Web viewEine Geschichte? Etwas Festes, ... Das dritte deutsche Reich übernahm ungebeten die...
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TRINITY TERM 2017
Gracie Irlam handigte mir einen Schlüssel aus. Third floor, sagte sie, und mit einem
Hochziehen der Brauen quer durch das kleine Vestibül weisend, fugte sie noch hinzu: The
lift’s over there. Der Aufzug war so schmal, daß ich nur mit knapper Not mit meinem Koffer
in ihn hineinpaßte, und der Boden war so dünn, daß er schon unter dem Gewicht eines
einzigen Fahrgasts spürbar nachgab. Ich habe ihn später kaum mehr benutzt, obwohl ich
langere Zeit brauchte, bis ich mich in dem Gewirr von Zimmer-, Toiletten- und Feuertüren,
von blinden Korridoren, Notausgängen, Treppenabsätzen und Stiegen nicht jedesmal verlief.
Das Zimmer selbst, das ich an diesem Morgan bezog und erst im nächstem Frühjahr wieder
verließ, hatte einen großblumigen Teppich und eine Veilchentapete und war mobiliert mit
einem Kleiderkasten, einem Waschtichchen und einer eisernen Bettstatt, die mit einer
Candlewickdecke überzogen war. Durch das Fenster sah man hinab auf allerhand
halbverfallene Anbauten mit Schieferdächern und einen Hinterhof, in dem sich den ganzen
Herbst hindurch die Ratten tummelten, bis ein paar Wochen vor Weihnachten mehrmals
hintereinander ein kleiner Rattenfänger namens Renfield mit einem verbeulten Eimerchen
voller Rattengift kam, das er mit einem an einen kurzen Stecken gebundenen Suppenlöffel in
verschiedene Ecken, Winkel, Abflußrinnen und Rohre gab, was die Anzahl der Ratten auf ein
paar Monate beträchtlich herabminderte. Blickte man aber nicht in den Hof hinunter, sondern
über diesen hinweg, so sah man ein Stück jenseits eines schwarzen Kanals das
hundertfenstrige aufgelassene Lagerhaus der Great Northern Railway, in dem in der Nacht
manchmal unstete Lichter herumhuschten.
W. G. SEBALD
Eine Geschichte? Etwas Festes, Greifbares, wie ein Topf mit zwei Henkeln, zum Anfassen
und zum Daraus-Trinken?
Eine Vision vielleicht, falls Sie verstehen, was ich meine. Obwohl der Garten nie wirklicher
war als dieses Jahr. Seit wir ihn kennen, das sind allerdings erst drei Jahre, hat er nie zeigen
dürfen, was in ihm steckt. Nun stellt Sich heraus, daß es nicht mehr und nicht weniger war als
der Traum, ein grüner, wuchernder, wilder, üppiger Garten zu sein. Das Urbild eines Gartens.
Der Garten überhaupt. Ich muß sagen, das rührt uns. Wir tauschen beifällige Bemerkungen
über sein Wachstum und verstehen im stillen, daß er seine Üppigkeit übertreibt; daß er jetzt
nicht anders kann, als zu übertreiben, denn wie sollte er die seltene Gelegenheit nicht gierig
ausnützen, aus den Abfällen, aus den immer noch reichlichen Regenabfällen der fern und nah
niedergehenden Unwetter Gewinn zu ziehen?
Dem eenen sin Ul is dem annern sin Nachtigall.
Was ein Ul ist? Das Kind saß zu meinen Füßen und schnitzte verbissen an einem Stückchen
Borke, das zuerst ein Schiff werden wollte, später ein Dolch, dann etwas aus der Umgebung
eines Regenschirms. Nun aber, wenn nicht alles trog, ein Ul. Dabei würde sich herausstellen,
was dieses verflixte Ding von einem Ul eigentlich war. Obwohl man, das mußt du zugeben,
mit so einem stumpfen Messer nicht schnitzen kann. Als 0b nicht erwiesen wäre, daß man
Sich mit einem stumpfen Messer viel öfter schneidet als mit einem schönen scharfen! — Ich
aber, geübt im Überhören versteckter Vorwürfe, legte mich in den Liegestuhl zurück und las
weiter, was immer man gegen ein stumpfes Schnitzmesser vorbringen mochte.
CHRISTA WOLF
Auf dem Waldfriedhof an der Wuhlheide in Oberschöneweide wurde in der letzten
Septemberwoche eine achtundsiebzigjährige Frau beigesetzt, die, nicht gewillt, an den
politischen Parteiungen, Kämpfen und Verbrechen ihrer Zeit teilzuhaben, auf eine so
eigentümliche Weise in ein halbes Jahrhundert deutscher Gechichte verstrickt war, dag sie,
von ihren Bekannten als bedauernswert und schamlos zugleich angesehen, in den letzten
Lebensjahren ihre Wohnung kaum zu verlassen gewagt hatte. Diese Frau heiratete im Jahre
1918 einen aus dem Krieg zurückkommenden Maurer, der ein halbes Jahr später in den
Berliner Märzkämpfen erschossen wurde. Er hinterließ seiner Frau ein noch ungeborenes
Kind und das Mitgliedsbuch der Kommunistischen Partei Deutschlands.
Ein Arbeitskollege und Genosse des Toten riet der verzweifelten, mittellosen Frau, eine
Kriegerwitwenrente zu beantragen und der Behörde anzugeben, ihr Ehemann sei als
unbeteiligter Passant von der verirrten Kugel einer der kämpfenden Parteien getroffen
worden. Ihr Anspruch wurde anerkannt, und die Weimarer Reublik zahlte ihr monatlich
einige Mark. Das dritte deutsche Reich übernahm ungebeten die Zahlungen. Zum stillen
Erschrecken der Frau versäumte es das Regime nicht, gelegentlich in dem
Propagandamaterial des Nazistaates, für das man den traditionellen Namen Zeitung
beibehalten hatte, ihres toten Ehermanns zu gedenken als eins Opfers der Roten und
Märzverbrecher. Die Ehrenrente wurde erhöht, und die Witwc, um ihr Lebcn fürchtend,
wagtc nicht, Einspruch zu erheben.
CHRISTOPH HEIN
Meine Damen und Herren,
vom Ich möchte ich sprechen, von seinem Aufenthalt in der Dichtung, also von den
Angelegenheiten des Menschen in der Dichtung, sofern er vorgeht mit einem Ich oder seinem
Ich oder sich hinter dem Ich verbirgt. Und einige werden wohl meinen: wie könnte man sich
hinter dem Ich verbergen, das ist doch am wenigsten verborgen und so eindeutig — Ich —
das brächten wir ja selber auch noch fertig, von uns geradeheraus zu reden, ohne Verstellung.
»Ich sage Ihnen« — wenn ich das zu einem einzelnen sage, so scheint es doch ziemlich klar
zu sein, welches Ich sich da rührt und was mit dem Satz gemeint ist, in dem das Ich auftritt,
wer da also etwas sagt. Aber schon wenn Sie hier allein heroben stehen und sagen zu vielen
unten »lch sage Ihnen«: so verändert sich das Ich unversehens, es entgleitet dem Sprecher, es
wird formal und rhetorisch. Der es ausspricht, ist gar nicht mehr so sicher, ob er fur dieses in
den Mund genommene »Ich« Verbindlichkeit beanspruchen kann, ob er es decken kann.
Denn wie soll er den Beweis antreten für »Ich«, wenn sein Mund sich nur mehr bewegt, die
Laute hervorbringt, aber seine banalste Identität ihm von niemand mehr garantiert wird; man
hört unten nur ein abgelesenes Ich und empfängt es schon so genau nicht mehr. Wenn Sie
also, ein paar Hundert Menschen, obwohl einzelne sonst, aber jetzt eben eine Masse, ein
»Ich« auffangen, das himmelfern ist — und für himmelfern genügen schon zehn Meter, und
für himmelfern genügt noch mehr das physische Verschwinden des Sprechenden oder seine
Unsichtbarkeit, wenn er sich zum Beispiel über den Rundfunk, über ein Mikrophon,
verlautbart.
INGEBORG BACHMANN
Gustav Aschenbach oder von Aschenbach, wie seit seinem fünfzigsten Geburtstag amtlich
sein Name lautete, hatte an einem Frühlingsnachmittag des Jahres 19.., das unserem
Kontinent monatelang eine so gefahrdrohende Miene zeigte, von seiner Wohnung in der
Prinzregentenstraße zu München aus allein einen weiteren Spaziergang unternommen.
Überreizt von der schwierigen und gefährlichen, eben jetzt eine höchste Behutsamkeit,
Umsicht, Eindringlichkeit und Genauigkeit des Willens erfordernden Arbeit der
Vormittagsstunden, hatte der Schriftsteller dem Fortschwingen des produzierenden
Triebwerkes in seinem Innern, jenem »motus animi continuus«, worin nach Cicero das
Wesen der Beredsamkeit besteht, auch nach der Mittagsmahlzeit nicht Einhalt zu tun
vermocht und den entlastenden Schlummer nicht gefunden, der ihrn, bei zunehmender
Abnutzbarkeit seiner Kräfte, einmal untertags so nötig war. So hatte er bald nach dem Tee
das Freie gesucht, in der Hoffnung, daß Luft und Bewegung ihn wiederherstellen und ihm zu
einem ersprießlichen Abend verhelfen würden.
Es war Anfang Mai und, nach naßkalten Wochen, ein falscher Hochsommer eingefallen. Der
Englische Garten, obgleich nur erst zart belaubt, war dumpfig wie im August und in der Nähe
der Stadt voller Wagen und Spaziergänger gewesen. Beim Aumeister, wohin stillere und
stillere Wege ihn geführt, hatte Aschenbach eine kleine Weile den volkstümlich belebten
Wirtsgarten überblickt, an dessen Rand einige Droschken und Equipagen hielten, hatte von
dort bei sinkender Sonne seinen Heimweg außerhalb des Parks über die offene Flur
genommen und erwartete, da er sich müde fühlte und über Föhring Gewitter drohte, am
Nördlichen Friedhof die Tram, die ihn in gerader Linie zur Stadt zurückbringen sollte.
THOMAS MANN