. Das Sakramentder Heiligen Versiegelung kann aber aus-schließlich ein lebender Apostel spenden.So lautet unmissverständlich der 5. Punktim „Selbstbild“ der NAK, das auf dem In-formationsabend im Dezember 2007 vor-gestellt wurde. Wird damit nicht allen an-deren Christen die Gotteskindschaft abge-sprochen? Ohne Zweifel ist es sinnvoll, die progres-siven Kräfte in der NAK zu stärken. Das istein positiver Effekt der Orientierungshilfe.Ihren Verfassern ist klar, dass der gegen-wärtige Gesprächsstand dokumentiertwird und der Text nur einen „vorläufigenCharakter“ hat. Auch wird unterstrichen,dass aus ökumenischer Sicht nach wie vor„Anfragen vor allem hinsichtlich des Kir-chen- und Amtsverständnisses sowie derEschatologie“ bestehen. Es erscheint je-doch fraglich, ob die ACK in anderen Re-

268 MATERIALDIENST DER EZW 7/2008

inhalt07.qxd 24.06.2008 11:54 Seite 268

269MATERIALDIENST DER EZW 7/2008

gionen und auf Bundesebene den eupho-rischen Grundton aus Süddeutschland umdie angebliche ökumenische Öffnung derNAK teilen wird. Vermutlich müssen erstdie offensichtlichen und bekannten theo-logischen Unstimmigkeiten innerhalb derNAK geklärt werden, ehe man entschei-den kann, ob sich die NAK wirklich denökumenischen Grundeinsichten ange-nähert hat.

Michael Utsch

Stammapostel Leber zeigt sich selbstkri-tisch. Anlässlich einer Pressekonferenzzur Vorstellung des neuen Schweizer Be-zirksapostels Markus Fehlbaum hat sichder Stammapostel der „NeuapostolischenKirche“ (NAK), Wilhelm Leber, am 8. Aprilselbstkritisch zu aktuellen Entwicklungeninnerhalb der NAK geäußert. Einmal mehrbekannte sich Leber dazu, die Kritik ander NAK ernst zu nehmen: „Es geht umdie Glaubensgeschwister, die auf Distanzzur Kirche gegangen sind und nicht mehraktiv am Gemeindeleben teilnehmen. Esgibt sicher viele unterschiedliche Gründedafür. Ich bitte den neuen BezirksapostelFehlbaum, für sachliche Argumente im-mer zugänglich zu sein und sich vernünf-tiger Kritik zu stellen“, so Leber. Der Stammapostel unterstrich, dass essich bei der ökumenischen Öffnung seinerKirche um einen langen Prozess handle,der vor allem bei jungen NAK-Mitgliederneine positive Resonanz finde. Bei älterenMitgliedern gebe es dagegen bisweilennoch Vorbehalte, die auch mit der Ge-schichte der NAK, konkret mit der langegeübten Distanz zu anderen Kirchen zutun hätten. Es bestehe die Furcht, dass Ele-mente des NAK-Glaubens zugunsten ei-ner ökumenischen Öffnung aufgegebenwerden könnten. Es bedürfe daher einespermanenten Überzeugungsprozesses,der jedoch die Skepsis bereits in eine ab-

wartende Haltung verwandelt habe, sodass keine Ablehnung des Reformprozes-ses mehr festzustellen sei.Im Verlauf der Pressekonferenz kam auchder Informationsabend der NAK vom 4.Dezember 2007 zur Sprache, der unter ei-nigen Mitgliedern und „Aussteigern“ derNAK für erhebliche Unruhe und Verärge-rung gesorgt hatte. Die NAK hatte an die-sem Abend u. a. den ersten Teil einer Auf-arbeitung ihrer Geschichte präsentiert,und es wurde ihr danach vorgeworfen, siehabe „mit dem nun vorliegenden Selbst-bild ... den Weg der vorsichtigen Öffnungder letzten Jahre bereits wieder verlassenund sich in der öffentlichen Wahrneh-mung unter Umständen deutlicher in derSektenecke positioniert denn je“ (MD2/2008, 54). Stammapostel Leber zeigtesich in diesem Punkt selbstkritisch: Manhabe zu wenig berücksichtigt, dass mansensibler an die Dinge herangehen müsse.Die Geschichtsaufarbeitung werde vonder Kirchenleitung als Voraussetzung fürdie Versöhnung mit ehemaligen Mitglie-dern und den Abspaltungen der NAK ge-sehen, doch hätten viele Mitglieder und„Aussteiger“ konkrete „Zeichen der Ver-söhnung“ vermisst. Man habe seitens derKirchenleitung geglaubt, die Ereignisseobjektiv rekonstruiert zu haben und dabeiübersehen, dass man diese nicht nur inihrem historischen Kontext darstellenkönne, sondern sie auch in ihren theologi-schen, soziologischen und emotionalenKontext einbetten müsse. Damit stelltensich weitere Fragen: Wurden die Erwar-tungen im Vorfeld des Informationsabendsrichtig eingeschätzt? Ist die Aktenlage füreine gründliche Aufarbeitung der NAK-Geschichte überhaupt ausreichend odersollte auch die Befragung noch lebenderZeitzeugen in sie einfließen? Jedenfallsgehe die Aufarbeitung weiter, und vor al-lem hinsichtlich der problematischen Pro-phezeiung des Stammapostels Johann

inhalt07.qxd 24.06.2008 11:54 Seite 269

270 MATERIALDIENST DER EZW 7/2008

Gottfried Bischoff (1871-1960), der vor-ausgesagt hatte, dass Jesus noch zu seinenLebzeiten wiederkehren werde (siehedazu MD 3/2008, 92-100), seien die Er-wartungen sehr groß. Die Einbeziehungexterner Historiker sei vorerst zwar nichtgeplant, doch sollen nach Abschluss derArbeiten die ausgewerteten Dokumente(z. B. im Internet) zugänglich gemachtwerden. Fazit: Es ist Stammapostel Leber ganz of-fensichtlich weiterhin ein sehr wichtigesAnliegen, die Geschichte der NAK ohneScheuklappen aufzuarbeiten und damitdie Voraussetzung für eine Versöhnungund eine ökumenische Öffnung seinerKirche zu schaffen – dies betrifft auch undgerade die Problematik der Bischoff-Pro-phezeiung. Es ist zu hoffen, aber auch zuerwarten, dass die Kirchenleitung aus denheftigen Reaktionen auf den Informations-abend vom 4. Dezember 2007 die not-wendigen Konsequenzen zieht und zu-künftig eine größere Sensibilität und Vor-sicht bei der Kommunikation solch heiklerThemen zeigen wird. Mit seinem Besuchbeim Sohn des damals in Ungnade gefal-lenen Bezirksapostels Peter Kuhlen hat Le-ber eines jener so dringend geforderten„Zeichen der Versöhnung“ gesetzt, demhoffentlich weitere folgen werden (siehedazu http://www.nak.org/de/news/nak-international/article/15555/).

Christian Ruch, Chur / Schweiz

ISLAM

Ein abgesagter Vortrag. (Letzter Bericht:6/2008, 233f) Die Professorin für Islam-wissenschaften und Leiterin des Institutsfür Islamfragen der Deutschen Evangeli-schen Allianz, Christine Schirrmacher,sollte auf Einladung des „Personenkomi-tees Aufeinander zugehen“ am 21. Mai2008 in Traun (Österreich) über den „Is-

lam in Europa als Herausforderung fürStaat, Gesellschaft und Kirche“ sprechen.Nach Protesten von muslimischer Seite,insbesondere des Wiener SPÖ-Landtags-abgeordneten und Integrationsbeauftrag-ten der Islamischen Glaubensgemein-schaft in Österreich (IGGiÖ), Omar AlRawi, wurde der Vortrag abgesetzt. In dem Vortrag (siehe www.islaminsti-tut.de/Nachrichtenanzeige.55+M53cc9a9ea6e.0.html) geht Schirrmacher, die indem Zusammenhang als „antiislamischeund antimuslimische Aktivistin“ bezeich-net wurde, auf gesellschaftliche, politi-sche und religiöse Fragen ein, die es ange-sichts der bis zu 20 Millionen heute in Eu-ropa lebenden muslimischen Migrantenzu beantworten gilt.Die europäischen Staaten hätten sichlange schwer damit getan, sich als „Ein-wandererländer“ zu erkennen. Dies ma-che die Bearbeitung bisher teilweise ver-säumter Aufgaben notwendig. Man müsseüber kulturelle und gesellschaftliche, poli-tische sowie religiöse Gemeinsamkeitenund Unterschiede diskutieren, drohendeFehlentwicklungen thematisieren und Re-geln für das zukünftige Zusammenlebenerarbeiten.Schirrmacher sieht dabei Probleme aufbeiden Seiten. So kommen auf die Mi-granten neue, bisher unbekannte Fragenzu, die ein Leben ohne lautsprecherver-stärkten Gebetsruf, mit nicht geschächte-tem Fleisch, in einer freiheitlich-pluralisti-schen Gesellschaft ohne gewohnte reli-giöse Werte aufwirft. Für die Mehrheitsge-sellschaft andererseits eröffnet sich dieFrage, ob Merkmale muslimischer Iden-tität als Bereicherung oder Bedrohung an-zusehen sind und wie weit Toleranz undFreiheit reichen.Als politische Herausforderung wird derIslam sowohl in seinem – zahlenmäßigkleinen – gewaltbereiten Flügel als auchin seinem mit rechtsstaatlichen Mitteln

inhalt07.qxd 24.06.2008 11:54 Seite 270

271MATERIALDIENST DER EZW 7/2008

Einfluss suchenden Teil angesehen. In die-sem Zusammenhang wird die mangelndeRepräsentativität islamischer Dachorgani-sationen angesprochen. Schirrmacherschlussfolgert aus der Vielfalt politisch-is-lamischer Gruppierungen die Notwendig-keit, ihre Hintergründe und Motive zu er-kennen, um zu differenzierten Wahrneh-mungen fähig zu sein und Fehlurteile zuvermeiden.In Bezug auf bedenkliche Tendenzen wer-den auch kritische Worte geäußert, so imBlick auf das Drängen islamischer Organi-sationen, nichts „Negatives“ über den Is-lam zu veröffentlichen. Hier gelte es,Wachsamkeit walten zu lassen, um diePresse- und Meinungsfreiheit zu verteidi-gen. Im Blick auf die westliche Gesell-schaft wird die Frage gestellt, ob der Islamsie vielleicht mit ihrer „Ziel- und Wertelo-sigkeit“ konfrontiert. Es sei zu klären, in-wieweit man sich auf das jüdisch-christ-liche Erbe berufen will. Nur dann sei esüberhaupt möglich, als glaubwürdigerDialogpartner in Erscheinung treten zukönnen. Der Prozess ist schwierig, doch:„Es lohnt sich, für ein echtes Miteinandereinzustehen, das uns in Europa aber beiteilweise divergierenden Werteordnungennicht in den Schoß fallen wird.“ In ihrenAusführungen zielt Schirrmacher darauf,dass „alles dafür getan werden [muss],dass die Migranten in Europa dauerhaftHeimat finden.“ Das Nebeneinandermuss durch ein Miteinander ersetzt wer-den, und dies könne nur durch konstrukti-ven Dialog erreicht werden, der wie-derum des Mutes bedarf, schwierige undkonfliktbehaftete Themen anzusprechen.Am Ende drängt sich die Frage auf, wie esdazu kommen konnte, dass dieser sach-liche – und sachlich zu diskutierende –Beitrag zu aktuellen Aufgaben der Integra-tion von Muslimen in Europa auf Betrei-ben der Islamischen Glaubensgemein-schaft in Österreich verhindert wurde.

Eine faire Auseinandersetzung über dieSachthemen wäre allemal dialogfördern-der, und sie darf nicht durch selbster-nannte Zensoren in Frage gestellt werden.

Stefan Hoschkara, Berlin

ISLAM / JUDENTUM

Open Letter von Muslimen an die Juden.Als Geste guten Willens haben muslimi-sche Gelehrte des Zentrums für das Stu-dium muslimisch-jüdischer Beziehungenin Cambridge (CMJR) einen Offenen Briefan die Juden in aller Welt gerichtet. Wennauch nicht ausdrücklich, so nimmt „A Callfor Peace, Dialogue and Understandingbetween Muslims and Jews“ doch in Formund Intention deutlich den Dialogimpulsdes Offenen Briefes der 138 islamischenReligionsführer an die Weltchristenheitvom Oktober 2007 auf. Ziel des Schrei-bens ist es, das gegenseitige Verständniszu fördern und positiv und konstruktiv aufdie muslimisch-jüdischen Beziehungeneinzuwirken. Über 40 Unterzeichner, dar-unter der bosnische Großmufti MustafaCeric sowie die Professoren Sari Nussei-beh (Jerusalem), Tariq Ramadan (Oxford)und Abdulaziz Sachedina (Virginia/USA),verleihen auch diesem Dokument das Ge-wicht einer internationalen und in dieserWeise bisher einmaligen Initiative. Eingeleitet wird der Brief neben der Bas-mala und dem Friedensgruß auf He-bräisch und Arabisch mit dem Koranvers2,62: „Wahrlich, diejenigen, die glauben,und die Juden, die Christen und dieSabäer, wer an Allah und den Jüngsten Tagglaubt und Gutes tut – diese haben ihrenLohn bei ihrem Herrn und sie werden we-der Angst haben noch werden sie traurigsein.“ Die Autoren beklagen die vielfachanzutreffende Situation intoleranter, häu-fig gewalttätiger Spannungen, die wenigereinem Zusammenprall der Kulturen als ei-

inhalt07.qxd 24.06.2008 11:54 Seite 271

272 MATERIALDIENST DER EZW 7/2008

dens des palästinensischen Volkes vorge-halten zu haben. Das eine ist eine immerhäufiger zu beobachtende Strategie musli-mischerseits, um gleichsam in Trittbrett-fahrermanier von den mühsam etabliertenStandards in der Antisemitismusdebattezu profitieren (die im Grunde jedoch völ-lig anders gelagert ist); das andere ver-schafft palästinensischem (letztlich auchterroristischem) Widerstand indirekt einein diesem Kontext zweifelhafte Legiti-mität. Kann dies als Schmälerung der Brücken-baufunktion des Briefes gelesen werden,so ist doch der außergewöhnlich positiveGrundton und die explizit zum Ausdruckgebrachte „ausgestreckte Hand“ uneinge-schränkt zu begrüßen und zu ergreifen. Esist deshalb zu wünschen, dass der Briefbreiteste Beachtung findet, nicht nur unterJuden, die übrigens in Form einer Mittei-lung des International Jewish Committeeon Interreligious Consultations (New York)umgehend sehr positiv auf den Dialogauf-ruf reagiert haben.Der Text ist im Internet abzurufen unterwww.woolfinstitute.cam.ac.uk/cmjr/assets/pdf/letter.pdf, Weiteres siehe unterwww.woolfinstitute.cam.ac.uk/cmjr.

Friedmann Eißler

nem „Zusammenprall aufgrund fehlgelei-teter Missverständnisse“ entsprängen. Sieberufen sich auf Zeiten fruchtbarer undfriedlicher Koexistenz von Muslimen undJuden in der Geschichte (mittelalterlichesSpanien) und heben lehr- und glaubens-mäßige Gemeinsamkeiten hervor. Aus-drücklich demonstrieren die Verfasserdurch den Brief Meinungsvielfalt im Islamund die Bereitschaft von Muslimen zumGespräch mit Juden, das vom Nahostkon-flikt nicht völlig überschattet sein soll.Sind schon diese Feststellungen mehr alsbemerkenswert, so wird im Hauptteil desgut fünfseitigen Schriftstücks eine Füllevon inhaltlichen Übereinstimmungen inwichtigen Grundüberzeugungen entfaltetund teilweise mit Koranstellen belegt, sodas Bekenntnis zum einen und einzigenGott (Shahada und Shema’), der Glaubean die göttliche Autorschaft von Tora undKoran wie auch an die Propheten sowiedie Ausrichtung an einer ausdifferenzier-ten Orthopraxie (Sharia, Halacha) bis hinzu vergleichbaren Speisevorschriften (ha-lal und kosher).Negative Koranaussagen werden ohne Zi-tierung nur kurz gestreift und als histo-risch ins 7. Jahrhundert gehörig relativiert.Dagegen wird ausführlich – und vereinfa-chend – auf die Charta von Medina Bezuggenommen, die Juden und Muslime alseine Gemeinschaft (umma) apostrophiert.Weitere Verbindungen von Juden undMuslimen in der Entfaltung der theologi-schen und philosophischen Tradition fin-den Erwähnung, um am Ende zum Dialogund zum Respekt zwischen Menschen al-ler Glaubensrichtungen aufzurufen – auchüber die „abrahamischen“ Religionsge-meinschaften hinaus. Dies geschieht allerdings nicht, ohne imBlick auf die Minderheitensituation Anti-semitismus und Islamophobie auf eineEbene gehoben und den Juden man-gelnde Sensibilität hinsichtlich des Lei-

GESELLSCHAFT

Sakrale Substanzen? Rückblick auf das„Welt Psychedelik Forum 2008“ in Basel.Psychedelika sind wieder im Kommen.Diesen Eindruck konnte man jedenfallsals Beobachter auf dem World Psychede-lic Forum vom 21. bis 24. März 2008 inBasel gewinnen. Rund 2000 Besucher aus37 Ländern nahmen daran teil. Die mehr-tägige Veranstaltung mit über 60 Semina-ren, Vorträgen und Podiumsdiskussionen,bei denen Wissenschaftler, Psychonautenund Schamanen beteiligt waren, gab Auf-

inhalt07.qxd 24.06.2008 11:54 Seite 272

schluss über den Einsatz psychedelischerSubstanzen. Veranstalter des diesjährigenTreffens, das unter dem Thema „Bewusst-seinswandel als Herausforderung des 21.Jahrhunderts“ stand, war die Gaia MediaStiftung. Auf der Internetseite des 1993 inBasel gegründeten Vereins heißt es: „Wirvermitteln Informationen für ein ganzheit-liches und zeitgemässes Verständnis unse-rer Existenz und des Potenzials desmenschlichen Bewusstseins. Wir achtendas Wissen und die Erfahrungen alter Kul-turen, spiritueller Traditionen und der mo-dernen Wissenschaft gleichermassen,ohne uns einer bestimmten Richtung zuverpflichten. Wir vertreten die Überzeu-gung, dass dem Menschen ein Bedürfnisnach Transzendenz innewohnt und dasserweiterte Bewusstseinzustände das Wis-sen um die Gesetze des Lebens, der Naturund des Universums erhellen. Ein denuniversellen Gesetzen entsprechendes Be-wusstsein ermöglicht dem Menschennicht nur ein Überleben, sondern einesymbiotische und hedonistische Existenzauf Gaia, unserem Heimatplaneten.“1

Beim diesjährigen Treffen handelte es sichum den Folgekongress in der Grenzstadt,nachdem bereits im Januar 2006 ein inter-nationales Symposium unter dem Titel„LSD – Sorgenkind und Wunderdroge“aus Anlass des 100. Geburtstags des LSD-Entdeckers Dr. Albert Hofmann stattgefun-den hatte. Der inzwischen, am 29. April2008, verstorbene Hofmann war 1943 zu-fällig auf die Wirkung von Lysergsäure-diethylamid (LSD) gestoßen. Nach seinenWorten ist – wie es im Geleitwort des Pro-grammheftes heißt – „die Entfremdungvon der Natur und der Verlust des Ge-fühls, Teil der lebenden Schöpfung zusein, ... die größte Tragödie unseres mate-rialistischen Zeitalters“.2 Hofmann hattezwar eine Teilnahme am diesjährigenKongress geplant, musste aber aus ge-sundheitlichen Gründen absagen.

Ausführliche Informationen wurden aufdem Kongress zum Thema Drogen undneue Spiritualität gegeben: „Wenn das Be-wusstsein in tiefere Schichten eingedrun-gen ist, lassen sich spirituelle Erfahrungenmachen.“ Ein neuer Trend auf spirituellenPfaden? Helfen psychoaktive Substanzenbei neoschamanistischen Ritualen, umhöheres Bewusstsein zu erlangen – odersollen diese gar spirituelle Techniken er-setzen? Wie eng der Zusammenhang zwi-schen Drogen und Religion gesehen wird,belegte die immer wieder vorgetrageneArgumentation der Referenten: „Seit altersher verwandten Menschen mit Unterstüt-zung von Schamanen und Medizinmän-nern pflanzliche Substanzen, um das Be-wusstsein zu öffnen.“ Dem Unbewussten,der im Menschen tief innewohnendenFantasie, könne damit die Möglichkeit ge-geben werden, stärker hervorzutreten.Das Göttliche könne, wie die Protagonis-ten auf dem Kongress hervorhoben, aufdiesem Wege direkt erfahrbar werden,würde doch durch die Induktion mit psy-chedelischen Substanzen die Pforte zurWahrnehmung des Numinosen geöffnet.Letztlich kreisten die verschiedenen Vor-träge um die Frage: Was sind Psychede-lika und warum rücken sie gegenwärtigwieder ins Blickfeld der Öffentlichkeit?Ausführlich informierten die Referentenüber die Definition von Psychedelik, überdie frühere und gegenwärtige Bedeutungbewusstseinserweiternder Substanzen. Der Ausdruck „Psychedelik“ setzt sich zu-sammen aus den beiden griechischenWörtern psyche (Seele) und delos (offen-bar). Er bezeichnet demnach einen Zu-stand, in dem „die Seele offenbar“ wird.„Psychedelik“, u. a. von Aldous HuxleyMitte der fünfziger Jahre geprägt, kannauch das Potential von Selbsterkenntnisund Bewusstseinserweiterung bezeich-nen, das er in dieser Art von psychoaktiverSubstanz zu erkennen meinte.

273MATERIALDIENST DER EZW 7/2008

inhalt07.qxd 24.06.2008 11:54 Seite 273

274 MATERIALDIENST DER EZW 7/2008

Einige Referenten wiesen darauf hin, dassvor Jahrtausenden schon Psychedelika aufder ganzen Erde verbreitet waren. Scha-manen hätten sie für medizinische und sakrale Rituale verwendet. PsychoaktivePflanzen seien als „Gewächse der Götter“verehrt worden. Demnach galten sie auchals Mittler zwischen Mensch und Kosmosbzw. zwischen materieller und spirituellerDimension. Nach Meinung einzelner Re-ferenten könne durch Psychedelika deralltägliche Kontrollmechanismus in Ge-danken, Bildern und Vorstellungenzurückgelassen werden. Dem Unbewuss-ten, der eigenen tief innewohnenden Fan-tasie werde damit eine Möglichkeit gege-ben, sich stärker Ausdruck zu verschaffen.Der Einzelne könne seine Realität erneu-ern und dadurch ändern. Und schließlichwerde das Göttliche auf diesem Wege direkt erfahrbar.Psychedelika haben im Kontext einer Su-che nach Spiritualität schon früher für Auf-sehen gesorgt. LSD zählte neben psylocy-binhaltigen Pilzen und dem meskalinhal-tigen Peyote-Kaktus zu den psychede-lischen Mode-Substanzen der weltweitenFlower-Power-Generation, die im „Sum-mer of Love“ ihren Höhepunkt erreichthatte. In den sechziger und siebziger Jah-ren wurden die meisten Psychedelika als„Rauschgift“ bezeichnet und ihre Verwen-dung nahezu weltweit verboten. Es er-schienen zahlreiche Berichte über Abhän-gigkeit und Missbrauch von Drogen. Ver-treter von Drogenberatungsstellen und erfahrene Therapeuten wiesen mit Zahlenund Fallbespielen auf das enorme Gefah-ren- und Suchtpotential dieser Substanzenhin. Beim Kongress in Basel wollten sich diemeisten Referenten und Teilnehmer eherder anderen Seite, dem spirituellen Poten-tial der psychedelischen Substanzen, wid-men. Bewusstseinsveränderung im 21.

Jahrhundert stellte Albert Hofmann im Ta-gungsprogramm so vor: „LSD und andereSubstanzen sind keine Drogen im übli-chen Sinne, sondern gehören zu den sa-kralen Substanzen, die seit Jahrtausendenim rituellen Rahmen verwendet werden.Es ist mein Wunsch, dass eine moderneEleusis entstehen kann, in dem suchendeMenschen in einem sicheren Rahmentranszendente Erfahrungen mit sakralenSubstanzen machen können. Ich bin über-zeugt, dass diese Veranstaltung dazubeiträgt, dass den Seelen öffnenden Stof-fen ein ihnen gemäßer Platz in unsererGesellschaft und Kultur zuerkannt wird.“3

Um diesem Anliegen Nachdruck zu ver-leihen, wurde für das Welt PsychedelikForum 2008 eine Resolution4 verfasst, inder es u. a. heißt, „dass die gesetzlicheGleichstellung von halluzinogenen Sub-stanzen (wie LSD, Mescalin, Psilocybin)mit Heroin und Kokain weder dem Ge-fährdungspotential noch der gesellschaft-lichen Bedeutung entsprechen“. Behaup-tet wird zudem, „dass eine abhängigkeits-erzeugende Wirkung halluzinogener Sub-stanzen nicht nachgewiesen ist“ und„dass die meisten der heute illegal Konsu-mierenden einen verantwortungsvollenund risikoarmen Umgang pflegen“. DieUnterzeichner fordern deshalb, dass derStaat nur dort intervenieren solle, „wo eszwingend notwendig ist“. Und abschlie-ßend heißt es sogar: „Ein freiheitlicherStaat kann durchaus mit dem Freiraumdes risikoarmen Konsums halluzinogenerSubstanzen leben.“

Anmerkungen

1 www.gaiamedia.org.2 Aus dem Programmheft der Veranstaltung; im Inter-

net: www.psychedelik.info. 3 Ebd.4 www.psychedelik.info/images/RESOLUTIONEN.pdf

(9.6.2008).

Gerhard Kracht, Dortmund

inhalt07.qxd 24.06.2008 11:54 Seite 274

275MATERIALDIENST DER EZW 7/2008

ESOTERIK

Esoteriksender „Kanal Telemedial“ ver-liert Sendelizenz. Dem über Satel-litenfernsehen und in einigen Kabelnetzenempfangbaren österreichischen Esoterik-und Beratungssender Kanal Telemedial,der sich als „ersten spirituellen Sender inEuropa“ bezeichnet und Kartenlegen,Astrologie und allgemeine Telefonbera-tungen offeriert, droht das Aus. Die öster-reichische MedienaufsichtsbehördeKomm Austria hat dem Betreiber AnfangJuni 2008 einen Bescheid zugestellt, indem mitgeteilt wird, dass die Sendelizenzerlischt. Als Begründung wird angeführt,Telemedial hätte „über einen durchgehen-den Zeitraum von einem Jahr keinen Sen-debetrieb entsprechend der ihr erteiltenZulassung zur Veranstaltung von Satelli-tenrundfunk ausgeübt“ (Pressemitteilungder Komm Austria vom 6.6.2008,www.rtr.at/de/pr). Im Wesentlichen gehtdie Komm Austria davon aus, dass der Ka-nal Telemedial seit März 2007 nicht inÖsterreich niedergelassen ist und damitauch nicht die wesentliche Voraussetzungfür die erteilte Zulassung zum Satelliten-rundfunk erfüllt. Das Programm von Kanal Telemedial, derseinen offiziellen Sitz in Wien hat, wird inden Studios im deutschen Ludwigsburgproduziert. Für die Lizenzerteilung inÖsterreich ist jedoch vorgesehen, dass derSender dort nicht nur seinen Sitz habenmuss, sondern dass er dort auch seine re-daktionellen Entscheidungen zu treffenund den Hauptteil des Senderpersonals zubeschäftigen hat. Es ist nicht das erste Mal, dass der KanalTelemedial für Diskussionsstoff sorgt. Sosollen sich mehr als 100 Menschen beiKomm Austria über den Esoteriksenderbeschwert haben, der Lebensberatung fürneun Euro pro Minute anbietet. Für zu-sätzlichen Ärger soll Medienberichten zu-

folge der Auftritt eines Geistheilers AnfangAugust 2007 gesorgt haben. Dabei solldieser den Eindruck erweckt haben, dassseine Behandlung mit „Engel-Energien“eine schulmedizinische Behandlung erset-zen könne. Damit würden gesundheitsge-fährdende Verhaltensweisen gefördert,hieß es in einer Rüge, die dem Sender vonden österreichischen Medienwächtern er-teilt wurde.Am 29. Juni 2006 ging Kanal Telemedialunter dem Namen „Primetime“ auf Sen-dung. Mit verändertem Konzept ist er un-ter dem jetzigen Namen seit 5. Dezember2007 über Antenne (DVB-T), Kabel (ana-log, digital), Satellit (analog, digital) undüber Internetfernsehen (www.teleme-dial.de) zu empfangen. Gründer des Sen-ders ist der Fernsehunternehmer ThomasG. Hornauer (Jahrgang 1960). Der ge-lernte Gießer fungiert als Programmdirek-tor des Fernsehsenders Telemedial und istGeschäftsführer der Firma Telekontor. Be-kannt wurde Hornauer, als er Anfang2003 für 1,6 Millionen Euro den insolven-ten württembergischen RegionalsenderB.TV übernommen hatte. B.TV musste2004 seinen Sendebetrieb einstellen, daihm von der Landesmedienanstalt Baden-Württemberg die Lizenz entzogen wurde.In den Jahren zuvor hatte es Hornauer alsBetreiber von zahlreichen 0190-Hotlines(Sex-Hotlines) und als Produzent von Ero-tikclips zum Multimillionär gebracht. Indie Schlagzeilen geriet er, als ihm in Me-dienberichten Kontakte zur umstrittenenWankmiller-Gruppe, dem „Stamm der Li-katier“ (vgl MD 3/2004, 108ff), nachge-sagt wurden. Die Mitteilung von Komm Austria, wo-nach die Sendelizenz für Kanal Teleme-dial erlischt, bedeutet jedoch nicht das so-fortige Aus. Hornauer hat zwei WochenZeit, um Widerspruch gegen diesen Be-scheid einzulegen.

Matthias Pöhlmann

inhalt07.qxd 24.06.2008 11:54 Seite 275

276 MATERIALDIENST DER EZW 7/2008

BÜCHERRainer Fromm, Schwarze Geister, NeueNazis. Jugendliche im Visier totalitärerBewegungen, Olzog Verlag, München2008, 352 Seiten, 24,90 Euro.

Wer ab dem späten Nachmittag überBahnhöfe und andere Treffpunkte größe-rer Städte geht, ahnt eine Vielzahl vonSzenen, zu denen er selbst keinen Zuganghat. Man mag sich beruhigen, wenn beiszenemäßig gekleideten Gestalten normalaussehende Jugendliche oder Erwachsenestehen und sich mit ihnen unterhalten.Offensichtlich sind hier Gesprächs- undAnschlussfähigkeiten vorhanden, „Ein-stiegsszenarien“ vielleicht, aber auch„Ausstiegsmöglichkeiten“. Muss man,etwa als Pfarrer/in oder Lehrer/in, jedeSzene kennen und zu jeder gesprächs-fähig sein? Sicher nicht. Im Schullebenzeigt die langfristige Perspektive: Nicht je-des Pentagramm auf dem Religionsheft istAnlass zur Krisenintervention, und man-che Schülerin, die in der Mittelstufe einenschwarzen Style pflegt, kehrt in der Kol-legstufe zu alterstypischer Kleidung zu-rück. Anders ist es mit Zirkeln, die denAnschluss an die Gesellschaft verloren ha-ben und deshalb auch keine Verpflichtungihr gegenüber empfinden. Über „Satanis-ten“ und „Nazis“, deren Abgeschlossen-heit und Gewaltbereitschaft nach außenimmer wieder Schlagzeilen machen,sollte man tatsächlich etwas mehr wissen.Wie also steht es mit dem Umschlagenvom Gehabe zu einer Weltanschauung,die mit der gesellschaftlichen Mehrheit in-kompatibel ist, vom temporären Lifestylezur dauerhaften Schädigung der eigenenund fremden Existenz? Rainer FrommsBuch über „schwarze Geister, neue Na-zis“ gibt einen Einblick in Musikwelten,Logiken und Plausibilitäten von Satanis-

ten, Vampiren und Rechtsextremisten. Ausder massenmedialen Berichterstattungüber Okkultstraftaten und Vergehen mitneonazistischem Hintergrund wird mannicht unbedingt auf einen organisiertenZusammenhang von Satanismus undRechtsextremismus kommen, währendMenschenverachtung und Gewaltbereit-schaft nach innen und außen sicher ge-meinsame Merkmale sind. Rainer Frommist der Auffassung, dass den gegenseitigenAnschlussfähigkeiten und Übergängenstärkere Beachtung geschenkt werdensollte. Diese findet er in der Musik, im In-ternet (bes. chatrooms) und bei manchenSchlüsselfiguren. Was der Umschlagtext an Detailreichtumund Fallbeispielen verspricht, das hält dasBuch. Die im Titel und im Buch vertreteneThese hat den Rezensenten aber nochnicht so recht überzeugt: In manchen Fäl-len (Musikgruppen, Einzelpersonen) gibtes die Verbindung von Okkultszenen undRechtsradikalismus – doch sind die Bei-spiele auch repräsentativ? Liegen Ge-meinsamkeiten eher in den psychischenDispositionen der Angeworbenen odergibt es sie auch bei den totalitären Anwer-bern? Wie verhalten sich beispielsweisedie Arkandisziplin satanistischer Logenund der Öffentlichkeitsdrang rechtsextre-mer Parteien und „Bürgerinitiativen“ zu-einander? Hier hätte vielleicht ein paralle-ler Aufbau der Kapitel der Überzeugungs-kraft geholfen. So stehen die in sich selbstdurchaus informativen Kapitel über Sata-nismus, Vampirismus und Rechtsextremis-mus doch eher nebeneinander. Dem ent-spricht auch ein Nebeneinander der Kon-taktadressen für potentielle Aussteiger ausdem Rechtsextremismus (Landeskrimi-nalämter, Verfassungsschutz) und dem„Okkultismus / Satanismus“ (staatlicheund kirchliche Beratungsstellen).Mehr noch als die Frage nach dem Ein-stieg beschäftigt den Rezensenten die

inhalt07.qxd 24.06.2008 11:54 Seite 276

277MATERIALDIENST DER EZW 7/2008

Frage nach dem Ausstieg. Liebe und Ar-beitsplatz mögen gute Ausstiegsgründesein. Weil man diese als Außenstehenderaber so schlecht organisieren kann, fragtsich, welche Begleitumstände noch zurRückkehr in ein gemeinschaftskompa-tibleres Leben helfen können und woraufman als Begleiter nach einer Okkult- oderNazikarriere gefasst sein muss. Ein wertvolles Additum ist das Gastkapitelmit autobiographischen Beiträgen vonManuela Ruda (Satanismus) und GabrielLandgraf (Rechtsradikalismus). Der Re-zensent hat den Beitrag von ManuelaRuda, die 2001 gemeinsam mit ihrem da-maligen Ehemann einen Mord begangenhat, gekürzt als Fallbeispiel im Schulun-terricht einer achten Jahrgangsstufe ge-nutzt und dabei an Schülerwahrnehmun-gen von Sensationsberichterstattung überden Satanismus anknüpfen können. EineStunde wurde dem Einstieg in die Szenegewidmet, eine weitere dem öffentlich-keitswirksamen Mord, Rudas heutigerSicht auf die eigene Tat und der Reaktionder Massenmedien und der satanistischenFans. Die Schülerfragen (z. B. nach derheutigen Stellung des beteiligten Partnerszur Tat) zeigten allerdings auch, dass dieInformationen über den Fall im Satanis-muskapitel (108-115) doch etwas syste-matischer hätten sein können.

Hansjörg Biener, Nürnberg

Mathias Schreiber, Was von uns bleibt.Über die Unsterblichkeit der Seele, Spie-gel Buchverlag / DVA, München 2008,156 Seiten, 14.95 Euro.

Der SPIEGEL-Autor Mathias Schreiberhatte sich schon vor 30 Jahren der Thema-tik der Nahtoderfahrungen angenommen– und voriges Jahr auch der Unsterblich-keitsfrage. Der Zuspruch der Leserschaftwar so groß, dass er seinen einschlägigen

Essay vom Umfang her vervierfacht undnun als Buch vorgelegt hat. Die Thematikder Seelenunsterblichkeit habe eineunerwartete Renaissance erfahren, stelltder promovierte Philosoph eingangs fest.Für die Mehrheit der Deutschen ist mitdem Tod keineswegs einfach alles aus. Erselber ist „über viele intellektuelle Um-wege dahin gelangt, von einer fundamen-talen Nicht-Sterblichkeit der Seele über-zeugt zu sein“.Die beabsichtigte „Zusammenschau vonEinsichten so unterschiedlicher Fächerwie der Philosophie, der Theologie, derArchäologie, der Kulturgeschichte, derVergleichenden Religionswissenschaft,der Astrophysik, der Neurologie und derAltphilologie“ kann auf knapp 150 Seitenfreilich kaum mehr bieten als eine Mixturaus journalistischer Wahrnehmung undpersönlich-philosophischer Deutung. Kul-tur- und religionswissenschaftliche Rund-gänge dieser Machart sind gutenteils sointeressant und oberflächlich wie einekundige Museumsführung. Kundig hat sich Schreiber allemal ge-macht. Er geht mit großen Namen und Systemen um. Ausdrücklich stellt er sichdabei „jenseits des Glaubens an die Auto-rität einer Kirche“. Aber den Gottesgedan-ken als Garanten einer Seelenunsterblich-keit hält er am Ende hoch – „weil so vieleAutoritäten, die klüger waren, als wir essind, seit Jahrtausenden die eine Ur-Sache‚Gott’ genannt haben“.Sein Weg, plausible Gründe für die legi-time Annahme einer Unsterblichkeit derSeele beizubringen, ist der einer intuitivenVernunft – zumal es objektive Beweise indieser wie in der Gottesfrage der Sachenach unmöglich geben kann. Ihm genügtes, dass die Grundannahme einer letzten„Überlegenheit des Guten über alleSchreckensmächte“ etwas Einleuchtendeshat und wir den Alltag schwerlich bewäl-tigen können ohne den Hintergrund eines

inhalt07.qxd 24.06.2008 11:54 Seite 277

278 MATERIALDIENST DER EZW 7/2008

sehnsuchtsvollen Vertrauens in eine dochirgendwie zu erhoffende „Abrundung“ al-ler Dinge.Im Endeffekt bleibt Schreibers Argumenta-tion keineswegs ohne Tiefgang. Immerwieder und gerade auch zum Schluss hater mehr oder weniger philosophische Re-flexionen vorzuweisen, die selbst radikaleSkeptiker zu abwägender Nachdenklich-keit zwingen. So weist er etwa den abge-griffenen Illusions- und Projektionsver-dacht zurück mit dem Hinweis auf dieUnwahrscheinlichkeit, „dass der Menschausgerechnet in einer solchen Grenzsitua-tion, die ihn nach Tod und Unsterblichkeitfragen lässt, sich leichtfertig-illusionärselbst betrügt“. Mehr als eine höfliche,weise Einladung, sich mit dem uraltenGlauben an die Unsterblichkeit der Seeleund die Auferstehung vom Tod neu undhoffnungsvoll auseinanderzusetzen, kannund will dieses Büchlein freilich nichtsein.

Werner Thiede, Regensburg

Dr. theol. Hansjörg Biener, geb. 1961, Pfar-rer und Religionslehrer am Melanchthon-Gymnasium Nürnberg, Privatdozent für Re-ligionspädagogik an der Universität Erlan-gen-Nürnberg.

Reinhard Bingener, Jahrgang 1979, evange-lischer Theologe, Politikredakteur derFrankfurter Allgemeinen Zeitung.

Dr. theol. Friedmann Eißler, geb. 1964,Pfarrer, EZW-Referent für Islam und anderenichtchristliche Religionen, neue religiöseBewegungen, östliche Spiritualität, interreli-giösen Dialog.

Dr. theol. Andreas Fincke, geb. 1959, Pfar-rer, 1992-2007 EZW-Referent für christliche

Sondergemeinschaften; seit 2007 theologi-scher Referent im Konsistorium der Evange-lischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesi-sche Oberlausitz mit Sitz in Berlin.

Dr. theol. Reinhard Hempelmann, geb.1953, Pfarrer, Leiter der EZW, zuständig fürGrundsatzfragen, Strömungen des säkularenund religiösen Zeitgeistes, pfingstllich-cha-rismatisches Christentum.

Stefan Hoschkara, geb. 1984, Student derPolitikwissenschaft an der Universität Bam-berg, im Frühjahr 2008 Praktikant der EZW.

Gerhard Kracht, geb. 1952, Pfarrer, Sekten-und Weltanschauungsbeauftragter derEvangelischen Kirche von Westfalen, Dort-mund.

Lutz Lemhöfer, geb. 1948, kath. Theologeund Politologe, Referent für Weltan-schauungsfragen im Bistum Limburg.

Dr. theol. Matthias Pöhlmann, geb. 1963,Pfarrer, EZW-Referent für Esoterik, Okkultis-mus, Spiritismus, Satanismus.

Dr. phil. Christian Ruch, geb. 1968, Histori-ker, Mitglied der Katholischen Ar-beitsgruppe „Neue religiöse Bewegungen“,wohnt in Chur/Schweiz.

Prof. Dr. theol. Christoph Schwöbel, geb.1955, Professor für Systematische Theologiean der Evangelisch-Theologischen Fakultätder Eberhard Karls Universität Tübingenund Leiter des Instituts für Hermeneutik undDialog der Kulturen.

Prof. Dr. theol. Werner Thiede, geb. 1955,apl. Professor für Systematische Theologiean der Universität Erlangen-Nürnberg,theologischer Referent beim Regionalbi-schof in Regensburg.

Dr. phil. Michael Utsch, geb. 1960, Psycho-loge und Psychotherapeut, EZW-Referentfür christliche Sondergemeinschaften, Psy-choszene und Scientology.

AUTOREN

inhalt07.qxd 24.06.2008 11:54 Seite 278

279MATERIALDIENST DER EZW 7/2008

Alle EZW-Texte sind per Abonnement oder im Einzelbezug zu beziehen.Wenden Sie sich bei Interesse bitte schriftlich (EZW, Auguststr. 80, 10117 Berlin), per Fax (030/28395-212) oder per Mail ([email protected]) an uns.Weitere Informationen finden Sie unter www.ezw-berlin.de.

NEUE EZW-TEXTE

Michael Utsch (Hg.)

Wie gefährlich ist Scientology?

EZW-Texte 197, Berlin 2008, 96 Seiten

Aus dem Inhalt:

Warum ich mitgemacht habe und dann dochausgestiegen bin (Wilfried Handl)

„To get Ethics in“Ethik, Religion und Organisation bei Scientology(Andreas Grünschloß)

Kulturelle Differenzen im Verständnis des BegriffsKirche in den USA und in DeutschlandOder: Ist die „Church of Scientology“ eine Kirche? (Christoph Grotepass)

Psychologische Irrtümer der Dianetik undtheologische Kritik an der Scientology-Lehre (Michael Utsch)

Reinhard Hempelmann / Matthias Pöhlmann

Esoterik als TrendPhänomene – Analysen – Einschätzungen

EZW-Texte 198, Berlin 2008, 64 Seiten

Aus dem Inhalt:

Im Kraftstrom göttlicher EnergienErscheinungsformen und Hintergründe modernerEsoterik(Matthias Pöhlmann)

Moderne Esoterik und christlicher Glaube(Reinhard Hempelmann)

inhalt07.qxd 24.06.2008 11:54 Seite 279

280 MATERIALDIENST DER EZW 7/2008

Herausgegeben von der Evangelischen Zentralstellefür Weltanschauungsfragen (EZW), einer Einrichtungder Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD),im EKD Verlag Hannover.

Anschrift: Auguststraße 80, 10117 Berlin Telefon (0 30) 2 83 95-2 11, Fax (0 30) 2 83 95-2 12Internet: www.ezw-berlin.deE-Mail: [email protected]

Redaktion: Matthias Pöhlmann, Carmen Schäfer, Ulrike LiebauE-Mail: [email protected]

Für den Inhalt der abgedruckten Artikel tragen die jeweiligen Autoren die Verantwortung. Sie geben nicht unbedingt die Meinung der Herausge-ber wieder.

Verlag: EKD Verlag, Herrenhäuser Straße 12,30419 Hannover, Telefon (0511) 2796-0,EKK, Konto 660000, BLZ 25060701.

Anzeigen und Werbebeilagen: AnzeigengemeinschaftSüd, Augustenstraße 124, 70197 Stuttgart,Postfach 100253, 70002 Stuttgart, Telefon (0711) 60100-66, Telefax (07 11) 60100-76. Verantwortl. für den Anzeigenteil: Wolfgang Schmoll. Es gilt die Preisliste Nr.22 vom 1.1.2008.

Bezugspreis: jährlich € 30,– einschl. Zustellgebühr.Erscheint monatlich. Einzelnummer € 2,50 zuzügl.Bearbeitungsgebühr für Einzelversand. Abbestellungensind nur mit einer Frist von 6 Wochen zum Jahresendemöglich. – Alle Rechte vorbehalten.

Bei Abonnementwunsch, Adressenänderungen, Abbe-stellungen wenden Sie sich bitte an die EZW.

Druck: Maisch & Queck, Gerlingen/Stuttgart.

IMPRESSUM

inhalt07.qxd 24.06.2008 11:54 Seite 280

inhalt01.qxd 18.12.2007 08:11 Seite 2

MAT

ERIA

LDIEN

ST Zeitschrift fürReligions- undWeltanschauungsfragen

71. Jahrgang 7/08

ISSN

072

1-24

02 H

542

26

Evangelikalismus ist nicht Fundamentalismus

Evangelische Identitätim religiösen Pluralismus

Heimliche Religion im Kriminalroman

Der Dalai Lama –unangefochtener Fürst des Friedens?

Weiterhin KlärungsbedarfNeuapostolische Kirche und Ökumene

Evangelische Zentralstellefür Weltanschauungsfragen

EZW, Auguststraße 80, 10117 BerlinPVSt, DP AG, Entgelt bezahlt, H 54226

umschlag07.qxd 24.06.2008 11:55 Seite 1