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Anka Muhlstein INSEL Zola, Balzac, Proust und die Malerei Mit Feder und Pinsel

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Anka Muhlstein

Insel

Zola, Balzac, Proust und die Malerei

Mit Feder und Pinsel

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Anka Muhlstein

Mit Feder und PinselZola, Balzac, Proustund die Malerei

Aus dem Französischenvon Ulrich Kunzmann

Insel Verlag

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© by Anka MuhlsteinErstausgabe in englischer Sprache unter dem Titel

THE PEN AND THE BRUSH:How Passsion for Art Shaped th-Century French Novels,

by Other Press, New YorkDer vorliegende Text wurde aus dem Französischen übersetzt:

LA PLUME ET LE PINCEAU.L’empreinte de la peinture sur le roman au XIXe siècle. Odile Jacob, Paris

Erste Auflage © der deutschen Ausgabe: Insel Verlag Berlin

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das desöffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,

vervielfältigt oder verbreitet werden.Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH,Waldbüttelbrunn

Druck: Pustet, RegensburgPrinted in Germany

ISBN ----

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Für Louis

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Inhalt

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Vorwort: Kunst für alle

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Balzacs Pinsel

41

Maler und Gesellschaft

56

Ambitionen, Erfolge und Sackgassen

68

Zola, Freund der Maler

84

Wie ein Maler schreiben

100

Zolas Maler

124

Nachwirkungen

150

Elstir, der Lehrer

172

Das Bild im Dienste des Romans

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Schlussbemerkung

194

Danksagung

195

Anmerkungen

212

Bildnachweis

nach S. 97

Bildteil

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VorwortKunst für alle

Oft habe ich mich gefragt, warum sich die Romanschriftstellerdes . Jahrhunderts buchstäblich zwanghaft mit der Malerei be-schäftigt haben, während ein Jahrhundert zuvor Diderot der ein-zige große Schriftsteller seiner Generation war, der sich für dieKünste interessierte. Man lese Stendhal, dessen Werk über dieitalienische Malerei Cézanne faszinierte, Balzac, Flaubert, dieGoncourts, Zola, Anatole France, Huysmans, Maupassant undschließlich Proust: Alle hielten es für höchst bedeutsam, wie manetwas betrachtet und beschreibt, und dies veranlasste sie, unzähli-ge literarische Gestalten zu schaffen, die Maler sind. Dieses Phä-nomen tritt vor allem in Frankreich auf. In England, Deutschlandoder Russland findet sich nichts Vergleichbares. In den Vereinig-ten Staaten muss man warten, bis Henry James am Ende des. Jahrhunderts die Malerei zum literarischen Thema macht. InEngland wird Virginia Woolf als Erste über den Einfluss der Ma-lerei auf die Literatur nachdenken.Wie ließe sich gerade in Frank-reich dieses sehr frühe und allgemeine Interesse erklären, wennnicht mit der Gründung eines öffentlichen Museums kurz vordem Ende des . Jahrhunderts, das einer ganzen Generation er-möglichte, eine umfangreiche und einzigartige künstlerische Bil-dung zu erwerben?

Was ist natürlicher als ein Museumsbesuch? Leichten Zugangzu den großenWerken zu haben scheint uns so selbstverständlich,dass wir selten an die kulturelle Revolution denken, die von derGründung der modernen Museen bewirkt wurde. Und doch,

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welch radikale Umwälzung der Lebensgewohnheiten ergab sichaus dieser neuen Möglichkeit! Im . Jahrhundert öffnete nur dasVorrecht der Geburt oder ein außergewöhnlicher sozialer Auf-stieg die Tür zu Meisterwerken, die sich in Schlössern oder Her-renhäusern unter Verschluss befanden; allein dann konnte mandie Bildergalerien besuchen, die von reichen Pariser Sammlern zu-sammengestellt wurden. Sonst blieb einem nichts anderes übrig,als viel Zeit in den Kirchen zu verbringen, den einzigen Orten,an denen jeder Kunstwerke ganz ungehindert – wenigstens voroder nach der Messe – bewundern durfte. Italien hatte in dieserHinsicht besonders viel zu bieten. Doch wenn man ein Gemäldein einer dunklen Kapelle würdigen wollte, erwies sich dies langeals problematisch: Henry James etwa beklagte sich während einesVenedigbesuchs, dass er darauf verzichtenmusste, den großartigenCima da Conegliano in San Giovanni in Bragora und die prächti-gen Tintorettos in San Rocco zu bewundern, so düster waren dieKirchen. Noch in unseren Tagen haben Touristen, wenn sie nichtüber genügend Münzen für den bereitstehenden Apparat verfü-gen, nur ein paar Minuten, um Fresken oder Gemälde zu betrach-ten. Außerdem brauchte manGeld und Zeit, um Europa zu berei-senund die SkulpturenundBilder andererKulturen zu entdecken.Dassmannach eigenemGeschmack und in selbstgewähltemTem-po durch die große Galerie des Louvre spazieren konnte, hatte al-so im direkten Sinne – denn der Eintritt war frei –wie im übertra-genen Sinne einen unschätzbaren Wert.

Das bedeutsamste Ereignis in der französischen Kunstszeneam Beginn des . Jahrhunderts war also unbestreitbar die öffent-liche Ausstellung einer außerordentlich großen Anzahl vonMeis-terwerken. Die Monarchie musste gestürzt werden, damit ein seitlangem geplantes Museum endlich Gestalt annehmen konnte. ImNovember wurde der Louvre, bisher denmehr oder wenigerungeordneten Sammlungen der Könige vorbehalten, als »Zentra-les Kunstmuseum der Republik« (Musée central des arts de la Ré-

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publique) neu eröffnet. Die für die Dekade – das heißt den zehn-tägigen Zeitraum, der auf Anordnung der RevolutionsregierungdieWoche ersetzte – geltendeRegelung bestimmte, dass die erstenfünf Tage den Künstlern und Kopisten und die zwei darauffol-genden Tage der Reinigung vorbehalten sein sollten, währenddas Volk in den letzten drei Tagen kommen durfte. Außer dieserPolitik der offenen Türen bestand die große Neuerung darin,nicht einfach unterschiedliche Werke zu zeigen, sondern sie zuBildungszwecken geordnet zusammenzustellen.

Gleich nach dem Sturz der Monarchie im Jahre hatte dieRegierung damit begonnen, die in den Klöstern und Kirchen auf-bewahrten Kunstwerke sowie den Besitz der ersten Emigrantenzu beschlagnahmen.DieseWerke wurden zumTeil imLouvre un-tergebracht. Außerdemwurden die Schätze ausmehreren Königs-schlössern nach Paris geholt. Was nicht im Louvre Platz fand,mehr als hundert Gemälde, wurde in Versailles, im Gebäude der»Surintendance« – der für die Instandhaltung der Königsschlös-ser verantwortlichen Behörde –, eingelagert.

Die Zahl der Gemälde und Skulpturen im Louvre erhöhte sichab beträchtlich, wofür die Eroberungen der Revolution unddes Kaiserreichs sorgten, denn alle Siege der damaligen Zeit führ-ten zum systematischen Raub der Kunstwerke der besiegten Län-der. Die Plünderung von Kunstschätzen war nicht neu; doch nunüberstiegen die Bedeutung und die Zahl der beschlagnahmtenWer-ke das vorstellbare Maß, nicht nur, was die Menge, sondern auch,was die Qualität betraf. Mit Bildern von Rubens, van Eyck undRembrandt beladene Wagenkolonnen trafen im Juli , nachder Einnahme Brüssels und dann Gents und Antwerpens, in Parisein. Mehr als zweihundert Gemälde wurden in den Niederlandenkonfisziert. Zu ähnlichen Beschlagnahmen kam es in Deutsch-land und in noch größeremMaßstab in Italien. Sobald Bonapartezum General ernannt und der Italienarmee zugeteilt worden war,beauftragte er Fachleute als Kommissare für die Auswahl der

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Kunstwerke, Handschriften sowie Tier- und Pflanzenraritäten,und diese bedeutenden Männer – Monge, ein großer Mathemati-ker, Berthollet, ein genialer Chemiker, Moitte, ein angesehenerBildhauer, und Thouin, ein Botaniker und ehemaliger Obergärt-ner des Königlichen Heilkräutergartens, des heutigen Jardin desPlantes – wählten nicht nur sachkundig aus, sondern bewiesenauch ein erheblichesOrganisationstalent. Die Franzosen rechtfer-tigten ihre Raubzüge damit, dass dieseWerke nun demVolk gehö-ren und nicht mehr dem Vergnügen der Despoten vorbehaltensein sollten.

Die Ankunft der Trophäen diente als Anlass für eine Kundge-bung zumRuhm der Regierung. Kommissar Thouin, der viel vonÖffentlichkeitswirkung verstand, hatte die Sache in die Hand ge-nommen: »Lassen wir es zu, dass die kostbare Siegesbeute ausRom wie Kohlesäcke ankommt, und wird man erleben, dass sieauf dem Quai du Louvre wie Seifenkisten ausgepackt wird?[…] Nein, das ganze Volk soll zum Fest eingeladen werden. […]Die Bürger aller Klassen werden sehen, dass sich die Regierungum sie gekümmert hat und dass jeder bei der Aufteilung einerso reichen Beute etwas abbekommenwird. Dann können sie beur-teilen, was eine republikanische Regierung im Vergleich mit dermonarchistischen bedeutet, die nur Eroberungen macht, um ihreHöflinge zu versorgen und zu bereichern und ihre Eitelkeit zu be-friedigen.«1 Als der Triumphzug am . Juli in Paris ankam,wurde dies mit einem großen Fest gewürdigt. Eine Parade exoti-scher Tiere – Löwen, Kamele und Bären – trabte den vier Statuender Kupferpferde voran, Glanzstücken aus der Fassade des Mar-kusdoms; hierauf folgten mehr als dreißig Wagen, die große klas-sische Skulpturen und schließlich auch die berühmtesten Gemäl-de der italienischen Renaissance – von Raffael,Tizian,Tintorettound Die Hochzeit zu Kana, einen monumentalen Veronese – be-förderten.

Die Verantwortlichenwussten viel zu gut, wie empfindlich die-

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se Werke waren, als dass sie ihnen einen Transport im Freien zu-gemutet hätten. Skulpturen und Bilder wurden erst aus ihren Kis-ten geholt, als man sie in den Louvre-Galerien unterbrachte. Dasses während dieser langen Transporte, insbesondere aus Italien,nicht zu Schäden kam, machte tiefen Eindruck auf Franzosenund Ausländer.

Die Lieferungen hielten an, bis die Zeit der EroberungenNapo-leons endete. Die außerordentlich große Zahl vonWerkenmachteeine vollständige Umgestaltung des Louvre erforderlich. Diesefand unter der Leitung von Vivant Denon, einem kunstbegeister-ten Diplomaten, statt. Man bat die bisherigen Bewohner desLouvre, das Feld zu räumen. Ein großer Teil der Gemälde derfranzösischen Schule gelangte nachVersailles, wo das »Spezialmu-seum der französischen Schule« eingerichtet wurde. Im Louvreselbst nahm man wichtige Umbauarbeiten vor. In bestimmtenZeiträumen blieb das Museum geschlossen, doch sobald sich dieTüren wieder öffneten, gab es großen Andrang. Madame VigéeLe Brun, aus Paris geflohen und unter dem Konsulatzurückgekehrt, eilte in den Louvre, sobald sie wieder Pariser Bo-den unter den Füßen hatte. Sie wollte allein sein, um nicht abge-lenkt zu werden, und war angesichts von so viel Schönheit derartüberwältigt, dass sie gar nichtmerkte, wie dieMuseumswärter dieTüren abschlossen. Sie glaubte schon, die Nacht inmitten der Sta-tuen verbringen zu müssen, die ihr nun alle wie fürchterlichePhantome vorkamen, als sie endlich eine kleine Tür entdeckte,an der sie so fest klopfte, dass man kam und sie befreite.2

Und da war nicht nur der Louvre. Im Jahre konnte manim Musée du Luxembourg, das die von Maria von Medici be-gonnene Sammlung enthielt, die ersten Besucher begrüßen. Im. Jahrhundert waren die Galerien des Palais du Luxembourgwährend eines kurzen Zeitraums für alle geöffnet gewesen, dochals der Comte de Provence, der Bruder Ludwigs XVI., die Räumedes Palais in Besitz nahm, war Schluss mit den Besuchen.Watteau

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ließ sich dort heimlich einschmuggeln, um Rubens’ Zyklus überMaria vonMedici zu studieren. Ein drittes bedeutendesMuseum,das »Museum der Geschichte Frankreichs«, wurde von Louis-Philippe in Versailles eingerichtet. Dass solche Museen allgemeinzugänglich waren, stellte in Europa eine wirkliche Neuerung dar.Die deutschen Fürsten und die englischen Aristokraten hattenstets gestattet, dass man ihre Sammlungen besichtigte, doch meis-tens war es so, dass der Besucher eine Empfehlung haben musste.Selbst wenn manche Galerien grundsätzlich allen offenstanden,musste sich das Publikum mit kuriosen Zwängen abfinden: Umdie öffentlichen Säle des Wiener Kaiserschlosses betreten zu dür-fen, musste man zum Beispiel saubere Schuhe haben, was voraus-setzte, dass sich der Besucher wenn nicht unbedingt eine Privat-kutsche, so doch einen Fiaker leisten konnte und somit zu denhöheren Gesellschaftsklassen gehörte.

Im Jahre kam es zum Sturz Napoleons, und nun war manverpflichtet, das geraubte Gut an die Ausländer, dann aber auchan die nach Frankreich zurückgekehrten Emigranten herauszuge-ben. Der Klerus verlangte ebenfalls die den Kirchen und KlösternentrissenenVermögenswerte zurück. Der Staat verteidigte sich er-folgreich, sodass der Louvre beinahe die Hälfte der erbeutetenWerke behalten konnte. Oft fehlte den beraubten Staaten das Geld,um den Rücktransport durchzuführen. In einigen Fällen erklär-ten sich kleine italienische Staaten einverstanden, die beschlag-nahmtenWerke zu verkaufen.Man schloss Vergleiche ab: Florenzverzichtete auf einige Gemälde Cimabues, ging aber keinen Kom-promiss bei der Rückführung der besonders hoch geschätztenMarmortafeln ein. Man verhandelte hart, was die Öffentlichkeitmit größtem Interesse verfolgte. Der gute Ruf des Museums littdarunter nicht.

Nochweitere Faktoren erklären die leidenschaftliche Kunstlie-be, welche die Literaten ergriff. Der Schriftstellergeneration, dieunter der Restauration aufwuchs und zu der Lamartine, Vigny,

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Balzac, Hugo, Dumas, Musset und Théophile Gautier gehörten,fehlte die erregende Wirkung der Eroberungen der Kaiserzeit,und stattdessen begeisterte sie sich in bisher ungeahntem Maßefür die Kunst, was von der engen Vertrautheit zwischen Malernund Schriftstellen stark gefördert wurde. Die Bohemiens unterden Künstlern hatten sich im Doyenné-Viertel, südlich vom Car-rousel-Platz, eingerichtet. Balzac würde dieses Viertel in La Cou-sine Bette (»Die Base Lisbeth«) schildern. Das Viertel war zumAbbruch bestimmt, und dort siedelte sich eine Künstlerkoloniean, die von den niedrigen Mieten profitierte: »ein Feldlager vonpittoresken und literarischen Bohemiens, [die dort] ein Leben wieRobinson Crusoe [führten]«,3 wie Gautier berichtet, ein Schlupf-winkel für Literaten wie auch für Künstler und Musiker. VieleSchriftsteller, so etwa Gautier,Vigny, Musset oder Eugène Sue, be-suchten die Ateliers, um dort zu lernen, und imGegenzug schlos-sen sich die Maler den literarischen Gruppen an, die sich im Um-kreis der romantischen Bewegung bildeten. So nahmen die BrüderEugène und Achille Devéria, Louis Boulanger, einer der von Vic-torHugobevorzugten Illustratoren, undDelacroix regelmäßig anden Versammlungen teil, die bei Hugo zusammen mit Gérard deNerval, Gautier oder Musset veranstaltet wurden. Offenbar ent-stand eine Vereinigung der Künste.

Eugène Fromentin war zugleich Maler und Schriftsteller undHugo ein hervorragender Zeichner. Eugène Sue leistete sich einpaar Seestücke, und wenn er sich schnell für die Feder und gegenden Pinsel entschied, blieb er doch seinem Lehrer Théodore Gu-din, einem großen Fachmann für Seestücke, sehr nahe verbundenundwurde ein enger Freund des berühmtenKarikaturistenHenriMonnier. Gautier wollte ursprünglich Maler werden. Da ihn dieSchwierigkeiten entmutigten, wandte er sich der Literatur zu. DieBrüder Goncourt hatten an eine Karriere als Aquarellmaler ge-dacht. Es kann also überhaupt nicht erstaunen, dass all dieseSchriftsteller oft in die Ateliers der Maler kamen. »Dichter ver-

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kehren kameradschaftlich mit Musikern, Musiker mit Malern,Maler mit Bildhauern; […] man gibt sich in Madrigalen wieder,was man als Vignetten erhielt.«4 Damit die Freunde Victor Hugosin der Theaterschlacht um Hernani den Konservativen standhal-ten konnten, »suchten sie Bundesgenossen in der Literatur, derMusik, den Ateliers der Maler, Bildhauer und Architekten«.5

Sainte-Beuve verwies mit einem gewissen Ressentiment auf dieBildung »einer Gesellschaft junger Maler, Bildhauer und Dichter[…], die sich im Kunstbereich allzu sehr auf die Vorteile des Zu-sammenschlusses und der Kameradschaft verlassen«.6 All diesejungen Künstler besuchten einander ständig und fanden sich zumBeispiel imAtelier von Achille Devéria zusammen, in demBalzac,Hugo, Musset, Lamartine, Franz Liszt und Sir Walter Scott ab-wechselnd Modell saßen. Aus dieser ständigen Vertrautheit er-klärt sich, dass die damaligen Romanautoren so oft die mit ihnenbefreundeten Künstler dargestellt haben und dass sie von derenSichtweise beeinflusst wurden. Die Malerei war zu einem unaus-weichlichen literarischen Thema geworden.

Alle gingen also ins Museum, und das galt besonders für dieKünstler, dieMeister und ihre Schüler. Die Anfänger verbrachtenden Tag in den Galerien, denn damals erlernte man den Beruf, in-demman kopierte.Man sah auch Schaulustige undMüßiggänger –dort war es warm,man langweilte sich nicht, und eswar ein anstän-diger Ort, um sich mit einer Dame zu treffen, die allein hingehenkonnte, ohne böswillige Kommentare herauszufordern. Doch esfand sich auch ein Publikum von Ignoranten ein, die sich miteinemKatalog bewaffnet hatten, in dem das Thema der einzelnenBilder und einige Erläuterungen enthalten waren. Die Begeiste-rung hatte alle Gesellschaftsschichten erfasst. Deutsche und engli-sche Reisende staunten über die zahlreichen Besucher und bekann-ten, dass sie sich von deren schmutzigem und vulgärem Äußerenabgestoßen fühlten. Im Jahre würdigte der preußische Dip-lomat Varnhagen von Ense alles, was er dort sehen konnte, doch

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er bedauerte die Anwesenheit von »Fischweibern, Soldaten, Bau-ern in Holzschuhen«, und er zitierte Goethe, um seine Gering-schätzung zu begründen: »Werke des Geistes und der Kunst sindfür den Pöbel nicht da.«7 Wilhelm vonHumboldt, der Bruder desberühmten Forschungsreisenden, Gründer der Berliner Universi-tät und großer Befürworter der Einrichtung vonMuseen, äußertehingegen Bewunderung und erkannte sogar an, dass die einzigeMöglichkeit, die Kirchenschätze zu schützen, darin bestünde, sieauszustellen und somit in Kunstobjekte zu verwandeln. Die Be-geisterung der ausländischen Besucher zeugte von dem außeror-dentlichen Interesse, das die Gestaltung der Säle hervorrief – auchwenn die Exponate mehrheitlich das Ergebnis von Plünderungenwaren. Die Galerien, die in manchen europäischen Schlössern– vor allem in Deutschland – Kunstobjekten vorbehalten warenund denen, die darum baten, in beschränktem Umfang geöffnetwurden, verfolgtenganz imGegensatz zumLouvrekeineBildungs-ziele, die Konservatoren stellten lediglich Kuriositäten, Kunstge-genstände, Gemälde und Skulpturen nebeneinander.

Balzac zufolge war das Auge des Parisers maßlos begierig: »Die-ses Auge verschlingt endlose Ausstellungen von Meisterwerken[…], zwanzig illustrierte Werke im Jahr, tausend Karikaturen,zehntausend Vignetten, Lithographien und Stiche.«8 Gegenüberden Kühnheiten und der ständigen Erneuerung derMalerei konn-ten die Schriftsteller nicht gleichgültig bleiben.Wie hätte man sichnicht für Géricault und Delacroix, für Courbet, Manet und dieImpressionisten begeistern sollen? Wenn Balzac, Gustave Flau-bert, Charles Baudelaire, Émile Zola oderMarcel Proust ihre Zeit-genossen würdigten, hinderte sie dies außerdem nicht daran, tiefeBewunderung für die Künste der vergangenen Jahrhunderte zuempfinden.

Nicht nur die Pariser blicktenmit aufmerksamenAugen. In derRestaurationszeit kamen viele Amerikaner nach Paris, weil sie sichvom intensiven Kunstleben der Hauptstadt angezogen fühlten.

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Zu ihnen gehörte Samuel Morse, der zukünftige Erfinder desnach ihm benanntenCodes. AlsMaler verfolgte er sehr ehrgeizigeZiele und nahm imLouvre beinahe seinen ständigenWohnsitz. Errichtete sich auf einem beeindruckenden Gerüst ein, um die Wer-ke aus größerer Nähe zu betrachten. Schließlich entschied er sich,den SalonCarré des Louvre zumalen, wobei er jedoch dieWändemit seinen Lieblingsbildern behängte und so gewissermaßen seinideales Museum schuf. Es entstand ein großes, sechs mal neunFuß großes Ölgemälde, das achtunddreißig Bilder – darunterdie Mona Lisa – wiedergab. Er nahm es mit nach Amerika undstellte es dort aus, doch im Gegensatz zum Direktor des Louvreverlangte er Eintrittsgeld.

Das Gefühl, dass die Kunst dem Volk gehört, hatte in den Vor-stellungen der Leute feste Gestalt angenommen. Zwar beklagtendie Befürworter einer Eintrittsgebühr, dass eine Menge zerlump-ter Vagabunden alle Sofas beanspruchte und sich um die Warm-luftschächte drängte. Baudelaire amüsierte sich über den Anblickvon zwei Soldaten: Sie standen vor einem Bild, das eine Küche dar-stellte. Eine falsche Katalognummer ließ darauf schließen, dass essich um eine Szene aus einer von Napoleon angeführten Schlachthandelte. »Aber wo ist denn der Kaiser?«, wunderte sich einer vonden beiden. »›Dummkopf !‹, rief sein Kamerad, ›siehst du dennnicht, dass man die Suppe für seine Rückkehr kocht?‹Und zufrie-den mit dem Maler und zufrieden mit sich selbst, gingen die bei-den Kumpane davon.«9 Das einfache Publikum blieb dem Mu-seum treu. Nicht zufällig schickt Zola in dem erschienenenRoman L’Assommoir (»Der Totschläger«) die Hochzeitsgesell-schaft Gervaises zum Festausklang in den Louvre. Er registrierteaufmerksam, dass das Museum wie auch der Salon in die Lebens-gewohnheiten der Pariser eingegangen waren »wie die Revuenund die Pferderennen«. [Er behauptete natürlich nicht,] »dass die-se Masse irgendein Gefühl für Kunst, irgendein Verständnis fürdie ausgestelltenWerke mitbringt. Die Ladeninhaberinnen in Sei-

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denkleidern, die Arbeiter in Jacken und mit Mützen betrachtendie an den Wänden hängenden Bilder wie Kinder ein Bilderbuch.[…] Doch nichtsdestoweniger findet dabei eine langsame Bildungder Menge statt. Man geht nicht zwischen Kunstwerken spazie-ren, ohne ein wenig Kunst in sich aufzunehmen. Der Blick entwi-ckelt sich, der Geist wird urteilsfähiger.« – »Das ist immer nochbesser als die übrigen Sonntagsunterhaltungen, als Pistolenschie-ßen, Kegelpartien und Feuerwerk.«10

Dieser leichte Zugang zum Museum trug zu der neuen Sicht-und Schreibweise bei, die für das literarische Leben der damaligenZeit so bezeichnend sind. Ausgedehnte Besuche im Louvre habeneiner ganzenGruppe junger Schriftsteller profunde Kenntnisse derMalerei vermittelt, ihnen eine mit ihren Malerfreunden gemeinsa-me Sprache sowie das Verlangen eingegeben, ihreWerke durch die-se begeistert erworbene Bildung zu bereichern. Hiervon geht dieErneuerung des Romans aus. Es handelt sich nicht mehr darum,wie Madame de La Fayette zu erklären, dass die Prinzessin vonClèves die schönste Frau desHofes sei, oder sich damit zufrieden-zugeben, wie es der Valmont in Les Liaisons dangereuses (»Ge-fährliche Liebschaften«) tut, das himmlische Gesicht der von ihmbegehrten Frau heraufzubeschwören. Die Romanautoren der da-maligen Zeit bemühen sich, ihre Figuren zu beschreiben, undzwar genau zu beschreiben, ja ihnen gegebenenfalls ein maleri-sches Äquivalent an die Seite zu stellen.

Mir bot sich ein großes Spektrumvon Schriftstellern an, umdieerstaunliche Umgestaltung des Romans zu veranschaulichen, dievon der Faszination durch die Kunst hervorgerufen wurde. Ichhabe fünf Autoren – Balzac, Zola, Huysmans, Maupassant undProust – berücksichtigt, zunächst einmal, weil dies meinen per-sönlichen Vorlieben entspricht, aber auch, weil die Ausgewählten,jeder auf seine Weise, tatsächlich eine beinahe bildartige Schreib-weise erfunden haben.

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