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Gymnasiale Oberstufe Saar (GOS) Allgemeine Prüfungsanforderungen für das Abitur im Fach Deutsch (APA Deutsch) Juni 2008 MBKW G.B10 1.030 6/2008 document.docx 5 10 15 20 25 30 35 40

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Gymnasiale Oberstufe Saar (GOS)

Allgemeine Prüfungsanforderungen für das Abitur

im Fach

Deutsch

(APA Deutsch)

Juni 2008

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Abiturprüfungsanforderungen im Fach Deutsch Inhaltsübersicht

1 Fachliche Anforderungen und Anforderungsbereiche 2

2 Schriftliche Abiturprüfung 32.1 Allgemeine Hinweise 32.2 Aufgabenformate für die schriftliche Prüfung im Erweiterungsfach 42.3 Aufgabenformate für die schriftliche Prüfung im Grundfach 62.4 Hinweise zur Erstellung von Prüfungsaufgaben 72.5 Erwartungshorizont 82.6 Anforderungen und Bewertung 8 3 Mündliche Abiturprüfung 83.1 Aufgabenstellung 83.2 Prüfungsverlauf 93.3 Anforderungen und Bewertung 9

4 Aufgabenbeispiele 104.1 Aufgabenbeispiele für die schriftliche Prüfung im Erweiterungsfach 10

Textinterpretation (Lyrik) 10Textinterpretation (Kurzprosa) 14Literarische Erörterung 18Gestaltende Interpretation 21Textanalyse mit erweiterter Aufgabenstellung 23

4.2 Aufgabenbeispiele für die schriftliche Prüfung im Grundfach 28Textinterpretation (Lyrik) 28Literarische Erörterung 30Textanalyse 33

4.3 Aufgabenbeispiele für die mündliche Prüfung 37Lyrik 37Epik 39Drama 41Politische Rede 45

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Den Abiturprüfungsanforderungen im Fach Deutsch liegen die Einheitlichen Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung Deutsch (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 1.12.1989, i.d.F. vom 24.5.2002) und die Verordnung – Schul- und Prüfungsordnung – über die gymnasiale Oberstufe und die Abiturprüfung im Saarland (GOS-VO) vom 2.7.2007 zugrunde.

1 Fachliche Anforderungen und AnforderungsbereicheDie fachlichen Anforderungen für die Abiturprüfung Deutsch erwachsen aus den verbindlichen Lerninhalten der Lehrpläne für die beiden Jahrgangsstufen der Hauptphase der Oberstufe, insbesondere den schriftlichen Darstellungsformen und den jährlich festgelegten Pflichtlektüren (s. dazu gesonderten Lehrplan).

Das Ergebnis der Leistungen in mündlichen und schriftlichen Prüfungen im Fach Deutsch sollte nicht nur aus einer rechnerischen Summe von Einzelergebnissen bestehen. Vielmehr sind die Teilleistungen in Korrelation zueinander zu erfassen und zu gewichten.

Für die Erfassung von Teilleistungen stellen die Anforderungsbereiche eine wesentliche Voraussetzung dar: Sie ermöglichen eine differenzierte Beschreibung der Kenntnisse, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Einsichten, die für die Lösung einer Aufgabe im Fach Deutsch vorausgesetzt werden. Grundsätzlich gilt für Aufgaben in der Abiturprüfung, dass sie Anforderungen in allen drei Bereichen stellen und eine Beurteilung ermöglichen, die das gesamte Notenspektrum umfasst.

In Bezug auf den Umfang und die Komplexität der Anforderungen ist zwischen Grundfach und Erweiterungsfach zu unterscheiden. Unabhängig von der Kursart dürfen die Anforderungen nicht ausschließlich im Bereich der Wiedergabe von Kenntnissen (Anforderungsbereich I) liegen, wenn eine ausreichende Leistung erreicht werden soll. Befriedigende und bessere Bewertungen setzen Leistungen in den Anforderungsbereichen II und III voraus.

Der Anforderungsbereich I umfasst:- die Wiedergabe von Wissen/Sachverhalten aus einem begrenzten Gebiet in

gelerntem Zusammenhang (Kenntnisse müssen immer aufgabenbezogen sein)

- die Beschreibung und Verwendung gelernter und geübter Arbeitstechniken und Verfahrensweisen in einem begrenzten Gebiet und einem wiederholenden Zusammenhang

- die sichere Beherrschung der standardsprachlichen Regeln

Der Anforderung entsprechen z.B. die folgenden Arbeitsanweisungen*:- Erfassen Sie- Beschreiben Sie- Stellen Sie dar- Geben Sie wieder- Benennen Sie

Der Anforderungsbereich II umfasst:

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- selbstständiges Auswählen, Anordnen, Verarbeiten und Darstellen bekannter Sachverhalte unter vorgegebenen Gesichtspunkten in einem durch Übung bekannten Zusammenhang

- selbstständiges Übertragen des Gelernten auf vergleichbare neue Situationen wie neue Fragestellungen, neue Sachzusammenhänge, abgewandelte Verfahrensweisen, unbekannte Texte

Der Anforderung entsprechen z.B. die folgenden Arbeitsanweisungen*:- Analysieren Sie- Untersuchen Sie- Vergleichen Sie mit - Ordnen Sie in den Zusammenhang ein- Setzen Sie in Beziehung zu - Erläutern Sie- Erklären Sie

Der Anforderungsbereich III umfasst:- Verarbeiten komplexer Voraussetzungen mit dem Ziel, zu einer eigenständig

strukturierten Darstellung, zu selbstständigen Lösungen, Gestaltungen oder Deutungen, Folgerungen, Begründungen, Wertungen zu gelangen

- Reflektierte Auswahl oder Anpassung von Methoden oder Lösungsverfahren für neue erweiterte Zusammenhänge, Problemstellungen

Der Anforderung entsprechen z.B. die folgenden Arbeitsanweisungen*:- Interpretieren Sie- Beurteilen Sie- Nehmen Sie kritisch Stellung- Erörtern Sie- Setzen Sie sich mit ... auseinander- Begründen Sie- Erschließen Sie- (Über)Prüfen Sie- Bewerten Sie- Gestalten (Verfassen, Schreiben) Sie- Entwerfen Sie

* Die hier formulierten Arbeitsanweisungen (Operatoren) stellen nicht die konkrete Aufgabenstellung dar. Erst durch die konkrete Aufgabenstellung erfahren die Arbeitsanweisungen ihre präzisere Zuordnung zu den intendierten Aufgabenbereichen.

2 Schriftliche Abiturprüfung2.1 Allgemeine HinweiseDie schriftlichen Prüfungsaufgaben basieren auf literarischen oder pragmatischen Texten.

Neben den Methoden und Arbeitstechniken des Textverstehens, der Texterschließung und der Argumentation ist die sprachliche und formale Darstellung wesentliche Bedingung für die Lösung jeder Prüfungsaufgabe. Vor allem sind folgende Operationen bzw. Leistungen zu erwarten:

- Aussagen präzise formulieren- Gedanken logisch entwickeln, nach Bedeutung gewichten

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- Ausführungen klar und eigenständig gliedern- Einzelnes zu einem Ganzen verbinden- Ergebnisse durch funktionsgerecht ausgewählte Textstellen belegen- eine aufgabengerechte Sprachform verwenden- Fachsprache berücksichtigen- zentrale inhaltliche und formale Aspekte differenziert erläutern- Wertungen argumentativ begründen- strukturiert, zielgerichtet, schlüssig argumentieren- die Argumentation durch Beispiele stützen und veranschaulichen- die Sprache normengerecht gebrauchen- lesbar schreiben und den eigenen Text übersichtlich gestalten

2.2 Aufgabenformate für die schriftliche Prüfung im ErweiterungsfachDie Bearbeitungszeit für die schriftliche Abiturprüfung im Erweiterungsfach Deutsch beträgt 5 Zeitstunden.

Folgende Aufgabenformate sind für die schriftliche Abiturprüfung im Erweiterungsfach vorgesehen:

- Textinterpretation- Literarische Erörterung- Gestaltende Interpretation - Textanalyse mit erweiterter Aufgabenstellung

Die Prüflinge können unter drei Aufgaben eine auswählen. Dazu gehört immer eine literarische Erörterung. Welche der drei übrigen Aufgabenformate in einem Jahr zur Aufgabenstellung der schriftlichen Abiturprüfung gehören, entscheidet die Schulbehörde.

TextinterpretationGegenstand der Untersuchung sind literarische Texte, und zwar vollständige (kürzere) Texte (z.B. Gedicht, Kurzprosa) oder Ausschnitte aus Ganzschriften (z.B. Romanausschnitt, Dramenszene).

Die Textinterpretation verwendet analytische Mittel und Methoden; die inhaltlichen und formalen Einzelergebnisse werden als vernetzte Zusammenschau vorgestellt. Die Analyse und Interpretation eines literarischen Textes erfordert vor allem folgende Operationen bzw. Leistungen:

- Erfassen des Textes in seinen wesentlichen Elementen und Strukturen (z.B. in Bezug auf Gattung, Textsorte, Syntax, Semantik, Stil)

- Formulierung von Interpretationshypothesen- Auswahl und Organisation von Untersuchungsaspekten in Bezug auf eine

GesamtdeutungEine Paraphrasierung des Textes oder ein distanzloser Umgang mit dem Text entspricht nicht den Anforderungen. Je nach Aufgabenstellung sind der (literar-)histo-rische Kontext, die Biographie des Autors, Entstehungsgeschichte, Rezeption und literarische Wertung zu berücksichtigen.

Literarische ErörterungDie Aufgabenart verlangt die Auseinandersetzung mit in literarischen Texten (in der Regel Ganzschriften) gestalteten Sachverhalten und Fragen. Thematisiert werden

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z.B. die im literarischen Werk dargestellten Menschenbilder, Gesellschaftsentwürfe, Wirklichkeitsauffassungen, Fragen der Gestaltung u.ä. Die Aufgabe muss auf einen abgrenzbaren und überschaubaren Sachverhalt zielen.Die literarische Erörterung verlangt vor allem folgende Operationen bzw. Leistungen:

- erläuternde bzw. deutende Wiedergabe der Textvorlage- argumentative Auseinandersetzung mit zentralen Darstellungsformen, Thesen

u.ä. der Textvorlage- Aufbau und Entfaltung einer eigenständigen fachspezifischen Argumentation- begründete Urteilsbildung

Gestaltende InterpretationGestaltendes Interpretieren dient dazu, einen literarischen Text durch eine gestaltende Antwort zu erschließen. Als Vorlage geeignet sind literarische Texte, die durch ihre Offenheit (Leerstellen, Textimpulse) ein sinnvolles produktiv-hermeneutisches Arbeiten erlauben. Die Textvorlage darf dabei nicht als bloßer Auslöser eines subjektiven oder imitativen Schreibens fungieren. Die Textproduktion muss auf einem untersuchend erarbeiteten, überprüfbaren Textverständnis basieren; sie muss in diesem Sinne textkompatibel sein.

Um deutlich zu machen, dass es sich hier nicht um eine Form des „kreativen Schreibens“, sondern um eine Form der Texterschließung handelt, besteht die Aufgabe aus:

- einer vorbereitenden Reflexion über die Textstelle, an der die Gestaltungsaufgabe ansetzt,

- dem Gestaltungsteil,- einer abschließenden Gestaltungsreflexion, die die eigene Textproduktion

kommentiert, gestalterische Bedingungen und Entscheidungen erläutert. Die „vorbereitende Reflexion“ soll lediglich im Sinne einer Einleitung verstanden und gewichtet werden; das Hauptgewicht bei der Bearbeitung und der Bewertung fällt dem Gestaltungsteil zu, wobei dieser in enger Korrelation zur „Gestaltungsreflexion“ bewertet werden muss.

Die gestaltende Interpretation literarischer Texte erfordert demnach besonders folgende Operationen bzw. Leistungen:

- Vorlage erfassen und Textverständnis entfalten- Möglichkeiten der Vorlage für die eigene Gestaltung erkennen- eigene Gestaltung strukturieren- überraschende Einfälle entwickeln, Situationen zuspitzen, Pointen setzen- Figuren plastisch, anschaulich, konsequent zeichnen; Empathie entwickeln- Handlungsweisen, Handlungsmuster usw. überzeugend darstellen und

begründen- Motive aufnehmen und ausgestalten- literarische Muster kennen und anwenden- eine schlüssige Gesamtkonzeption entwerfen- Stilebene der Vorlage und einzelner Figuren bestimmen und adäquat

gestalten- Stil der jeweiligen Gestaltungsform verwenden- die eigene Textproduktion erläutern und begründen

In der Regel bezieht sich die Aufgabenstellung auf epische oder dramatische Ganzschriften. Geeignete Gestaltungsformen, teils innen- und teils

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außenperspektivisch angelegt, sind Brief, Tagebuch, innerer Monolog, Dialog, Rollenbiografie, Plädoyer. Möglich sind ebenso offenere Formen der Aufgabenstellung wie etwa Gedanken und Stimmungen einer Figur notieren, Eindrücke schildern, eine Szene gestalten oder fiktive Gespräche arrangieren, die z.B. auch Leser und literarische Figur zusammenführen. Besondere Bedeutung kommt dem perspektivischen Wechsel und der Veränderung (z.B. Erweiterung) des Personals zu.(Dieser Katalog darf nicht missverstanden werden als eine Erweiterung der Abituraufgaben um zusätzliche Aufsatzformen, die alle in extenso behandelt und eingeübt werden müssten.)

Textanalyse mit erweiterter AufgabenstellungGegenstand der Untersuchung sind pragmatische Texte, z.B. journalistische Formen, (populär-)wissenschaftliche Texte, Reden, Essays. Die Grenze zu literarischen Texten ist fließend.

Ziel der Aufgabenart ist es, neben Inhaltlich-Gedanklichem insbesondere die Wirkungsweise des Textes zu erklären, indem relevante sprachliche und strukturelle Merkmale erfasst und in ihrer Funktion reflektiert werden.Die Analyse eines pragmatischen Textes verlangt insbesondere folgende Operationen und Leistungen:

- Aufbau und Argumente erfassen- Argumentation auf Stichhaltigkeit und Schlüssigkeit prüfen- Position des Verfassers und Intention(en) des Textes aufzeigen- Adressaten- und Situationsbezug darlegen- sprachliche und strukturelle Textmerkmale im Hinblick auf Aussage- und

Wirkungsabsicht funktional erläutern- kommunikative Funktion des Textes erfassen / Wirkung des Textes beurteilen- Text in übergreifende Zusammenhänge einordnen

Die Textanalyse wird mit einer Erörterung als argumentativer Stellungnahme verknüpft (eigene Position entwickeln). Der Text ist Grundlage und Ausgangspunkt für eine Erörterung der darin enthaltenen Auffassungen, Meinungen und Urteile, die Erörterung bezieht sich in der Regel auf einen Teilaspekt des Textes. Der Schwerpunkt der Aufgabenstellung liegt auf der Analyse (was sich auch in der Bewertung widerspiegelt).

2.3 Aufgabenformate für die schriftliche Prüfung im GrundfachDie Bearbeitungszeit für die schriftlichen Prüfungsarbeiten im Grundfach Deutsch beträgt 3 Zeitstunden.

Folgende Aufgabenformate sind für die schriftliche Abiturprüfung im Grundfach Deutsch vorgesehen:

- Textinterpretation- Literarische Erörterung- Textanalyse

Zwischen den Aufgaben für das Erweiterungs- und das Grundfach besteht kein grundsätzlicher, wohl aber ein gradueller Unterschied in den Aufgabenstellungen. Diese können sich unterscheiden im Hinblick auf den Umfang, die Komplexität des

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Stoffes, den Grad der Differenzierung und Abstraktion, den Anspruch an Methodenbeherrschung und Selbstständigkeit bei der Lösung von Problemen.

Im Unterschied zu den Aufgaben des Erweiterungsfachs ist im Grundfach für die Textanalyse nur eine reduzierte Form vorgesehen; sie beschränkt sich auf die untersuchende Erschließung eines pragmatischen Textes, eine anschließende Erörterung ist nicht vorgesehen.

Die Prüflinge können unter zwei Aufgaben eine auswählen. Dazu gehört immer eine literarische Erörterung. Welches der zwei übrigen Aufgabenformate in einem Jahr zur Aufgabenstellung der schriftlichen Abiturprüfung gehören, entscheidet die Schulbehörde.

2.4 Hinweise zur Erstellung von Prüfungsaufgaben

Hinweise zur AufgabenstellungDie Formulierung der Aufgabe muss die Art der geforderten Leistung eindeutig erkennen lassen. Die Aufgabenstellung besteht aus höchstens drei Arbeitsanweisungen. Mehrteilige Aufgaben sollten stets auf eine geschlossene Darstellung abzielen. Die Arbeitsanweisungen müssen frei von Gängelung und Kleinschrittigkeit einen Spielraum individueller Texterschließung und Darstellung gewähren.

Die vorgeschlagenen Aufgabenstellungen dürfen im eigenen Unterricht nicht behandelt sein; sie dürfen auch nicht schon einmal Gegenstand der schriftlichen Abiturprüfung im Saarland gewesen sein. Die Verwendung von Aufgaben und Musterlösungen aus Büchern speziell für die Schülerhand (Oberstufenlesebücher, Ausgaben mit Musterklausuren – Typ „Abi-Training“) und von Aufgaben aus dem Internet ist nicht gestattet.

Hinweise zur TextauswahlBei den Aufgaben mit Textvorlage ist zu beachten, dass die Texte

- in Bezug auf die Aufgabenstellung geeignet, insbesondere ergiebig sind,- ästhetische Qualität besitzen und als exemplarisch gelten können (literarische

Texte),- thematisch bedeutsam und für die Analyse ergiebig sind (pragmatische

Texte),- sich am Verstehenshorizont und an Interessen der Schülerinnen und Schüler

orientieren,- mithilfe der im Deutschunterricht vermittelten Kenntnisse und Methoden

erschließbar sind.

Erläuterungen und Sacherklärungen sollten der Aufgabe beigefügt werden, falls sie zum Verständnis des Textes nötig sind. Die Texte sollten in der Regel nicht mehr als 900 Wörter umfassen. Die Texte sollten möglichst nicht gekürzt werden. Die Quellen sind genau zu benennen (wissenschaftliche Zitierweise). Bei der Einreichung der Aufgabenstellung ist der Quellentext ohne Kürzung in Kopie beizufügen. Sofern bei der Aufgabenstellung „Textinterpretation“ ein vollständiger (kürzerer) Text (z.B. Gedicht, Kurzprosa) gewählt wird, muss dieser sich thematisch am Lehrplan der Hauptphase orientieren, darf aber nicht dem Band der Pflichtlektüre entnommen sein.

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Die Texte sollen in kopierfähiger Ablichtung, nach Möglichkeit auch auf Datenträger, philologisch einwandfrei vorgelegt werden. Sie sind am Rand mit einer Zeilenzählung zu versehen. Zugelassene Hilfsmittel sind anzugeben.

2.5 ErwartungshorizontDie für die Lösung der Aufgaben erwarteten Schülerleistungen werden konkret beschrieben. Der Erwartungshorizont muss die Anforderungen an eine ausreichende Leistung enthalten.Im Sinne einer Korrekturerleichterung sind die Lösungsvorschläge nach Möglichkeit zu reduzieren auf die Formulierung korrekturrelevanter Aspekte (Spiegelstrichsystem, Darstellung in Stichworten). Wenn ein Lösungsvorschlag in Form einer zusammenhängenden Darstellung („Musteraufsatz“) für unverzichtbar gehalten wird, sind die korrekturrelevanten Aspekte durch Unterstreichung im Text hervorzuheben. (Für beide Varianten gibt es Beispiele im Kapitel 4.)

2.6 Anforderungen und BewertungFür eine Bewertung mit „gut“ müssen Leistungen in den Anforderungsbereichen II und III erbracht werden. Eine Bewertung mit „ausreichend“ setzt voraus, dass über den Anforderungsbereich I hinaus auch Leistungen im Anforderungsbereich II erbracht werden müssen.

Die im Erwartungshorizont aufgeführten Anforderungen stellen die Grundlage für die Bewertung der Schülerleistung dar.

Die Randkorrektur hat feststellenden Charakter. Sie muss die Bewertung der Prüfungsleistung transparent machen und Begründungshinweise im abschließenden Gutachten ermöglichen.

Vorzüge und Mängel der Arbeit werden im Gutachten dargestellt; aus den Formulierungen des Gutachtens muss sich die Note stringent ableiten lassen. Die Notenbildung erfolgt nicht durch Addition von auf die Anforderungsbereiche bezogenen Teilnoten, sondern auf der Grundlage einer Gesamtwürdigung der erbrachten Leistung. Schwerwiegende und gehäufte Verstöße gegen die sprachliche Richtigkeit und/oder die äußere Form führen zu einem Abzug von ein bis zwei Punkten des 15-Punkte-Systems.

3 Mündliche Abiturprüfung3.1 Aufgabenstellung Die mündliche Prüfung bezieht sich auf die verbindlichen Lerninhalte der Lehrpläne für die beiden Jahre der Hauptphase. Die Aufgabenstellung ist so zu gestalten, dass Leistungen in allen drei Anforderungsbereichen erbracht werden können. Aufgaben, die bereits in Kursarbeiten oder in der schriftlichen Abiturprüfung gestellt worden sind, können nicht Gegenstand der Prüfung sein.

Der Umfang der Aufgabe ist so zu bemessen, dass sie in einer dreißigminütigen Vorbereitungszeit zu bewältigen ist und die Ergebnisse in einem zusammenhängenden Vortrag von höchstens zehn Minuten darzustellen sind.

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Der Fachprüfer (Erstprüfer) legt dem Vorsitzenden des Prüfungsfachausschusses (Fremdprüfer) rechtzeitig vor der Prüfung die Aufgabenstellung vor. Dabei verweist er auf den Neuigkeitsaspekt in Thema und Aufgabe und skizziert ggf. grob den Erwartungshorizont.

3.2 PrüfungsverlaufDie Prüfung dauert in der Regel zwanzig Minuten und besteht aus zwei gleich langen Teilen.

Im ersten Teil soll der Prüfling seine Ergebnisse in einem zusammenhängenden Vortrag präsentieren, der – gestützt durch Aufzeichnungen – frei gehalten wird. Gegebenenfalls knüpft der Fachprüfer durch ergänzende und vertiefende Fragen an den Vortrag an.

Im zweiten Teil führt der Vorsitzende des Prüfungsfachausschusses mit dem Prüfling ein Gespräch, in dem größere fachliche Zusammenhänge und Lerninhalte aus weiteren Kurshalbjahren erschlossen werden. Der geforderte Gesprächscharakter verbietet das zusammenhanglose Abfragen von Kenntnissen bzw. den kurzschrittigen Dialog.

3.3 Anforderungen und Bewertung Zusätzlich zu den allgemeinen fachlichen Anforderungen für die Abiturprüfung Deutsch gelten für die mündliche Prüfung folgende spezifische Anforderungen:

- in der gegebenen Zeit für die gestellte Aufgabe ein Ergebnis finden und es in einem möglichst freien, zusammenhängenden, normengerecht-hochsprachlichen Kurzvortrag darlegen

- sich klar, differenziert und strukturiert ausdrücken - ein themengebundenes Gespräch führen- eigene sach- und problemgerechte Beiträge einbringen

Die Anforderungen werden insbesondere erfüllt durch:- den Vortrag auf der Basis sicherer aufgabenbezogener Kenntnisse- die Berücksichtigung der Fachsprache- die Beherrschung fachspezifischer Methoden und Verfahren- die Wahl der für den Vortrag und das Gespräch angemessenen

Darstellungsebene / Stilebene- die Fähigkeit zur Einordnung in größere fachliche Zusammenhänge- die eigenständige Auseinandersetzung mit Sachverhalten und Problemen- die begründete eigene Stellungnahme / Beurteilung / Wertung- die Beherrschung angemessener Argumentationsformen- die Fähigkeit zur Reaktion auf Fragen und Impulse- eigene sach- und problemgerechte Beiträge zu weiteren Aspekten

Wie bei der Bewertung der schriftlichen Abiturprüfung gilt auch für die der mündlichen Prüfung, dass eine Bewertung mit „ausreichend“ Leistungen voraussetzt, die über den Anforderungsbereich I hinaus auch im Anforderungsbereich II erbracht werden müssen. Ebenso muss der Schwerpunkt der Leistungen in den Anforderungsbereichen II und III liegen, wenn eine Bewertung mit „gut“ und besser erfolgen soll.

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Für die Feststellung des Prüfungsergebnisses werden die im ersten und zweiten Teil erbrachten Leistungen gleichberechtigt bewertet.

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4 Aufgabenbeispiele Die Beispiele für die schriftliche Prüfung gehen auf Aufgaben zurück, die in der Abiturprüfung des Saarlandes gestellt wurden. Sie wurden sämtlich für die Neufassung der APA überarbeitet.

4.1 Aufgabenbeispiele für die schriftliche Prüfung im Erweiterungsfach

BEISPIEL 1: TEXTINTERPRETATION (LYRIK)

Analysieren und interpretieren Sie das Gedicht von Sarah Kirsch.

Sarah Kirsch:

Ende Mai

In ganz Europa ist jetzt das Gras da; überallGrünen die Linden, manchenorts Nuß und Wacholder. WindeJagen viel Wolken fetzenweis über die KlingenDer Faltengebirge. Durch erfundene DrähteÜber und unter der Erde geben die Menschen sich Nachricht.

Du schick die leichtesteAller Tauben windförmig sie bringtUngeöffnete tagschnelle Briefe. SchattenUnter den Augen; mein wüster Herzschlag.

Unfroh seh ich des Laubs grüne Farbe, verneineBäume Büsche und niedere Pflanzen: ich willDie Blätter abflattern sehen und bald. Wenn mein LeibMeine nicht berechenbare Seele sich aus den StäbenDer Längen- und Breitengrade endlich befreit hat.

(alte Rechtschreibung)

Biographische InformationSarah Kirsch wurde 1934 in Limlingerode im Harz geboren. Nach dem Abitur arbeitete sie in einer Zuckerfabrik, studierte Biologie in Halle und besuchte 1963-65 das Leipziger Literaturinstitut. Sie war mit Rainer Kirsch verheiratet und lebte zunächst in Halle, dann in Ostberlin. 1976 gehörte sie zu den Unterzeichnern der Petition gegen die Ausweisung des Liedermachers Wolf Biermann. Im August 1977 durfte sie aus der DDR ausreisen. Das Gedicht „Ende Mai“ stammt aus dem 1976 veröffentlichten Lyrikband „Rückenwind“. Zu dieser Zeit lebte Sarah Kirsch noch in Ostberlin. Die Mauer trennte sie von ihrem damaligen Geliebten, dem in Westberlin lebenden Lyriker Christoph Meckel.

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ERWARTUNGSHORIZONT TEXTINTERPRETATION (LYRIK)

1 Entstehungskontext: Die Gedichte der Sammlung „Rückenwind“ aus dem Jahr 1976, der Zeit der Beziehung mit Christoph Meckel, sind geprägt von den Motiven Liebe, Trennung, Einsamkeit und Sehnsucht nach persönlicher und politischer Freiheit.Der Text ist zeitlich und thematisch zwischen Mauerbau und Mauerfall einzuordnen.

2 Thema: Gegensatz zwischen der geographischen Einheit und der politischen Teilung

Europas durch den eisernen Vorhang Sehnsucht des lyrischen Ichs nach Freiheit und Überwindung der Trennung

von einem geliebten Du3 Formale Aspekte:

Der unterschiedliche Strophenumfang (3 Strophen: 5 - 4 - 5 Zeilen) lenkt die Aufmerksamkeit auf die mittlere Strophe, die von den beiden 5-Zeilern eingerahmt wird.

reimlos freier Rhythmus unregelmäßige Verslänge, auffallend kürzer in der Mittelstrophe Durchgängige Enjambements innerhalb der Strophen betonen die Zäsuren

zwischen den Strophen, die auch die Sinnabschnittsgliederung vorgeben.

4 Analyse und Interpretation:4.1 Überschrift

Zeitangabe verstehbar als o Datierung des Texts (wie eine Tagebuchnotiz) o thematisierter / beschriebener Zeitraum

„Ende Mai“ ruft widersprüchliche Assoziationen hervor: o „Mai“: „Wonnemonat“, Liebesmonat, Hoffnung, Aufbruchstimmungo „Ende“: Vergänglichkeit, Traurigkeito Unter Bezugnahme auf die letzte Strophe könnte die Überschrift (bei

allerdings fehlender Interpunktion) imperativisch als Aufforderung an den Mai gelesen werden zu enden.

o erste Hinweise auf die den Konnotationen zu „Mai“ widersprechende Stimmung des lyrischen Ichs

4.2 Erste Strophe der einheitliche Naturraum Europa („ganz Europa“, „überall“)

klimatisch bedingte Unterschiede spielen „jetzt“ (im Mai) keine Rolle mehr („In ganz Europa ist jetzt das Gras da; überall grünen...“)

Wind treibt Wolken über die (die Landschaft zerteilenden) Faltengebirge, deren „Klingen“ sie nicht unbeschädigt lassen – im Bild der Landschaft ein Hinweis auf ein trennendes, gefährliches Hindernis (nur für Wind und Wolken überwindbar?) – die beiden Enjambements unterstützen sinnfällig das Überwinden des Hindernisses

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insgesamt eine Naturmetapher für die Trennung des lyrischen Ichs von dem später angesprochenen „Du“

menschliches Kommunikationsbedürfnis („Nachrichten“) kann (nur) über Künstliches, Technisches („Drähte“) befriedigt werden

„durch“ kann instrumental (mittels) oder lokal (hindurch) verstanden werden und erlaubt somit auch die Vorstellung der Trennung (durch Stein – „Faltengebirge“ – und Draht) und ihrer Überwindung zumindest durch (telefonische) Nachrichten

Die Präpositionen „über und unter“ ermöglichen auch die Vorstellung zweier Formen der Nachrichtenübermittlung (offen und versteckt, auf und unter der Oberfläche).

4.3 Zweite Strophe auch inhaltlich Zentralstrophe

thematisiert die Beziehung des lyrischen Ichs („mein wüster Herzschlag“) zu einem angesprochenen „Du“ Der Adressat der Strophe / des Gedichts wird zum ersten und einzigen Mal genannt; Betonung des „Du“ durch Anfangsposition in Vers und Strophe

Das lyrische Ich offenbart dem Du o seinen Wunsch nach einer Nachricht

Durch das Enjambement „die leichteste / Aller Tauben“ entsteht die Möglichkeit das Verb „schicken“ doppelt zu beziehen auf „leichteste Nachricht“ (aus der Vorstrophe) und „leichteste – Aller Tauben“:Die „Taube“ ist Friedenssymbol, (nicht kontrollierbare, s.u.) Geheimbotin und gehört gleichzeitig zum traditionellen Bildbereich für die Kommunika-tion zwischen Liebenden. Die Aufforderung an das „Du“ kann also als Wunsch nach einer leichten (unbeschwerten) oder erleichternden Liebesbotschaft auf unkonventionellem, heimlichem (und schnellem, s.u.) Weg verstanden werden.Das Adverb „windförmig“ stellt den Bezug zu den freien Winden in der ersten Strophe her, die sich nicht um Grenzen scheren.Das adjektivisch gebrauchte Partizip „Ungeöffnete“ spielt im historischen Kontext auf die Gefahr der Briefzensur und Bespitzelung an, kann aber auch als allgemeiner Wunsch nach Vertraulichkeit der Kommunikation verstanden werden. „tagschnelle“ ist ein (erster) Hinweis auf die Ungeduld des lyrischen Ichs (die in der dritten Strophe zum Thema wird); im historischen Kontext weist es auch – für die Prüflinge wohl nicht mehr erkennbar – auf die langen Postlaufzeiten hin.

o seine Gemütslage „Schatten / Unter den Augen“ weist auf Erschöpfung und / oder die düstere Gemütsverfassung des lyrischen Ichs hin„wüster Herzschlag“ zeigt Erregtheit und Unruhe

Die in der ersten Strophe thematisierte Situation des Geteilt- bzw. Getrenntseins ist damit nichts Abstraktes mehr, sondern betrifft zwei konkrete Menschen.

4.4 Dritte Strophe

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Das lyrische Ich drückt seinen Wunsch nach dem Vergehen der Zeit („ich will / die Blätter abflattern sehn und bald“) und nach einer für später erhofften Befreiung („Meine ... Seele ...endlich befreit hat“) aus.

Die Strophe greift zunächst die in der zweiten Strophe dargestellte Gemütslage auf. „Unfroh“ rückt den Zustand des lyrischen Ichs eher in den Bereich der Verdrießlichkeit als einer tiefen Traurigkeit.o So begegnet das lyrische Ich den konventionell hoffnungsvollen Zeichen

für den Neubeginn („des Laubs grüne Farbe“). Die Merkmale der Jahreszeit passen nicht zur Gemütslage des lyrischen Ichs.

o Die innere Ablehnung des Frühlings wird in einer absteigenden Reihe von den großen zu den kleinen Pflanzen durchgespielt („verneine / Bäume, Büsche, niedere Pflanzen“), was die Totalität der Ablehnung unterstreicht.

Durch das Enjambement („ich will / Die Blätter abflattern sehn“) geht die Ablehnung des Frühlings / Frühsommers unmittelbar über in die Sehnsucht nach dem Herbst, was den Wunsch des lyrischen Ichs nach dem Verstreichen der Zeit unterstreicht (und autobiographisch möglicherweise die Erwartung der beantragten Ausreise andeutet). Dem dient auch die durch Inversion bewirkte Hervorhebung von „und bald“.

Der letzte allein stehende (Glied-)Satz gibt den Grund für den Wunsch des lyrischen Ichs nach dem Verstreichen der Zeit und das Ziel seiner Sehnsucht an: eine zukünftige Befreiung des lyrischen Ichs und die Bedingung dafür.o Die Konjunktion „wenn“ mit ihren beiden Funktionsmöglichkeiten hält den

Satz in der Schwebe zwischen Konditional- und Temporalsatz. o Bedingung ist die Ganzheitlichkeit dieser Befreiung („mein Leib / Meine

nicht berechenbare Seele“). Die Schlussmetapher von den „Stäben / Der Längen- und Breitengrade“ setzt

das willkürliche Gitternetz der Geographen mit den willkürlichen gezogenen politischen Grenzen in Beziehung, deutet einen Gegensatz an zwischen dem berechneten/konstruierten Gradnetz und der „nicht berechenbaren Seele“. Die Einteilung und Aufteilung der Welt lässt diese dem lyrischen Ich zum Gefängnis werden („Stäbe“ erinnern an die Gitterstäbe eines Zellenfensters).

Das Adverb „endlich“ verstärkt nochmals die Stärke und Dringlichkeit des Wunsches nach zukünftiger Befreiung.

4.5 Aspekte einer Zusammenfassung / Gesamtdeutung:Biographischer Hintergrund des Gedichts ist das Gefühl des Eingesperrtseins der Lyrikerin in der damaligen DDR.Das Koordinatensystem der Geographen und die Natur Europas im Frühling werden zu Metaphern für Gefangensein und Freiheitswunsch der Menschen, die geographische und politische Schranken überwinden wollen.Die Teilung Europas betrifft das lyrische Ich auch aus einem persönlichen, individuellen Grund. Es hat Sehnsucht nach einem angesprochenen „Du“, von dem es Nachricht erwartet.

MindestanforderungenEine Arbeit kann als ausreichend (05) bewertet werden, wenn

Aufbau und Gedankengang in Grundzügen richtig dargestellt sind, auffallende lyrische und sprachliche Besonderheiten benannt und ansatzweise

in ihrer Funktion beschrieben sind, die Darstellung geordnet und verständlich formuliert ist.

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BEISPIEL 2: TEXTINTERPRETATION (KURZPROSA)

Analysieren und interpretieren Sie den Text von Thomas Bernhard.

Thomas Bernhard: [Der Diktator]*

DER DIKTATOR hat sich aus über hundert Bewerbern einen Schuhputzer ausgesucht. Er trägt ihm auf, nichts zu tun als seine Schuhe zu putzen. Das bekommt dem einfachen Manne vom Land, und er nimmt rasch an Gewicht zu und gleicht seinem Vorgesetzten – und nur dem Diktator ist er unterstellt – mit den Jahren um ein Haar. Vielleicht ist das auch zu einem Teil darauf zurückzuführen, daß der Schuhputzer dieselbe Kost ißt wie der Diktator. Er hat bald dieselbe dicke Nase und, nachdem er seine Haare verloren hat, auch denselben Schädel. Ein wulstiger Mund tritt heraus, und wenn er grinst, zeigt er die Zähne. Alle, selbst die Minister und die nächsten Vertrauten des Diktators fürchten sich vor dem Schuhputzer. Am Abend kreuzt er die Stiefel und spielt auf einem Instrument. Er schreibt lange Briefe an seine Familie, die seinen Ruhm im ganzen Land verbreitet. „Wenn man der Schuhputzer des Diktators ist“, sagen sie, „ist man dem Diktator am nächsten.“ Tatsächlich ist der Schuhputzer auch dem Diktator am nächsten; denn er hat immer vor seiner Türe zu sitzen und sogar dort zu schlafen. Auf keinen Fall darf er sich von seinem Platz entfernen. Eines Nachts jedoch, als er sich stark genug fühlt, betritt er unvermittelt das Zimmer, weckt den Diktator und schlägt ihn mit der Faust nieder, so daß der tot liegen bleibt. Rasch entledigt sich der Schuhputzer seiner Kleider, zieht sie dem toten Diktator an und wirft sich selbst in das Gewand des Diktators. Vor dem Spiegel des Diktators stellt er fest, daß er tatsächlich aussieht wie der Diktator. Kurz entschlossen stürzt er vor die Tür und schreit, sein Schuhputzer habe ihn überfallen. Aus Notwehr habe er ihn niedergeschlagen und getötet. Man solle ihn fortschaffen und seine hinterbliebene Familie benachrichtigen.

(alte Rechtschreibung)

aus: Thomas Bernhard: Erzählungen. Kurzprosa (= T.B., Werke, Bd. 14), Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2003, S. 223

* Der Text hat – wie alle weiteren Texte des Kurzprosa-Bändchens Ereignisse – keine Überschrift, dafür sind die beiden ersten Wörter in Kapitälchen gesetzt.

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ERWARTUNGSHORIZONT TEXTINTERPRETATION (KURZPROSA)

[Ergänzende Information für die Lehrkraft: Zur Entstehung des Textes:Parallel zu Bernhards lyrischem Frühwerk und vor den Romanen entstand Kurzprosa, die durch formale Reduktion gekennzeichnet ist. Die Veröffentlichung der anekdotenartigen Texte war für 1959 vorgesehen, wurde aber von Bernhard zurückgezogen. Erst 1969 erschienen diese Texte im Druck, unter dem Titel „Ereignisse“.]

1 Aspekte der Analyse:

1.1 Thema: Die (exemplarische) Entwicklung eines einfachen Mannes zum Diktator

1.2 Textsorte: Kurzprosa in der Art einer Anekdote (vgl. auch den Titel des Erzählbandes: „Ereignisse“), auf die Schlusspointe hin konzipiert, kann als ins Groteske gesteigerte Parabel gelesen werden

1.3 Inhalt und Gedankengang: Z.1f.: Ausgangssituation als Auslöser einer Entwicklung: Die Figuren treten in typisierter Form („der Diktator – ein Schuhputzer“) in eine zunächst einem Arbeitskontrakt ähnliche Beziehung („nichts zu tun als seine Schuhe zu putzen“)Z.2-8: Auswirkung des Dienstverhältnisses: äußere Anpassung an den Dienstherrn in Physiognomie und Verhalten, unterbrochen durch eine vordergründige Erklärung der möglichen Ursache (Z.5f.)Z.8f.: Wirkung dieser Veränderungen auf die engste Umgebung des Diktators: Der Schuhputzer löst Angst aus – stellvertretend für den Diktator; Antizipation der Rolle, die der Schuhputzer am Schluss einnehmen wirdZ.9-11: Retardierendes Moment, Scheinidyllle: Betätigung des Schuhputzers außerhalb des Dienstes: auf einem Instrument spielen, Briefe schreibenZ.11f.: Für die Botschaft nach außen wird das Medium der fernen Familie benutzt: keiner ist dem Diktator so nahe wie der Schuhputzer Z.12-14: Bestätigung durch den Erzähler, ironisch als räumliche Nähe gedeutetZ.15-22: Überraschende Wende: Der Schuhputzer bemächtigt sich gewaltsam der Identität seines von ihm getöteten Vorgesetzten und löscht die eigene Identität aus.

1.4 Struktur und Zeitgestaltung:- keine Überschrift (formale Reduktion)- deutliche Zweiteilung: Teil 1 (bis Z.14f.) bereitet durch die Darstellung

zunehmender Anpassung bei gleichzeitigem Ich-Verlust die Wende vor, Teil 2 beschreibt die zielstrebige und verbrecherische Aneignung einer neuen Rollenidentität.

- Erzähltempus Präsens Unbestimmtheit der (historischen) Einordnung- Teil 1: starke Zeitraffung (vgl. Z.4 „mit den Jahren“) zur Darstellung der

äußerlichen Anpassung- Teil 2: detaillierte Nennung der einzelnen Handlungsschritte in gedrängter

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1.5 Erzähler, Erzählperspektive und Darstellungsformen:- Er-Erzählform Distanz zum erzählten Ereignis, weitgehend Berichterstattung

entsprechend der gewählten Textsorte- fast ausschließlich situationsbedingter Standort des Erzählers- Erzähler tritt selten und dann nur indirekt in Erscheinung, in scheinbar naiver

Bestätigung des Beobachtbaren (Z.12 „Tatsächlich“)- jedoch kein neutraler Erzähler: wertende Einstellung an ironisch-satirischen

Wendungen zu erkennen (s. Sprachanalyse)- neben Erzähl[er]bericht auch szenisches Erzählen Eindruck von

Unmittelbarkeit, scheinbarer (!) Objektivität und Glaubwürdigkeit (vgl. Z.11f.)- Kommentar (z.B. Z.5f., 12f.) Rückbindung an äußere Beobachtung verbirgt

das Gemeinte = die innere Anpassung, den Zustand des Bewusstseins

1.6 Raumgestaltung:- kein realer Raum- Gegensatz Land / Stadt: Der Schuhputzer kommt „vom Land“ (Z.3, Signal

scheinbarer Unbedarftheit), wo offensichtlich noch seine Familie wohnt (vgl. Z.10f.), zum Wohnsitz des Diktators, der nicht genannten Hauptstadt

- perspektivische Verengung des Schauplatzes der Handlung („vor der Tür“ – „Zimmer“)

1.7 Figuren:- hierarchisch gegliederte Zuordnung: Rollenträger, keine Individuen, daher- Identitätswechsel möglich- in ihren Rollen direkt und indirekt charakterisiert (s. Wortwahl und rhetorische

Mittel)

1.8 Sprache und Stil:Syntax:

häufig einfach strukturierte Aussage(-haupt-)sätze im Stil sachlicher Faktenmitteilung scheinbar emotionslose Mitteilung des eigentlich nicht Selbstverständlichen oder Normalen

Wortwahl:- Benennung der Figuren als Rollenträger verweist auf Machtgefüge:

Repräsentanten von Staat und Gesellschaft- auffallend häufige Verwendung des Nomens „Diktator“, vor allem im zweiten

Teil, häufig in attributiver Funktion (z.B. Schuhputzer/Gewand/Spiegel des Diktators) Ausdruck des totalen Besitzanspruchs, Entwertung des Menschen

- Häufigkeit der Kombination Schuhputzer/Diktator (Z.11-13) bereitet Rollentausch und Identitätswechsel vor

Rhetorische Figuren:- grammatisch bezuglose, verallgemeinernde Eröffnung des ersten Satzes: „Der

Diktator“, nicht „Ein Diktator“, verstärkt durch Alliteration, suggeriert Typisierung, Bekanntheit des Phänomens, evoziert passende Vorstellungen

- antithetische Wortwiederholungen: „Diktator/Schuhputzer“ in gleicher und umgekehrter Reihenfolge gegenseitige Abhängigkeit und Symbiose

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- gesteigerte Wiederholungen: „dieselbe Kost / dieselbe Nase / denselben Schädel“ Betonung des inneren Zusammenhangs und der geistigen Anpassung

- Vergleich: Z.6 und 19 markiert Beginn und Ende der Anverwandlung- Personifikation: „wulstiger Mund tritt heraus, und wenn er grinst, zeigt er die

Zähne“ Verselbstständigung der Brutalität, sie gewinnt die Vorherrschaft; der alliterierende Zischlaut deutet auf die Gefährlichkeit hin

- Wortspiele (Polysemie): „an Gewicht zunehmen“ konkret und figurativ als Einfluss zu verstehen; „dieselbe Kost essen“ materiell und geistig zu verstehen; „Zähne zeigen“ die Zähne tatsächlich entblößen und im übertragenen Sinn: Kampfbereitschaft signalisieren, „am nächsten sein“ räumlich und im übertragenen Sinn als vertraut sein, auch als geistig verwandt zu verstehen; „Spiegel“ konkret und symbolisch: Schuhputzer = Spiegelbild des Diktators und umgekehrt

- Ironie: Euphemismus: „Das bekommt dem einfachen Manne“ dient der Verschleierung des eigentlichen Vorganges: Ich-Verlust, Anfälligkeit für die Verführung der Macht; Selbstentäußerung, Reduktion auf ein Wachhund-Dasein, Enthumanisierung

Stilebene:in Wortwahl und Idiomatik gehobene und literarische Stilebene, vgl. „seinen Ruhm im ganzen Land verbreiten“, „Schädel“, „Vertraute“, „sich in das Gewand ... werfen“, das Kafka-Zitat „Mann vom Land[e]“

2 Schwerpunkte einer zusammenfassenden Deutung

[Ergänzende Information für die Lehrkraft: Zur IntertextualitätDer Text lässt sich als eine Variante von Kafkas Türhüter-Parabel lesen; der Zusammenhang ist schon durch das Zitat „Mann vom Land[e]“ hergestellt. In Bernhards Kurzprosa wird der Mann vom Lande zum Türhüter, der schließlich die Schwelle überschreitet und selbst das Gesetz (in der pervertierten Form der Diktatur) verkörpert.Dieser intertextuelle Aspekt kann nur Schülern auffallen, die Kafkas Vor dem Gesetz gelesen haben; die Kafka-Lektüre ist keine unabdingbare Voraussetzung für eine plausible Interpretation.]

Modellhafte Darstellung von Abläufen bzw. von Karrieren in einem diktatorischen System

2.1 Der Einzelne als Stütze der diktatorischen HerrschaftSeine Bereitschaft- sich in den Dienst des Systems zu stellen (einer „aus über hundert

Bewerbern“)- sich einzuschränken und sich demütigen zu lassen (Wachhund-Dasein)- Angst zu verbreiten- zur Isolation (Distanz zur eigenen Familie)- zur Instrumentalisierung anderer (Familie!)- das System für den eigenen Aufstieg zu benutzen

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- gegenüber anderen physische Gewalt, Lüge und Betrug anzuwenden und selbst zum Verbrecher zu werden

2.2 Die Austauschbarkeit des Einzelnen im diktatorischen System3. Die Macht des Günstlings/„einfachen Manne[s]“ im diktatorischen System

4. Die Anziehungskraft der Macht oder die Verführbarkeit des Menschen

MindestanforderungenEine Arbeit kann als ausreichend (05) bewertet werden, wenn

Inhalt und Gedankengang in Grundzügen erfasst sind, Aspekte der Figurengestaltung erfasst sind, auffallende sprachlich-stilistische Merkmale benannt und ansatzweise in ihrer

Funktion beschrieben sind, die Darstellung geordnet und verständlich formuliert ist.

BEISPIEL 3: LITERARISCHE ERÖRTERUNGFriedrich Schiller: Wallenstein

„Von falschen Freunden stammt mein ganzes Unglück [...].“ (Wallensteins Tod V, 5, 3611)Erörtern Sie die Ursachen, die man für Wallensteins Untergang anführen kann, und nehmen Sie vor diesem Hintergrund Stellung zu der zitierten Einschätzung der Hauptfigur.

ERWARTUNGSHORIZONT LITERARISCHE ERÖRTERUNG

ThemenstellungDas Thema verlangt eine Erarbeitung der möglichen Ursachen, die man für Wallensteins Untergang ins Feld führen kann. Diese Ursachen liegen teilweise – wie Wallenstein annimmt – außer ihm, teilweise – was er verkennt – in ihm selbst. Aus diesem Grund führt die Erarbeitung des Themas auch tief in die Persönlichkeitsstruktur der von Schiller konzipierten Figur. Die apodiktische Formulierung Wallensteins erlaubt es kaum, ihm gänzlich zuzustimmen. Die Prüflinge müssten zu dem Ergebnis kommen, dass das Zitat selbst Ausdruck der Verblendung Wallensteins ist, die mitverantwortlich für sein Scheitern ist.Die unten aufgelisteten Aspekte umreißen das Spektrum, aus dem sich die Argumentation speisen kann. Sie sind nicht als in seiner Gesamtheit verbindlicher Erwartungshorizont zu verstehen. Auch sehr gute Arbeiten können eine Reihe von Gesichtspunkten auslassen oder sie in anderer Gruppierung darbieten.

(Abkürzungen: WL= Wallensteins Lager, P = Die Piccolomini, WT = Wallensteins Tod)

Inhaltsaspekte

1 Gründe für Wallensteins Scheitern1.1 Gründe außerhalb Wallensteins

Das Agieren des Wiener Hofes: o bewusste Verunsicherung etwa während des Aufenthalts der Herzogin in

Wien („Die Sonnen also scheinen uns nicht mehr“ P II, 2, 685)

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o Forderungen, die deutlich auf die Machtstellung Wallensteins zielen und vom Feldherrn (vgl. z.B. P II, 7) bis zu den einfachen Soldaten (vgl. WL 11) auch so verstanden werden

o heimliche Absetzung Wallensteins und Ernennung Octavio Piccolominis zu dessen Nachfolger

Die Unterstützung der „treuen“ Freunde: Diejenigen, die nicht die Seiten wechseln, erweisen sich als schlechte Ratgeber und deshalb auch als „falsche“ Freunde; vgl. Theklas Urteil über die Terzkys: „Trau ihnen nicht. Sie meinens falsch. [...] Sie haben einen Zweck.“ (P III, 5, 1684-1686); Illo und die Terzkys verfolgen eigene Zwecke und kennen keine Skrupel in Bezug auf die Mittel: o Illos Betrugsmanöver (P III,1), das letztlich Wallensteins Position schwächt

statt sie zu festigeno die Versuche der Gräfin, die Beziehung zwischen Max und

Thekla zu instrumentalisieren (P III, 2)o die machiavellistische Rede der Gräfin (WT l, 7)

Der Verrat der Freunde: o Octavio Piccolomini mit nicht ganz klaren Motiven:

Kaisertreue, Respekt vor der „alten Ordnung“ (vgl. P l, 4, 463 ff.) oder doch eher persönlicher Ehrgeiz (wie auch Max erwägt: „Du steigst durch seinen Fall“ WT II, 7, 1210) und das, obwohl er die besondere Gunst Wallensteins genießt

o Gallas und Altringer schon in der Vorgeschichte aus ähnlichen Motiveno Isolani, da er den offenen Bruch mit dem Kaiser scheut (WT II, 5, 1015.

1029 f.) und neuen Vorteil wittert: „Gedenkt mir´s aber auch beim Kaiser, wie bereit ihr mich gefunden“ (ebda. 1037 f.)

o Buttler aus gekränkter Eitelkeit und Enttäuschung (Octavio: „schändlich Spiel [...] Verachtung [...] Kränkung“ (WT II, 6, 1139 ff.); vgl. die Bühnenanmerkungen, die Buttlers heftige Reaktion über die Eröffnung vermerken

Unglückliche Zufälle: o Gefangennahme Sesins (P V, 2, 2563 ff.)o Bekanntwerden der Nachricht vom Fall Prags im Lager (WT III,10,1725 ff.)o offener Abfall der Truppen Terzkys, während Wallenstein noch um die

Treue der Pappenheimer kämpft (WT III 16, 1994 ff.) Bindung an traditionelle Werte – für Wallenstein „das ewig Gestrige“

(WT I,4,208): o Viele scheuen sich, sich offen mit Wallenstein gegen den Kaiser zu

solidarisieren (vgl. das schnelle Umschwenken der Truppen, die noch im „Lager“ absolute Treue zu Wallenstein bekunden).

o von Octavio klar gesehen: „Und mancher [...] findet unerwartet in der Brust ein Herz, / Spricht man des Frevels wahren Namen aus.“ (P l, 3, 333-336)

1.2 Gründe, die in Wallensteins Charakter liegen Seine Selbstüberschätzung:

o vergleicht sich selbst mit Cäsar („Ich spüre was in mir von seinem Geist" WT II, 3, 842) und verkennt, wie sehr es ihm – verglichen mit seinem Vorbild – an Entschlusskraft gebricht

o glaubt immer Herr der Lage und des Handelns zu sein (noch: WT III, 13, 1819 ff.)

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o schätzt seine Stellung im Heer als unantastbar ein (WT l, 5, 327) o hält seine Menschenkenntnis für untrüglich und baut daher sein Verhalten

allein auf seinem Urteil auf (WT II, 4, 959 f.)o interpretiert selbst Max´ Tod noch zu seinen eigenen Gunsten ( WT V, 4,

3593 ff.) Ehrgeiz: höchste Ambitionen (WT l, 4, 150 f.), die er auch durch Heiratspolitik

zu betreiben beabsichtigt (WT III 4, 1512 f., 1532 ff.) Unfähigkeit sich unterzuordnen und Angst vor dem Abstieg (WT l, 7, 531 ff.) seine Fehleinschätzung seines Umfeldes:

o Fehleinschätzung Octavios, dessen Verhalten er wahrnimmt, den er aber glaubt instrumentalisieren zu können (WT II, 1, 672 ff.)

o Fehleinschätzung Buttlers, den er zu beherrschen und dessen Ehrgeiz er ganz in den Dienst der eigenen Sache stellen zu können glaubt (WT II, 6, 1131 ff.); von Buttler durchschaut (WT IV, 8, 2853 ff.); tragische Ironie: Während Wallenstein Buttler insgeheim Abbitte leistet und in ihm einen seiner Treuesten sieht, hat dieser bereits das Lager gewechselt (WT III, 4, 1447 ff.).

sein „Temporisieren“ (P II, 6, 922):o Verliebtheit in die eigene Freiheit und ihre Wahlmöglichkeiten (P II, 5, 861

ff., WT l, 4, 149) führt zur Lähmung (P II, 6, 958)o keine klare Entscheidung zum Handeln (WT l, 3, 112ff.; WT l, 6, 413f.) trotz

günstiger Konstellation der Sterne (WT l, 1, 32f.)o Entscheidung erst, nachdem ihn die Entwicklung zum Handeln zwingt

unklare Interessen und Intentionen:o Ambitionen, Friedensmacher und Reichsschirmer (P II, 5, 831ff.) zu

werdeno Aversionen gegen die Schweden (P II, 5, 831ff.)o Ansprüche auf die böhmische Krone, Enttäuschung über die Absetzung in

Regensburg und das verloren gegangene Vertrauen des Kaisers

2 Stellungnahme zu Wallensteins Aussage

2.1 Zur TextstelleWallensteins Aussage folgt auf Warnungen seines Astrologen Seni, der die Konstellation der Sterne als Hinweis auf eine akute Gefährdung Wallensteins deutet, diese Gefährdung fälschlicherweise aber auf die Schweden bezieht („Vertrau dich diesen Schweden nicht“ WT V, 5, 3602).Das macht es Wallenstein leicht, die Warnungen zu verwerfen, da er von den Schweden – zu Recht, wie der Zuschauer weiß – nichts befürchtet, anderer-seits aber wähnt, er habe mit Octavio und den anderen abgefallenen Generä-len die „falschen Freunde“ schon vollzählig ausgemacht.

2.2 Pro-Argumentation

Die Aussage zeigt die Merkmale der tragischen Ironie: Sie entspricht in der Wahrnehmung des Theaterpublikums völlig den Tatsachen, nur Wallenstein wiegt sich in der trügerischen Sicherheit einer souveränen Erkenntnis der La-ge.

2.3 Contra-Argumentation

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Wallenstein ignoriert alle Indizien und Warnungen (P II, 6, 884 f.; 1010; WT II 3, 857; „Du bist blind" ebda. 890) und hält die Warnungen vor Octavio noch WT III, 7 1616 für „törichten Verdacht“.

Erst seine Fehler und Fehleinschätzungen geben den „Freunden“ Raum für den Verrat.

Ohne Wallensteins Verrat an Buttler hätte es dessen Verrat nicht gegeben. Wallensteins mangelnde Entscheidungsfähigkeit und der fehlende Mut, die

alte Ordnung gänzlich zum Einsturz zu bringen, geben der Gegenpartei erst die Zeit zum Agieren.

2.4 Ergebnis

Wallensteins Aussage belegt die sich im Verlauf des Dramas verstärkende (vgl. seine z.T. klare und richtige Sicht im ‚Achsenmonolog’ und an anderen Stellen) eigene Verblendung und ist Teil der Kausalkette, die in seinen Unter-gang führt. Mit der wachsenden Verblendung spitzt sich auch die tragische Ironie zu. Der Zuschauer nimmt die oberflächlich richtige Einschätzung kurz vor der Ermordung wahr, durchschaut aber zugleich, dass sie zu kurz greift, dass vielmehr gerade diese Einschätzung eine korrekte Betrachtung und ent-sprechendes Handeln verhindert.

MindestanforderungenDie Arbeit kann als ausreichend (05) gewertet werden,

wenn sowohl Gründe, die außerhalb Wallensteins liegen, als auch solche, die bei ihm selbst zu suchen sind, dargelegt sind,

wenn gezeigt ist, dass man der Meinung Wallensteins nur an der Oberfläche zustimmen kann, und wenn sie als Teil seiner Verblendung interpretiert ist,

wenn die Darstellung geordnet und verständlich formuliert ist.

BEISPIEL 4: GESTALTENDE INTERPRETATIONÖdön von Horváth, Geschichten aus dem Wiener Wald

1. Ordnen Sie als Grundlage Ihrer Gestaltenden Interpretation die Szene 3,III „Und abermals in der stillen Straße im achten Bezirk“ (S.91-102) kurz in den Handlungskontext des Dramas ein und klären Sie deren Bedeutung für den Handlungsverlauf.

2. Marianne geht also wieder in die Puppenklinik hinein. Stellen Sie sich vor: Marianne verfasst am Abend desselben Tages einen Tagebucheintrag, in dem sie sich offen und eingehend mit ihrer gegenwärtigen Situation auseinandersetzt. Verfassen Sie diesen Tagebucheintrag.

3. Legen Sie dar, nach welchen Kriterien Sie Ihre Gestaltung inhaltlich und sprachlich ausgerichtet haben.

Textausgabe: Ödön von Horváth: Geschichten aus dem Wiener Wald, Franfurt am Main 2001 (Suhrkamp BasisBibliothek 26)

ERWARTUNGSHORIZONT GESTALTENDE INTERPRETATION

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1.1 Im Rahmen der Kreislauf-Dramaturgie des Stückes stellt die vorgegebene Versöhnungsszene ein Ende dar, an dem alle Personen des Stückes wieder dort stehen, wo sie sich bereits am Anfang befunden haben. Einzige Ausnahme scheint Marianne zu sein, da sie im Unterschied zum Beginn des Dramas nun ein Kind hat. Erst in der letzten Szene 3,IV „Draußen in der Wachau“ stellt sich heraus, dass das Kind gestorben ist und Marianne folglich nicht einmal in dieser Hinsicht auf einen Neuanfang unter anderen Vorzeichen hoffen darf.

1.2 Groteske und verlogene Versöhnung, teilweise unter der dirigistischen Regie Valeries: Die Figuren wenden sich wieder zu den alten Verhältnissen zurück, als wäre nichts geschehen; die verschiedenen Interessen der Figuren werden zufriedengestellt, mit Ausnahme und auf Kosten von Marianne. Sie ist die einzige, der Schuld zugesprochen wird; die Aussöhnung mit dem Zauberkönig zwingt sie in ihre alte Rolle als billige Arbeitskraft ihres Vaters. Allerdings scheint das Kind sie noch vor Oskars Heiratsabsichten zu schützen.

Aufgabe 22.1 Inhaltliche AnforderungenReflexion der Situation aus der Perspektive Mariannes

Enttäuschung ihrer Vorstellungen von Liebe, der Verrat Alfreds Überlegungen zur Versöhnungsszene (der sie vergeblich versucht hat zu

entgehen), Verdeutlichung ihrer Einstellung (z.B. Reaktion auf die Schuldzuweisungen ihr gegenüber, ihre Überzeugung, dass ihr Unrecht geschehen sei, ihr Unwille, Alfred zu verzeihen)

Erkenntnis, dass ihr Versuch gescheitert ist, aus der traditionellen Rolle auszubrechen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen, da sie diese alte Rolle nun wieder einnimmt (Formulierung entsprechender Emotionen: Enttäuschung, Frustration, Resignation)

Reflexion der Rolle von Oskar, den sie nie geliebt hat, der ihr immer Schmerzen zugefügt hat. Vor einer Heirat mit ihm fühlt sie sich sicher, da er nur ohne ein Kind bereit wäre, sie zu heiraten (Gefühl der Erleichterung).

Füllen der Leerstelle „Versöhnung mit dem Vater“ – kreative Gestaltungsfreiheit. Bindend ist lediglich, dass in der letzten Szene des Dramas das anfängliche Verhältnis von Vater und Tochter wiederhergestellt zu sein scheint und kein böses Wort fällt.

Bedeutung des Kindes in ihrem Leben (Verdeutlichung ihrer Mutterliebe, Sorge um das Kind in der Wachau, evtl. auch Reflexion der Beichtstuhlszene) – das Wohl des Kindes als Mariannes einziges Motiv für eine Versöhnung, vgl. ihren Ausbruch in der Szene 3,III: „Es ist mir nämlich zu guter Letzt scheißwurscht – und das, was ich da tu, tu ich nur wegen dem kleinen Leopold, der doch nichts dafür kann.“ (S.101,33ff.) Mariannes Tagebuchreflexionen stehen bei aller Desillusion noch unter dem hoffnungsvollen Vorbehalt, dass es für sie eine Zukunft mit ihrem Kind geben könne.

2.2 Stilistische AnforderungenSprachstil der Bühnenfigur Marianne

naiv, klischeehaft (vgl. „du machst mich so groß und weit“, S.43,23f.) Bildungsjargon

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einfache, direkte Sprache Einflüsse der „grobianischen“ Sprache als Merkmal ihrer Desillusionierung

(vgl. S.101, 33f.)

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2.3 Figurale AnforderungenMariannes Erkenntnisse und Reflexionen müssen sich im Rahmen der Figurenkonzeption bewegen. (Marianne ahnt nichts vom Tod ihres Kindes.)

2.4 Formale und strukturelle Anforderungen Textmerkmale eines Tagebucheintrags assoziativer oder klar strukturierter Aufbau möglich

Aufgabe 3Erwartet wird, dass die gestalterische Vorgehensweise in Bezug auf die literarische Vorlage und die Gestaltungsform treffend erläutert wird. Aufgabe 1 und 2 sollen dabei stimmig miteinander verknüpft werden.Etwaige sprachliche und formale Mängel in Mariannes Tagebucheintrag sollten als absichtsvoll gestaltete hervorgehoben werden; die Aufgabenteile 1 und 3 müssen sich in diesem Sinne deutlich vom Gestaltungsteil unterscheiden.

MindestanforderungenEine Arbeit kann als ausreichend (05) gewertet werden, wenn

die Einordnung der Szene in die Handlung in Grundzügen erfolgt ist, Mariannes Reflexion ihrer Situation im Allgemeinen stimmig dargelegt ist, dafür auch eine sprachlich insgesamt passende Form gefunden wurde, die Textsorte Tagebucheintrag erkennbar ist, die Reflexion der Gestaltungsprinzipien grundsätzlich nachvollziehbar ist, die Arbeit insgesamt geordnet und verständlich formuliert ist.

BEISPIEL 5: TEXTANALYSE MIT ERWEITERTER AUFGABENSTELLUNG1. Analysieren Sie den Text von Andreas Kilb.2. Erörtern Sie aufgrund Ihrer eigenen Medienerfahrung, ob die von Kilb 1988

gestellte Diagnose auch heute noch zutrifft.

Andreas Kilb: Hundstage Leben und Sterben in Deutschland: die Geiseln, die Gangster und die Profis

Es war in einem Film, einem Krimi aus Amerika, im Jahr Neunzehnhundert-fünfundsiebzig. Al Pacino und seine Komplizen rannten in eine Bank, ließen sich den Tresor öffnen, fanden ihn fast leer und beschlossen, dazubleiben. Sie nahmen die Kunden und Angestellten der Bank als Geiseln und verschanzten sich in dem Gebäude. Die Polizei fuhr vor. Das Fernsehen fuhr vor. Die Reporter kamen gelaufen. Eine Menschenmenge versammelte sich. Al Pacino trat vor den Eingang und warf Geldscheine unters Volk. Er erzählte den Reportern von seinem verpfuschten Leben, seiner hoffnungslosen Liebe. Die Menge jubelte Pacino zu. Die Polizei gab ihm ein Fluchtauto. Am Flughafen schnappten sie ihn, sein Komplize wurde erschossen. Der Film hieß „Hundstage“, nach der Jahreszeit, in der er spielte. Die Geschichte, die Sidney Lumet erzählte, hatte sich wirklich ereignet: ein authentischer Fall.

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Dann geschah es an den Hundstagen im August diesen Jahres, im deutschen Fernsehen und vor aller Augen. Zwei Männer überfielen eine Bank, nahmen die Angestellten als Geiseln. Die Polizei stellte ein Fluchtauto. Die Gangster kaperten einen Linienbus. Einer der beiden zerrte ein kleines Mädchen vor die Kameras und hielt ihm eine Pistole an die Schläfe. Dann wurde ein Junge erschossen und weggetragen, wir sahen ihn bluten. Später ließen sich die beiden Männer ein neues Fluchtauto geben, nahmen zwei Mädchen als Geiseln und fuhren mit ihnen in die Kölner Innenstadt. Ein Gangster drückte einem Mädchen die Pistole in den Hals, wir sahen die Angst auf ihrem Gesicht. Wir sahen alles, wir waren dabei. Die beiden Männer gaben Interviews, wir hörten ihnen zu. „Hundstage“, zweiter Teil: Leben und Sterben in Deutschland. Ein authentischer Fall.

Der Film ist vorüber, die Sendung ist aus. Aber kein Vorhang fällt, nirgendwo erscheint „The End“, und es wird auch nicht hell im Saal. Denn der Junge im Bus und das Mädchen im Wagen sind tot, und kein Kommentar, kein Protokoll und kein xerox-kopierter Protestbrief können sie wieder lebendig machen. Was wir in Wahrheit mitangesehen haben, als wir „das Geiseldrama“ betrachteten, war eine Exekution. Eine Aus- und Aufführung, die Aufführung des Todes zweier Menschen und der Todesangst vieler anderer, die sich nicht verstecken konnten vor den Fernsehkameras und Photoapparaten, in denen sich jedes Zucken, jede Qual und Demütigung der Opfer in sendefähiges und heiß begehrtes Material verwandelte, also in etwas, das nach Belieben ge- und verkauft werden kann, in eine Ware.

Die heißeste Ware in unserer lebensmüden Tischlein-deck-dich-Bildschirm-streck-dich-Welt aber ist das Leben selber. Da, wo es wieder spannend und gefährlich wird, wo es am Abgrund geht und zum Tode führt – da ist es wieder Nachricht, Aufmacher, Zeitungsphoto, grausam und erregend. Der Satz des Reporters Müller im ARD-Nachtstudio: „Ich fahre hier als erster Wagen hinter dem Bus“, die rhetorische Frage an den Geiselnehmer: „Ans Aufgeben denken Sie doch wohl nicht?“, die Bild-Schlagzeile über dem Photo von Silke Bischoff („2 Stunden später war sie tot“) und auf der gleichen Seite die Entdeckungen des Sexualforschers Otto („Es gibt 14 Arten von Orgasmus“) – das ist es, das ist Leben und Sterben live aus Deutschland, cool recherchiert und brandheiß serviert.

Wir sind alle Profis, als Reporter wie als Zuschauer, vor und hinter der Kamera. Wenn jemand ganz unprofessionell Leute umbringt oder Todesangst hat, dann schauen wir erst einmal genau hin, um auch nichts zu verpassen. Das haben wir im Kino geübt und im Fernsehen auswendig gelernt. Das Leben – ein Film. Und wenn es Tote gibt, dann war jemand anders (die Polizei, der Minister) eben nicht professionell genug. Der Kölner Journalist, der sich in das Auto der Geiselnehmer setzte, um seine magnifique reportage schreiben zu können, war ein Profi, die Photographen, die den Wagen umringten, um „ihre“ Aufnahmen schießen zu können,

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waren es auch. Nur Amateure würden an Stelle des Interviews ein Gespräch führen, um ein Leben zu retten.

So etwas würde uns, den Profis, natürlich nie unterlaufen. Schließlich sind wir nicht für die Opfer, sondern für die Story zuständig; Zuschauer, nicht Zeugen. Deshalb sehen wir uns ja so gerne die Krimis im Spätprogramm an. Das sind Filme für Profis: blutig, aber sauber inszeniert. Mit denen vertreiben wir uns die langen Sommer- und Herbstabende bis zum nächsten Geisel- oder Familiendrama. Fernsehtage, Tage des Sehens. Hundstage.

aus: DIE ZEIT vom 26.08.1988

Anmerkungen:Im Text geht es um die Gladbecker Geiselnahme, die sich zwischen dem 16. und 18. August 1988 ereignete. zum Autor: Andreas Kilb, geb. 1961 in Frankfurt am Main, ist ein bekannter Filmkritiker (früher bei der Wochenzeitung DIE ZEIT, jetzt bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung).

zum Titel: „Hundstage“: Periode im Hochsommer (23. Juli bis 23. August), ursprünglich nach dem „Hundsstern“ (Sirius) benannt, oft Zeit einer Hitzewelle

Z.11: Sidney Lumet: FilmregisseurZ.25f.: xeroxkopiert , von Xeroxkopie: Trockenkopie, die heute übliche Art des Kopierverfahrens, im Unterschied zum früher üblichen NasskopierverfahrenZ.49 magnifique reportage: (frz.) : „prächtige Reportage“

ERWARTUNGSHORIZONT TEXTANALYSE MIT ERWEITERTER AUFGABENSTELLUNG Aufgabe 1 (Analyse)1.1 Textgegenstand: Kilbs Kommentar formuliert 1988 eine deutliche, mit Ironie und Sarkasmus angereicherte Kritik am (Fernseh-) Journalismus mit folgender zentraler Aussage:

Die Journalisten neigen dazu, Informationen über reale Ereignisse immer bedenkenloser den Kriterien des Unterhaltungsfilms anzugleichen. Durch die effektvolle, sensationsorientierte Aufbereitung der Reportage, durch die Einebnung des Unterschieds zwischen Wirklichkeit und Fiktion verkümmert jedoch auch beim Zuschauer die Fähigkeit, die im Fernsehen vermittelte Realität als Herausforderung an sein Gewissen und Mitempfinden zu begreifen. Schreckliches wird genussvoll konsumiert. In dieser Hinsicht gilt die Kritik in mindestens gleichem Maße den Zuschauern selbst.

1.2 Textaufbau und funktionale Sprachanalyse:Die sechs Textabschnitte lassen sich mit Sinnabschnitten gleichsetzen; diese stehen jedoch in engem Bezug zueinander und können in größere Sinneinheiten zu je zwei Textabschnitten zusammengefasst werden.

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Die ersten beiden Textabschnitte zeichnen sich inhaltlich wie sprachlich durch Parallelität und Gegenläufigkeit aus: Textabschnitt 1 beschreibt eine Filmhandlung, gedreht nach einem authentischen Fall, Textabschnitt 2 einen authentischen Fall, der nach dem Muster eines Kinofilms präsentiert wird. Die Parallelität zeigt sich in einzelnen Formulierungen und der gelegentlich dramatisierend verknappten Satzgestalt im Erzählpräteritum, die ihrerseits zugleich als Parodie des sensationsorientierten („coolen“) Reportagestils verstanden werden kann. Die Schlussformulierung des ersten Abschnitts („ein authentischer Fall“) ist Bindeglied zum zweiten und wird außerdem an dessen Ende wiederholt: Die Gladbecker Ereignisse werden in scheinbarem Zynismus als Fortsetzung des Lumet-Films definiert („’Hundstage’‚ zweiter Teil“). An die Stelle der „Menschenmenge“ im Spielfilm treten im zweiten Textabschnitt jedoch begrifflich nicht die Zuschauer, sondern „wir“. Mit diesem öfter wiederkehrenden Wort wird ein engerer Bezug zum Leser hergestellt; ein Satz wie „Wir sahen alles, wir waren dabei.“ formuliert in scheinbar sachlicher Aussage Kritik am eigenen voyeuristischen Medienkonsum; der Autor schließt sich jedoch in die Kritik bewusst mit ein, statt sich (vorschnell) zu distanzieren, beugt so einem Überheblichkeitsvorwurf vor und wirbt suggestiv um Zustimmung.

Textabschnitt 3 schafft mit dem Einstiegssatz „Der Film ist vorüber, die Sendung ist aus.“ gewissermaßen eine Ernüchterung, führt aber weiter zu der bedrängenden Aussage: Hier wurde wirklich getötet und gestorben. Kilb reflektiert deshalb die Fragwürdigkeit des Begriffs „Geisel drama “ , der Assoziationen an ein literarisches Genre und Fiktionalität, also an eine „Aufführung des Todes“ weckt. Gleichzeitig macht er mit der Verknüpfung über das Wort „Ausführung“ deutlich, dass es sich um eine „reale Exekution“ handelt, bei der die Leiden der Opfer zur Ware der Medienpräsentation werden.

Die Gesellschaft, für die das „Material“ aufbereitet wird, bezeichnet er in Textabschnitt 4 mit der komplexen Metapher der „lebensmüden Tischlein-deck-dich-Bildschirm-streck-dich-Welt“, die entschlüsselt werden sollte als dekadente Überflussgesellschaft, die nach Unterhaltung, am besten mittels existenzieller Grenzsituationen, giert [im alten Rom entsprechend: panem et circenses]. Die Aufbereitung der Unterhaltungs-„Ware“ wird dar- und bloßgestellt als eine Art Reporter-‚Geilheit’, die sich in den Zitaten selbst entlarvt und deshalb sinnfällig verknüpft werden kann mit der medienträchtigen Kombination von ‚sex and crime’ à la „Bild“-Zeitung.Der Abschnitt gipfelt in einer erneuten parodistischen Imitation, diesmal der marktschreierischen, per Anglizismus aufgepeppten Werbesprache der Medienprofis.

Textabschnitte 5 und 6 widmen sich diesem „Profi“-Wesen. Der Begriff bezeichnet sarkastisch die kühle, abgeklärte Haltung im Umgang mit Tod und Todesangst anderer, eine Haltung, die Kilb jedoch über die Medienmacher hinaus auf uns, die Zuschauer, ausdehnt. Zwar verdeutlicht er erneut den Egoismus der Medienleute durch ironische Jargonzitate („ihre“ Aufnahme, „magnifique reportage“), aber in diesen beiden Abschnitten häufen sich auch wieder die „wir“-Formulierungen. (Überhaupt verstärken Häufungen und Reihungen – auch in anderen Abschnitten – die Eindringlichkeit der Aussage;

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vgl. im Textabschnitt 3: „jedes Zucken, jede Qual und Demütigung“, Textabschnitt 4: „Nachricht, Aufmacher, Zeitungsphoto“.)

Die kurz vor dem Schluss gesetzte Doppelwendung „Fernsehtage, Tage des Sehens“ ist ambivalent, denn sie signalisiert zugleich eine Chance: statt Voyeurismus wirkliches, erkennendes Wahrnehmen, was uns wie auf dem Bildschirm präsentiert wird.Letztes, alleine gesetztes Wort ist „Hundstage“, nicht nur Filmtitel, sondern auch Überschrift des Zeitungstextes. Die doppelt pointierte Stellung fordert besonders zur Deutung heraus: einerseits heiße Tage, in denen man vielleicht nichts wünscht, als sich ‚berieseln’ zu lassen (allerdings mit ‚heißer’ Ware), andererseits aber auch die negative Implikation, dass dergleichen etwas Hündisches an sich hat.

Der Aufbau des Textes ist in diesem Sinne zyklisch und steigernd zugleich:Die kritische Betrachtung des so charakterisierten (Zuschauer-)Verhaltens – gefasst in Form einer ironischen Scheinverteidigung – beendet den Text, so dass wir, die Zuschauer als Leser, letztlich als Hauptzielgruppe der Überlegungen erscheinen.

1.3 Textintention / kommunikative Funktion:Der Kommentar

drückt Zorn und Betroffenheit, Verachtung der vorgestellten Verhaltensweisen aus (ironische, sarkastische, emphatische Elemente): Ausdrucksfunktion

bietet Information (Geschehensabläufe, Verhalten der Journalisten): Darstellungsfunktion

fordert potentielle Zuschauer zu einer kritischen Reflexion der Medienproduktion und der eigenen Rezeption auf; verlangt Konsequenzen bei den Medienverantwortlichen: implizite Appellfunktion

Aufgabe 2 (Problemerörterung) – mögliche Aspekte:

2.1 Bestätigung von Kilbs Kritik im Sinne gleich gebliebener oder gar verschlimmerter Verhältnisse:

durch aktuelle Beispiele wie den immer stärkeren Trend zu „Reality-Shows“ und sensationsgerecht aufgemachten „Reportagen“, zunehmend grausamere Bilder von Kriegs- und Katastrophendetails und -folgen sogar bei den öffentlich-rechtlichen Sendern

durch Hinweis auf Faktoren, die die Tendenz zur sensationellen Aufbereitung der Wirklichkeit fördern (Abhängigkeit des Fernsehens vom Markt, verschärfte Jagd nach hohen Einschaltquoten durch die Privat-TV-Sender und ihre Konkurrenz untereinander und mit den öffentlich-rechtlichen Anstalten, Fernsehen als Medium, das visuell unergiebiges Geschehen weitgehend ausklammert)

durch zunehmende Bereitschaft von Zuschauern, selbst Mitspieler im Medienspektakel zu werden und sich dabei auch für eine öffentliche Bloßstellung zur Verfügung zu stellen (Bezug: Talkshows, Castingshows; der Reiz für das Publikum besteht nicht zuletzt im voyeuristischen Genießen solcher Erniedrigungen)

2.2 Einwände:

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Veränderung der Medien: Hinweis auf verstärkte Selbstkontrolle; Rügen des Presserats, allerdings ohne Möglichkeit der Sanktion; Interviews mit Tätern während des Tatgeschehens laut Zusatz im Pressekodex nicht mehr erlaubt: Ein zweites Gladbeck-Spektakel hat nicht mehr stattgefunden.

Eindringliche Darstellung von menschlicher Not kann auch ein genaueres Wirklichkeitsbild hervorbringen und Hilfsbereitschaft erhöhen.

MindestanforderungenEine Arbeit kann als „ausreichend“ (05) gewertet werden, wenn

Textgegenstand, Textaufbau und Textintention in Grundzügen erfasst sind, einige wesentliche sprachliche Merkmale in ihrer Funktion bestimmt sind, der Erörterungsteil eine klar erkennbare Stellungnahme mit Erläuterung enthält, die Darstellung geordnet und verständlich formuliert ist.

4.2 Aufgabenbeispiele für die schriftliche Prüfung im Grundfach

BEISPIEL 1: TEXTINTERPRETATION (LYRIK)

Analysieren und interpretieren Sie das Gedicht von Ulla Hahn.

Ulla Hahn:

Irrtum

Und mit der Liebe sprach er istswie mit dem Schnee: fällt weichmitunter und auf alleaber bleibt nicht liegen.

Und sie darauf die Liebe istein Feuer das wärmt im Herdverzehrt wenns dich ergreiftmuß ausgetreten werden.

So sprachen sie und so griffer nach ihr sie schlugs nicht ausund blieb auch bei ihm liegen.

Er schmolz sie ward verzehrtsie glaubten bis zuletzt an keine Liebedie bis zum Tode währt. (1988)

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(alte Rechtschreibung)

aus: Ulla Hahn: Süßapfel rot. Gedichte, Stuttgart 2003, S. 20

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ERWARTUNGSHORIZONT TEXTINTERPRETATION (LYRIK)

Thematik:In dem Gedicht „Irrtum“ entwickelt die Autorin in freundlich-ironischer Paradoxie die Macht einer dauerhaften Liebe gerade aus deren Leugnung heraus.

Formale Aspekte und deren Funktion:Das Druckbild offenbart bereits auf den ersten Blick eine Sonettform, die den Schülern spätestens seit der Behandlung von Barocklyrik in der Einführungsphase vertraut sein sollte. So gibt sich das Gedicht von vornherein traditionell-konventionell, freilich mit Abweichungen (die als bewusste Freiheiten bzw. als [post]moderner Umgang mit vorgegebenen Formen deutbar sind):

Reimverzicht – mit Ausnahme des recht „unreinen“ Gleichklangs der Versenden 12/14 („verzehrt/währt“).

vorwiegend jambische Metrik , aber auch hier mit Unregelmäßigkeiten (Vers 6 und Vers 9, es sei denn, man lege im letzteren Falle die Betonung auf das zweite „so“; dann ergibt sich eine Fortführung des jambischen Rhythmus zusammen mit Vers 10, der mit einer trochäischen Hebung einsetzt)

ungleiche Verslängen mit ungleicher Hebungszahl (z.B. drei Hebungen in Vers 3, fünf Hebungen in Vers 13)

Textaufbau und Sinnbeziehungen, sprachliche Merkmale:Jede Strophe bildet eine Sinneinheit, was nicht zuletzt durch den jeweiligen Schlusspunkt deutlich wird. Im Gegensatz dazu schafft der Verzicht auf jedes trennende Komma innerhalb der Strophen einen auffälligen Textfluss, der zur sinnerschließenden Aufmerksamkeit zwingt. (Letzteres ist ein allgemeines Stilmerkmal der meisten Gedichte der Autorin und bedarf von daher keiner individuellen Interpretation; es ist jedoch möglich, wenn auch nicht zwingend, etwa die enge Verschränkung in den Strophen 3 und 4 in Sinnzusammenhang zum Verschmelzen der beiden Partner zu setzen.)

Der Gedichtanfang blendet sich mit der Konjunktion „Und“ unmittelbar in ein – wie es scheint – bereits laufendes Gespräch ein, in dem es unter anderem auch um die Liebe geht. Denkbar wäre, dass damit schon angedeutet werden soll, dass beide Gesprächspartner (Mann und Frau) der Liebe rational begegnen und ihr keinen großen Stellenwert in ihrem Leben einräumen wollen.Ihre beiden Ansichten über die Liebe werden in konträrer Bildlichkeit einander gegenübergestellt: „Er“ betont das Vergängliche, „sie“ das Bedrohliche der Liebesleidenschaft (schmelzender Schnee – verzehrendes Feuer), gemeinsam ist beiden allerdings die negative Sicht. Von der inneren Struktur her sind die beiden Strophen sehr gleichsinnig aufgebaut: Zunächst die Ankündigung einer Definition (Verse 1 und 5), dann das scheinbar Positive (Verse 2 und 6: weicher Schnee und wärmendes Herdfeuer), in den jeweiligen Folgeversen die Umkehrung ins Negative („bleibt nicht liegen“ - „muß ausgetreten werden“).Somit sind die die beiden Quartette bestimmt vom Prinzip der Parallelität und des Gegensatzes.

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Dem getrennten theoretisierenden Reden wird die ganz anders geartete ‚Praxis’, das gemeinsame Handeln und dessen Wirkung, in den Terzetten entgegengesetzt. Von daher wirken die Aussagen der ersten beiden Strophen letztlich nur wie vorangestellte intellektuelle Absicherungen, nach denen man sich doch (bzw. erst) miteinander einlässt – wohl zunächst nur sexuell (3. Strophe), dann aber doch grundsätzlicher. Dabei klingen die Verben der ersten beiden Strophen an, erhalten aber umgekehrte Wertigkeit, wenn das Verhalten der Frau beschrieben wird: Sie „blieb [...] bei ihm liegen“ (im Gegensatz zum Schnee) und „schlugs nicht aus“ (im Gegensatz zum Feuer, das angeblich „ausgetreten werden“ muss).Die Schlussstrophe führt die Umdeutung fort: Schmelzen und Verzehren erfahren die Wendung ins Positive.

Die beiden letzten Verse enthalten die Steigerung zum ironisch-humorvoll dargebotenen Hauptgedanken des Gedichts. Beider Skepsis bleibt, aber eben die Liebe auch „bis zuletzt“ – ein sehr positiver, produktiver „Irrtum“, den der Titel bereits benennt, der aber nun erst erklärt wird. Damit hält bis „zuletzt“ die Spannung des Lesers (wie die des Liebespaares) an.

Dieser Gedanke teilt sich mit in einer Sprache, die deutlich an Lyrik des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts gemahnt, sei es im Auftaktvers, der etwas von der bewussten Heine’schen Schlichtheit hat, oder in dem altertümlichen „ward“ der Schlussstrophe. Es sind postmoderne Anklänge, die den zart-ironischen Gedichtgestus noch erhöhen und – beinahe wie die Vorreden der Liebenden – als eine Art von Absicherung der Autorin beim Schreiben über ein geradezu inflatorisch behandeltes Thema dienen mögen. Hierbei schließt sich auch der Kreis zur Gedichtgestalt selbst, die ja ebenfalls eine spielerische Traditionsanknüpfung an die barocke (Liebes-)Lyrik darstellt (s.o. zur Sonettform).

MindestanforderungenEine Arbeit kann als „ausreichend“ (05) bewertet werden, wenn

Thema und Kernaussage erkannt sind, Aufbau und Gedankenführung in Grundzügen nachvollzogen sind, einige charakteristische gestalterische Merkmale erfasst sind, die Darstellung geordnet und verständlich formuliert ist.

BEISPIEL 2: LITERARISCHE ERÖRTERUNG Georg Büchner: Dantons Tod

„Ich kokettiere mit dem Tod (…)“, sagt Danton in der Szene Freies Feld (II,4).

Erörtern Sie unter Berücksichtigung des Zitats unterschiedliche Sichtweisen des Todes, die Danton im Laufe des Stückes zeigt, und stellen Sie abschließend einen Vergleich zu Julies Sichtweise her.

Textausgabe: Georg Büchner: Dantons Tod, Stuttgart 2002 (Reclam UB 6060)

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ERWARTUNGSHORIZONT LITERARISCHE ERÖRTERUNG

Die Konfrontation und Auseinandersetzung der Personen mit dem Tod ist ein Leitmotiv des Werks. Der Tod wird schon im Titel thematisiert; das Motiv bildet Auftakt und Ausklang des Dramas.

Der Tod in der Sicht Dantons: I,1,5,6: Dantons befremdendes Liebesbekenntnis „[…]ich liebe dich wie das

Grab.“ assoziiert Grab und Tod positiv mit Ruhe und Geborgenheit. Danton zeigt eine eher tändelnde – Todesverbundenheit als Reaktion auf die „terreur“; Zweifel am Sinn der Revolution und ihrer Opfer (23: „[...]die Revolution frisst ihre eignen Kinder.“ / 24: „[...] das Volk ist wie ein Kind, es muss alles zerbrechen, um zu sehen was darin steckt.“ / 25: „Wo die Notwehr aufhört, fängt der Mord an[...].“)

II,1,3: Beim Abwägen von Leben und Tod gibt Danton dem Tod den Vorrang, da er ihm leichter vorkommt als das Leben: „[...] ich will lieber guillotiniert werden, als guillotinieren lassen.“(32) / „Ich werde mit Mut zu sterben wissen, das ist leichter, als zu leben.“ (39)

II,4: Danton hofft auf die Wirkung des Todes, dieser wird sein Gedächtnis töten; Reflexion der eigenen Schuld. Allerdings relativiert er seine Position zugleich, indem er feststellt, er „kokettiere mit dem Tod [...] so aus der Entfernung“ (40). Dies rührt nicht zuletzt aus seiner immer wieder geäußerten Gewissheit: „[...] sie werden’s nicht wagen“ (23, 33, 40).

III,1,4: Nach erfolgter Verhaftung muss er diese Annahme zurücknehmen (53), zeigt jedoch scheinbare Unbekümmertheit ( 53: „Nun gut, man muss lachend zu Bett gehen.“ / 54: „[...] man schickt mich aufs Schafott, meinetwegen, ich werde nicht stolpern.“) und gibt sich heroisch vor dem Revolutionstribunal (57: „[...] das Leben ist mir zur Last, man mag es mir entreißen, ich sehne mich danach es abzuschütteln.“ / 59: „Jetzt kennt ihr Danton, noch wenige Stunden und er wird in den Armen des Ruhmes entschlummern.“)

III,7: Der Tod ist in spürbare Nähe gerückt, dabei zeigt sich Dantons Problem, ihn noch nicht bewältigen zu können. Im direkten Widerspruch zu seinen Gedanken in II,4 sieht er jetzt keine Hoffnung mehr im Tod, da er nicht an den Übergang in ein Nichts ohne Bewusstsein glauben kann (67). Er wehrt sich deshalb vehement gegen das Sterben und klammert sich an das Leben: „Ich kann nicht sterben [...], sie müssen mir jeden Lebenstropfen aus den Gliedern reißen.“ (67) In dieser Situation befürchtet Danton, der Tod bringe ihm Einsamkeit, werde ihn für immer von Julie trennen (67: „O Julie! Wenn ich allein ginge!“).

IV,3: Angesichts des unmittelbar bevorstehenden Todes setzt zunächst ein Klagen und Bedauern ein, zeigt sich Dantons Hilflosigkeit: „ Ach das hilft nichts. Ja- wohl ist´s so elend sterben müssen [...] (73). Beruhigend wirkt die Nachricht Julies, dass sie ihn in den Tod begleiten werde. Er hätte sich allerdings einen anderen, einen mühelosen Tod gewünscht: „so wie ein Stern fällt, wie ein Ton sich selbst aushaucht [...]“ (74). Trotzdem versucht er dem niedergeschlagenen Camille scherzhaft Mut zuzusprechen (75: „Willst du im Voraus sterben? Ich will

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mich aus dem Leben [...] wie aus dem Bett einer barmherzigen Schwester wegschleichen.“).

IV,7: Auch wenn Danton dem fatalen Schicksalslauf keinerlei Sinn abgewinnt (IV,5, 80: „Die Welt ist das Chaos. Das Nichts ist der zu gebärende Weltgott...“), hat er doch am Ende eine würdevolle Gelassenheit, die ihn von den deklamatorischen Versuchen seiner Todesgenossen abhebt (81: „Ruhig, mein Junge, du hast dich heiser geschrien.“ / 82: „Adieu mein Freund. Die Guillotine ist der beste Arzt.“), so dass sein zuletzt geäußerter Tadel des Henkers mehr als ein dahingeworfener Scherz ist: „Kannst du verhindern, dass unsere Köpfe sich auf dem Boden des Korbes küssen?“ (82)

Der Tod in der Sicht Julies: I,1: Abwehrende Reaktion auf Dantons Todeskoketterie: Ausdruck der stabilen

Persönlichkeit und Hinwendung zum Leben

II,5: spricht Danton Trost und Lebensmut zu, als er von Angstträumen (Septembermorde) gequält wird

IV,4: Nach dem Umschlag der Situation Entschluss zum Selbstmord aus Liebe zu Danton

IV,6: Todesmonolog, heldischer Gestus, aber auch Gelassenheit, Wahl eines unspektakulären, privaten Todes

Zusammenfassung: Dantons Sichtweise des Todes bewegt sich zwischen nihilistisch-zynischem Gedankenspiel der Bejahung und einer angstbesetzten Abwehr, wobei er die Krise der Todesangst letztlich meistert. Mit seinem Tod unterliegt er einer historischen Situation, die er mitzuverantworten hat, wozu er aber steht.Julie dagegen kann sich frei entscheiden: gegen das Leben, für den Tod. Letztlich ist ihre Entscheidung ein Zeichen, das Danton die Angst vor der Einsamkeit im und nach dem Tod nimmt.

MindestanforderungenDie Note „ausreichend“ (05) kann gegeben werden, wenn

- die Krise und der Umschwung in der Haltung Dantons in Grundzügen erfasst sind,

- die Sichtweise Julies in Grundzügen erfasst ist,- die Darstellung geordnet und verständlich formuliert ist.

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BEISPIEL 3: TEXTANALYSEAnalysieren Sie den Text von Peter Kümmel.

Peter Kümmel:

Es lebe Finck! Die Zukunft der Kunst liegt im Ungesagten

Die Bundeskanzlerin hat kürzlich in Potsdam eine Rede gehalten, die sich auch an die Medien und die Künstler richtete. Beim M100 Sanssouci Colloquium kam sie auf den Zusammenhang zwischen islamistischem Terror und westlicher Medienproduktion zu sprechen. Merkel forderte die Medien dazu auf, „sehr intensiv“ über den Karikaturenstreit zu diskutieren. Sie fuhr fort: „Ist es einfach mit der Pressefreiheit erklärbar, dass man sich nur auf sein lokales Publikum konzentriert und für dieses schreibt, aber die Wirkungen an anderer Stelle dieser Welt unter völlig anderen Rezeptionsmöglichkeiten außer Betracht lässt und sagt, es geht mich nichts an, ich bin eine deutsche Zeitung, ich schreibe für Deutschland, oder muss diese Globalisierung der Information auch eine Reflexion in der Art und Weise unseres Ausdrucks haben? Ich vermute, dass wir hier vor einem Lernprozess stehen.“

Irren wir uns, oder ist in Merkels Frage ein Appell verborgen? Nämlich der Appell an jeden Schreiber oder Sprecher, zum Weltdiplomaten zu werden und die eigenen Worte bei der kopfinneren Zensurbehörde einzureichen, ehe er sie in die Welt hinauslässt? Die Globalisierung tut uns vieles an, unter anderem dies: dass ein kleiner Text, Sketch, Cartoon, also eigentlich der Flügelschlag eines Kolibris, einen Orkan am anderen Weltende auslösen kann. Die Kanzlerin sagt es nicht genauer, aber der Lernprozess, den sie erwähnt, hat beklemmende Seiten. Er bedeutet eine Zurückhaltung gegenüber der „anderen Seite“, die je nach Standpunkt pädagogisch (die anderen sind wie Kinder, sie stecken noch im Mittelalter), diplomatisch (bald kommt der Winter – man soll es sich nie mit seinem Öllieferanten verderben) oder faul-feige (wegen ein paar blöder Karikaturen/satanischer Verse will ich hier keinen Ärger) zu nennen ist.

Wäre es nicht besser, so hören wir aus Merkels Einlassungen heraus, das Wich- tigste zwischen den Zeilen zu verstecken? Eine allen mithörenden Feinden gerecht werdende Kommunikationstechnik zu entwickeln, welche den veröffentlichten Text nur als Hohlcontainer für das Unaussprechliche braucht?

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Wir haben als Volk mit dieser Technik Erfahrung. Erinnert sei an den Kabarettisten Werner Finck. Seine Kunst war im „Dritten Reich“ auf ihrem Höhepunkt. Das Entscheidende ließ Finck immer offen – seine Sätze blieben unvollendet – die Luft summte vom Ungesagten, welches das Publikum flugs im Geist ergänzte. Stotternd, sich absichtsvoll verhaspelnd, trieb Werner Finck den Witz in die Nähe der Fehlleistung. Was er meinte, sagte er nicht – was er sagte, war anders gemeint. Nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reichs“ gab Finck sich der „Kritik der reinen Unvernunft“ hin, aber es fehlten ihm die mithörenden Feinde. Witz war nicht mehr riskant, und der große Spötter fiel unter die Kleinkünstler. Finck starb 1978. Er konnte nicht ahnen, welch große Zukunft seine Kunst einmal haben würde.

aus: DIE ZEIT 38/2006, S.49

Anmerkungen:Z.2 M100 Sanssouci Colloquium: Treffen von 100 führenden „Meinungs- und Medienmachern“ aus ganz Europa, das im September 2006 in Potsdam stattgefunden hatZ.4f. Karikaturenstreit: Der Abdruck von Karikaturen des Propheten Mohammed in einer dänischen Zeitung löste in der islamischen Welt heftige Proteste aus.Z.22 satanischer Verse: Anspielung auf den Roman „Satanische Verse“ von Salman Rushdie; der Inhalt des Buches brachte dem Autor Morddrohungen von islamistischer Seite ein.Z.25 allen mithörenden Feinden Anspielung auf die NS-Parole „Feind hört mit!“ (im Zweiten Weltkrieg verbreitet, als Warnung vor Spionage)Z.32f. Fehlleistung Gemeint ist die sprachliche Fehlleistung (Freud’sche Fehlleistung, Versprecher), bei der jemand das, was er zwar eigentlich meint, aber verbergen will, unfreiwillig ausspricht.Z.34f. Kritik der reinen Unvernunft: So hieß das erste Nachkriegsprogramm des Kabarettisten Finck; der Titel ist eine Anspielung auf die „Kritik der reinen Vernunft“ von Immanuel Kant.

ERWARTUNGSHORIZONT TEXTANALYSE

Textgegenstand:Aus Anlass einer Rede von Angela Merkel setzt sich der Autor mit der Frage auseinander, inwieweit eine Selbstzensur der Medien sich mit einer freiheitlichen Demokratie verträgt.

Textsorte:Glosse: Der Text ist eine ironisch-satirische Randbemerkung zu einem aktuellen Thema.

Aufbau und Gedankengang des Textes:Die vier Textabschnitte lassen sich als Sinnabschnitte verstehen. Abschnitt 1 (Z.1-11): Schreibanlass, Kontext der Rede der Kanzlerin; ihr Thema:

islamistischer Terror und westliche Medien; ihre verklausulierte Aussage: „Wir“ müssen vorsichtig und rücksichtsvoll sein mit dem, was wir schreiben.

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Abschnitt 2 (Z.12-23): Entschlüsselung und Deutung der Rede durch den Autor: Die Kanzlerin will eine „kopfinnere Zensurbehörde“ (Z.14), wozu dem Autor unterschiedliche Motivationen einfallen.

Abschnitt 3 (Z.24-27): Weiterführende Interpretation der Rede: „Wir“ (Vertreter der Medien) sollen eine scheinbar neue „Kommunikationstechnik“ (Z.26) entwickeln, nämlich das Entscheidende unserer Aussage verstecken.

Abschnitt 4 (Z.28-37): Erläuterung dieser „Kommunikationstechnik“ durch das historische Beispiel des Kabarettisten Werner Finck

Aufbauprinzip: zielgerichtet – Auflösung der Titel-Chiffre im (pointierten) Schlussgedanken

Funktionale Sprachanalyse: Titel: Leseanreiz, eindringlicher Ausruf, dessen Sinn dem Leser zunächst

rätselhaft bleibt. Das Rätsel wird erst im letzten Abschnitt aufgelöst. Untertitel: Verstärkung des Leseanreizes, überraschendes Paradoxon. Wie soll

die Zukunft der auf Kommunikation mit dem Publikum angewiesenen „Kunst“ im „Ungesagten“ liegen? Spekulation über den Inhalt des „Ungesagten“. Wie kann man das „Ungesagte“ doch erfahren? Vielleicht durch Lesen zwischen den Zeilen?

Abschnitt 1:o Der Abschnitt besteht überwiegend aus Zitaten aus der Merkel-Rede;

Beispiel für Politikersprache, die eine Festlegung vermeidet (z.B. rhetorische Frage, rhetorische Vermutung, fingiertes Presse-Zitat).

o Z.11: „Wir“: Die Kanzlerin suggeriert, dass auch sie selbst ebenso wie die gesamte Öffentlichkeit aus der neuen Situation lernen muss. „Lernprozess“ könnte ein Euphemismus sein, für das, was die Kanzlerin nach Meinung des Autors will (vgl. Z.14: „kopfinnere Zensurbehörde“).

Abschnitt 2:o Der Autor antwortet seinerseits mit rhetorischen Gegenfragen.o Z.12: „Wir“: Bewusstes Aufgreifen des „wir“ aus dem Merkel-Zitat, dient

nun der Abgrenzung von der Position der Kanzlerino Z.13: „Weltdiplomat“: Hyperbel, ironischo Z.14: „kopfinnere Zensurbehörde“: Neologismus plus Metapher,

veranschaulicht das erschreckende Ergebnis des „Lernprozesses“o Z.15: „Die Globalisierung tut uns vieles an, unter anderem dies“: Die

deiktische Satzstellung hebt die Folgen der Globalisierung noch hervor.o Z.16f.: Anspielung auf die Chaos-Theorie: Ironischer Verweis auf die

Unmöglichkeit einer Steuerung der Ereignisseo Z.19: die „andere Seite“ variiert und verschärft die Merkel-Formulierung

„an anderer Stelle dieser Welt“ (Z.7), damit wird eine Polarisierung angedeutet, ohne dass die Gegenpartei konkret benannt würde.

o Z.19-23: Bei den drei Beispielen für Zurückhaltung, die der Autor nennt, liegt eine moralische Anti-Klimax vor. Durch die umgangssprachlichen, ironisierten Paraphrasierungen der Fallbeispiele parodiert er hier deutlich das Merkel-Zitat.

Abschnitt 3:

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o Zwei rhetorische Fragen, die zweite elliptisch, verdeutlichen die Intensität des Nachdenkens und greifen das stilistische Vorbild der Kanzlerin auf.

o Z.25: „allen mithörenden Feinden“: leitet über von der aktuellen Terrorabwehr zum historischen Rückblick (NS-Zeit)

o Z.27: „Hohlcontainer“: sozusagen die größere Variante einer ‚Hohlform’, starkes, negatives Bild für die befürchtete Sinnentleerung

Abschnitt 4:o Überwiegend parataktische Strukturen: gleichsam die kurzen und

prägnanten Antworten auf die vorher gestellten Frageno Z.30f. „die Luft summte vom Ungesagten“: paradoxe

Veranschaulichung der Brisanz des Ungesagten, mit dem „Ungesagten“ wird jetzt auch die Chiffre des Untertitels aufgegriffen und aufgelöst

o Z.33: „Was er meinte, sagte er nicht; was er sagte, war anders gemeint“: Parallelismus und Chiasmus, stilistischer Nachvollzug der Finck’schen Sprachraffinesse

o Z.34f.: Wortspiel mit dem Titel von Fincks Nachkriegsprogramm (der seinerseits eine witzige Verdrehung des Kant-Titels ist)

o Z.36: „der große Spötter fiel unter die Kleinkünstler“: Wortspiel, das den Bedeutungsverlust von Finck in der Nachkriegszeit zum Ausdruck bringt

o Z.36f.: Schlusssatz: ironischer Hinweis auf die die wiederkehrenden Beschränkungsversuche journalistisch-künstlerischer Meinungsäußerung – scheinbare Revision des Bedeutungsverlusts von Finck und seiner Kunst

Textintention, Zielgruppe und kommunikative Funktion: Der Text drückt die Besorgnis des Verfassers aus, dass im Zuge der

Terrorprophylaxe und als Wirkung der Globalisierung die journalistisch-künstlerische Gestaltungsfreiheit zunehmend eingeschränkt wird.

Implizit appelliert der Text an Medienproduzenten und Medienrezipienten, allen zur Zensur führenden Bestrebungen kritisch und wachsam zu begegnen. Unausgesprochene Warnung: Soweit wie damals im „Dritten Reich“ sollte es nicht wieder kommen!

MindestanforderungenDie Note „ausreichend“ (05) kann gegeben werden, wenn die Analyse das Thema des Textes (Pressefreiheit o.ä.) inhaltlich erfasst, der Gedankengang im Wesentlichen zutreffend dargestellt ist, wesentliche sprachliche Merkmale erkannt und in ihrer Funktion erklärt werden, die Intention des Autors ansatzweise erkannt ist, die Darstellung geordnet und verständlich formuliert ist.

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4.3 Aufgabenbeispiele für die mündliche Prüfung mit Vorschlägen für die Prüfung im Grundfach (5. Prüfungsfach, nach § 46, Abs.1 GOS-VO) und die Prüfung im Erweiterungsfach (Antragsprüfung, nach § 46, Abs.2 GOS-VO)

BEISPIEL 1: LYRIK

Text 1 Heinrich Heine: Buch der Lieder. Lyrisches Intermezzo

XXXVII

Philister in SonntagsröckleinSpazieren durch Wald und Flur;Sie jauchzen, sie hüpfen wie Böcklein,Begrüßen die schöne Natur.

Betrachten mit blinzelnden Augen,Wie alles romantisch blüht;Mit langen Ohren saugenSie ein der Spatzen Lied.

Ich aber verhänge die FensterDes Zimmers mit schwarzem Tuch;Es machen mir meine GespensterSogar einen Tagesbesuch.

Die alte Liebe erscheinet,Sie stieg aus dem Totenreich;Sie setzt sich zu mir und weinet,Und macht das Herz mir weich.

(entstanden 1821/22, Erstdruck 1823)

aus: Heinrich Heine: Sämtliche Schriften, Bd.1, hg. von Klaus Briegleb, München (Hanser) 1968, S.89

Text 2Der Theaterintendant Claus Peymann in einem SPIEGEL-Gespräch:[...] diese Torfköpfe, die über riesige Kulturetats entscheiden, sind ahnungslos und wollen sich auch gar nicht im Ernst sachkundig machen. [...]Die haben doch keine Ahnung und gehen auch nicht ins Theater. Schauen Sie sich den [Kulturdezernenten Peter] Nestler in Köln an, schauen Sie sich den Berliner Kultursenator Volker Hassemer an: Das ist doch der klassische Fall eines lustigen, netten, sympathischen, gutaussehenden Dilettanten [...].“

aus: DER SPIEGEL 20, 14.05.1984, S.197

Aufgabenstellung1. Analysieren Sie Form und Aufbau von Text 1.2. Untersuchen Sie, wie Heine die „Philister“ charakterisiert.3. Klären Sie, in welcher Bedeutung er den Begriff „romantisch“ verwendet.

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4. Stellen Sie einen Zusammenhang her zwischen Text 1 und Text 2 und erörtern Sie das Selbstverständnis des Künstlers, das aus ihnen spricht.

[[Differenzierungsvorschlag:Grundfach: Text 1, Aufgaben 1-3Erweiterungsfach: Text 1 und Text 2, Aufgaben 1-4]

ERWARTUNGSSKIZZE

1. (für Heine typische) Liedform, regelmäßig 3 Hebungen in jedem Vers, mit Auftakt – der in III,1 nicht eingehalten wird: da liegt die Betonung auf „Ich“!Die 4 Strophen zerfallen in 2 Teile: die ersten beiden Strophen gehören den Philistern, die beiden letzten dem lyrischen Ich. Gelenkstelle: „Ich aber“ (III,1)

2. [Kenntnisse zur Wortgeschichte von „Philister“ sind zur Lösung der Aufgabe nicht erforderlich: ursprünglich der Name eines Volkes in Palästina, mit dem die Israeliten im Streit lagen; seit dem 17. Jahrhundert in der Studentensprache Bezeichnung für die nichtstudentische Bevölkerung, daraus die Bedeutung: Spießbürger, „ein nüchterner, pedantischer, beschränkter, lederner Mensch“, Grimm Wb, 13, Sp.1827]Heines Philister: dem Spott des lyrischen Ich ausgesetzt: Verkleinerung durch die Diminuitive, in tierische Nachbarschaft versetzt durch den Böcklein-Vergleich und die langen (Esels-)Ohren, unpassend herausgeputzt im Sonntagsröcklein und ahnungslos, was den Natur- und Kunstgenuss betrifft (Klischee der „schönen Natur“, „Lied der Spatzen“) – die Begegnung mit der Natur eine biedermeierliche Sonntagsbelustigung (an Werktagen haben die Philister anderes zu tun)

3. Bedeutungsspektrum von „romantisch“: auf die Literatur in der (afrz.) Volkssprache bezogen; im Roman vorkommend; unwirklich, überspannt, schwärmerisch; auf ein Naturgefühl oder eine Landschaft bezogen; Gegensatz zu antik, auf die moderne Literatur bezogen; poetischhier: als ironische Entlarvung des falschen Naturgefühls der Philister (der wahre Romantiker sperrt die Natur aus!)

4. Der Gegensatz Philister/Künstler-Ich findet sich auch im Spiegel-Interview mit Claus Peymann von 1984 (damals noch Schauspieldirektor in Bochum): die Philister heißen „Torfköpfe“, die Ahnungslosigkeit, das hübsche Äußere, die gute Laune finden sich ebenfalls wieder.Freilich ironisiert Heine auch die Haltung des lyrischen Ich als Pose. Zwar wird die unglückliche Liebe hochromantisch als Wiedergängerin aus dem Toten-reich personifiziert – aber die Schauerromantik wird biedermeierlich gedämpft: das Gespenst der unglücklichen Liebe macht ganz konventionell einen Besuch und setzt sich artig zum Sprecher des Gedichts!Das Gedicht ist ein Beleg für den typischen Heine-Ton der „maliziös-sentimen-talen Lieder“ (Heine an Immermann, s. Kortländer, Heinrich Heine, Stuttgart 2003, S.94). „Heines eigenes Poesie-Konzept basiert zwar auf einem strikten Festhalten an der Autonomie der Kunst, an der Eigengesetzlichkeit der Kunstwelt und ihren Eigenrechten gegenüber der gesellschaftlichen Welt, enthält aber die Einsicht, dass Kunstwelt und ‚wirkliche Welt’ auch im Medium der Poesie nicht einfach zur Deckung gebracht werden können, sondern im

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Gegenteil ihr Abstand unüberbrückbar geworden ist.“ (Kortländer, a.a.O., S.96)

BEISPIEL 2: EPIK (ROMAN)

Text„Ja, wenn ich durchaus sprechen soll, er denkt sich dabei, daß ein Mann wie Landrat Baron Innstetten, der jeden Tag Ministerialdirektor oder dergleichen werden kann (denn glauben Sie mir, er ist hoch hinaus), daß ein Mann wie Baron Innstetten nicht in einem gewöhnlichen Hause wohnen kann, nicht in einer solchen Kate wie die landrätliche Wohnung, ich bitte um Vergebung, gnädigste Frau, doch eigentlich ist. Da hilft er denn nach. Ein Spukhaus ist nie was Gewöhnliches... Das ist das eine.“„Das eine? Mein Gott, haben Sie noch etwas?“„Ja.“„Nun denn, ich bin ganz Ohr. Aber wenn es sein kann, lassen Sie's was Gutes sein.“„Dessen bin ich nicht ganz sicher. Es ist etwas Heikles, beinah Gewagtes, und ganz besonders vor Ihren Ohren, gnädigste Frau.“„Das macht mich nur um so neugieriger.“„Gut denn. Also Innstetten, meine gnädigste Frau, hat außer seinem brennenden Verlangen, es koste, was es wolle, ja, wenn es sein muß unter Heranziehung eines Spuks, seine Karriere zu machen, noch eine zweite Passion: er operiert nämlich immer erzieherisch, er ist der geborene Pädagog [...].“„Und will er mich auch erziehen? Erziehen durch Spuk?“„Erziehen ist vielleicht nicht das richtige Wort. Aber doch erziehen auf einem Umweg.“„Ich verstehe Sie nicht.“„Eine junge Frau ist eine junge Frau, und ein Landrat ist ein Landrat. Er kutschiert oft im Kreise umher, und dann ist das Haus allein und unbewohnt. Aber solch Spuk ist wie ein Cherub mit dem Schwert...“„Ah, da sind wir wieder aus dem Walde heraus“, sagte Effi. „Und da ist Utpatels Mühle. Wir müssen nur noch an dem Kirchhof vorüber.“Gleich danach passierten sie den Hohlweg zwischen dem Kirchhof und der eingegitterten Stelle, und Effi sah nach dem Stein und der Tanne hinüber, wo der Chinese lag.

(alte Rechtschreibung)

aus: Theodor Fontane, Effi Briest, 16. Kapitelzitiert nach: Theodor Fontane, Werke, Schriften und Briefe, Abteilung I, Vierter Band, München (Hanser) 1974, S.132f.

Aufgabenstellung1. Zeigen Sie, welche Funktion der Dialog zwischen Effi und Major Crampas für

die Handlung des Romans hat.2. „Was sie reden, wie sie reden und wo sie reden, gibt ihnen Profil“ (Hans Albert

Glaser über Fontanes Figuren). Untersuchen Sie, inwiefern Form und Inhalt des Dialogs die Beziehung zwischen Effi und Crampas charakterisieren.

3. Weisen Sie Fontanes literarische Technik der symbolischen und antizipierenden Motive an dem Textausschnitt nach.

4. Erörtern Sie, inwiefern sich diese Technik auch in Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig wiederfinden lässt.

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[Differenzierungsvorschlag:Grundfach: Aufgaben 1-3Erweiterungsfach:: Aufgaben 1-4]

ERWARTUNGSSKIZZE

1. Einordnung in die Handlung: Effi ist ihrem Mann nach Kessin gefolgt, wo sie sich zu Tode langweilt, es gibt keinen angemessenen gesellschaftlichen Verkehr, ihr Mann hat wenig Zeit für sie. Da kommt das Ehepaar Crampas nach Kessin – mit der Frau ist zwar auch kein gesellschaftlicher Verkehr möglich, wohl aber mit dem Major. Es kommt zunächst zu Ausflügen zu dritt; der Textausschnitt bezieht sich auf einen Ausritt zu zweit, allerdings sind die beiden (noch) begleitet von zwei Dienern.Der Dialog spielt eine wichtige Rolle für die Vorbereitung des Ehebruchs, er zeigt die Taktik von Crampas, Effis Vertrauen in ihren Mann zu erschüttern. Der Roman handelt vom Scheitern einer Ehe, die Textstelle liefert ein wichtiges Handlungselement, das das Scheitern erklärt.

2. Typisch für Fontane ist, dass er seine Figuren Konversation machen lässt, ohne dass sich ein Erzähler einmischt. Effi gibt die Stichworte, lässt sich auch durch die Ankündigung eines heiklen, ja beinah gewagten Sujets nicht zurückhalten, bis sie schließlich das Frage-Antwort-Spiel unterbricht: „Ah, da sind wir wieder aus dem Walde heraus.“ Das Thema ist der Spuk in dem Haus, das Effi und Innstetten bewohnen. Crampas behauptet, Innstetten benutze den Spuk, mit einer doppelten Intention. Der Spuk wertet das wenig repräsentative Haus („eine solche Kate“) auf, macht aus ihm etwas Vornehmes. Crampas bringt diese Absicht in einen Zusammenhang mit dem beruflichen Ehrgeiz von Innstetten (dafür hat Effi selbst durchaus Sinn, deshalb hat sie ihn geheiratet, sie will auch „etwas Apartes“). Als zweites Motiv deutet Crampas Innstettens „erzieherische“ Neigungen an, meint aber die Eifersucht des wesentlich älteren Ehemannes (das geschieht aber nur verdeckt!): Wenn Innstetten dienstlich unterwegs ist, soll gewissermaßen der Spuk auf Effi aufpassen, sie in Schach halten. Das nennt Effi später eine Art „Angstapparat aus Kalkül“. Merkwürdigerweise protestiert Effi nicht gegen diese Deutung. Das zeigt, wie sehr sie getroffen ist, wie gut sie ihren Mann in diesem Bild wiedererkennt.

3. Crampas spricht vom „Cherub mit dem Schwert“. Das ist eine von mehreren Anspielungen auf den biblischen Sündenfall im Roman – und gleichzeitig eine Anspielung auf mögliche sexuelle Verfehlungen. Hoch symbolisch sind auch die Zeilen 24ff. Effis Ausspruch, dass sie wieder aus dem Wald heraus seien, unterbricht das heikle Thema. Der Wald ist auch die Zone der Verführung und Gefahr (diese Konnotation hat Fontane aus der Romantik übernommen; vgl. z.B.: „Es ist schon spät, es ist schon kalt, / Kommst nimmermehr aus diesem Wald“, Eichendorff, Waldgespräch), wo Effi Crampas’ Werben später nachgeben wird. Sie kommen durch einen Hohlweg, der zwischen dem Kirchhof und dem Grab des Chinesen hindurchführt – damit wird Effi sofort wieder an den Gegenstand der Konversation erinnert (die Instrumentalisierung des Spuks durch den Ehemann). Zugleich symbolisiert die Topographie die Nähe von Liebe und Tod, und es ist eine der vielen

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Kirchhofstellen des Romans, mit denen Effis Schicksal antizipiert wird. Für Effi wird es kein Entkommen geben (Hohlweg!).

4. Auch Thomas Mann versieht die Handlung seiner Novelle Der Tod in Venedig mit einem Netz von Anspielungen und Motiven, die das Schicksal Aschenbachs antizipieren. So lässt sich das erste Kapitel als symbolisches Vorspiel der weiteren Handlung deuten: Topographie und Figur des Todes – der Fremde auf dem Friedhof, der Kontrast zwischen Ordnung und Chaos (Aufbruch von der Arbeit und der Traum). In der Wahl und Bedeutung der Motive gibt es im Übrigen Ähnlichkeiten zwischen Thomas Manns und Novelle und Fontanes Roman: das Motiv des Friedhofs, das Motiv des Sumpfes (bei Th. Mann das Gangesdelta mit dem Tiger bzw. Venedig, bei Fontane der Schloon), das Motiv des Meeres.

BEISPIEL 3: DRAMA[für eine Prüfung im Erweiterungsfach]

Text 1GRÄFIN Denkt Ihr, er habe sein bedeutend Leben

In kriegerischer Arbeit aufgewendet,Jedwedem stillen Erdenglück entsagt,Den Schlaf von seinem Lager weggebannt,Sein edles Haupt der Sorge hingegeben,Nur um ein glücklich Paar aus Euch zu machen?Um dich zuletzt aus deinem Stift zu ziehn,Den Mann dir im Triumphe zuzuführen,Der deinen Augen wohlgefällt? – Das hätt’ erWohlfeiler haben können! Diese SaatWard nicht gepflanzt, daß du mit kind’scher HandDie Blume brächest, und zur leichten Zier An deinen Busen stecktest!

THEKLA Was er mir nicht gepflanzt, das könnte dochFreiwillig mir die schönen Früchte tragen.Und wenn mein gütig freundliches GeschickAus seinem furchtbar ungeheuren DaseinDes Lebens Freude mir bereiten will –

GRÄFIN Du siehst’s wie ein verliebtes Mädchen an.Blick’ um dich her. Besinn’ dich, wo du bist[...]. Hier istKein Glanz, als der von Waffen. [...]Du siehst des Vaters Stirn gedankenvoll,Der Mutter Aug’ in Tränen, auf der Waage liegtDas große Schicksal unsers Hauses!Laß jetzt des Mädchens kindische Gefühle,Die kleinen Wünsche hinter dir! Beweise,Daß du des Außerordentlichen Tochter bist!Das Weib soll sich nicht selber angehören,An fremdes Schicksal ist sie fest gebunden,Die aber ist die beste, die sich FremdesAneignen kann mit Wahl, an ihrem HerzenEs trägt und pflegt mit Innigkeit und Liebe.

THEKLA So wurde mir’s im Kloster vorgesagt.Ich hatte keine Wünsche, kannte michAls seine Tochter nur, des Mächtigen,Und seines Lebens Schall, der auch zu mir drang,Gab mir kein anderes Gefühl als dies:Ich sei bestimmt, mich leidend ihm zu opfern.

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GRÄFIN Das ist dein Schicksal. Füge dich ihm willig.Ich und die Mutter geben dir das Beispiel.

THEKLA Das Schicksal hat mir d e n gezeigt, dem ich Mich opfern soll, ich will ihm freudig folgen.

GRÄFIN Dein Herz, mein liebes Kind, und nicht das Schicksal.THEKLA Der Zug des Herzens ist des Schicksals Stimme.

Ich bin die Seine. Sein Geschenk alleinIst dieses neue Leben, das ich lebe.[...]Daß ich mir selbst gehöre, weiß ich nun.

(alte Rechtschreibung)

aus: Friedrich Schiller: Die Piccolomini III, 8, v. 1792-1850zitiert nach: Friedrich Schiller: Wallenstein, hg. von Fritjof Stock, Text und Kommentar, Frankfurt am Main 2000/2005 (Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 3), S.117-119

Text 2Brandauer* ist alles drei: Wallenstein, der kratzige Emporkömmling [...]. Friedländer, ein Machtkopf. Und Albrecht, ein barocker Vollmensch in seinem ganzen reichen Widerspruch [...]. Brandauer hält die Figur offen, aber in größter natürlicher Höhe, eine Kerze, die von beiden Enden brennt. Mit ihm zieht das Spiel an und alle auf seine Höhe, jedenfalls die, die ihm folgen können. Da ist vor allem Elisabeth Rath als Gräfin Terzky. Mit seiner Schwägerin lebt Wallenstein hier das offene Konkubinat, seine Herzogin ist nur die nervenschwache Vorzeigefregatte für das diplomatische Damenprogramm. Die Terzky aber ist seine Büchsenspannerin, die starke Frau, die hinter jedem erfolgreichen Mann steht, zugleich eine große Liebende.

aus der Theaterkritik zu Peter Steins Berliner Wallenstein-Inszenierung von Christopher Schmidt (Süddeutsche Zeitung vom 21.05.2007, S.11)

* Klaus Maria Brandauer spielte in der Berliner Inszenierung den Wallenstein.

Aufgabenstellung1. Stellen Sie kurz den Handlungszusammenhang dar, in den der Text 1 gehört.2. Untersuchen Sie, welche Position die Gräfin Terzky vertritt und wie sie

argumentiert.3. Untersuchen Sie, wie Thekla auf die Argumente der Gräfin reagiert.4. Erörtern Sie das Verhältnis der Gräfin Terzky zu ihrem Schwager Wallenstein

und ziehen Sie dazu die Theaterkritik der Süddeutschen Zeitung (Text 2) heran.

ERWARTUNGSSKIZZE

Eine Frauenszene im „Männerstück“ Wallenstein

1. Im Auftrag von Wallenstein hat Max Piccolomini dessenTochter und Gattin ins Lager begleitet, in der vertrauten Situation der Reise hat sich Zuneigung zwischen Thekla und dem jungen Offizier entwickelt. Die beiden jungen Leute machen sich Hoffnungen, vor allem Max, der ja schon in der Vergangenheit in der besonderen Gunst des Feldherrn gestanden hat. Die Terzkys scheinen die Liebe der beiden zu begünstigen – tatsächlich verfolgen sie eigene Zwecke.

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2. Die Gräfin will Thekla die Liebe zu Max ausreden (vorher hat sie ihn als nicht standesgemäß erklärt), Thekla soll sich stattdessen in das Machtspiel ihres Vaters (und seiner Berater) einfügen. (Möglicherweise denkt die Gräfin auch schon an eine Verbindung mit einem Bewerber aus einem regierenden Haus.) Die Argumentation ist ganz auf die Person Wallensteins abgestellt, der geradezu überlebensgroß erscheint: „sein bedeutend Leben“ (Z.1, das heißt, dass das Leben anderer Personen, z.B. das von Thekla und Max weniger bedeutet!), sein Verzicht auf privates Glück (Z.3), sein „edles Haupt“ (Z.5; vornehmer als die Piccolomini?). Theklas Wünsche werden als „kindisch“ abqualifiziert (Z.11 19, 26; Wechsel in der Anrede: Ihr, Z.1, zu du, ab Z.7!). Schließlich wird ihr gesagt, dass sie als Frau Opfer bringen müsse.

3. Thekla erkennt in den Argumenten der Gräfin das Erziehungsprogramm des adligen Stifts (Z.34), sie fühlt sich aber durch die Liebe zu Max zu einem neuen Lebensentwurf aufgerufen. Indem sie liebt, fühlt sie sich gleichzeitig frei, sich selbst gehörend (Z.49).

4. Der Theaterkritiker der Süddeutschen Zeitung erkennt in der Inszenierung von Peter Stein eine besondere Partnerschaft zwischen Wallenstein und der Gräfin – eine (keineswegs heimliche) Liebesbeziehung, vor allem aber Einigkeit in den politischen Zielen.Der Dialog in der Szene Picc. III,8 bietet passende Belegstellen: Die Gräfin redet vom „großen Schicksal unsers Hauses“ (Z.25), das weist auf ihre ehrgeizigen Pläne hin, die Rivalität mit der Herzogin zeigt sich in der Formulierung: „Ich und die Mutter geben dir das Beispiel.“ (Z.41)

Mögliche Anschlussfrage: ausgehend von Büchners Kritik am Dramatiker Schiller – im Brief über Dantons Tod - „Marionetten mit himmelblauen Nasen“, keine Menschen aus Fleisch und Blut, trifft die Kritik auf die Szene zu?

BEISPIEL 4: DRAMA[für eine Prüfung im Grundfach]

Text 1Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgend ein Mensch ist, oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz –Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit, und in seiner Linken den einzig immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke, und sagte: Vater gib! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!

aus: G.E. Lessing: Eine Duplik [d.h. „eine zweite Erwiderung“], zuerst erschienen Januar 1778, hier zitiert nach: G.E. Lessing, Werke, München (Hanser Verlag) 1979, Band VIII, S.32f.

Text 2Und also; fuhr der Richter fort, wenn ihrNicht meinen Rat, statt meines Spruches, wollt:Geht nur! – Mein Rat ist aber der: ihr nehmt

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Die Sache völlig wie sie liegt. Hat vonEuch jeder seinen Ring von seinem Vater:So glaube jeder sicher seinen RingDen echten. – Möglich; daß der Vater nunDie Tyrannei des Einen Rings nicht längerIn seinem Hause dulden wollen! – Und gewiß;Daß er euch alle drei geliebt, und gleichGeliebt: indem er zwei nicht drücken mögen,Um einen zu begünstigen. – Wohlan!Es eifre jeder seiner unbestochnenVon Vorurteilen freien Liebe nach!Es strebe von euch jeder um die Wette,Die Kraft des Steins in seinem Ring’ an TagZu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut,Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun,Mit innigster Ergebenheit in Gott,Zu Hülf’! Und wenn sich dann der Steine KräfteBei euern Kindes-Kindeskindern äußern:So lad’ ich über tausend tausend JahreSie wiederum vor diesen Stuhl. Da wirdEin weisrer Mann auf diesem Stuhle sitzenAls ich; und sprechen. Geht! – So sagte derBescheidne Richter.

aus: G.E. Lessing: Nathan der Weise, III, 7, v.513ff., zuerst erschienen (Ostern) 1779, hier zitiert nach: G.E.Lessing: Werke, München (Hanser Verlag) 1979, Band II, S.279f.

(alte Rechtschreibung)

Aufgabenstellung1. Ordnen Sie Text 2 in den Zusammenhang des Dramas Nathan der Weise ein.2. Beide Textauszüge haben Lessings Kontroverse mit dem Hamburger Pastor

Goeze zum Hintergrund. Erläutern Sie, was Gegenstand dieser Auseinandersetzung war, und untersuchen Sie, wie die beiden Texte darauf (in Inhalt und Form) reagieren.

3. Zeigen Sie, inwiefern die beiden Textauszüge eine geistige Strömung ihrer Entstehungszeit widerspiegeln.

ERWARTUNGSSKIZZE

1. Die Textstelle ist der Schluss der sog. Ringparabel. Sultan Saladin, in Geldverlegenheit, ist von seiner Schwester Sittah dazu angestiftet worden, Nathan zu erpressen, indem er ihm die Frage nach der wahren Religion vorlegt. Nathan antwortet mit einem „Märchen“, eben der Ringparabel, beschämt damit den Sultan und macht ihn sich zum Freund. Vordergründig ist es ein Beleg dafür, wie Verstand über Gewalt (die sonst angewendet werden soll) triumphiert – und zwar auf beiden Seiten, bei Nathan (dem etwas einfällt) und beim Sultan (der richtig reagiert). Das entspricht der Vorlage, Boccaccios Decamerone. Gerade der Schluss ist aber allein Lessings Zutat!

2. Gegenstand der Auseinandersetzung war ein dogmatischer Streit. Lessing hatte aus dem Nachlass seines Freundes Reimarus die „Fragmente eines Ungenannten“ veröffentlicht, angeblich ein Fund aus „seiner“ Bibliothek in Wolfenbüttel. Das war aber nur Maskerade. In der Schrift vertrat Reimarus

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eine deistische Position (die deutliche Zweifel an der christlichen Offenbarungslehre äußerte). Das rief den orthodoxen Protestanten Goeze auf den Plan, der Lessing scharf angriff und den Schriftsteller schließlich auch bei seiner Obrigkeit denunzierte. Lessing bekam Publikationsverbot, darauf wechselte er die Kanzel und schrieb ein Drama, den Nathan. In beiden Texten kann man seine Position gut erkennen, er unterläuft im Grunde den dogmatischen Streit, indem er die Frage nach der wahren Lehre als unwichtig einstuft: Ihm geht es nicht um eine bestimmte Lehrmeinung, sondern um die praktische Umsetzung, das Streben nach Wahrheit (das erinnert an Goethes Faust) bzw. die Menschenliebe. Form von Text 1: Abhandlung („Traktat“), in die er aber auch eine kleine para-belhafte Geschichte einbaut, Form von Text 2: Parabel als epischer Teil im Drama („vor grauen Jahren lebt’ ein Mann in Osten“). Was ist eine Parabel? Eine Gleichniserzählung, die komplexe philosophische oder theologische Fra-gen zu fassen versucht.

3. Lessings Texte verkörpern das Gedankengut der Aufklärung – gegen Dogmatismus, für Toleranz, Humanität. Zusammenhang mit Kants berühmtem Aufsatz Was ist Aufklärung? (Auch Lessing selber agiert in dem Fragmentenstreit als Aufklärer; seine Dramenfigur Nathan ist ein Mensch, der gegen Dogmatismus und Engstirnigkeit handelt: z.B. Adoption Rechas, die Art und Weise, wie er auf Rechas Wunderglauben reagiert und sie vorsichtig belehrt.)

BEISPIEL 5: POLITISCHE REDE

TextKaiser Wilhelm II.:Rede vor dem Senat der Freien Stadt Hamburg vom 18. 10. 1899 anlässlich des Geburtstages seines verstorbenen Vaters, Kaiser Friedrichs III.

Blicken wir um uns her, wie hat seit einigen Jahren die Welt ihr Antlitz verändert. Alte Weltreiche vergehen, und neue sind im Entstehen begriffen. [...] Erzeugnisse, welche umwälzend wirken auf dem Gebiet internationaler Beziehungen sowohl wie auf dem Gebiete des nationalökonomischen Lebens der Völker und die in alten Zeiten Jahrhunderte zum Reifen brauchten, vollziehen sich in wenigen Monden.Dadurch sind die Aufgaben für unser Deutsches Reich und Volk in mächtigem Umfange gewachsen und erheischen für Mich und Meine Regierung ungewöhnliche und schwere Anstrengungen, die nur dann von Erfolg gekrönt sein können, wenn einheitlich und fest, den Parteiungen entsagend, die Deutschen hinter uns stehen. Es muß dazu aber unser Volk sich entschließen, Opfer zu bringen. Vor allem muß es ablegen seine Sucht, das Höchste in immer schärfer sich ausprägenden Parteirichtungen zu suchen. Es muß aufhören, die Partei über das Wohl des Ganzen zu stellen. Es muß seine alten Erbfehler eindämmen, alles zum Gegenstand ungezügelter Kritik zu machen, und es muß vor den Grenzen Halt machen, die ihm seine eigensten vitalsten Interessen ziehen. Denn gerade diese alten politischen Sünden rächen sich jetzt schwer an unseren Seeinteressen und unserer Flotte. Wäre ihre Verstärkung Mir in den ersten acht Jahren Meiner Regierung trotz inständigen Bittens und Warnens nicht beharrlich verweigert worden, wobei sogar Hohn und

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Spott Mir nicht erspart geblieben sind, wie anders würden wir dann unseren blühenden Handel und unsere überseeischen Interessen fördern können!Doch Meine Hoffnungen, daß der Deutsche sich ermannen werde, sind noch nicht geschwunden. Denn groß und mächtig schlägt die Liebe in ihm zu seinem Vaterlande. Davon zeugen die Oktoberfeuer, die er heute noch auf Bergeshöhen anzündet und mit denen er auch das Andenken an die herrliche Gestalt des heut' geborenen Kaisers1 in der Erinnerung mitfeiert. [...]Nun wohlan, [...] möge unser Volk, in idealer Begeisterung wie die Oktoberfeuer auflodernd, seinem idealen zweiten Kaiser nachstreben und vor allem an dem schönen Bau2 sich freuen und ihn schützen helfen. Stolz auf seine Größe; bewußt seines inneren Wertes; einen jeden fremden Staat in seiner Entwicklung achtend; die Opfer, die seine Weltmachtstellung verlangt, mit Freuden bringend; dem Parteigeist entsagend, einheitlich und geschlossen hinter seinen Fürsten und seinem Kaiser stehend – so wird unser deutsches Volk auch den Hansastädten ihr großes Werk zum Wohle unseres Vaterlandes fördern helfen.

(alte Rechtschreibung)

aus: E. Johann (Hg.): Wilhelm II. von Preußen. Reden des Kaisers, München (dtv) 1966, S.83f.; zit nach Robert Ulshöfer (Hg.): Arbeitsbuch Deutsch. Sekundarstufe II, Sprache und Gesellschaft, Hannover 1983, S. 117

AufgabenstellungAnalysieren Sie den Auszug aus der Rede Wilhelms II. vor dem Senat der Freien Hansestadt Hamburg (18.10.1899) nach

1. Textgegenstand im situativen und historisch-politischen Kontext,2. Auffälligkeiten der (funktionalen) sprachlichen Gestaltung,3. kommunikativer Funktion (nach Bühler).4. Erörtern Sie dabei, inwieweit hier eine politische Rede vorliegt.5. Versuchen Sie sich in einer Stilkritik.

[Differenzierungsvorschlag:Grundfach: Aufgaben 1-3Erweiterungsfach: Aufgaben 1-5]

Hilfen: Wilhelm II. ( *1859, +1941), deutscher Kaiser und König von Preußen (1888-1918), Verfechter deutscher Weltmachtpolitik

1898: Beginn des Schlachtflottenbaus; der Reichstag bewilligt 400 Millionen Mark. Die Flottenaufrüstung, als Instrument deutscher Kolonialpolitik konzipiert, wird von Wilhelm II. gefördert. Sie belastet das Verhältnis zu Großbritannien. 1900: Der Reichstag verabschiedet das „Zweite Flottengesetz“: verstärkter Ausbau der Flotte.

ERWARTUNGSSKIZZE

1. Textgegenstand:

1 Friedrich III., deutscher Kaiser und König von Preußen (1831-1888), Vater Wilhelms und zweiter Kaiser nach der Reichsgründung von 18712 metaphorisch für das Deutsche Reich

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- Situativer Kontext: Rede des Staatsoberhaupts zu feierlichem Anlass in bedeutendster deutscher Hafenstadt vor der Stadtregierung

- Textthema und (Haupt-)Funktion: Appell an das deutsche Volk zu überparteilicher Geschlossenheit und Unterstützung seiner politischen Bestrebungen (die deutsche Flottenpolitik, Weltmachtstellung auch auf den Meeren und in Übersee) angesichts gewandelter globaler Bedingungen

- Politischer Kontext: Flottenpolitik seit 1898

2. Sprachliche Gestaltung und rhetorische Mittel (funktionale Analyse):Auffälligkeiten:- bisweilen Inversionen: vor allem im 2. Textabschnitt: Forderung („muß“) in

Vorderstellung Funktion: Appellverstärkung- Bemühen um hohen Stil (Position des Redners): „Antlitz“ der Welt, „Monden“

statt „Monaten“, „erheischen“- Dominanz des appellativen „muß“- umfangreiche Kontrastierung von Negativformulierungen und schwärmerisch-

pathetischen Positivformulierungen: einerseits „politische Sünden“, „Sucht“ nach „Parteirichtungen“, „Erbfehler“ der „ungezügelten Kritik“, „Hohn und Spott“; andererseits: „Opfer mit Freuden bringend“, „groß und mächtig“, „herrliche Gestalt“, „ideale Begeisterung“, „Stolz auf seine Größe“, „zum Wohle unseres Vaterlandes“

- idealistische Emphase: „Nun wohlan“- Metaphorik: „in idealer Begeisterung wie die Oktoberfeuer auflodernd[es]“ Volk Funktion: Ablehnung und Begeisterung steuern, Opferbereitschaft (zunächst vermutlich in finanzieller Hinsicht) wecken

3. Kommunikative Funktionen (nach Bühler):- Appellfunktion: explizit und dominant – eigentliche Intention der Rede- Ausdrucksfunktion: Selbstdarstellung als vorausschauende Leitgestalt, über

allen Parteiungen, dabei auch Ausdruck persönlichen Gekränktseins angesichts von Widerständen

- Darstellungsfunktion: eher zweitrangig; wenig detaillierter sachlicher Informationsgehalt, informative Aspekte nur allgemein angesprochen (weltwirtschaftliche Entwicklungen und Rolle Deutschlands im globalen Rahmen; politische Widerstände); Aussagen generell wertungsbesetzt

4. Merkmale der politischen Rede- Politische Zielsetzungen und Kritik werden vom Redner bei eigentlich

unpolitischem Anlass (Gedenkfeier für den verstorbenen Kaiser) explizit formuliert;

- dabei politische Ambitionen mit angeblich friedfertigen Motiven („Jeden fremden Staat in seiner Entwicklung achtend“)

5. Aspekte einer Stilkritik- auffällige Selbstdarstellung: ausgeprägter Ich-Bezug im zweiten Abschnitt

(mehrfach in majestätsbezogener Großschreibung: „Mich“, „Meine Regierung“, „Mir“)

- stilistische Ungeschicklichkeiten: letzter Satz im 1. Textabschnitt: Subjekt „Erzeugnisse“ mit unpassendem Prädikat „vollziehen sich“; 3. Textabschnitt: falsches sprachliches Bild: nicht ein Herz „schlägt“ in den Deutschen, sondern

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die Vaterlandsliebe; fragwürdige Bildlichkeit im Schlussabschnitt: Wunsch, das Volk möge „in idealer Begeisterung wie die Oktoberfeuer auflodern“

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