Adam Smith: Optimistischer Liberalismus · Einige markante Züge seines Charakters, herausgearbeit...

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Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte 1 Adam Smith: Optimistischer Liberalismus I. Definition der Klassik 1. Gemäss der üblichen Definition ist die Klassik - wie die moderne Neoklassik - ein System der ökonomischen Theorie des Liberalismus. Im Vordergrund stehen das tauschende Individuum und die Wirtschaftsfreiheit, die Freiheit irgendein Gut zu produzieren oder zu handeln (Handels- und Gewerbefreiheit). Auch wird im Sinne des römischen Rechts der Begriff des Privateigentums in einem absoluten Sinne gefasst. In diesem System der Wirtschaftsfreiheit wird die Wirtschaft als ein quasi-autonomer Bereich betrachtet, für den der Staat nur die Rahmenbedingungen setzt. Diese Definition der Klassik ist vor allem verbunden mit dem Werk von Adam Smith. Dieses ist eine Reaktion gegen den Merkantilismus, mit seinen Reglementierungen, staatlichen Privilegien und Monopolen, die die Wirtschaft in den Dienst des Staates zwangen. 2. Ein anderer Begriff der 'Klassik' wurde geprägt von Karl Marx, der alle Arbeitswerttheoretiker von William Petty (Mitte des 17. Jh.) bis David Ricardo (Beginn des 19. Jh.) als Klassische Ökonomen bezeichnete. Hier ist der Ausgangspunkt der soziale Produktionsprozess und die Gesellschaft. 3. Dies bedeutet, dass die Klassische Schule der Nationalökonomie nicht homogen ist. Tatsächlich gibt es grundlegende Unterschiede zwischen den verschiedenen Klassikern. Von besonderer Bedeutung sind die Differenzen, die zwischen Adam Smith und David Ricardo bestehen: Adam Smith geht aus vom Individuum und vom Tausch und ist als solcher der Begründer der Wirtschaftswissenschaften. Hier verwandelt sich Newtons Harmonie der Sphären über die natürliche Ordnung von Adam Smith in die moderne neoklassische Konzeption des Marktgleichgewichts. Die Entwicklungslinie der Wirtschaftswissenschaften geht also aus von Adam Smith, verläuft über Jean-Baptiste Say und verschiedene Vorläufer der Neoklassik und kulminiert in der marginalistischen Revolution von 1870 mit William Stanley Jevons, Léon Walras, Alfred Marshall und Carl Menger. Von diesen vier Autoren geht die ganze moderne liberale (neoklassische) Wirtschaftstheorie in ihren verschiedenen Varianten aus. Im Besonderen baut die ganze Textbuchliteratur auf Marshalls Principles of Economics auf. Der Ausgangspunkt von David Ricardo dagegen ist die Gesellschaft (Verwendung des sozialen Überschusses) und der soziale Produktionsprozess, der eine Arbeitswerttheorie impliziert.

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Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte

1

Adam Smith: Optimistischer Liberalismus

I. Definition der Klassik

1. Gemäss der üblichen Definition ist die Klassik - wie die moderne Neoklassik - ein System der

ökonomischen Theorie des Liberalismus. Im Vordergrund stehen das tauschende Individuum und

die Wirtschaftsfreiheit, die Freiheit irgendein Gut zu produzieren oder zu handeln (Handels- und

Gewerbefreiheit). Auch wird im Sinne des römischen Rechts der Begriff des Privateigentums in

einem absoluten Sinne gefasst. In diesem System der Wirtschaftsfreiheit wird die Wirtschaft als

ein quasi-autonomer Bereich betrachtet, für den der Staat nur die Rahmenbedingungen setzt.

Diese Definition der Klassik ist vor allem verbunden mit dem Werk von Adam Smith. Dieses ist

eine Reaktion gegen den Merkantilismus, mit seinen Reglementierungen, staatlichen Privilegien

und Monopolen, die die Wirtschaft in den Dienst des Staates zwangen.

2. Ein anderer Begriff der 'Klassik' wurde geprägt von Karl Marx, der alle Arbeitswerttheoretiker

von William Petty (Mitte des 17. Jh.) bis David Ricardo (Beginn des 19. Jh.) als Klassische

Ökonomen bezeichnete. Hier ist der Ausgangspunkt der soziale Produktionsprozess und die

Gesellschaft.

3. Dies bedeutet, dass die Klassische Schule der Nationalökonomie nicht homogen ist.

Tatsächlich gibt es grundlegende Unterschiede zwischen den verschiedenen Klassikern. Von

besonderer Bedeutung sind die Differenzen, die zwischen Adam Smith und David Ricardo

bestehen:

Adam Smith geht aus vom Individuum und vom Tausch und ist als solcher der Begründer der

Wirtschaftswissenschaften. Hier verwandelt sich Newtons Harmonie der Sphären über die

natürliche Ordnung von Adam Smith in die moderne neoklassische Konzeption des

Marktgleichgewichts. Die Entwicklungslinie der Wirtschaftswissenschaften geht also aus von

Adam Smith, verläuft über Jean-Baptiste Say und verschiedene Vorläufer der Neoklassik und

kulminiert in der marginalistischen Revolution von 1870 mit William Stanley Jevons, Léon

Walras, Alfred Marshall und Carl Menger. Von diesen vier Autoren geht die ganze moderne

liberale (neoklassische) Wirtschaftstheorie in ihren verschiedenen Varianten aus. Im Besonderen

baut die ganze Textbuchliteratur auf Marshalls Principles of Economics auf.

Der Ausgangspunkt von David Ricardo dagegen ist die Gesellschaft (Verwendung des sozialen

Überschusses) und der soziale Produktionsprozess, der eine Arbeitswerttheorie impliziert.

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Von Ricardo gehen verschiedene Entwicklungslinien aus: eine führt zur Neoklassik

(Marginalprinzip); eine zweite zur ökonomischen Theorie des Sozialismus (Arbeitswerttheorie,

Überschussprinzip und Ausbeutungstheorie); eine dritte Entwicklungslinie mündet in die

Klassisch-Keynesianische Synthese ein [Klassik (Ricardo): Wert und Verteilung; Keynes:

Beschäftigung]. Diese dritte Entwicklungslinie, die Entwicklungslinie der Politischen Ökonomie

geht aus von François Quesnay (Natur im Vordergrund) und David Ricardo (Arbeit im Zentrum),

verläuft über Karl Marx (Produktion als Interaktion von Mensch und Natur) und Maynard Keynes

(Geld und Beschäftigung); auf diesen Autoren baut die post-Keynesianische und die klassisch-

Keynesianische Politische Ökonomie auf.

4. Auf politischer Ebene geht die Klassik einher mit dem politischen Liberalismus, der eine

Reaktion gegen den Absolutismus darstellt. Hier dominierte der souveräne Staat über das

Individuum, das nur als ein Teil der Gesellschaft betrachtet und vielfach brutal behandelt wurde.

Der politische Liberalismus dagegen postuliert Menschenrechte und Demokratie. Das Individuum

steht im Prinzip vor dem Staat.

II. Vorbemerkungen und geistiger Rahmen

1. Das Hauptwerk von Adam Smith: "Eine Untersuchung über die Natur und die Ursachen des

Reichtums der Nationen" (veröffentlicht 1776).

a) Einmal handelt es sich um das erste systematische Werk der Volkswirtschaftslehre.

Wieso hat gerade gegen Ende des 18. Jh. systematisches Denken über wirtschaftliche Probleme

eingesetzt?

In den relativ einfachen traditionellen Wirtschaften bestand kein Bedürfnis, wirtschaftliche

Phänomene wie z.B. den Preis systematisch zu erklären (wurden Erklärungen vorgenommen,

geschah dies im Rahmen der Ethik; z.B. wurde nach dem gerechten Preis gefragt).

Die Industrielle Revolution in England sowie die Politische Revolution in Frankreich erhöhten

die Komplexität des wirtschaftlichen Lebens in ungeahntem Ausmass. Es entstanden

Arbeitsteilung, Fabriken und ein Geld- und Finanzsektor. Die Erklärung der ökonomischen

Phänomene (Preisbildung und Verteilung z.B.) erforderte nun ein systematisches Vorgehen. D.h.

es musste eine Wirtschaftstheorie geschaffen werden, die systematisches Denken über

wirtschaftliche Phänomene impliziert. Adam Smith hat als erster eine umfassende

Wirtschaftstheorie erarbeitet. Damit entsprach er einem Erfordernis seiner Zeit.

b) Der "Reichtum der Nationen" beschäftigt sich also systematisch mit ökonomischen

Phänomenen, mit Wert, Verteilung, Geld, Wachstum und Entwicklung.

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Nur das Beschäftigungsproblem, das bei den Merkantilisten noch die zentrale Rolle spielte,

verschwindet völlig aus dem Blickfeld von Adam Smith. Sein Denksystem impliziert, dass die

Marktkräfte langfristig eine Tendenz zu Vollbeschäftigung bewirken.

Wegen seiner theoretischen Leistung wird Adam Smith von den meisten heutigen Ökonomen als

Begründer der Volkswirtschaftslehre betrachtet.

Diese Konvention ist allerdings nicht unbestritten. Wenn man nur die theoretische Leistung

betrachtet, könnte man auch andere Autoren als Begründer der VWL betrachten, z.B. François

Quesnay, Richard Cantillon, A.R.J. Turgot, den Italiener Cesare Beccaria, den Schumpeter

(History 1954, pp. 179ff.) den italienischen Adam Smith nennt oder schliesslich der Schotte

James Steuart - der letzte Merkantilist -, der als direkter Vorläufer von J.M. Keynes gelten kann.

Wieso hat sich aber Adam Smith schliesslich durchgesetzt?

- Grossbritannien war schon in der zweiten Hälfte des 18. Jh. die führende Weltmacht. Andere

europäische Länder nahmen GB als Beispiel und versuchten, es nachzuahmen, auch im Bereich

der ökonomischen Theorie und in der Wirtschaftspolitik. Somit wurde Adam Smith als

bedeutendster britischer Ökonom in Europa allgemein bekannt.

- Das Gesamtwerk von Adam Smith ('Der Wohlstand der Nationen' und 'Die Theorie der

ethischen Gefühle') stellt eine Weltanschauung dar, diejenige des Liberalismus. Das Individuum

und individuelle Ziele stehen im Vordergrund, der Staat hat nur die Voraussetzungen für die

Entfaltungsmöglichkeiten der Einzelnen zu schaffen, vor allem für die wirtschaftlichen und

politischen.

Die liberale Weltanschauung entsprach den Ambitionen des bürgerlichen Standes (Kaufleute,

Industrielle und aufgeklärte Intellektuelle). Deshalb wurde das Hauptwerk von Adam Smith vom

Bürgertum mit Begeisterung aufgenommen.

- Der "Wohlstand der Nationen" hat sich auch wegen seiner Qualitäten durchgesetzt: Das Buch

ist gut aufgebaut, glänzend und leicht verständlich geschrieben und zeichnet sich durch eine

gelungene Verbindung von theoretischem Denken und geschichtlicher Betrachtungsweise dar.

Die Theorie beschreibt den anzustrebenden liberalen oder natürlichen Zustand einer

Volkswirtschaft, die geschichtlichen Passagen tatsächliche Entwicklungsvorgänge. Zwischen

dem Soll- und dem Istzustand besteht allerdings immer ein Spannungsverhältnis.

2. Biographische Notizen

1723: geboren in Kirkaldy, einer kleinen Stadt an der schottischen Ostküste, als Sohn eines

hochgestellten Staatsbeamten. Sein Vater starb noch vor seiner Geburt.

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1737-40: Glasgow University (Studium der Philosophie bei Francis Hutchison; auch

Mathematikvorlesungen)

1740-46: Balliol College, Oxford (Philosophie; lateinische und griechische Literatur)

1746-51: Vorlesungen in Rhetorik an der Universität Edinburgh

1751: Professor für Logik an der Universität Glasgow

1752-63: Als Nachfolger seines Lehrers Francis Hutchison Professor für Moralphilosophie an der

Universität Glasgow.

1759: "The Theory of Moral Sentiments" (Die Theorie der ethischen Gefühle)

1764: Adam Smith gibt seine Professur auf und wird Privatlehrer eines jungen schottischen

Herzogs, mit dem Adam Smith ausgedehnte Reisen durch Frankreich unternimmt. Dort traf er

mit führenden Denkern der damaligen zusammen, u.a. mit Voltaire, Quesnay und Turgot.

Von Quesnay übernahm er das Konzept der natürlichen Ordnung, das er weiterentwickelte (u.a.

postulierte er eine wachsende Wirtschaft und nicht, wie Quesnay, eine stationäre; auch ist die

Arbeit, nicht die Natur, der grundlegende Produktionsfaktor). Methodisch gesehen wurde Adam

Smith von Quesnays Denken in gesamtwirtschaftlichen Grössen beeinflusst. Bereits in

Frankreich begann er am "Wohlstand der Nationen" zu schreiben. 1766 kehrte er nach Schottland

zurück und veröffentlichte sein Hauptwerk 1776. 1777 liess er sich in Edinburgh nieder und

wurde "Commissioner of Customs" (Zollaufseher); 1787 wurde er Rektor der Universität

Glasgow. Beide Stellungen hielt er bis zu seinem Tode im Jahre 1790 inne.

Einige markante Züge seines Charakters, herausgearbeit von seinem Biographen Dugald Stewart

(in H.C. Recktenwald: Geschichte der Politischen Ökonomie, Stuttgart 1971, 70-73):

Kennzeichnend für Adam Smiths Charakter war die Schlichtheit seines Wesens. Er war sicher

nicht geeignet für die Auseinandersetzung mit den Wechselfällen des Alltags oder des

Geschäftslebens. Seit seiner Jugend war er ständig in die Welt seiner Gedanken versponnen und

so von der Fülle und Mannigfaltigkeit seiner Ideen gefesselt, dass er für gewöhnlich schon

bekannten oder alltäglichen Angelegenheiten keine Beachtung schenkte. Häufig war er zerstreut

und geistesabwesend. Überraschenderweise erinnerte er sich noch nach Jahren der

geringfügigsten Kleinigkeiten. Wie viele zerstreute Menschen besass er die ungewöhnliche

Fähigkeit, Vorgänge, die der Aufmerksamkeit im Augenblick scheinbar entgehen, ins

Unterbewusstsein aufzunehmen und sich ihrer zu gegebener Zeit zu erinnern. Es mag teilweise

dieser Eigenschaft zuzuschreiben sein, dass er sich einerseits nicht ohne Schwierigkeit einer

Unterhaltung anschloss, andererseits aber dazu neigte, die eigenen Ansichten dozierend

vorzutragen. Damit verfolgte er allerdings keine Absicht, denn er wollte weder die Unterhaltung

an sich reissen, noch seiner Eitelkeit schmeicheln. Die Neigung, den Unterhaltungen seiner

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Umgebung als schweigsamer Beobachter zu folgen, veranlasste seine Freunde des Öfteren, ein

ganz bestimmtes, ihn interessierendes Thema zu verabreden und ins Gespräch zu bringen, um ihn

damit in eine Diskussion ziehen zu können.

Die Meinung, die er sich nach kurzer Bekanntschaft über jemanden bildete, war häufig irrig, doch

neigte er seiner Natur nach weit mehr zu blinder Parteinahme als zu Voreingenommenheit. Da er

gewöhnt war, das menschliche Tun im grossen Zusammenhange zu sehen, nahm er sich weder

Zeit noch Mühe, im Einzelnen auf die wenig interessanten Eigenheiten unbedeutender Charaktere

zu achten. So konnte es trotz seiner intimen Kenntnis selbst der differenziertesten Regungen des

Geistes und der Seele und trotz des Einfühlungsvermögens, mit welchem er in seinen Theorien

alle Schattierungen von der schöpferischen Kraft bis zur Leidenschaft beschrieb, vorkommen,

dass sein Urteil überraschend weit von der Wahrheit entfernt war. Auch die Ansichten, die er im

geselligen Kreis unbekümmert und freimütig über Bücher und theoretische Fragen äusserte,

waren nicht alle so, wie man es von einem Manne seiner überragenden Intelligenz und der

einmaligen Folgerichtigkeit seiner philosophischen Grundsätze hätte erwarten dürfen. Sie waren

nicht selten von irgendwelchen Umständen oder der Stimmung des Augenblicks beeinflusst und

liessen, wurden sie von flüchtigen Zuhörern weitergegeben, ein falsches und widerspruchsvolles

Bild seiner wirklichen Meinung entstehen. Trotzdem enthielten seine bei diesen und zahlreichen

Gelegenheiten geäusserten Ansichten viel Wahrheit und Ursprünglichkeit. Und hätte man den

Versuch gemacht, alle diese verschiedenen Bemerkungen in ihrer Gesamtheit zu beurteilen, wäre

das Ergebnis mit grosser Wahrscheinlichkeit ein umfassendes und wohlbegründetes Argument

gewesen. Aber im Freundeskreis empfand er verständlicherweise weinig Neigung, solche

ausgefeilten Urteile zu formulieren, wie wir sie in seinen Schriften bewundern; er gab sich

vielmehr im allgemeinen damit zufrieden, von dem jeweiligen Gegenstand ... eine rasche und

meisterhafte Skizze zu entwerfen.

Dasselbe konnte man beobachten, wenn er in seinem Gedankenflug eine Persönlichkeit

schilderte, von der man annehmen konnte, dass er sie durch langen vertrauten Umgang gut

kannte. Es entstand dann eine lebendiges und ausdrucksstarkes Bild, das, von einem bestimmten

Gesichtswinkel aus betrachtet, eine auffallende und ergötzliche Ähnlichkeit mit dem Original

aufwies, ihm aber in den seltensten Fällen in allen Dimensionen und Proportionen gerecht wurde.

Mit einem Wort: seine spontanen Urteile waren zu systematisch und zu extrem. ...

In seiner äusseren Erscheinung und seinem Auftreten war nichts Ungewöhnliches. Wenn er sich

ganz ungezwungen und von einem Gespräch angeregt fühlte, waren seine Gesten lebhaft und

nicht ohne Anmut, und seine Züge konnten sich im Zusammensein mit ihm nahe stehenden

Menschen mit einem gütigen Lächeln erhellen. In Gegenwart von Fremden war er wahrscheinlich

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als Folge seiner Zerstreutheit und mehr noch aus dem Bewusstsein dieser Schwäche heraus,

etwas gehemmt, eine Wirkung, die seine spekulativen Vorstellungen von Schicklichkeit noch

beträchtlich verstärkt haben. Sie erklären sich aus seinen einsiedlerischen Gewohnheiten und

haben gleichzeitig seine Aufnahmefähigkeit verbessert wie auch seine Erkenntnis verringert."

3. Wirtschaftliche, politische und soziale Rahmenbedingungen (Ende 18. Jh.)

a) Die industrielle Revolution setzt ein, aber die Landwirtschaft ist noch mit Abstand der

wichtigste Sektor (um die 80% der Bevölkerung sind in der Landwirtschaft tätig). Die im

landwirtschaftlichen Sektor freigesetzten Arbeitskräfte (Einhegungen; von Ackerbau zu

Schafzucht) bilden einen bedeutenden Teil des Arbeitsangebotes auf das der sich rasch

entwickelnde Industrie zurückgreifen kann.

b) Der König und der Adel haben in England bereits den Grossteil der Macht eingebüsst. Das

Bürgertum schickt sich an, diese vollständig zu übernehmen. Damit verbunden ist die

Ausformung der parlamentarischen Demokratie, deren geschichtliche Wurzeln in England sehr

weit zurückreichen (Magna Charta von 1215).

c) Der politische und wirtschaftliche Liberalismus als Reaktion gegen Absolutismus und

Merkantilismus eröffneten Freiheitsperspektiven für die Individuen auf wirtschaftlichem und

politischem Gebiet. Weil die sozialen Auswirkungen der Industriellen Revolution noch nicht zum

Tragen gekommen waren, war Adam Smith ein Optimist. Er fühlte sich vermutlich, als ein

Prophet und Visionär, der an der Schwelle eines neuen, besseren Zeitalters stand.

4. Die Sozialphilosophie von Adam Smith: Die Theorie der ethischen Gefühle (The Theory

of Moral Sentiments)

[Literatur: Andrew Skinner: A System of Social Science - Papers Relating to Adam Smith.

Oxford (Clarendon) 1979, vor allem pp. 42-67 und 104-129; Adam Smith: Der Wohlstand der

Nationen, dtv-Taschenbuch, Einleitung von H.C. Recktenwald, pp. XXXV ff.]

a) Das gute Handeln (propriety)

Adam Smiths Sozialphilosophie geht vom Individuum aus, und das Soziale kommt zustande

durch eine Interaktion von Individuen (Tausch, Verträge allgemein, Bildung von Gruppen und

Vereinen z.B.). (Der Ausgangspunkt ist also nicht die Gesellschaft und ihre Struktur, z.B.

Vereine, Unternehmungen, sozialer Produktionsprozess). Seine Sozialethik ist dargelegt in The

Theory of Moral Sentiments (1759). Die Grundfrage ist: Wie soll sich der Einzelne seinen

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Mitmenschen gegenüber im Rahmen einer sozialen Beziehung (Tausch, Gruppe, Verein)

verhalten. In diesem Werk erarbeitet Adam Smith die Prinzipien für das geordnete

Zusammenleben der Menschen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik.

Adam Smith geht von den Neigungen und Anlagen aus, die jeder Mensch besitzt. Zwei dieser

Neigungen sind für das soziale Handeln besonders wichtig:

- das Eigeninteresse (self interest), das sich z.B. beim Tausch ausdrückt und

- das Mitgefühl (fellow feeling): das Interesse am Schicksal des Mitmenschen.

Beide Neigungen sind offenbar entgegengesetzt:

Zunehmendes Eigeninteresse ist verbunden mit einer Abnahme des Mitgefühls, und umgekehrt.

fellow feeling self interest

>______________________________<

Das Eigeninteresse ist vor allem auf wirtschaftlicher Ebene erforderlich, weil dieses den

Einzelnen zur Verbesserung seiner wirtschaftlichen Lage anspornt. Jedoch darf sich das

Eigeninteresse nicht ungehindert auswirken. Die Interessen der Mitmenschen dürfen nicht

verletzt werden. Diese sozialen Schranken werden durch das Mitgefühl gesetzt.

Die sozial richtige oder angemessene Mischung von Eigeninteresse und Mitgefühl nennt Adam

Smith propriety (Schicklichkeit, Angemessenheit). Wird 'propriety' realisiert, ergibt sich

tugendhaftes (angemessenes, schickliches) Handeln (vor allem Realisierung des Guten und

Gerechten in allen Bereichen des Lebens). Würden alle Mitglieder einer Gesellschaft gemäss den

Erfordernissen der 'propriety' handeln, ergäbe sich eine ideal funktionierende oder harmonische

Gesellschaft.

[Wichtig: Für das wirtschaftliche Leben impliziert die 'propriety', dass die Preise nicht nur von

egoistischen, auf dem Eigeninteresse basierenden Elementen bestimmt werden (Nutzen- und

Profitmaximierung) wie in der gegenwärtigen neoklassischen (liberalen) Wirtschaftstheorie. Bei

Adam Smith wirken auch ethische Faktoren auf die Preisbestimmung ein, also Faktoren, die mit

dem Mitgefühl verbunden sind. Wenn etwa ein Güterpreis, z.B. der Weizenpreis, oder ein

Lohnsatz unter das existenzsichernde Niveau absinkt, müssen nach Adam Smith

ausserökonomische ethische Kriterien, basierend auf dem Mitgefühl, herangezogen werden, um

sozial angemessene Löhne und Preise zu garantieren. (Auf die heutige Situation bezogen: Hinter

den Angebots- und Nachfragekurven stehen nicht nur ökonomische Elemente im Zusammenhang

mit der Nutzen- und Profitmaximierung, sondern auch ethische Faktoren. Jedoch: vollkommene

Konkurrenz scheint nach Adam Smith 'propriety' zu erzwingen; d.h. der Preis, der sich bei

vollkommener Konkurrenz ergibt, ist ein gerechter Preis.)]

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Tugendhaftes Handeln ergibt sich nach Adam Smith aufgrund der Entfaltung von natürlichen

Anlagen. Im Gegensatz zu Hobbes impliziert dies, erstens, dass die Menschen - im Prinzip, von

Natur aus - gut und gerecht sind und, zweitens, dass sie im Zusammenwirken mit anderen (z.B.

mittels Diskussionen) eine unbegrenzte Erkenntnisfähigkeit haben: er kann die Wirkungen seiner

Handlungen abschätzen. Dies ist ein weiteres Indiz für den Optimismus von Adam Smith (erst im

Alter wurde er zum Pessimisten, was ihn z.B. veranlasste, sämtliche unvollendeten Manuskripte,

die er noch bearbeitete, verbrennen zu lassen).

[Nach W.A. Jöhr, dem St.Galler Dogmenhistoriker, steht Adam Smiths - psychologische

Tugendkonzeption (Entfaltung von natürlichen Anlagen) in schroffem Gegensatz zur christlichen

(katholischen) Ethik. Hier ist die menschliche Vernunft ein Mittel zum Erkennen des Guten (z.B.

Gerechtigkeit bei der Lohnfestsetzung) und des Schlechten, die beide objektiv vorgegeben sind.

Das Gute ist überindividuell und durch die Zweckanlagen der menschlichen Natur(Messner, Utz)

objektiv vorgegeben und damit bestimmt: der gute Mensch in der Individualethik, die gute

Gesellschaft in der Sozialethik. Der Mensch ist frei, das Gute oder das Schlechte zu wählen

(Willensfreiheit). Es geht also in der Sozialethik darum, eine mehr oder weniger gute Situation zu

verbessern und näher an die ethisch wünschbare Situation heranzuführen, z. B. Verringerung der

Arbeitslosigkeit bei Keynes.]

b) Wie kann 'propriety' erkannt und durchgesetzt werden?

Um diese Frage zu beantworten, hat Adam Smith das Konzept des "unbeteiligten Zuschauers

(Beobachters)" (spectator) entwickelt.

Jeder Mensch kann die Rolle eines "spectators" einnehmen um eigene oder die Handlungen

anderer zu beurteilen (spectator: Objektivität; Gewissen). Dies verlangt starke

Selbstbeherrschung. Immer wieder muss der einzelne sich vom alltäglichen Handeln lösen und

die Rolle des 'spectators' einnehmen, um die moralische Qualität seines Handeln kühl und

distanziert zu beurteilen. Diese harte Anforderung an den Menschen entspricht ganz Adam

Smiths Charakter. Er hatte sich jederzeit vollständig in der Hand und strebte die bestmögliche

Erfüllung seiner Pflichten an. Adam Smith hat jedoch eingesehen, dass viele Menschen die

nötige Willensstärke, die die Rolle des 'unbeteiligten Zuschauers' erfordert, nicht aufbringen

können. Er hat sich deshalb gefragt, ob es Kräfte gebe, die den einzelnen zwingen würden,

moralisch einwandfrei zu handeln. Er führt mehrere solcher Kräfte auf.

1) das Anerkennungsstreben: Jeder, der gemäss der 'propriety' (sozial angemessen, moralisch

richtig) handelt, erwirbt sich die Anerkennung seiner Mitmenschen. Dies führt zu einem Gefühl

der Befriedigung und ist dadurch ein Ansporn moralisch richtig zu handeln.

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2) Das Anerkennungsstreben wird ergänzt durch moralische Regeln, deren Befolgen zu

angemessenem Handeln führt. Diese entstehen im Zuge von Erfahrungen, die die Mitglieder der

menschlichen Gesellschaft im Prozess des Zusammenlebens machen. Die moralischen Regeln

vermitteln dem 'spectator' auch (objektive) Kenntnisse über die Natur des angemessenen

Handelns, das für ihn nicht ohne weiteres ersichtlich ist.

Die Befolgung moralischer Regeln ist jedoch freiwillig: sie sind nicht durchsetzbar. Adam Smith

hält deshalb ein Rechtssystem für unabdinglich, damit bestimmte Verhaltensweisen unter

Strafandrohung durchgesetzt werden können. Im wirtschaftlichen Bereich betrifft dies vor allem

der Schutz des Eigentums. Dazu eine aufschlussreiche Passage aus dem 'Wohlstand der

Nationen':

"[Bei Eigentumsdelikten] entspricht der Nutzen der Person, die das Unrecht begeht, häufig dem

Verlust des Geschädigten. ... Habsucht und Ehrgeiz bei den Reichen, Arbeitsscheu und Neigung

zu gelegentlichem Nichtstun und zu Vergnügungen bei den Armen [geben Anlass] zu

Übergriffen auf fremdes Eigentum, Triebkräfte, die gleichsam ständig am Werke sind und deren

Einfluss weit verbreitet ist. ... Der Reichtum der Besitzenden reizt zur Empörung der Besitzlosen,

die häufig durch Not gezwungen und von Neid getrieben, sich deren Eigentum aneignen. Nur

unter dem Schutz einer staatlichen Behörde kann der Besitzer eines wertvollen Vermögens,

Frucht der Arbeit vieler Jahre oder sogar vieler Generationen, auch nur eine einzige Nacht ruhig

schlafen"(RN, 601).

Das sozialphilosophische System von Adam Smith deutet an, wie geordnetes Zusammenleben

der Menschen in einer liberalen Gesellschaft aussehen sollte. Zentral ist: Der Egoismus

(Eigeninteresse) ist notwendig und gut, vor allem auf wirtschaftlichen Gebiet (wirtschaftliche

Besserstellung, Fortschritt). Der Egoismus muss aber durch das Mitgefühl in Schranken gehalten

werden. Der Einzelne muss sich immer wieder fragen, welche Auswirkungen sein Handeln auf

andere hat.

Wirtschaftlicher Liberalismus ist also für Adam Smith nicht nur Verfolgen von Eigeninteressen,

sondern eine Mischung von Eigeninteresse und Mitgefühl.

Die Tatsache, dass Adam Smith zuerst ein ethisches System aufgestellt hat, das menschliches

Handeln auch auf wirtschaftlichem Gebiet regelt (The Theory of Moral Sentiments, 1759), und

dann erst über wirtschaftliche Probleme geschrieben hat (An Iquiry into the Nature and the

Causes of the Wealth of Nations, 1776), ist von zentraler Wichtigkeit: Ohne eine ethische

Grundlegung kann man - im Sinne von Adam Smith - nicht über ökonomische Probleme

diskutieren. So sieht Adam Smith klar, dass die Probleme der Preisbildung und der

Einkommensverteilung wesentlich ethische Probleme sind. Die natürlichen Preise und die

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natürlichen Lohnsätze werden durch die ‘propriety’ bestimmt, die sowohl das ‘Eigeninteresse’

wie auch das ‘Mitgefühl’ enthält.

Auf wirtschaftlichem Gebiet treten bei Adam Smith ethische Probleme nur in einer ganz

bestimmten Situation in den Hintergrund, nämlich wenn vollkommene Konkurrenz herrscht und

demnach zu langfristigen Gleichgewichtspreisen (den Smithschen natürlichen Preisen) getauscht

wird. Weil in diesem Fall kein Anbieter oder Nachfrager den Preis beeinflussen kann und die

Produktqualität jeweils festgelegt ist, ist auch keine Übervorteilung möglich. Vollkommene

Konkurrenz erzwingt deshalb - möglicherweise - 'propriety' auf wirtschaftlichem Gebiet.

Adam Smith hat jedoch klar gesehen, dass vollkommene Konkurrenz ein hypothetischer

Idealzustand ist, der nicht realisiert werden kann. Konkurrenz ist also in der Realität immer mehr

oder weniger unvollkommen. Bei unvollkommener Konkurrenz behalten jedoch die 'propriety'

und das darin eingeschlossene 'fellow feeling' ihre volle Bedeutung. Ein Beispiel: Bei der

Darlegung seiner Wert- und Verteilungstheorie schimpft Adam Smith immer wieder über die

Unternehmer, die durch Absprachen versuchen, die Preise ihrer Produkte über die langfristigen

(natürlichen) Gleichgewichtspreise anzuheben oder zu niedrige Löhne zu bezahlen.

c) Schlussfolgerung

Propriety (sozial angemessenes Handeln der einzelnen Individuen) wird erzwungen durch

Anerkennungsstreben, moralische Regeln, rechtliche Vorschriften, Konkurrenz,

Gewissensbissen, Angst vor Bestrafung nach dem Tode. Die 'propriety' ist somit das

grundlegende Ordnungsprinzip einer liberalen Gesellschaft, dessen Realisierung einen natürliche,

harmonischen Zustand in Wirtschaft und Gesellschaft herbeiführen würde.

Adam Smith sah den natürlichen Zustand von Wirtschaft und Gesellschaft als das Resultat der

Funktionsweise eines riesigen Mechanismus (analog zum Mechanismus - Uhrwerk - der Natur

der Naturwissenschafter wie Descartes und Newton). Dieser natürliche Zustand stellt ein

umfassendes gesellschaftliches Gleichgewicht dar, das das wirtschaftliche Gleichgewicht

einschliesst. Die Handlungen der einzelnen werden vom gesellschaftlich-wirtschaftlichen

Mechanismus so koordiniert, dass sich ein übergreifendes soziales Optimum ergibt. (Das heutige,

ausschliesslich ökonomische Gleichgewicht der modernen liberalen Ökonomen ist nur ein

Abglanz des natürlichen Zustandes von Adam Smith.)

Adam Smith kann demnach als ein optimistischer Liberaler bezeichnet werden. Sein Optimismus

stützte sich auf seine Vision einer freiheitlichen liberalen Gesellschaft, die auf die absolutistisch-

merkantilistische folgen sollte. Zudem konnte er die Funktionsweise kapitalistischen

Wirtschaftssystems (der Realisierung der liberalen Doktrin), das damals gerade im Entstehen

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war, nicht kennen. Ricardo, Malthus, Marx und Keynes, die alle die liberale Realität, den

Kapitalismus, zu verstehen versuchten, sind zu eher pessimistischen Schlussfolgerungen

gekommen.

Keynes hat eindrücklich gezeigt, dass der Smithsche Optimismus nicht gerechtfertigt ist, weil die

Rationalität der Individuen nicht mit der Rationalität des ökonomischen Systems übereintimmt.

Beispielsweise ist für Adam Smith Sparen eine Tugend. Mehr Sparen führt zu höheren

Investitionen, damit zu einem höheren Sozialprodukt (zunehmendem Reichtum) und mehr

Beschäftigung. Keynes dagegen hat gezeigt, dass in einer Geldwirtschaft eine Zunahme des

Sparens mit verminderten Konsumausgaben einhergeht. Wenn der Absatz in der

Konsumgüterindustrie stockt, wird auch weniger investiert. Sozialprodukt und Beschäftigung

gehen zurück. Ein höheres Sparvolumen führt demnach in eine Krise.

Jedenfalls hat Adam Smith das Problem von Beschäftigung und Arbeitslosigkeit, auf das die

Merkantilisten so grosses Gewicht gelegt hatten, vollständig ignoriert. Wie die heutige Theorie

war auch Adam Smiths theoretisches System im wesentlichen eine Beschreibung von

Gleichgewichtszuständen, die Vollbeschäftigung implizieren.

5. Das Gesamtsystem von Adam Smith

besteht aus drei grossen Komponenten: einer (rudimentären) Geschichtsphilosophie, einer

Sozialphilosophie, tatsächlich eine individualistische Sozialethik, und einer ökonomischen

Theorie. Die Sozialphilosophie haben wir soeben gesehen und die ökonomische Theorie ist

Gegenstand des nächsten Kapitels (III). Hier nur stichwortartig seine 'Geschichtsphilosophie', die

eigentlich eine Stufentheorie der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung darstellt.

Die Jägergesellschaft ist der Ausgangspunkt. Es folgt die Hirtengesellschaft, dieser die

Agrikulturgesellschaft und die Handelsgesellschaft als höchste und letzte Entwicklungsstufe.

Diese hat Adam Smith vor Augen als er den 'Reichtum der Nationen' schreibt (in der

Handelsgesellschaft ist natürlich die Landwirtschaft als zur Industrie gleichwertiger Sektor

eingebettet).

In seiner Sozialphilosophie (Theorie der ethischen Gefühle) gestaltet das Prinzip der 'propriety'

die Handelsgesellschaft. Die im 'Reichtum der Nationen' enthaltene ökonomische Theorie

versucht nun die ökonomischen Phänomene - Wert, Verteilung, Wachstum und Entwicklung -

systematisch zu erklären.

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III. Die ökonomische Theorie: Funktionsweise der Handelsgesellschaft

Einleitung: Der Aufbau des 'Reichtums der Nationen' (Deutscher Taschenbuch Verlag, München

1983, Übersetzung von H.C. Recktenwald)

Erstes Buch: Was die produktiven Kräfte der Arbeit verbessert und nach welcher natürlichen

Ordnung sich ihr Ertrag auf die einzelnen Schichten der Bevölkerung verteilt

1. Kapitel: Die Arbeitsteilung

2. Kapitel: Das Prinzip, das der Arbeitsteilung zugrunde liegt

3. Kapitel: Die Grösse des Marktes - eine Grenze für die Arbeitsteilung

4. Kapitel: Ursprung und Gebrauch des Geldes

5. Kapitel: Der Real- und Nominalpreis der Güter oder ihr Arbeits- und ihr Geldwert

6. Kapitel: Die Bestandteile der Güterpreise

7. Kapitel: Der natürliche Preis und der Marktpreis der Güter

8. Kapitel: Der Lohn der Arbeit

9. Kapitel: Der Kapitalgewinn

10. Kapitel: Lohn und Gewinn bei verschiedener Verwendung der Arbeit und des Kapitals

1. Teil: Ungleichheiten, die sich aus der Art der Verwendung selbst herleiten

2. Teil: Ungleichheiten, die ihren Grund in der Wirtschaftspolitik in Europa haben.

11. Kapitel: Die Bodenrente

1. Teil: Bodenprodukte, die immer eine Rente abwerfen

2. Teil: Bodenprodukte, die zuweilen eine Rente abwerfen, mitunter nicht

3. Teil: Veränderungen im Wertverhältnis zwischen einem Ertrag, der stets und einem

solchen, der nur bisweilen eine Rente abwirft, Veränderungen im Verhältnis zwischen dem Wert

des Goldes und dem des Silbers, Unterschiedliche Folgen des wirtschaftlichen Fortschritts für

den Realpreis dreier Arten von Rohprodukten. Der Einfluss des wirtschaftlichen Fortschritts auf

den Realpreis gewerblicher Erzeugnisse.

Zweites Buch: Natur, Ansammlung und Einsatz des Kapitals

Einleitung

1. Kapitel: Die Zusammensetzung des Kapitalbestandes

2. Kapitel: Geld als ein besonderer Bestandteil der Kapitalanlagen eines Landes oder der

Aufwand zur Erhaltung des Volksvermögens

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3. Kapitel: Bildung von Kapital oder produktive und unproduktive Arbeit

4. Kapitel: Kapitalverleih gegen Zins

5. Kapitel: Verschiedene Verwendung der Kapitalien

Drittes Buch: Die unterschiedliche Zunahme des Wohlstandes in einzelnen Ländern

1. Kapitel: Das natürliche Wachstum des Wohlstandes

2. Kapitel: Die Behinderung der Landwirtschaft im alten Europa nach dem Untergang des

römischen Reiches

3. Kapitel: Gründung und Wachstum der Städte nach dem Untergang des römischen Reiches

4. Kapitel: Wie der Handel der Städte zur Entwicklung des Landes beigetragen hat

Viertes Buch: Systeme der Politischen Ökonomie

1. Kapitel: Grundsätze des Handels oder Merkantilsystems [Merkantilismus]

.......

9. Kapitel: Agrarsysteme oder solche Systeme der Politischen Ökonomie, die im Bodenertrag die

einzige oder die Hauptquelle für Einkommen und Wohlstand eines Landes sehen [Physiokratie]

Fünftes Buch: Die Finanzen des Landesherren oder des Staates

1. Kapitel: Die öffentlichen Ausgaben

2. Kapitel: Die Quellen der allgemeinen oder öffentlichen Einnahmen eines Landes

1. Teil: Herkunft oder Quellen der Einkünfte, die ausschliesslich dem Landesherrn oder

dem Gemeinwesen gehören können

2. Teil: Steuern

.......

3. Kapitel: Staatsschulden

Die Analyse von Adam Smith spielt sich auf zwei Ebenen ab:

1) auf der Ebene des natürlichen (liberalen) Zustandes: 'normative' Theorie

2) auf der Ebene der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit: positive Theorie.

Im Folgenden sind alle Smith-Zitate der deutschen Recktenwald-Ausgabe entnommen (als RN =

Reichtum der Nationen zitiert).

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1. Arbeitsteilung und Reichtum: die gesamtwirtschaftliche Produktionstheorie (Buch I,

Kapitel 1-3)

Adam Smith will hier die fundamentalen Ursachen des Reichtums, des Wohlstandes eines

Landes herausarbeiten (jährlich zur Verfügung stehende Gütermenge).

a) Ausgangspunkt:

"Die jährliche Arbeit eines Volkes ist die Quelle, aus der es ursprünglich mit allen notwendigen

und angenehmen Dingen des Lebens versorgt wird, die es im Jahr über verbraucht. Sie bestehen

stets entweder aus dem Ertrag dieser Arbeit oder aus dem, was damit von anderen Ländern

gekauft wird.

Ein Volk ist daher umso schlechter oder besser mit allen Gütern, die es braucht, versorgt, je mehr

oder weniger Menschen sich in den Ertrag der Arbeit oder in das, was sie im Austausch dafür

erhalten, teilen müssen [Pro-Kopf-Sozialprodukt]. Zwei Faktoren bestimmen nun in jedem Land

diese Pro-Kopf-Versorgung: Erstens die Produktivität der Arbeit als Ergebnis von

Geschicklichkeit, Sachkenntnis und Erfahrung, und zweitens das Verhältnis der produktiv

Erwerbstätigen zur übrigen Bevölkerung. Von beiden Umständen muss es jeweils abhängen, ob

in einem Land das Warenangebot im Jahr über reichlich oder knapp ausfällt, gleichgültig, wie

gross ein Land ist oder welchen Boden und welches Klima es hat" (RN, 3).

(Produktive Tätigkeit erbringt einen Gewinn, allgemein: einen Überschuss; produktive Arbeiter

sind z.B. Arbeiter und Angestellte von Industriebetrieben und Bauern in der Landwirtschaft.

Nichtproduktive Tätigkeit wird aus dem Überschuss bezahlt, z.B. Dienstboten, Beamte, Lehrer

und Professoren, Advokaten und Notare).

b) Die Arbeitsproduktivität Q/N hängt in erster Linie ab von der Arbeitsteilung: "Die

Arbeitsteilung dürfte die produktiven Kräfte der Arbeit mehr als alles andere fördern und

verbessern. Das gleiche gilt wohl für die Geschicklichkeit, Sachkenntnis und Erfahrung, mit der

sie überall eingesetzt oder verrichtet wird" (RN, 9).

Adam Smith führt zur Illustration dieses Sachverhaltes das berühmte Stecknadelbeispiel auf: "Ein

Arbeiter, der noch niemals Stecknadeln gemacht hat und auch nicht dazu angelernt ist (erst die

Arbeitsteilung hat daraus ein selbständiges Gewerbe gemacht) , so dass er auch mit den dazu

eingesetzten Maschinen nicht vertraut ist (auch zu deren Erfindung hat die Arbeitsteilung

vermutlich Anlass gegeben), könnte, selbst wenn er sehr fleissig ist, täglich höchstens eine,

sicherlich aber keine zwanzig Nadeln herstellen. Aber so wie die Herstellung von Stecknadeln

heute betrieben wird, ist sie nicht nur als Ganzes ein selbständiges Gewerbe. Sie zerfällt vielmehr

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in eine Reihe getrennter Arbeitsgänge, die zumeist zur fachlichen Spezialisierung geführt haben.

Der eine Arbeiter zieht den Draht, der andere streckt ihn, ein dritter schneidet ihn, ein vierter

spitzt ihn zu, ein fünfter schleift das obere Ende, damit der Kopf aufgesetzt werden kann. Auch

die Herstellung des Kopfes erfordert zwei oder drei getrennte Arbeitsgänge. ... Um eine

Stecknadel anzufertigen, sind somit etwa 18 verschiedene Arbeitsgänge notwendig, die in einigen

Fabriken jeweils verschiedene Arbeiter besorgen... . Ich habe selbst eine kleine Manufaktur dieser

Art gesehen, in der nur nur 10 Leute beschäftigt waren, so dass einige von ihnen zwei oder drei

solcher Arbeiten übernehmen mussten. Obwohl sie nun sehr arm und nur recht und schlecht und

recht mit dem nötigen Werkzeug ausgerüstet waren, konnten sie zusammen am Tage doch etwa

12 Pfund Stecknadeln anfertigen... . Rechnet man für ein Pfund über 4000 Stecknadeln mittlerer

Grösse, so waren die 10 Arbeiter imstande, täglich etwa 48000 Nadeln herzustellen, jeder also

ungefähr 4800 Stück. Hätten sie indes alle einzeln und unabhängig voneinander gearbeitet, noch

dazu ohne weitere Ausbildung, so hätte der einzelne gewiss nicht einmal 20, vielleicht sogar

keine einzige Nadel am Tag zustande gebracht" (RN, 9-10).

Dieses Beispiel zeigt, dass der industrielle Produktionsprozess wesentlich ein sozialer Vorgang

ist (obwohl Adam Smith sein Augenmerk auf den einzelnen Arbeiter richtet, weniger auf den

Produktionsprozess als Ganzes - er ist individualistisch orientiert): Ein gemeinsames Ziel wird

durch Arbeitsteilung, Kooperation und Koordination erreicht.

Im Gegensatz zur Industrie war die landwirtschaftliche Produktion vorwiegend individualistisch.

A. Smith deutet an, dass deshalb in der Landwirtschaft weniger Möglichkeiten der Arbeitsteilung

bestehen als in der Industrie: "Die Eigenart der Landwirtschaft lässt indes eine so weitgehende

Spezialisierung wie in der Industrie nicht zu, auch nicht eine solch scharfe Abgrenzung der

einzelnen Tätigkeiten gegeneinander. So ist es einfach unmöglich, die Viehzucht so eindeutig

vom Getreidebau zu trennen, wie das zwischen dem Gewerbe eines Zimmermanns und dem eines

Schmiedes der Fall ist. Der Spinner und der Weber sind durchweg zwei Personen, dagegen

pflügt, eggt, sät und erntet häufig ein und dieselbe Arbeitskraft. Da alle diese Arbeiten zu

verschiedenen Jahreszeiten anfallen, könnte eine einzelne Person unmöglich fortwährend nur mit

einer davon beschäftigt sein" (RN, 11).

Adam Smith führt dann explizit die Faktoren auf, die die Arbeitslosigkeit direkt beeinflussen:

"Die enorme Steigerung der Arbeit, die die gleiche Anzahl Menschen nunmehr infolge der

Arbeitsteilung zu leisten vermag, hängt von drei verschiedenen Faktoren ab: (1) der grösseren

Geschicklichkeit jedes einzelnen Arbeiters, (2) der Ersparnis an Zeit, die gewöhnlich beim

Wechsel von einer Tätigkeit zur anderen verloren geht und (3) der Erfindung einer Reihe von

Maschinen, welche die Arbeit erleichtern, die Arbeitszeit verkürzen und den einzelnen in den

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Stand setzen, die Arbeit vieler zu leisten" (RN, 12). Dabei wird der Maschineneinsatz ermöglicht

durch die Vereinfachung von Arbeitsvorgängen im Zuge der Arbeitsteilung, [die bereits in den

Manufakturen stattgefunden hatte] (RN, 13).

c) In einem nächsten Schritt argumentiert Adam Smith, dass der Tausch das Prinzip sei, das der

Arbeitsteilung zugrunde liege.

"Die Arbeitsteilung, die so viele Vorteile mit sich bringt, ist in ihrem Ursprung nicht etwa das

Ergebnis menschlicher Erkenntnis, welche den allgemeinen Wohlstand, zu dem erstere

zwangsläufig führt, voraussieht und anstrebt. Sie entsteht vielmehr zwangsläufig, wenn auch

langsam und schrittweise, aus einer natürlichen Neigung des Menschen zu handeln und Dinge

gegeneinander [auszutauschen]. ...

In einer zivilisierten Gesellschaft ist der Mensch ständig und in hohem Masse auf die Mitarbeit

und Hilfe anderer angewiesen, [...] wobei er jedoch kaum erwarten kann, dass er [diese Hilfe]

allein durch das Wohlwollen der Mitmenschen [fellow feeling] erhalten wird. Er wird sein Ziel

wahrscheinlich viel eher erreichen, wenn er deren Eigenliebe zu seinen Gunsten zu nutzen

versteht, indem er ihnen zeigt, dass es in ihrem eigenen Interesse liegt, dies für ihn zu tun, was er

von ihnen wünscht. [...] Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir

das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen [self interest]

wahrnehmen"(RN, 16-17).

Nach A.Sm. ist also die Arbeitsteilung aus dem Tausch abgeleitet. Entgegengesetzte Ansicht:

Arbeitsteilung entsteht innerhalb des gesellschaftlichen Produktionsprozesses - die Produktion ist

dem Tausch vorgeschaltet - und führt zu einer Senkung der Herstellungskosten. Dadurch wird der

Produzent im Tausch erfolgreicher: er kann neue Märkte gewinnen. In dieser

gesamtwirtschaftlichen gewinnt der Tausch eine neue Bedeutung: es werden nicht Güter gegen

Güter, sondern im Rahmen des gesamtwirtschaftlichen Geld- und Güterkreislaufs Güter gegen

Geld (und umgekehrt) "getauscht", wobei Geld Wert-Stellvertreter und allgemein anerkanntes

Zahlungsmittel ist.

d) Schliesslich argumentiert Adam Smith, dass die Grösse des Marktes eine Grenze für die

Arbeitsteilung darstelle:

"So, wie die Fähigkeit zum Tauschen Anlass zur Arbeitsteilung ist, so muss das Ausmass dieser

Fähigkeit und damit die Marktgrösse den Umfang der Arbeitsteilung begrenzen. Ist der Markt

sehr klein, kann sich niemand ermutigt fühlen, sich ausschliesslich einer Beschäftigung zu

widmen, da er das, was er über seinen eigenen Bedarf hinaus erstellt, also den Überschuss seines

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Arbeitsertrages, nicht gegen die überschüssigen Erzeugnisse anderer, die er benötigt, eintauschen

kann.

Es gibt nun einige Gewerbe ..., die man nur in einer grossen Stadt ausüben kann. So kann ein

Lastträger an keinem anderen Ort Beschäftigung und Auskommen finden. Ein Dorf ist für ihn ein

zu kleines Betätigungsfeld... . Auf Einzelhöfen und in kleinen Dörfern, die verstreut in einer so

verlassenen Gegend wie dem schottischen Hochland liegen, muss jeder Bauer zugleich sein

eigener Metzger, Bäcker und Brauer sein. Man darf kaum erwarten, unter solchen Umständen

selbst Schmiede, Zimmerleute und Maurer in einem Umkreis von weniger als zwanzig Meilen

antreffen zu können. Die Familien leben weit verstreut, oft 8 bis 10 Meilen vom nächsten

Handwerker entfernt, so dass sie lernen müssen, viele kleine Arbeiten selbst zu tun, zu denen sie

in dichter besiedelten Landstrichen die Hilfe eines Handwerkers in Anspruch nehmen würden.

Der Handwerker auf dem Lande ist fast überall gezwungen, alle Arbeiten anzunehmen" (RN, 19).

[Sehr wichtig (von Adam Smith vorausgeahnt): Ein grosser Markt ermöglicht Spezialisierung,

eventuell den Einsatz von Maschinen; bei zunehmender Produktionsmenge können die

Durchschnittskosten gesenkt werden (Gesetz der Massenproduktion). Später hat Friedrich List

(1789-1846) erkannt, dass dieses Gesetz sich kumulativ verstärkende Wohlstandsunterschiede

bewirken kann, wenn Länder mit unterschiedlichem Entwicklungsstand Freihandelsbeziehungen

aufnehmen: Die Industrie des unterwickelten Landes wird an die Wand gedrängt (wegen

rückläufiger Produktion und steigenden Durchschnittskosten), die Industrie des hochentwickelten

Landes prosperiert, weil die Produktionsmengen ausgeweitet und die Stückkosten gesenkt

werden können. List schlug deshalb für (ökonomisch) unterwickelte Länder Schutzzölle vor, um

die sich entwickelnde Industrie zu schützen. Diese Ungleichgewichtstheorie von List steht in

Gegensatz zur Gleichgewichtstheorie von Adam Smith.]

2. Die Rolle des Geldes (Kap. 4, 22)

Geld ermöglicht den Ausbau der Arbeitsteilung, was wiederum die Arbeitsproduktivität und

damit den Reichtum (Sozialprodukt Q) steigert. Die zunehmenden Tauschvorgänge können nur

abgewickelt werden durch die Einführung von Geld. Dieses erleichtert die Tauschvorgänge: W-

G-W' ist zeitsparend, W-W' zeitraubend). Nach Adam Smith bildet das Geld (Gold, Silber,

Bankensystem) deshalb Teil des volkswirtschaftlichen Kapitalstocks, der die Arbeitsproduktivität

steigert. Dies erfolgt über eine Senkung der Transaktionskosten (Kosten für Käufe und Verkäufe)

durch den Übergang von W-W' zu W-G-W'. Es bleibt mehr Zeit für die Produktion übrig, was Q

und Q/N steigert.

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Adam Smith argumentiert, dass das Geld aus dem Tausch entsteht (Warentheorie des Geldes!):

"Hat sich die Arbeitsteilung einmal weitgehend durchgesetzt, kann der einzelne nur noch einen

Bruchteil seines Bedarfs durch Produkte der eigenen Arbeit decken. Er lebt weitgehend von

Gütern, die andere erzeugen und die er im Tausch gegen die überschüssigen Produkte seiner

Arbeit erhält. So lebt eigentlich jeder vom Tausch, oder er wird in gewissem Sinne ein

Kaufmann, und das Gemeinwesen entwickelt sich zu einer kommerziellen Gesellschaft.

In den Anfangen der Arbeitsteilung muss der Tausch häufig noch sehr schleppend und stockend

vor sich gegangen sein. Nehmen wir an, jemand habe von einer Ware mehr als er braucht, ein

anderer dagegen zu wenig davon. Dann würde der erste froh sein, wenn er von dem

Überschüssigen etwas abgeben, der zweite etwas davon kaufen könnte. Hat dieser aber gerade

nichts zur Hand, was der erste braucht, kann kein Tausch unter ihnen zustande kommen. So hat

ein Metzger mehr Fleisch in seinem Laden, als er selbst essen kann, und Brauer und Bäcker

würden gern etwas davon kaufen. Sie können lediglich ihr Brot oder Bier anbieten. Ist nun der

Metzger für seinen unmittelbaren Bedarf damit bereits ausreichend versorgt, so wird es in diesem

Fall zu keinem Handel kommen können: Der Metzger kann nicht verkaufen, die beiden anderen

als Kunden nicht kaufen. Alle drei können einander wenig nützen. Um solche misslichen

Situationen zu vermeiden, musste eigentlich jeder vernünftige Mensch auf jeder

Entwicklungsstufe seit dem Aufkommen der Arbeitsteilung bestrebt gewesen sein, es so

einzurichten, dass er ständig ausser dem Produkt seiner eigenen Arbeit einen kleinen Vorrat der

einen anderen Ware bereit hatte, von der er annehmen könnte, dass andere sie im Tauch gegen

eigene Erzeugnisse annahmen werden.

Vermutlich wurden im Laufe der Zeit die verschiedensten Waren zu diesem Zwecke ausgesucht

und verwandt. In der Frühzeit der Menschheit soll das Vieh das übliche Tauschmittel gewesen

sein, obwohl es dafür schlecht geeignet ist. So finden wir in alter Zeit häufig den Wert der Dinge

nach Stück Vieh gemessen, das man dafür in Tausch gab [Indiz für die Existenz von

Kreditgeld!]. Wie Homer berichtet, kostete die Rüstung Diomeds nur neun Ochsen, die des

Glaukus dagegen hundert. In Abessinien soll Salz bevorzugtes Handels- und Tauschmittel

gewesen sein, in einigen Küstengebieten Indiens eine Muschelsorte, in Neufundland Stockfisch,

in Virginia Tabak, in einigen unserer westindischen Kolonien Zucker und schliesslich in anderen

Ländern Häute oder gegerbtes Leder. Und noch heute gibt es in Schottland ein Dorf, wo es, wie

man mir sagte, nichts Ungewöhnliches sei, wenn ein Arbeiter beim Bäcker oder im Wirtshaus mit

Nägeln statt Geld bezahlt.

Am Ende haben dann die Menschen in allen Ländern aus vernünftigen Gründen Metalle als

Tauschmittel allen anderen Waren vorgezogen. Metall lässt sich, da es haltbarer als andere Ware

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ist, nicht nur ohne nennenswerten Verlust aufbewahren, es kann auch ohne Schaden beliebig

geteilt und leicht wieder eingeschmolzen werden, eine Eigenschaft, die kein gleich dauerhafter

Stoff besitzt und die es vor allen anderen auszeichnet, als Zahlungs- oder Umlaufsmittel zu

dienen. Auf solche Art ist Geld in allen zivilisierten Völkern zum unentbehrlichen Hilfsmittel im

Handel geworden, das Kauf, Verkauf oder Tausch aller Waren vermittelt" (RN, 22-24).

Ausgehend von diesen Betrachtungen entwickelt nun Adam Smith seine

3. Wert- oder Preistheorie

a) Einleitung: "Ich werde nun im Folgenden untersuchen, welches die natürlichen Regeln sind,

die die Menschen beim Tauschen von Ware gegen Geld oder Ware beachten. Nach ihnen richtet

sich der sogenennte relative oder Tauschwert der Güter.

Dabei stösst Adam Smith vorerst auf das Wertparadoxon, das er nicht lösen konnte, weil er den

Unterschied zwischen Gesamtnutzen und Grenznutzen nicht kannte: "Man sollte zunächst

bedenken, dass das Wort Wert zwei voneinander abweichende Bedeutungen hat. Es drückt

manchmal die Nützlichkeit einer Sache aus, manchmal die Fähigkeit, mit Hilfe eines solchen

Gegenstandes andere Güter im Tausch zu erwerben, eine Fähigkeit, die sein Besitz verleiht. Den

einen kann man "Gebrauchswert", den anderen "Tauschwert" nennen. Dinge mit dem grössten

Gebrauchswert haben vielfach nur einen geringen oder keinen Tauschwert, umgekehrt haben

solche mit dem grösstent Tauschwert häufig wenig oder keinerlei Gebrauchswert

[Wertparadoxon!]. Nichts ist nützlicher als Wasser, und doch lässt sich damit kaum etwas kaufen

oder eintauschen. Dagegen besitzt ein Diamant kaum einen Gebrauchswert, doch kann man oft

im Tausch dafür eine [grosse] Menge anderer Güter bekommen"(27).

A.Sm. formuliert dann die Wertproblematik: "Um nun zu untersuchen, nach welchen Regeln sich

der Tauschwert eines Gutes richtet, werde ich mich zu zeigen bemühen:

Erstens, welches das richtige Mass für diesen Tauschwert ist oder worin der reale Preis aller

Güter besteht,

zweitens, aus welchen einzelnen Teilen sich dieser reale Preis zusammensetzt oder bildet

und drittens, unter welchen Umständen zuweilen einzelne oder alle diese Bestandteile des Preises

über ihre natürliche oder normale Höhe steigen und zuweilen unter diese Höhe fallen, oder

welche Ursachen gelegentlich verhindern, dass der Marktpreis, als der augenblickliche Preis

eines Gutes, mit dem, was man seinen natürlichen Preis nennen mag, genau übereinstimmt"(27).

Adam Smith weist auf die Schwierigkeiten seines Unterfangens hin: "Ich werden mich bemühen,

diese drei Fragen in den nächsten Kapiteln so vollständig und sorgfältig wie möglich zu klären,

wofür ich den Leser ernstlich um Geduld und Aufmerksamkeit bitten muss: Um seine Geduld

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dort, wo ich ein Detail prüfe, das da und dort unnötig breit behandelt erscheinen mag, und um

seine Aufmerksamkeit, damit er Zusammenhänge versteht, die auch nach ausführlichster

Erklärung, die ich zu geben vermag, bis zu einem gewissen Grade noch unklar sein mögen"(27).

b) Das Wertproblem:

p1 q1 = p2 q2 (Tauschgleichung; pi = absolute Preise)

p2/p1 = q1/q2 (relativer Preis; Wert des Gutes 2 ausgedrückt in Einheiten des Gutes 1)

Je höher p2/p1, desto reicher sind die Produzenten von Gut 2, weil sie mehr von Gut 1 erhalten,

und umgekehrt.

c) Das Wertmass (nicht Wertursache!)

Beispiel, um das Problem zu illustrieren: Der Wert eines Hauses kann (annähernd) mit Hilfe der

Wohnfläche gemessen werden (Wertmass). Die Wertursache dagegen besteht in direkter Arbeit

und indirekter Arbeit (Rohmaterialien und Werkzeuge).

Für Adam Smith ist das Wertmass wichtig, weil er damit den Reichtum, repräsentiert durch das

(nominale) Sozialprodukt (pQ = p1 q1 + p2 q2 + ...), eindeutig messen will. (Nominale Werte

sind unzuverlässig, weil der Geldwert schwankt und nur eine vage Vorstellung des tatsächlichen

Reichtums eines Landes gibt.)

Um den Wert des Sozialprodukts und von Gütern zu messen, schlägt Adam Smith etwas

überraschend vor, Arbeit (genauer: Arbeitszeit) als Wertmassstab zu verwenden. Die Arbeit, die

man mit dem Sozialprodukt, einem Teil des Soz.prod. oder mit einem Gut kaufen könne, sei der

ideale Wertmassstab (A.Smiths Lösung des Indexproblems). A. Smith nennt diese Arbeit

verfügbare Arbeit (labour commanded, Nc). Nc ergibt sich, wenn man das nominale

Sozialprodukt pQ, einen Teil des nominalen Sozialprodukt, z.B. p1 q1, oder den Preis eines

Gutes, z.B. p1, durch den durchschnittlichen Geldlohnsatz w (z.B. Tageslohnsatz) dividiert:

pQ/w = Nc(Q) p1 q1/w = Nc(q1) p1/w = Nc(1) .

Über diesen letzten Ausdruck sind auch die relativen Preise festgelegt:

Aus p1 q1 = p2 q2 folgt: q1/q2 = p2/p1 = (p2/w) / (p1/w) = Nc(2) / Nc(1) .

Für A.Sm. ist verfügbare Arbeit Nc der sinnvollste Reichtumsindikator, weil verfügbare

Reichtum bedeutet: mit Arbeit kann irgendein Gut produziert oder eine Dienstleistung erbracht

werden.

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[Auch heute noch wird das Reichtumsmass von A.Sm. als Wohlstandsindikator gebraucht. Um

das Wohlstandniveau in zwei Ländern (I und II) zu vergleichen, kann man fragen: Wie lange

muss ein Durchschnittsarbeiter- oder Angestellter (Tageslohnsatz w) arbeiten, um eine Einheit

eines Gutes i kaufen zu können? Antwort: pi/w = Nc(i).]

Adam Smith stellt abschliessend fest, dass in der Wirklichkeit in der Regel nicht Arbeit als

Wertmassstab verwendet wird, sondern Weizen und vor allem Gold (Geld). Arbeit bleibt aber der

ideale Wertmassstab.

[Text: "Ein Mensch ist arm oder reich, je nachdem in welchem Ausmass er sich die zum Leben

notwendigen und annehmlichen Dinge leisten und die Vergnügungen des Daseins geniessen

kann. Wenn die Arbeitsteilung einmal weit gediehen ist, kann er indes nur noch wenige Dinge für

diesen Bedarf selbst herstellen, die meisten muss er von anderen als deren Arbeitsertrag beziehen,

und er ist arm oder reich, je nach der Mange Arbeit, über die er verfügen oder deren Kauf er sich

leisten kann. Deshalb ist der Wert einer Ware für seinen Besitzer, der sie nicht selbst nutzen oder

konsumieren, sondern gegen andere tauschen möchte, gleich der Menge Arbeit, die ihm

ermöglicht, sie zu kaufen oder darüber zu verfügen. Arbeit ist demnach das wahre oder

tatsächliche Mass für den Tauschwert aller Güter.

Der wirkliche oder reale Preis aller Dinge, also das, was sie einem Menschen, der sie haben

möchte, in Wahrheit kosten, sind die Anstrengung und Mühe, die er zu ihrem Erwerb aufwenden

muss [Arbeitswerttheorie?]. Was Dinge wirklich für jemanden wert sind, der sie erworben hat

und der über sie verfügen oder sie gegen etwas anderes tauschen möchte, sind die Anstrengung

und Mühe, die er sich damit ersparen und die er anderen aufbürden kann. Was jemand gegen

Geld kauft oder gegen andere Güter eintauscht, erwirbt er mit ebensoviel Arbeit wie etwas, zu

dem er durch eigene Mühe gelangt. In der Tat ersparen uns dieses Geld und diese Güter eine

solche Anstrengung. beide enthalten den Wert einer bestimmten Menge Arbeit, die wir gegen

etwas tauschen, von dem wir annehmen, es enthalte zu dieser Zeit dem wert nach die gleiche

Arbeitsmenge. Arbeit war der erste Preis oder ursprünglich das Kaufgeld, womit alles andere

bezahlt wurde. Nicht mit Gold oder Silber sondern mit Arbeit wurde aller Reichtum dieser Welt

letztlich erworben. Und sein Wert ist für die Besitzer, die ihn gegen neue Güter austauschen

möchten, genau gleich der Arbeitsmenge, die sie damit kaufen oder über die sie mit seiner Hilfe

verfügen können"(RN, 28). Schlussfolgerung von Adam Smith: "Arbeit ist demnach ganz

offensichtlich das einzige allgemein gültige und auch das einzige exakte Wertmass oder der

alleinige Massstab, nach dem man die Werte der verschiedenen Waren immer und überall

miteinander vergleichen kann" (RN, 33).

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d) Die Wertursache (6. Kap.: Die Bestandteile der Güterpreise)

Adam Smith geht, davon aus, dass Güter letztlich von drei Produktionsfaktoren produziert wird:

Arbeit (N, gemessen in Tagen z.B.), Kapital (K, gemessen in Geld) und Boden (B, gemessen in

Flächeneinheiten). Die Entschädigungen für die produktiven Leistungen von N, K und B sind die

Löhne wN, die Gewinne rK und die Renten bB (w=Tageslohnsatz, r = P/K = Profitrate (P =

Profite, inkl. Zinsen), b = Rente pro Flächeneinheit, z.B. Hektaren).

Löhne, Gewinne und Renten sind somit die Wertursachen. Jeder Preis setzt sich demnach

letztlich aus drei Komponenten zusammen:

Preis = Lohnkosten + Gewinne (inkl. Zinsen) + Renten

(auch die Kosten für die Zwischenprodukte können in diese drei Komponenten aufgeteilt

werden).

Die klassischen Ökonomen arbeiten vielfach mit folgender Preisgleichung, die eine starke

Vereinfachung des Produktionsprozesses impliziert:

p q = w N + r wN + bB = w N (1 + r) + bB .

Dabei stellt N die direkte und indirekte Arbeit dar, die erforderlich ist um ein Gut zu produzieren.

Mit der indirekten Arbeit werden Geräte, ev. auch Maschinen hergestellt. Die Lohnsumme wN

stellt somit den Kapitaleinsatz dar, der nur aus Umlaufskapital besteht. Die klassische

Vorstellung war, dass die Unternehmer das Umlaufskapital - die Lohnsumme wN - zu Beginn des

Jahres bereithalten müssen, um während der Produktionsperiode - z.B. ein Jahr - den

Lebensunterhalt der direkten und indirekten Arbeit gewährleisten zu können. Diesen

Kapitaleinsatz wollen die Unternehmer am Ende des Jahres mit einer Profitrate r (> i)

zurückerwirtschaften (i = Zinssatz für Eigen- und Fremdkapital).

e) Der natürliche Preis und der Marktpreis der Güter (7. Kap., 48ff.)

Die natürlichen Preise sind die langfristigen Gleichgewichtspreise, die Marktpreise die

kurzfristigen Gleichgewichtspreise. (Die natürl. Preise werden im Folgenden mit einem Stern

bezeichnet - w*, r* , b* und pi* -; die entsprechenden Marktpreise werden ohne nähere

Bezeichnung geschrieben.) "In jeder Gesellschaft oder Gemeinde gibt es einen üblichen oder

durchschnittlichen Satz für Lohn [w*] und Gewinn, und zwar für jeden Einsatz von Arbeit und

Kapital. ... Ebenso gibt es in jeder Gesellschaft oder Gemeinde einen üblichen oder

durchschnittlichen Satz für die Grundrente... . Diese üblichen oder Durchschnittssätze kann man

für die Zeit und den Ort, für die sie im allgemeinen gelten, die natürlichen Sätze für Lohn,

Gewinn und Rente nennen"(RN, 48).

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"Eine Ware wird dann zu dem verkauft, was man als ihren natürlichen Preis bezeichnent, wenn

der Preis genau dem Betrag entspricht, der ausreicht, um nach den natürlichen Sätzen die

Grundrente, den Arbeitslohn und den Kapitalgewinn zu bezahlen, welche anfallen, wenn das

Produkt erzeugt, verarbeitet und zum Markt gebracht wird"(pp. 48/49):

pi* = w* ni + r* ki + b* bi .

(ni = Ni/qi, ki = Ki/qi, bi = Bi/qi: Faktoreinsätze pro produzierte Gütereinheit).

Die natürlichen Faktorpreise w*, r* und b* sowie die natürlichen Güterpreise pi* werden durch

langfristige Angebots- und Nachfragefaktoren bestimmt, die sowohl ökonomische Elemente im

Zusammenhang mit dem Eigeninteresse (self-interest) wie auch ethische Elemente im

Zusammenhang mit dem Mitgefühl (fellow feeling) beinhalten. Wenn beispielsweise

ökonomische Faktoren (im Zusammenhang mit dem self-interest) zu einem Lohnsatz führen, der

die Existenz nicht sichert, sollten (aus dem fellow feeling abgeleitete) ethische Überlegungen

einen langfristig existenzsichernden (natürlichen) Lohnsatz herbeiführen. Dies ist von zentraler

Bedeutung: im modernen Liberalismus (heutige Neoklassik) werden nur ökonomische Faktoren

im Zusammenhang mit der Preisbestimmung durch Angebot und Nachfrage betrachtet; ethische

Elemente werden in die Rahmenbedingungen abgeschoben.

Im 7. Kap. des ersten Buches kommt Adam Smith auch auf die Beziehung zwischen dem

'natürlichen Preis' und den 'Marktpreis' der Güter zu sprechen: "Den tatsächlichen Preis, zu dem

eine Ware gewöhnlich verkauft wird, nennt man ihren Marktpreis. Er kann entweder höher oder

niedriger als der natürliche Preis oder ihm genau gleich sein. ... Ist die am Markt angebotene

Menge einer Ware kleiner als die effektive Nachfrage [die Menge, die zum natürlichen Preis

nachgefragt wird], so kann nicht jeder, der bereit ist, den vollen [natürlichen] Wert von Rente,

Lohn und Gewinn, die ausgegeben werden mussten, zu bezahlen, die Menge erhalten, die er zu

haben wünscht. Einige bieten bereitwillig mehr, ehe sie völlig darauf verzichten. Es setzt sofort

ein Wettbewerb unter ihnen ein, so dass der Marktpreis mehr oder weniger hoch über den

natürlichen Preis steigen wird.

Übersteigt indes das Angebot die effektive Nachfrage am Markt, so kann es nicht an jene

abgesetzt werden, die bereit sind, den vollen [natürlichen] Wert von Rente, Lohn und Gewinn,

die ausgelegt werden müssen, zu bezahlen. Ein Teil muss an die Nachfrager verkauft werden, die

weniger bieten, so dass der niedrige Preis, den sie dafür entrichten, zwangsläufig den Preis

insgesamt drückt. Der Marktpreis wird umso mehr unter den natürlichen Preis fallen, je mehr die

Höhe des Überschusses den Wettbewerb unter den Verkäufern verschärft oder je dringender diese

ihre Ware gerade absetzen müssen. So wird ein gleich grosser Angebotsüberhang beim Import

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verderblicher Waren, wie etwa Orangen, zu einer weit stärkeren Konkurrenz führen als im Falle

von haltbaren, wie etwa Alteisen.

Entspricht das Angebot auf dem Markt gerade der effektiven Nachfrage, so kommt der

Marktpreis ganz von selbst dem natürlichen Preis entweder gleich oder doch weitgehend gleich.

...

Die am Markt angebotene Menge einer Ware passt sich ganz von selbst der wirksamen Nachfrage

an. Denn es liegt im Interesse aller, die Land, Arbeit oder Kapital einsetzen, um ein Gut auf den

Markt zu bringen, das Angebot niemals über die effektive Nachfrage steigen zu lassen.

Umgekehrt sind alle anderen daran interessiert, dass es niemals darunter liegt. ...

Aus diesem Grunde ist der natürliche Preis gleichsam der zentrale, auf den die Preise aller Güter

ständig hinstreben. Verschiedene Zufälle mögen sie bisweilen ein gutes Stück über den

natürlichen Preis halten und sie gelegentlich zwingen, sogar etwas unter ihm zu bleiben, doch

welche Hindernisse sie auch davon abhalten können, dass sie sich einpendeln und in diesem

Zentrum zur ruhe kommen, sie werden dennoch dauernd in diese Richtung drängen.

Alles Erwerbsstreben, Grundlage des jährlichen Angebots an Waren, passt sich auf solche Weise

ganz natürlich der effektiven Nachfrage an. Es zielt ganz zwangsläufig darauf hin, stets nur so

viel auf den Markt zu bringen, wie ausreichen wird, diese Nachfrage, und nicht mehr als diese, zu

decken"(RN, 49-51).

Also: p > p* impliziert q < q*: das Angebot q steigt und p sinkt, und umgekehrt. Die Marktpreise

und die entprechenden Mengen streben immer nach ihren natürlichen Grössen p* und q*

(Diagramm in Vorlesung).

4. Die Verteilungstheorie von Adam Smith

stellt einen Appendix zu seiner Werttheorie dar. Die natürlichen Faktorpreise der

durchschnittliche Lohnsatz w*, die Profitrate r* und die durchschnittliche Bodenrente b* werden

langfristig durch Angebots- und Nachfragefaktoren bestimmt. Adam Smith scheint die Existenz

von Faktormärkten zu postulieren, wobei seine Beschreibung des entsprechenden Mechanismus

vage und vielfach widersprüchlich ist (Ricardo hat als erster eine logisch einwandfreie

Beschreibung des Verteilungsmechanismus gegeben). Grob gesprochen, beschränkt sich Adam

Smith darauf, die Faktoren zu nennen, die die Lage der Angebots- und Nachfragekurven auf den

Faktormärkten beeinflussen.

a) Die Lohntheorie (Kap. 8, 56ff.)

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Dieses Kapitel enthält verschiedene Lohntheorien, von denen sich einige ergänzen, andere aber

im Widerspruch zueinander stehen.

* Eine erste Lohntheorie ist die Abzugstheorie (deduction theory): "Der Ertrag der Arbeit ist die

natürliche Vergütung oder der Lohn der Arbeit. Ursprünglich, vor der Landnahme und der

Ansammlung von Kapital, gehört dem Arbeiter der ganze Ertrag der Arbeit. Er muss weder mit

einem Grundbesitzer noch mit einem Unternehmer teilen"(RN, 56).

Aber dieser ursprüngliche Zustand, in welchem der Arbeiter den ganzen Ertrag seiner Arbeit

erhielt, konnte nur so lange andauern, wie der Boden frei und Kapital noch nicht angesammelt

war.

Sobald der Boden privates Eigentum wird, verlangt der Grundherr einen Teil von fast allen

Erträgnissen, die der Arbeiter durch Anbau oder Sammeln darauf erzielen kann. Die Rente des

Grundbesitzers schmälert deshalb als erstes den Ertrag der Arbeit, die zur Bestellung des Bodens

eingesetzt wird.

Es kommt selten vor, dass derjenige, der Land bestellt, alles besitzt, um bis zur Ernte ohne

fremde Hilfe auszukommen. Im allgemeinen wird sein Lebensunterhalt aus dem Kapital eines

Unternehmers, des Pächters, der ihn beschäftigt, bestritten, welcher natürlich kein Interesse hätte,

einen Arbeiter einzustellen, wenn er nicht am Ertrag der Arbeit beteiligt wäre oder das

eingesetzte Kapital mit Gewinn zurückerhielte. Dieser Gewinn ist der zweite Abzug vom Ertrag

der Landarbeit"(RN, 57).

[Marx stützte sich u.a. auf diese Textstelle aus, um die Abschaffung des Privateigentums zu

begründen: Boden und Kapital sollte in der Form von Gemeineigentum den Produzenten

gehören; damit würde der gesamte Arbeitsertrag der Arbeit zufallen. (Die Gegenposition ist die

neoklassische Grenzproduktivitätstheorie.) Die Abzugstheorie birgt offensichtlich revolutionären

Sprengstoff in sich.]

Formal sieht die Abzugstheorie - bei Vernachlässigung von Boden und Rente - wie folgt aus:

p = wG n + r wG n = wG n (1 + r)

(wG = Geldlohnsatz, n = N/q = direkte und indirekte Arbeit (Zeit) pro Produkteinheit, wG n =

Kapitaleinsatz (Vorschuss zum Unterhalt der Arbeit),

r = Profitrate).

Der Lohnanteil am Preis (Ertrag) ist demnach: (wG n)/p = 1/(1+r) .

r = 0 imliziert demnach einen Lohnanteil von 1: die Arbeiter erhalten den vollen Arbeitsertrag.

Sobald die Profitrate positiv wird, sinkt der Lohnanteil unter eins ab. Diese Verteilungsgleichung

stellt demnach die direkte Verbindung zwischen Wert- und Verteilungstheorie her.

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Die weiteren Lohntheorien von Adam Smith sind eigentlich nichts anderes als Präzisierungen der

Abzugstheorie.

* Eine zweite Lohntheorie, die Adam Smith präsentiert, ist die Verhandlungstheorie (bargaining

theory); hier handelt es sich eindeutig um eine Machttheorie (soziologische Theorie) der

Einkommensverteilung:

"Was üblicherweise Arbeitslohn ist, hängt überall von dem Vertrag ab, den beide Parteien

gewöhnlich miteinander vereinbaren, wobei die Interessen der beiden keineswegs die gleichen

sind. Der Arbeiter möchte soviel wie möglich bekommen, der Unternehmer so wenig wie

möglich geben. Die Arbeiter neigen dazu, sich zusammenzuschliessen, um einen höheren Lohn

durchzusetzen, die Unternehmer um ihn zu drücken.

Es lässt sich indes leicht vorhersehen, welche der beiden Parteien unter normalen Umständen

einen Vorteil in dem Konflikt haben muss und die andere zur Einwilligung in ihre Bedingungen

zwingen wird. Die Unternehmer, der Zahl nach weniger, können sich viel leichter

zusammenschliessen. Ausserdem billigt das Gesetz ihre Vereinbarungen, zumindest verbietet es

sie nicht wie die der Arbeiter. Wir haben keine Parlamentsbeschlüsse gegen Vereinbarungen, die

das Ziel verfolgen, den Lohn zu senken, wohl aber zahlreiche gegen Zusammenschlüsse, die ihn

erhöhen wollen. In allen Lohnkonflikten können zudem die Unternehmer viel länger durchhalten.

Ein Grundbesitzer, ein Pächter, ein Handwerksmeister oder ein Kaufmann, ein jeder von ihnen

könnte, selbst wenn er keinen einzigen Arbeiter beschäftigt, ohne weiteres ein oder zwei Jahre

vom bereits ersparten Vermögen leben. Dagegen könnten viele Arbeiter ohne Beschäftigung

nicht einmal eine Woche, wenige einen Monat und kaum einer ein ganzes Jahr überstehen. ...

Nur selten, so wurde behauptet, war von Zusammenschlüssen der Unternehmer, häufig dagegen

von solchen der Arbeiter zu hören. Wer daraus den Schluss zieht, Unternehmer würden sich

selten untereinander absprechen, kennt weder die Welt, noch versteht er etwas von den Dingen,

um die es hier geht. Unter Unternehmern besteht immer und überall eine Art stillschweigendes,

aber dauerhaftes und gleich bleibendes Einvernehmen, den Lohn nicht über den jeweils geltenden

Satz zu erhöhen. Ein Verstoss gegen dieses Einverständnis ist ein äusserst unfreundlicher Akt,

der für den Unternehmer eine Schande in den Augen seiner Nachbarn und Gleichgesinnten ist.

Tatsächlich hören wir selten etwas von solchen Absprachen, ganz einfach deshalb, weil sie zu

den üblichen, ja sozusagen natürlichen Dingen im Leben gehören, über die niemand spricht.

Mitunter finden sich Unternehmer auch zusammen, um die Löhne sogar unter das bestehende

Niveau zu senken. Diese Absprache geschieht bis zum Zeitpunkt der Ausführung stets in aller

Stille und möglichst heimlich. Nehmen dann die Arbeiter, wie das gelegentlich vorkommt, die

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Lohneinbusse ohne Widerstand hin, so hart es sie auch treffen mag, erfährt kein Mensch etwas

davon"(RN,58).

Auch an diese Textstelle hat Marx angeknüpft als er in seinen Frühschriften, vor all allem in den

ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844, zum Verteilungsproblem Stellung nahm.

Zwei Implikationen der Verhandlungstheorie sind bedeutsam:

Erstens, aus vollkommener Konkurrenz auf den Faktormärkten würden die natürlichen

Faktorpreise w*, r* und b* resultieren, die von der propriety bestimmt sind, d.h. der sozial

angemessenen Mischung von Eigeninteresse und Mitgefühl.

Zweitens, bei unvollkommener Konkurrenz - wenige Unternehmer fragen Arbeit nach und

sprechen sich ab - drohen die Eigeninteressen von Arbeitern und Unternehmern zu dominieren.

In einer solchen Situation sollte dem fellow feeling, dem sozialen Mitgefühl, eine besondere

Bedeutung zukommen. Dies führt nun Adam Smith zu einer weiteren Lohntheorie,

* der Subsistenzmitteltheorie:

"Wenn auch ... Lohnkämpfe in der Regel zugunsten der Arbeitgeber enden, so gibt es dennoch

einen bestimmten Satz, unter den der übliche Lohn selbst für die allereinfachste Tätigkeit für

längere Zeit, wie es scheint, nicht gedrückt werden kann.

Der Mensch ist davon angewiesen, von seiner Arbeit zu leben, und sein Lohn muss mindestens

so hoch sein, dass er davon existieren kann. Meistens muss er sogar noch höher sein, da es dem

Arbeiter sonst nicht möglich wäre, eine Familie zu gründen; seine Schicht würde dann mit der

ersten Generation aussterben. Aus diesem Grunde scheint Cantillon anzunehmen, dass der

einfache Arbeiter der untersten Schicht mindestens doppelt soviel verdienen müsse, wie er für

den eigenen Lebensunterhalt benötigt, damit Mann und Frau imstande sind, zwei Kinder

aufzuziehen. Dabei kann die Frau, so wird unterstellt, nur für ihren eigenen Unterhalt arbeiten, da

sie ja auch die Kinder versorgen muss. Nun stirbt aber die Hälfte der Kinder, wie man berechnet

hat, ehe sie erwachsen sind, so dass auch der ärmste Arbeiter demnach mindestens vier Kinder in

seiner Familie aufziehen muss, damit zwei davon eine Chance haben, das Erwachsenenalter zu

erreichen. Der Unterhalt für vier Kinder soll aber, wie angenommen wird, ungefähr soviel kosten

wie der für einen Erwachsenen" (RN, 59).

Diese Theorie wurde von Ricardo und Malthus im Zusammenhang mit dem Malthusianischen

Bevölkerungsgesetz weiterentwickelt.

* Die Lohnfondstheorie (RN, 60ff.)

Schliesslich trägt Adam Smith noch eine vierte Lohntheorie vor, nämlich die so genannte

Lohnfondstheorie. Zwar gebraucht A. Smith diesen Ausdruck nicht, doch entsprechen seine

Ausführungen etwa der Verteilungstheorie, die J.St. Mill etwa um 1850 als Lohnfondstheorie

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bezeichnet hat: Die Lohnsumme besteht aus dem Lohnfonds W = wN (W = Lohnfonds, gemessen

in Weizen z.B.), N produktive Arbeiter, w = Reallohnsatz), den die Unternehmer zum Unterhalt

der Arbeiter bereitstellen. W wird durch das gesamtwirtschaftliche Sparen bestimmt. W

repräsentiert die Arbeitsnachfrage der Unternehmer, N das Arbeitsangebot; der Lohnsatz w

resultiert aus dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage: w = W/N. Somit steigt die

Beschäftigung N, wenn der der Reallohnsatz w sinkt.

Etwas überraschend folgert Adam Smith aus dieser Theorie: "Es ist nicht die absolute Höhe des

nationalen Wohlstandes sondern seine kontinuierliche Zunahme, von welcher ein Anstieg der

Arbeitslöhne abhängt. Und es sind folglich nicht die wohlhabenden Länder, in denen der

Arbeitslohn am höchsten ist [wegen hohem N relativ zu W; dagegen sind Profite und Renten

hoch!], sondern jene, die sich am schnellsten entwickeln oder am raschesten reich werden [W ist

hoch relativ zu N]" (RN, 61).

* Die Lohntheorie von Adam Smith kann als ein Kompendium von Lohntheorien bezeichnet

werden, die auf verschiedenen Ebenen relativ vage Aussagen über Angebot und Nachfrage nach

Arbeit machen. Einige dieser Lohntheorien ergänzen sich (z.B. Abzugstheorie und die übrigen

Theorien), andere sind miteinander vereinbar (Verhandlungs- und Subsistenzmitteltheorie).

Dagegen steht die Lohnfondstheorie als objektive (makroökonomische) Theorie steht im

Widerspruch zur subjektiven (mikroökonomischen) Verhandlungstheorie. Die aufgrund beider

Theorien bestimmten Lohnsätze müssen sich nicht entsprechen.

b) Die Profittheorie (76ff.)

Über die Bestimmungsfaktoren der Profitrate r (der Verzinsung des eingesetzten fixen und

umlaufenden Kapitals) sagt Adam Smith wenig aus. Er hält u.a. fest, dass die Profitrate in der

Regel etwas höher als der Geldzinssatz sei. Diese Differenz kann als eine Art von Risikozuschlag

betrachtet werden. Die Profitrate entwickelt sich demnach ähnlich wie der Zinssatz, der eine

sinkende Tendenz habe (77): "Ein erhöhter Einsatz von Kapital, der zu einem Anstieg der Löhne

führt, wirkt gewinnschmälernd. Investieren nämlich viele reiche Kaufleute im gleichen Gewerbe,

so verringert natürlich ihr gegenseitiger Wettbewerb ... ihren Gewinn, und fliesst allen

Erwerbszweigen einer Volkswirtschaft im gleichen Masse mehr Kapital zu, so muss dieselbe

Konkurrenz überall dieselbe Wirkung haben" (76).

Dieses Argument kann anhand der obigen Verteilungsgleichung

(wG n)/p = 1/(1+r)

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verdeutlicht werden: Ein vermehrter Kapitaleinsatz führt aufgrund der Lohnfondtheorie zu

steigenden Geld- und Reallöhnen. Bei gegebener Produktionstechnik (konstante n = N/q = 1/A; A

= q/N) muss die Profitrate r sinken.

c) Die Bodenrente

Adam Smith gibt zu diesem Thema lange theoretische und historische Ausführungen. Hier nur

zwei wichtige Textstellen:

"Die Rente, der Preis für die Nutzung von Grund und Boden, ist naturgemäss die höchste, die ein

Pächter bei gegebener Beschaffenheit des Bodens zahlen kann. Der Grundbesitzer ist bestrebt, die

Bedingungen für die Pacht so anzupassen, dass dem Pächter nicht mehr vom Ertrag bleibt, als

ausreicht, um sein Kapital zu erhalten, mit dessen Hilfe er Saatgut beschafft, Arbeiter bezahlt und

Vieh und landwirtschaftliche Geräte kauft und ersetzt, und um den in der Nachbarschaft üblichen

Gewinn einer Agrarinvestition zu erzielen"(125).

"Man sollte ... beachten, dass die Rente auf andere Weise als Lohn und Gewinn an der

Zusammensetzung der Güterpreise beteiligt ist. Hoher und niedriger Lohn und Gewinn sind die

Ursache für einen hohen und niedrigen Preis, während eine hohe und niedrige Rente die Folge

von ihm ist"(127).

In dieser letzteren Textstelle sagt Adam Smith, die Rente sei eine Folge hoher Preise

landwirtschaftlicher Güter. Dagegen impliziert seine Theorie des natürlichen Preises, dass die

Rente eine Preisursache sei. Diesen Widerspruch hat Ricardo bereinigt: Nach ihm ist die Rente

eindeutig eine Folge hoher Weizenpreise.

5. Die Wachstumstheorie von Adam Smith (Buch II)

a) Problematik

Die Wachstumstheorie stellt zusammen mit der Entwicklungstheorie (Buch III) das Kernstück

des Smithschen Werkes dar. Es geht hier um die Frage: Welche Faktoren bewirken die Zunahme

des Realkapitalstocks (fixes und umlaufendes Kapital) und damit der Produktionskapazitäten

sowie des Reichtums (Sozialprodukt).

b) Definitionen

Im Folgenden sind alle Einkommens- und Produktionsgrössen in realen Einheiten ausgedrückt,

gemessen in Weizen.

Die produktiven Arbeiter (N) sind in denjenigen güterproduzierenden Sektoren tätig, die einen

Überschuss (Profit und Rente) erbringen, d.h. Landwirtschaft, Manufaktur und Handwerk. Die

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unproduktiven Arbeiter - im weitesten Sinn - sind vorwiegend im Dienstleistungssektor tätig und

werden aus dem Überschuss bezahlt (z.B. Beamte, Professoren, Politiker, Schauspieler,

Dienstboten).

Das Kapital besteht aus Umlaufs- und Fixkapital. 1) Umlaufskapital: a) Löhne der produktiven

Arbeiter: W = wN (W = Lohnfonds; w = Lohnsatz), b) Rohmaterialverbrauch: mN (m =

Rohmaterialverbrauch pro Arbeiter).

2) Fixkapital: kN (k = Fixkapitalausstattung eines produktiven Arbeiters); das Fixkapital besteht

aus Maschinen, Werkzeugen, Gebäuden (Handwerksstätten, Manufakturen, Fabriken); Adam

Smith scheint auch die Ausbildungskosten (human capital!) und das Geld zum Fixkapital zu

zählen.

Demnach ist das Gesamtkapital K = (w + m + k) N .

Einkommensbegriffe:

Bruttoeinkommen QB = Sozialprodukt plus Zwischenprodukte = Q + Z.

Die Löhne der produktiven Arbeiter und die Zwischenprodukte sowie ein Teil des Fixkapitals dK

= dkN (d = Abschreibungssatz) werden im Produktionsprozess aufgebraucht. Das Nettoprodukt

QN im Sinne von Adam Smith und der Klassiker allgemein ist deshalb:

QN = QB - (w + m + dk) N = QB - c N

(c = Wert der Güter, die ein produktiver Arbeiter im Produktionsprozess verbraucht).

Demnach ist das Nettoprodukt:

QN = P + R (Profite P und Renten R - Boden -und Lohnrenten).

Das Nettoprodukt entspricht demnach dem sozialen Überschuss. Dieser kann auf dreifache Art

und Weise verwendet werden: 1) Erhöhung des Kapitalstocks (Netto-Investitionen); 2)

Finanzierung (über Besteuerung) des politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens

(institutioneller Überbau); 3) Luxuskonsum.

c) Das Wachstumsmodell:

QB = A(k) N (A = Arbeitsproduktivität, abhängig von der Kapitalausstattung pro

Arbeiter, k)

QN = QB - c N = [A(k) - c] N

Aus dem Nettoprodukt wird ein Bruchteil s gespart und investiert:

I = ∆K = s [A(k) - c] N

Der nicht gesparte Teil des Nettoeinkommens - (1-s) [A(k) - c] N - dient dem Luxuskonsum und

dem Aufbau eines institutionellen Überbaus.

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ividiert durch den Kapitalstock K = (w + m + k) N ergibt die Wachstumsrate des Kapitalstocks,

damit auch die Wachstumsrate des Sozialprodukts, d.h. des Reichtums einer Nation:

I/K = ∆K/K = gK = s [A(k) - c] N / (k + w + m) N =

= s [A(k) - c] / (k + w + m) .

Diese Gleichung bringt die wesentlichen Elemente der Wachstumstheorie von Adam Smith zum

Ausdruck:

- Am wichtigsten ist der Zusammenhang zwischen Wachstum und Einkommensverteilung: Ein

niedrigerer Lohnsatz w führt zu einem höheren Nettoprodukt pro Arbeiter: A(k) - c steigt;

gleichzeitig gehen die Ausgaben für Löhne - der Lohnfonds - zurück: w im Nenner der

Wachstumsgleichung sinkt. Beides erhöht die Wachstumsrate gK .

- Eine hohe Wachstumsrate gK impliziert umfangreiche Investitionen, die einen Anstieg der

Kapitalausstattung pro Arbeiter (k) bewirken. Ein steigendes k wiederum erhöht die

Arbeitsproduktivität A, was seinerseits die Wachstumsrate gK erhöht. Ein kumulativer

Wachstumsprozess setzt ein.

- Schliesslich ist die Wachstumsrate einer Volkswirtschaft ist umso höher, je grösser der gesparte

Teil s des Nettoeinkommens ist. Für Adam Smith ist Sparen eine Tugend, dies im Gegensatz zu

den Merkantilisten und Keynes. Daher seine Abneigung gegen Luxuskonsum und überhöhte

Staatsausgaben.

6. Die Theorie der ökonomischen Entwicklung (Buch III)

a) Problematik: Die Entwicklungstheorie ist eigentlich eine vertiefte Wachstumstheorie. Es sollen

die institutionellen (sozialen, politischen, rechtlichen) Vorbedingungen für das Zustandekommen

von Wachstum aufgezeigt werden. Das Wachstum des Reichtums eines Landes drückt sich aus in

einer Zunahme der Arbeitsproduktivität A (siehe obige Wachstumsgleichung).

Adam Smith beschreibt zwei verschiedene Entwicklungsprozesse:

- den natürlichen Entwicklungsprozess, gewissermassen ein idealer Entw. proz., wie er sich in

einer Wettbewerbswirtschaft abspielen würde.

- den tatsächlichen Entwicklungsprozess, wie er in Westeuropa zur Zeit des Merkantilismus

(etwa von 1500 bis 1750) vor sich gegangen ist.

Hier deuten wir nur den natürl. Entw. pr. an, der tatsächliche ist Gegenstand der Vorlesung über

Merkantilismus.

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b) Der natürliche Entwicklungsprozess

beruht auf einer Interaktion zwischen Industrie und Landwirtschaft. Dabei ist wichtig, dass in der

Industrie steigende Skalenerträge vorherrschen (die Durchschnittskosten sinken bei zunehmender

Produktionsmenge), in der Landwirtschaft sinkende (die Durchschnittskosten steigen, wenn die

Produktion ausgeweitet wird). Die sinkenden Durchschnittskosten in der Industrie führen zu

einem kumulativen angebotsorientierten Wachstumsprozess bei Vollbeschäftigung, was

kennzeichnend ist für den natürlichen Entwicklungsprozess. Dies drückt vielleicht am stärksten

den Optimismus von Adam Smith aus.

Der natürliche Entwicklungsprozess von Adam Smith kann anhand eines einfachen Modells

skizziert werden. [Alle Grössen sind dabei in Einheiten des landwirtschaftlichen

Produktes(Weizen) gemessen, wobei die Industriegüter-Einheit so gewählt ist, dass der relative

Preis p = pI / pL = 1 ist (pI = Preis einer Industriegüter-Einheit, pL = Preis eines Zentners

Weizen (landwirtschaftliches Gut): Keynes's Treatise on Money technique!]

(Wert der) Produktion in der Landwirtschaft: QL = AL NL = wNL + UL

(Wert der) Produktion in der Industrie: QI = AI NI = wNI + PI

(UL = landwirtschaftlicher Überschuss, PI = Profite in der Industrie)

Dies kann graphisch wie folgt dargestellt werden:

Vereinfachend sei nun postuliert, dass die Löhne für landwirtschaftliche Güter

(Grundkonsumgüter) ausgegeben werden, die Industrieprofite und der lw Überschuss für

industrielle Konsum- und Investitionsgüter. Angebot und Nachfrage in beiden Sektoren können

nun gegenübergestellt werden:

PI

WI = w NI

UI = PL + R

WL= w NL w w

yL

Geld

Güter

PI/PL yI = p yL

=

=

1 1

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Angebot Nachfrage

Landwirtschaft wNL + UL = wNL + wNI

Industrie wNI + PI = UL + PI

Für beide Sektoren ergibt sich demnach dieselbe Gleichgewichtsbedingung:

wNI = UL .

Der ökonomisch-gesellschaftliche Gehalt dieser Bedingung ist von zentraler Bedeutung:

- Ohne landwirtschaftlichen Überschuss UL kann es keinen Industriesektor geben. Durch UL

werden die Arbeiter in der Industrie ernährt, d.h. mit den lebensnotwendigen Gütern versorgt.

- Diese Gleichgewichtsbedingung widerspiegelt den produktiven Kreislauf von Gütern und Geld

(der produktive Kreislauf geht im Rahmen des sozialen Produktionsprozesses vor sich und trägt

zum guten Funktionieren dieses Prozesses bei): Die Arbeiter im Industriesektor geben ihre

Geldlöhne aus, um Nahrungsmittel (lebensnotwendige Konsumgüter) vom landwirtschaftlichen

Sektor zu kaufen. Die entsprechende Geldsumme stellt die Gewinne und Renten der Pächter und

Grundbesitzer dar (der Überschuss in Geld ausgedrückt). Diese werden ausgegeben, um Konsum-

und Kapitalgüter vom Industriesektor zu kaufen.

Der Tausch von Gütern gegen Geld steht hier ganz im Dienste der Produktion.

- Der soeben beschriebene Prozess läuft bei Vollbeschäftigung ab: Der Reallohnsatz w sinkt

solange, bis Vollbeschäftigung erreicht ist. Im landwirtschaftlichen Sektor führt ein sinkendes w

zu einem höheren NL und UL. Aufgrund der Gleichgewichtsbedingung wNI = UL nimmt NI

zu, wenn UL steigt und w sinkt.

- Dieser Prozess ist auch kumulativ selbstverstärkend: Sparen und Investieren erhöhen UL. Über

wNI = UL steigt die Industriebeschäftigung NI und die industrielle Arbeitsproduktivität AI.

Industrieprodukte werden vorübergehend im Verhältnis zu landwirtschaftlichen Produkten

billiger. Der landwirtschaftliche Sektor kann deshalb vermehrt Investititionsgüter vom

Industriesektor kaufen. Dies steigert wiederum UL, weil die landwirtschaftliche

Arbeitsproduktivität AL zunimmt. Letzteres hat wieder positive Rückwirkungen auf die

Industrie: Lebensmittel werden vorübergehend billiger und die Industrieprofite steigen. (Hier

wiederum der Smithsche Optimismus!)

- Die obige Gleichgewichtsformel kann erweitert werden:

wNI + G = c UL + s UL + t UL

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(G = Staatsausgaben, verbunden mit der Beschäftigung unproduktiver Arbeiter; G = t UL mit t

als Steuersatz auf dem Überschuss, c = konsumierter Teil des Überschusses, s = gesparter und

investierter Teil von UL).

Wenn G und t steigen, werden mehr unproduktive Arbeiter im Staatsdienst beschäftigt (z.B.

Soldaten und Beamte) und NI (produktive Arbeiter) in der Industrie geht zurück. Oder eine

steigende Konsumquote c geht einher mit einer sinkenden Spart- und Investitionsquote s. Beides

führt zu einer Verminderung der Wachstumsrate und damit zu einer langsameren Zunahme des

Reichtums (siehe obige Wachstumsgleichung).

c) Natürlicher und tatsächlicher Entwicklungsprozess

Der natürliche Entwicklungsprozess ist angebotsorientiert (liberal, neoklassisch), der tätsächliche

nachfrageorientiert (merkantilistisch, Keynesianissch). Dies ist von zentraler Bedeutung.

Wenn der Entwicklungsprozess angebotsorientiert wäre, würden mit der Zeit alle Länder der

Welt in den oben skizzierten kumulativen Wachstums- und Entwicklungsprozess einmünden.

Arbeit N und deren Ausbildungsstand, Kapital K und Boden B (landw. Produkte, Rohstoffe und

Energieträger) würden jeweils die Skala und die Zunahme der wirtschaftlichen Aktivität

bestimmen. Diese These wurde vom amerikanischen Ökonomen Walt Rostow in den 1960er

Jahren aufgestellt.

Wenn aber die effektive Nachfrage die wirtschaftliche Aktivität bestimmt, kann sich für

bestimmte Länder ein kumulativer Prozess entwickeln, der vom Vollbeschäftigungs-

Gleichgewicht immer weiter wegführt; dabei führen eine ungleicher werdende Verteilung und

stagnierende oder sinkende Staatsausgaben zu eventuell steigender Massenarbeitslosigkeit. Dies

ist vor allem der Fall für ökonomisch unterentwickelte Länder, die Rohstoffe, landwirtschaftliche

Produkte und eventuell Standard-Industrieprodukte produzieren.

Für erfolgreiche Industrieländer jedoch, vor allem für die erfolgreichen Exporteure von

Industrieprodukten, kann der nachfragebestimmte kumulative Prozess gerade in die

Gegenrichtung führen, nämlich in Richtung hohes Beschäftigungsvolumen oder sogar

Vollbeschäftigung.

Weltweit kann somit der nachfragebestimmte kumulative Entwicklungsprozess zu sich

vergrössernden Wohlstandsunterschieden führen. Das Nord-Süd-Problem und nun eventuell der

Ost-West-Graben sind Indizien dafür, ebenso die zunehmende Ungleichheit in der

Einkommensverteilung und des regionalen Wohlstandes. Diese eher pessimistische Sicht des

Entwicklungsprozesses wurde vor allem vom englischen Ökonomen Nicholas Kaldor (1908-86)

vertreten.

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IV. Begründung und Rolle des Staates bei Adam Smith

Im "Reichtum der Nationen" finden sich zwei Begründungen des Staates:

1) Staatszweck ist die Realisierung des Gesamtwohls (Gemeinwohls); es handelt sich hier um das

natürliche Staatsziel, in einem gewissen Sinne ein Idealbild des Staates.

2) In der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Realität [mit vielfach sehr ungleicher

Einkommensverteilung und unfreiwilliger Arbeitslosigkeit] schützt der Staat das Eigentum

[Marx spricht später von einer entfremdeten Wirklichkeit und einem entfremdeten Staat].

1. Staat und Gesamtwohl

"[Der Staat hat] die Aufgabe, die Voraussetzungen für eine prosperierende Marktwirtschaft

[commercial society] bei minimaler Restriktion der Freiheit der Individuen zu schaffen und zu

erhalten"(Pichler, in Kurz 1990, p. 263). Dies impliziert die Realisierung des "einfachen Systems

der natürlichen Freiheit", in dem die menschlichen Beziehungen durch die propriety (fellow

feeling & self-interest) geregelt sind. Ausser bei Marktversagen, z.B. im Falle von

Monopolbildungen, hat der Staat nicht in die Wirtschaft einzugreifen, weil diese sich

normalerweise selbst reguliert.

Um das Gesamtwohl zu realisieren muss der Staat drei Aufgaben erfüllen:

1) die äussere und innere Sicherheit gewährleisten (Landesverteidigung & Polizei),

2) Justizsystem (vor allem Gerichte) und Staatsverwaltung aufbauen,

3) bestimmte öffentliche Aufgaben wahrnehmen (Erziehung, Infrastruktur)

Das Wahrnehmen dieser Aufgaben erfordert aber finanzielle Mittel. Dies führt Adam Smith im 5.

Buch seines "Reichtums der Nationen" zu den Problemen des Staatshaushaltes, woraus sich

später eine neue wissenschaftliche Disziplin entwickelte, die Finanzwissenschaft.

5. Buch: Die Finanzen des Landesherren oder des Staates (585ff.)

1. Kapitel: Die öffentlichen Ausgaben (587ff.)

2. Kapitel: Die Quellen der allgemeinen oder öffentlichen Einnahmen eines Landes (695ff.)

3. Kapitel: Staatsschulden (781ff.)

Im Allgemeinen soll der Staat in seiner Tätigkeit zurückhaltend sein und sich nach Möglichkeit

nicht verschulden.

2. Realistische Staatstheorie

Page 36: Adam Smith: Optimistischer Liberalismus · Einige markante Züge seines Charakters, herausgearbeit von seinem Biographen Dugald Stewart (in H.C. Recktenwald: Geschichte der Politischen

Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte

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In der historischen Wirklichkeit ist nach Adam Smith der Staat in erster Linie erforderlich, um

das Eigentum zu schützen. Der Staat entstehe auf Betreiben einer bestimmten Interessengruppe,

nämlich der Eigentümer. Allerdings ist hier mit Staat vor allem der Rechtsstaat im

Zusammenhang mit den Ausgaben für das Justizwesen gemeint. Auf Seite 601 des "Reichtums

der Nationen" macht Adam Smith einige überraschende Bemerkungen:

"Bei Jägervölkern findet man ganz selten einen Berufsrichter oder eine regelmässige

Rechtspflege, denn es gibt kaum Privateigentum, zumindest übersteigt es nicht den wert einer

Arbeit von 2 oder 3 Tagen. Menschen, die kein Eigentum besitzen, können gegenseitig nur ihrer

Person oder ihrem Ruf schaden. Wenn aber jemand einen anderen tötet, verwendet, schlägt oder

diffamiert, so leidet zwar derjenige, dem der Schaden zugeführt wird, der Täter zieht jedoch

keinerlei Vorteil daraus. Anders ist es bei Eigentumsdelikten. Hier entspricht der Nutzen der

Person, die das Unrecht begeht, häufig dem Verlust des Geschädigten. Neid, Bosheit oder

Rachsucht sind allein die Triebkräfte, die Menschen dazu bringen können, dass sie Person oder

Ruf des anderen schädigen. Dergleichen kommt indes nicht häufig, ja selbst bei den übelsten

Charakteren nur gelegentlich vor. Empfinden solche Leute dabei vielleicht auch grosse

Befriedigung, einen echten oder dauerhaften Vorteil haben sie dadurch nicht. Deshalb halten für

gewöhnlich vernünftige Überlegungen die meisten Menschen davon ab. Sie könnten also mit

einem zumutbaren Grad an Sicherheit in einer Gemeinschaft zusammenleben, selbst wenn es

keine Zivilbehörde gäbe, die sie gegen das Unrecht jener Untugenden schützt. Dagegen sind es

Habsucht und Ehrgeiz bei den Reichen, Arbeitsscheu und Neigung zu gelegentlichem Nichtstun

und zu Vergnügungen bei den Armen, welche zu Übergriffen auf fremdes Eigentum Anlass

geben, Triebkräfte, die gleichsam ständig am Werke sind und deren Einfluss weit verbreitet ist

[Adam Smith hatte kein Verständnis für das Phänomen der unfreiwilligen Arbeitslosigkeit].

Überall, wo es grosse Vermögen gibt, ist auch die Ungleichheit gross. Auf einen sehr Reichen

kommen dann wenigstens 500 Arme, denn der Überfluss weniger setzt Armut bei vielen voraus.

Ein solcher Reichtum der Besitzlosen, die häufig durch Not gezwungen sind und von Neid

getrieben, sich deren Eigentum aneignen. Nur unter dem Schutz einer staatlichen Behörde kann

der Besitzer eines wertvollen Vermögens, Frucht der Arbeit vieler Jahre oder sogar vieler

Generationen, auch nur eine einzige Nacht ruhig und sicher schlafen. Er ist ständig von

unbekannten Feinden umgeben, die er nie besänftigen kann, obgleich er sie niemals gereizt hat,

und vor deren Unrecht ihn nur der mächtige Arm einer Zivilbehörde schützt, die stets zu einer

Bestrafung bereit ist. Für den Erwerb wertvoller und grosser Vermögen ist es daher unbedingt

erforderlich, dass eine solche Verwaltung eingerichtet ist. Wo es jedoch kein Privateigentum gibt

oder wenigstens keines, das den Erlös aus einer Arbeit von wenigen Tagen übersteigt, ist eine

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Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte

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zivile Behörde nicht so nötig"(RN, 601). Marx hat u.a. an diese Textstelle angeknüpft, als er von

Entfremdung (Kluft von natürlichem und tatsächlichem Zustand) sprach und die Abschaffung des

Privateigentums als grundlegende Vorbedingung für den Sozialismus postulierte. Auch seine

Klassenkampftheorie der Einkommensverteilung findet bei Adam Smith Anknüpfungspunkte.

V. Würdigung

1. Adam Smith hat das erste systematische Werk der Wirtschaftswissenschaften geschaffen.

Dieses ist glänzend und leicht lesbar geschrieben. Theorie und Geschichte sind problemlos zu

einer Einheit verbunden. Der Kontrast zwischen natürlichen Zuständen und historischer

Wirklichkeit tritt scharf hervor.

2. Adam Smith ist aus zwei Gründen ein optimistischer Liberaler: - einmal glaubt er, dass der

Mensch von Natur aus gut sei; die propriety (sozial angemessenes Handeln) werde sich

langfristig durchsetzen und zu wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Harmonie führen. - Wenn

Konkurrenzbedingungen vorherrschen, ist die Wirtschaft nach Adam Smith ein

selbstregulierender Mechanismus, dies in Analogie zu Newton, der das ganze Universum als

einen Mechanismus betrachtete (auch heute noch ist der Ausdruck Marktmechanismus geläufig).

[Unserer Ansicht nach ist dies eine naive und gefährliche Vorstellung: Weil über das Prinzip der

effektiven Nachfrage eine ungleichere Einkommensverteilung und stagnierende oder sinkende

Staatsausgaben zu zunehmender unfreiwilliger Arbeitslosigkeit führen, bewirken kumulative

Prozesse, dass eine sich selbst überlassene Marktwirtschaft sich immer weiter vom

Gleichgewicht entfernt und sogar zusammenbrechen kann wie die schwere Krise der 1930er

Jahre gezeigt hat. Gerade in diesen Jahren wurden vor allem von Maynard Keynes diese

merkantilistischen Argumente wieder in den Vordergrund gestellt und weiterentwickelt. Adam

Smith jedoch hatte kein Verständnis für die Argumente seiner merkantilistischen Vorgänger, die

ganz klar gesehen hatten, dass Arbeitsplätze vor allem über die Stimulierung der

Aussennachfrage erkämpft werden müssen.]