„Der Jazz ist tot!“ - hca.uni-heidelberg.de · trag durch die Vermittlung von John Coltrane....

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„Der Jazz ist tot!“ Der Musiker Archie Shepp im Gespräch – Vortrag heute in Heidelberg, Konzert am Samstag in Ludwigshafen – „Identität ist die Hauptfrage“ der schwarzen Musik Von Christian Broecking Es war auf dem Höhepunkt der Proteste gegen den Vietnamkrieg, als Archie Shepp, Jahrgang 1937, sein Saxofon zum Maschinengewehr des Vietcong erklärte. So radikal gibt er sich heute nicht mehr. Shepp galt in den Sechziger Jahren als Erfinder der Fire Music, bereits in den Siebzigern begann er sich dem Blues zu- zuwenden. Seine künstlerische Ent- wicklung ist auf über 100 Platten doku- mentiert. > Sie haben einst den Begriff „black mu- sic“ geprägt. Als Synonym für Jazz? Jeder kann Jazz spielen. Jazz ist wie Klee- nex, Marlboro oder Coca-Cola – meiner Einschätzung nach eine kommerzielle Idee. Ich rede nicht über Jazz, sondern über zeitgenössische afroamerikanische Instrumentalmusik, die neben der Ge- sangs- und Tanztradition besteht, die wir ja auch haben. Ich rede wirklich über ei- ne ausschließlich schwarze Angelegen- heit. Soul und Leidenschaft, diese Werte kommen aus dieser Erfahrung. Die Ver- gewaltigung unserer Mütter, der Mord an unseren Vätern: wir kamen als Sklaven. > Suchen Sie immer noch nach den Ur- sprüngen? Es gibt gewisse unantastbare Dinge in ei- ner Kultur, die von anderen einfach nicht kopiert werden können. Der Blues ist mehr als Musik – er ist eine Lebensweise, deine Art zu kochen, die Art, dein Haar zu tragen, die Art, wie deine Mutter spricht, schau dir Bluesleute wie John Lee Hooker an – sie sahen auch besonders aus. Why should it be so easy to be a nigger? Warum sollte es so einfach sein, ich selbst zu sein? Ich suche heute nach einer stär- keren Identität in der black music. Äs- thetisch gesehen fühle ich mich jetzt mei- ner Tradition bedeutend näher, Big Bill Broonzy, Big Joe Williams, Robert John- son, Memphis Slim. Das sind Männer, die mir auch heute noch viel zu sagen haben. > Warum so weit zurückgehen? Der Blues ist die einzige afroamerikani- sche Kulturleistung, die sich vollkom- men unbeeinflusst von europäischen Be- zügen entwickelt hat. Die sogenannte Negro Traditional Music ist die einzige integrative Grundlage des Swing und der schwarzen Instrumentalmusik. Ich singe einen schwarzen Song. Die Identität ist heute wirklich die Hauptfrage. > Kann man heute Original und Fäl- schung noch so klar trennen? Die Musik begann in Harlem, Detroit, Philadelphia, in den großen Städten, im Süden und oft in den ärmsten Commu- nities. Coltrane, Parker, Young kamen aus den schwarzen Ghettos. Heute kommen die meisten Jungs aus der Bourgeoisie und haben den Blues an der Universität ge- lernt. Die afroamerikanische Musik hin- gegen war immer aktuell und sehr le- bendig. Negro Music braucht ihre Basis in der Black Community. Meine Groß- mutter schenkte mir mein erstes Saxo- fon, ein Ratenkauf und gerade noch er- schwinglich. In den heutigen schwarzen Ghettos kann sich keiner mehr ein Sa- xofon leisten. Aber ohne Black Commu- nity keine Negro Music. Das ist die so- ziale Essenz dieser Musik. > Der Jazz nähert sich also aus sozialen Gründen seinem Ende? Der Jazz ist tot! Ich würde sagen, dass der Rapper den Jazzmusiker ersetzt hat. Die Entwicklung des Rap korrespondiert mit der großen Armut, die heute in den Ghet- tos herrscht. Jazz hat keinerlei Einfluss mehr auf das Leben der afroamerikani- schen Kids. Ich erzog meine Kinder und brachte sie in guten Colleges unter, auf Jazz habe ich nie allzu viel gegeben. > Sie reden also nicht von Jazz, sondern von der afroamerikanischen Commu- nity. Welche Funktion hat Musik da? Sie nahmen uns die Saxofone weg, aber nicht die Musik. Wir fahren damit fort, aus dem Vorhandenen wieder etwas Neu- es zu erschaffen, während andere Leute fortfahren, Musik von uns zu stehlen. Af- roamerikanische Musik und Jazz im Be- sonderen werden ja nicht nur in den Staa- ten gespielt. Diese Musik ist heute welt- weit präsent – bereichert um alle denk- baren lokalen Nuancierungen. > Sie bekamen ihren ersten Plattenver- trag durch die Vermittlung von John Coltrane. Ich würde Coltrane als meinen Mentor bezeichnen, denn er war mehr als ein Leh- rer. Es war wertvoll, ihn als Menschen zu kennen: Er vertiefte mein Verständnis davon, anderen etwas zu geben. > Ihre Generation ist somit die letzte, die diese Musik noch am Leben erhält? Das sehe ich so. Kein Original in Sicht. Zeigen Sie mir heute den Musiker, der wirklich etwas grundlegend Neues ge- schaffen hat. Meine Generation hat die Aufgabe, die Tradition in einen aktuel- len Kontext zu übersetzen. F i Info: Vortrag beim Symposium „Lost in Diversity“ in der Alten Aula der Heidelberger Universität am 8.11., 15.30 Uhr. Konzert mit Yusef Lateef am 10.11., 20 Uhr, im Feierabendhaus Ludwigshafen. Ohne Black Community gibt es keinen Jazz, meint Archie Shepp. Foto: Agentur FEUILLETON 15 Nr. 259 / Rhein-Neckar-Zeitung Donnerstag, 8. November 2012 ANZEIGE

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„Der Jazz ist tot!“Der Musiker Archie Shepp im Gespräch – Vortrag heute in Heidelberg, Konzert am Samstag in Ludwigshafen – „Identität ist die Hauptfrage“ der schwarzen Musik

Von Christian Broecking

Es war auf dem Höhepunkt der Protestegegen den Vietnamkrieg, als ArchieShepp, Jahrgang 1937, sein Saxofon zumMaschinengewehr des Vietcong erklärte.So radikal gibt er sich heute nicht mehr.Shepp galt in den Sechziger Jahren alsErfinder der Fire Music, bereits in denSiebzigern begann er sich dem Blues zu-zuwenden. Seine künstlerische Ent-wicklung ist auf über 100 Platten doku-mentiert.

> Sie haben einst den Begriff „black mu-sic“ geprägt. Als Synonym für Jazz?

Jeder kann Jazz spielen. Jazz ist wie Klee-nex, Marlboro oder Coca-Cola – meinerEinschätzung nach eine kommerzielleIdee. Ich rede nicht über Jazz, sondernüber zeitgenössische afroamerikanischeInstrumentalmusik, die neben der Ge-sangs- und Tanztradition besteht, die wirja auch haben. Ich rede wirklich über ei-ne ausschließlich schwarze Angelegen-heit. Soul und Leidenschaft, diese Wertekommen aus dieser Erfahrung. Die Ver-gewaltigung unserer Mütter, der Mord anunseren Vätern: wir kamen als Sklaven.

> Suchen Sie immer noch nach den Ur-sprüngen?

Es gibt gewisse unantastbare Dinge in ei-

ner Kultur, die von anderen einfach nichtkopiert werden können. Der Blues istmehr als Musik – er ist eine Lebensweise,deine Art zu kochen, die Art, dein Haarzu tragen, die Art, wie deine Mutterspricht, schau dir Bluesleute wie John LeeHooker an – sie sahen auch besonders aus.Why should it be so easy to be a nigger?Warum sollte es so einfach sein, ich selbstzu sein? Ich suche heute nach einer stär-keren Identität in der black music. Äs-thetisch gesehen fühle ich mich jetzt mei-ner Tradition bedeutend näher, Big BillBroonzy, Big Joe Williams, Robert John-son, Memphis Slim. Das sind Männer, diemir auch heute noch viel zu sagen haben.

> Warum so weit zurückgehen?Der Blues ist die einzige afroamerikani-sche Kulturleistung, die sich vollkom-men unbeeinflusst von europäischen Be-zügen entwickelt hat. Die sogenannteNegro Traditional Music ist die einzigeintegrative Grundlage des Swing und derschwarzen Instrumentalmusik. Ich singeeinen schwarzen Song. Die Identität istheute wirklich die Hauptfrage.

> Kann man heute Original und Fäl-schung noch so klar trennen?

Die Musik begann in Harlem, Detroit,Philadelphia, in den großen Städten, imSüden und oft in den ärmsten Commu-

nities. Coltrane, Parker, Young kamen ausden schwarzen Ghettos. Heute kommendie meisten Jungs aus der Bourgeoisie undhaben den Blues an der Universität ge-lernt. Die afroamerikanische Musik hin-gegen war immer aktuell und sehr le-bendig. Negro Music braucht ihre Basisin der Black Community. Meine Groß-mutter schenkte mir mein erstes Saxo-fon, ein Ratenkauf und gerade noch er-schwinglich. In den heutigen schwarzenGhettos kann sich keiner mehr ein Sa-xofon leisten. Aber ohne Black Commu-nity keine Negro Music. Das ist die so-ziale Essenz dieser Musik.

> Der Jazz nähert sich also aus sozialenGründen seinem Ende?

Der Jazz ist tot! Ich würde sagen, dass derRapper den Jazzmusiker ersetzt hat. DieEntwicklung des Rap korrespondiert mitder großen Armut, die heute in den Ghet-tos herrscht. Jazz hat keinerlei Einflussmehr auf das Leben der afroamerikani-schen Kids. Ich erzog meine Kinder undbrachte sie in guten Colleges unter, aufJazz habe ich nie allzu viel gegeben.

> Sie reden also nicht von Jazz, sondernvon der afroamerikanischen Commu-nity. Welche Funktion hat Musik da?

Sie nahmen uns die Saxofone weg, abernicht die Musik. Wir fahren damit fort,

aus dem Vorhandenen wieder etwas Neu-es zu erschaffen, während andere Leutefortfahren, Musik von uns zu stehlen. Af-roamerikanische Musik und Jazz im Be-sonderen werden ja nicht nur in den Staa-ten gespielt. Diese Musik ist heute welt-weit präsent – bereichert um alle denk-baren lokalen Nuancierungen.

> Sie bekamen ihren ersten Plattenver-trag durch die Vermittlung von JohnColtrane.

Ich würde Coltrane als meinen Mentorbezeichnen, denn er war mehr als ein Leh-rer. Es war wertvoll, ihn als Menschen zukennen: Er vertiefte mein Verständnisdavon, anderen etwas zu geben.

> Ihre Generation ist somit die letzte, diediese Musik noch am Leben erhält?

Das sehe ich so. Kein Original in Sicht.Zeigen Sie mir heute den Musiker, derwirklich etwas grundlegend Neues ge-schaffen hat. Meine Generation hat dieAufgabe, die Tradition in einen aktuel-len Kontext zu übersetzen.

Fi Info: Vortrag beim Symposium „Lostin Diversity“ in der Alten Aula derHeidelberger Universität am 8.11.,15.30 Uhr. Konzert mit Yusef Lateefam 10.11., 20 Uhr, im FeierabendhausLudwigshafen.

Ohne Black Community gibt es keinen Jazz,meint Archie Shepp. Foto: Agentur

FEUILLETON 15Nr. 259 / Rhein-Neckar-Zeitung Donnerstag, 8. November 2012

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