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Das Stichwort Marina Kojer* Alter Ab wann ist ein Mensch alt? https://doi.org/10.1515/spircare-2017-0035 Vorab online veröffentlicht 29. August 2017 1799 wurde Goethe anlässlich der Festveranstaltung zu seinem 50.Geburtstag als edler Greisbegrüßt (Zulehner 2016: 290). Damals lag die Lebenserwartung bei etwa 40Jahren. Heute werden Frauen in Deutschland im Durch- schnitt 83 und Männer 78Jahre alt. Zwischen damals und jetzt liegen Welten! Aber die Zeitschrift des Wiener Senio- renbunds heißt weiterhin unangefochten ab5zig(www. ab5zig.at). Der Soziologe Franz Kolland (2009: 129) nennt die jungen Altendie 50+ Generationund die UDL (Universität des Dritten Lebensalters Göttingen 2017) rich- tet ihr Angebot ausdrücklich an Menschen ab 50. Gehört man also auch im 21.Jahrhundert mit 50 zu den Alten? Der Begriff A.ist nur in weiten Grenzen zu definie- ren, weil Individuen unterschiedlich rasch biologisch al- tern und daher Gleichaltrige in ihrem physischen Zustand und ihrer geistigen Leistungsfähigkeit stark differieren können. Wenn wir annehmen, dass das A.den Zeitraum zwischen 50 und 100 umfasst, sind wir unser halbes Leben lang alt. Aber ohne Zweifel ist ein 50- oder 60-Jähriger anders altals ein 90-Jähriger! Um den gravierenden Differenzen einigermaßen Rechnung zu tragen, unter- scheidet man grob zwischen dem dritten LebensA. den jungen Alten“– und einem vierten für Menschen im hohen A. Das dritte LebensA. Von der Verbesserung der Lebensbedingungen in den letz- ten Jahrzehnten, von gesundheitlichen und gesellschaftli- chen Fortschritten und neuen Möglichkeiten zur Teilhabe profitieren in erster Linie die Menschen im dritten Leben- sA. Der Zeitraum, den dieses umfasst, ist nicht eindeutig definiert. So versteht z.B. Kolland (2009) darunter die 50- bis 75-Jährigen, Andreas Kruse (2017) hingegen Menschen zwischen 60 und 80 oder sogar 85. Wo auch immer die Grenzen angesetzt werden, stets sind Individuen mit weit- gehend erhaltenen körperlichen und geistigen Kräften ge- meint, die aktiv und mobil sind und ein selbstständiges Leben führen. Sie können jetzt die Chancen der späten Freiheit(Rosenmayr 1983) nützen, um Wünsche oder Le- bensträume zu verwirklichen, die in Zeiten der Berufstätig- keit unerfüllbar waren. In den Jahrzehnten des dritten LebensA.s schreitet der A.ungsprozess beständig fort: allmählich verändert sich Vieles. Chronische Krankheiten treten auf und nehmen zu, körperliche und geistige Leistungseinbußen machen sich bemerkbar. Muskelkraft und Gedächtnis lassen nach, man ermüdet rascher als früher, braucht längere Erholungs- pausen. Die Teilhabe an sportlichen und kulturellen Ange- boten wird mühsamer, erfordert zunehmend sorgfältige Planung und große Disziplin. Das soziale Netz wird löch- riger. Beziehungen zu Berufsfreunden lockern sich zuneh- mend, ältere Angehörige und Freunde werden pflegebe- dürftig und sterben weg. Wenn der achtzigste Geburtstag in Sichtweite kommt, mehrt sich die Zahl der an Demenz Erkrankten. Das vierte LebensA. Gelegentlich berichten die Medien von 90-jährigen Mara- thonläufern oder von 100-Jährigen, die noch geistige Hochleistungen vollbringen. Für das Gros der Menschheit ist das hohe A. jedoch die Zeit chronisch fortschreitender Erkrankungen, zunehmender Leistungseinbußen und Ver- luste. Die Wahrscheinlichkeit, an Demenz zu erkranken, steigt weiter an. Einsamkeit und Isolation drohen: ich habe nur mehr liebe Menschen auf dem Friedhof. Die Lebenskraft lässt nach, zugleich nimmt die körperliche und seelische Vulnerabilität zu. Hilfsbedürftigkeit und Ab- hängigkeit stellen sich ein. Das Wohlbefinden hängt von gesundheitlichen Faktoren, aber in großem Ausmaß auch von günstigen Umweltfaktoren ab. Oberflächlich betrachtet könnte man das hohe A. als reines Verlustgeschäft sehen: Alles wird schlechter und am Ende steht der Tod. Eine solche Schau wird diesem Lebensabschnitt jedoch in keiner Weise gerecht, lässt sie *Korrespondenzautorin: Marina Kojer, Wien, E-Mail: [email protected] Spiritual Care 2017; 6(4): 433434 Angemeldet | [email protected] Heruntergeladen am | 17.01.18 13:52

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Das Stichwort

Marina Kojer*

AlterAb wann ist ein Mensch alt?

https://doi.org/10.1515/spircare-2017-0035

Vorab online veröffentlicht 29. August 2017

1799 wurde Goethe anlässlich der Festveranstaltung zuseinem 50. Geburtstag als „edler Greis“ begrüßt (Zulehner2016: 290). Damals lag die Lebenserwartung bei etwa40 Jahren. Heute werden Frauen in Deutschland imDurch-schnitt 83 und Männer 78 Jahre alt. Zwischen damals undjetzt liegen Welten! Aber die Zeitschrift des Wiener Senio-renbunds heißt weiterhin unangefochten „ab5zig“ (www.ab5zig.at). Der Soziologe Franz Kolland (2009: 129) nenntdie „jungen Alten“ die „50+ Generation“ und die UDL(Universität des Dritten Lebensalters Göttingen 2017) rich-tet ihr Angebot ausdrücklich an Menschen ab 50. Gehörtman also auch im 21. Jahrhundert mit 50 zu den Alten?

Der Begriff „A.“ ist nur in weiten Grenzen zu definie-ren, weil Individuen unterschiedlich rasch biologisch al-tern und daher Gleichaltrige in ihrem physischen Zustandund ihrer geistigen Leistungsfähigkeit stark differierenkönnen. Wenn wir annehmen, dass „das A.“ den Zeitraumzwischen 50 und 100 umfasst, sind wir unser halbes Lebenlang alt. Aber ohne Zweifel ist ein 50- oder 60-Jähriger„anders alt“ als ein 90-Jähriger! Um den gravierendenDifferenzen einigermaßen Rechnung zu tragen, unter-scheidet man grob zwischen dem dritten LebensA. – den„jungen Alten“ – und einem vierten für Menschen imhohen A.

Das dritte LebensA.

Von der Verbesserung der Lebensbedingungen in den letz-ten Jahrzehnten, von gesundheitlichen und gesellschaftli-chen Fortschritten und neuen Möglichkeiten zur Teilhabeprofitieren in erster Linie die Menschen im dritten Leben-sA. Der Zeitraum, den dieses umfasst, ist nicht eindeutigdefiniert. So versteht z. B. Kolland (2009) darunter die 50-bis 75-Jährigen, Andreas Kruse (2017) hingegen Menschenzwischen 60 und 80 oder sogar 85. Wo auch immer die

Grenzen angesetzt werden, stets sind Individuen mit weit-gehend erhaltenen körperlichen und geistigen Kräften ge-meint, die aktiv und mobil sind und ein selbstständigesLeben führen. Sie können jetzt die Chancen der „spätenFreiheit“ (Rosenmayr 1983) nützen, um Wünsche oder Le-bensträume zu verwirklichen, die in Zeiten der Berufstätig-keit unerfüllbar waren.

In den Jahrzehnten des dritten LebensA.s schreitet derA.ungsprozess beständig fort: allmählich verändert sichVieles. Chronische Krankheiten treten auf und nehmen zu,körperliche und geistige Leistungseinbußen machen sichbemerkbar. Muskelkraft und Gedächtnis lassen nach, manermüdet rascher als früher, braucht längere Erholungs-pausen. Die Teilhabe an sportlichen und kulturellen Ange-boten wird mühsamer, erfordert zunehmend sorgfältigePlanung und große Disziplin. Das soziale Netz wird löch-riger. Beziehungen zu Berufsfreunden lockern sich zuneh-mend, ältere Angehörige und Freunde werden pflegebe-dürftig und sterben weg. Wenn der achtzigste Geburtstagin Sichtweite kommt, mehrt sich die Zahl der an DemenzErkrankten.

Das vierte LebensA.

Gelegentlich berichten die Medien von 90-jährigen Mara-thonläufern oder von 100-Jährigen, die noch geistigeHochleistungen vollbringen. Für das Gros der Menschheitist das hohe A. jedoch die Zeit chronisch fortschreitenderErkrankungen, zunehmender Leistungseinbußen und Ver-luste. Die Wahrscheinlichkeit, an Demenz zu erkranken,steigt weiter an. Einsamkeit und Isolation drohen: „ichhabe nur mehr liebe Menschen auf dem Friedhof“. DieLebenskraft lässt nach, zugleich nimmt die körperlicheund seelische Vulnerabilität zu. Hilfsbedürftigkeit und Ab-hängigkeit stellen sich ein. Das Wohlbefinden hängt vongesundheitlichen Faktoren, aber in großem Ausmaß auchvon günstigen Umweltfaktoren ab.

Oberflächlich betrachtet könnte man das hohe A. alsreines Verlustgeschäft sehen: Alles wird schlechter undam Ende steht der Tod. Eine solche Schau wird diesemLebensabschnitt jedoch in keiner Weise gerecht, lässt sie

*Korrespondenzautorin: Marina Kojer,Wien,E-Mail: [email protected]

Spiritual Care 2017; 6(4): 433–434

Angemeldet | [email protected] am | 17.01.18 13:52

doch die Potenziale Hochaltriger völlig außer Acht! „Zuden Stärken des höheren und hohen A.s gehört [...] wei-terhin die Fähigkeit, Möglichkeiten und Grenzen eigenenHandelns differenziert wahrzunehmen und zu bewerten.Schließlich ist die wachsende Fähigkeit und Bereitschaftalter Menschen zu nennen, Unsicherheit zu ertragen, eige-ne Werturteile zu relativieren sowie in Grenzsituationeneine positive Lebenseinstellung zu bewahren“ (Kruse 2017:26). Das sind bemerkenswerte Fähigkeiten, die Jüngeresehr oft vermissen lassen! Wissen und Erfahrungen desgelebten Lebens, „die vollen Scheunen der Vergangen-heit“ (Frankl 1982: 56) geben Lebenszufriedenheit undhelfen Hochbetagten, den Überblick zu bewahren undSituationen zu beurteilen. Nicht zuletzt kann der Erfah-rungsschatz vieler Jahrzehnte an Jüngere weitergegebenwerden. Zudem schließen zunehmende Verluste Freude,Lernbereitschaft, Offenheit für Neues und Kreativität in derLösung von altersbedingten Problemen nicht aus. „Men-schen sind in allen Lebensabschnitten immer auch aktiveGestalter ihrer eigenen Entwicklung“ (Kruse 2017: 58).

Wie der Moraltheologe Günter Virt in einem seinerVorträge ausführte, ist das Leben für glaubensferne Men-schen um eine Ewigkeit kürzer. Wohl auch deshalb neh-men Religiosität und Spiritualität bei Menschen, derenLebensende näher rückt – und das sind im hohen A. alle! –an Bedeutung zu. Sie werden zu einer wichtigen Ressour-ce, die hilft, ein Leben mit zunehmenden Verlusten an-zunehmen und sich auf den Tod vorzubereiten. Hier eröff-net sich ein riesiges Arbeitsfeld für Spiritual Care: Ein Feld,das bisher traurigerWeise noch weitgehend brachliegt.

Das hohe A. als gesellschaftlicheAufgabe undmitmenschlicheVerpflichtung

Die Anthropologin Margaret Mead beschrieb in ihrer Stu-die „Coming of age in Samoa“ (Mead 1928) den zu jenerZeit auf der Insel herrschenden Brauch, alte Menscheneinmal im Jahr auf einen Baum zu setzen und diesen Baumkräftig zu schütteln. Wem es gelang, oben zu bleiben, derdurfte ein weiteres Jahr leben. Solche rüden Sitten herr-schen in unserer –wie wir postulieren ethisch hochstehen-den – Zivilisation freilich nicht mehr. Dennoch bleibt esauch heute „unklar, auf welche moralischen Fundamente

die Erhaltung und Pflege des stark hilfsbedürftigen [...]greisen Lebens [...] sich in Zukunft wird stützen können“(Rosenmayr 2003: 316).

Nimmt unsere Gesellschaft Hochbetagte tatsächlichals Gleichwertige und Gleichwürdige wahr? Erfahren sehralte Menschen trotz zunehmender Hilflosigkeit durch-gehend Respekt und Wertschätzung? Die immer alltägli-cher werdenden Diskussionen über Sterbehilfe sprecheneine deutliche Sprache: Offenbar möchten derzeit vieleMenschen lieber sterben als pflegebedürftig und auf ande-re angewiesen zu sein (Pleschberger 2009).

Menschen im hohen A. sind in besonders hohem Aus-maß auf Hilfe und Unterstützung angewiesen, auf Ver-ständnis, Zuwendung und gelingende Kommunikation.Nur dann können sie sich als wertvolle Mitglieder derGesellschaft fühlen, ihre Potenziale entfalten, Freude erle-ben und bis zuletzt ein gutes, erfülltes Leben führen.

Undwünschenwir uns das nicht alle?

Literatur

Frankl V (1982) Der Wille zumSinn. Bern: Hans Huber.Kolland F (2009) Alltag im Alter. (online). In: Bundesministerium für

Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz (Hg.) Hochaltrigkeitin Österreich. Eine Bestandsaufnahme (online). Wien: Bundes-ministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz.127–158. (Zitierdatum: 13.6.2017), abrufbar unter www.sopol.at/document/download/hochaltrigkeit-in-oesterreich-eine-bestandsaufnahme.

Kruse A (2017) Lebensphase hohes Alter. Verletzlichkeit und Reife.Berlin: Springer.

Mead M (1928) Coming of age in Samoa. New York: WilhelmMorrow.Pleschberger S (2009) Leben und Sterben inWürde. Palliative Care

und Hospizarbeit. In: Bundesministerium für Arbeit, Sozialesund Konsumentenschutz (Hg.) Hochaltrigkeit in Österreich. EineBestandsaufnahme (online). Wien: Bundesministerium fürArbeit, Soziales und Konsumentenschutz. 465–500. (Zitierda-tum: 13.6.2017), abrufbar unter www.sopol.at/document/down-load/hochaltrigkeit-in-oesterreich-eine-bestandsaufnahme.

Rosenmayr L (1983) Späte Freiheit. Berlin: Severin und Siedler.Rosenmayr L (2003) Entwicklungen im späten Leben: Realitäten und

Pläne. In: Rosenmayr L, Böhmer F (Hg.) Hoffnung A. Wien: Facul-tas.

Universität des Dritten LebensAlters.s, Georg-August-UniversitätGöttingen (2017) UDLWissenschaftliche Fortbildung fürMenschen ab 50 (online). (Zitierdatum 05.07.2017), abrufbarunter www.uni-goettingen.de/de/12491.html.

Zulehner PM (2016)Mitgift. Ostfildern: Patmos.

434 Marina Kojer: Alter

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