Adipositas als Suchtkrankheit?

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gebungsverfahren in diesem Feld kritisch begleiten. Letztlich so Maier, müssen die Psychiater „für ihr Fach eine Behand- lungsethik entwickeln“. Nötig seien Leitlinien sowohl für die Zwangsbehandlung als auch für eine gemeinsam mit den Pati- enten entworfene erapiestrategie. Defizite sieht Maier bei der Förderung der psychiatrischen Forschung. Diese Förderung hält er in Deutschland für „äußerst miserabel“. Es gebe je ein Deutsches Zentrum für Krebsfor- schung, Neurodegenerative Erkrankungen, Diabetesforschung, Herzkreislaufforschung, Infektions- sowie Lungenforschung, aber keines zur Erforschung psychischer Krankheiten. „Wir müssen einiges tun, damit die nächste Bundesregierung in die- ser Frage eine andere Einstellung gewinnt“, sagte Maier. Thomas Müller, Springer Medizin Eröffnungspressekonferenz des DGPPN-Kongresses, Berlin, 21.11.2012 47 In|Fo|Neurologie & Psychiatrie 2013; 15 (1) Adipositas als Suchtkrankheit? Sind stark übergewichtige Menschen esssüchtig? Bis auf wenige Ausnahmen lässt sich Adipositas wohl eher nicht als Suchtkrankheit deuten. Liest man die Medienberichte, welche Fastfood-Konsum mit dem Rauchen vergleichen, oder die Versuche in den USA, die Lebensmittelindustrie für die Adipositas-Welle verantwortlich zu machen, dann sehen offenbar viele in ihren stark übergewich- tigen Mitbürgern die Opfer einer Suchterkrankung. Professor Johannes Hebebrand, Essen-Duisburg, betrachtet diese Sicht- weise jedoch eher kritisch. Man müsse sich zunächst fragen, ob bei Adipositas überhaupt eine Substanzgebrauchsstörung vor- liegen könne, wie es beim übermäßigen Konsum von Alkohol, Nikotin oder anderen Drogen der Fall ist, oder ob es konkrete Hinweise auf eine Verhaltensstörung gebe, vergleichbar mit der bei einer Spiel- oder Onlinesucht, sagte Hebebrand. Leptin-Mangel lässt Gewicht explodieren Hinweise, dass Substanzen von Bedeutung sein können, liefere etwa das Hormon Leptin. Es wird unter anderem von Adipozy- ten ausgeschüttet und meldet dem Gehirn die aufgenommene Energiemenge zurück – als Folge wird das Hungergefühl ge- dämpſt. Bei einer seltenen, genetisch bedingten Leptin-Defizi- enz erfüllen die Betroffenen tatsächlich die sonst üblichen Kri- terien für eine Suchterkrankung: Sie essen länger und in größe- ren Mengen als geplant – haben ihren Konsum also nicht unter Kontrolle. Sie essen viel zu viel trotz schwerer sozialer und zwi- schenmenschlicher Probleme, überessen sich, obwohl sie wis- sen, dass dies körperliche und psychische Folgen nach sich zieht. Sie haben zwar den Wunsch, weniger zu konsumieren, schaffen dies aber nicht und leiden unter starkem Craving – einem un- bändigen Drang, ständig zu essen. Die Folgen sind gravierend: Beschrieben werden extrem fettleibige dreijährige Kinder mit einem Gewicht von über 40 kg. Gleicht man den Leptin-Mangel aus, normalisieren sich Essverhalten und Gewicht. Allerdings lasse sich dieses Modell nicht auf Adipöse ohne Gendefekt über- tragen: Zusätzliches Leptin führe hier nur zu einer vorüberge- henden Gewichtsreduktion um drei bis vier Kilo, Leptin-Man- gel ist daher wohl bei den wenigsten Menschen mit starkem Übergewicht ein Grund für ihren übermäßigen Konsum. Haben stattdessen Zucker und Fett Suchtpotenzial? Fastfood und Süßes könnten dazu verführen, noch mehr Nahrung mit hohem Fett- und Kohlenhydratgehalt zu konsumieren. Aber auch dafür gibt es nach Auffassung von Hebebrand keine be- lastbaren Belege. „Es ist bisher nicht gelungen, einen bestimm- ten Anteil an Zucker oder Fett in der Nahrung zu definieren, ab dem eine Sucht entstehen könnte, ebenso wenig ist es gelungen, Lebensmittelzusatzstoffe zu identifizieren, die eine Sucht erzeu- gen.“ Auch Tierversuche sprechen eher dagegen: Mäuse bevor- zugen zwar, wenn sie die Wahl haben, stark zuckerhaltige Nah- rung, konsumieren dafür aber insgesamt weniger vom übrigen Futter und halten ihr Körpergewicht konstant. Dick werden sie nur, wenn man ihnen ausschließlich Nahrung mit einem hohen Fett- und Zuckergehalt serviert, erläuterte Hebebrand. Nahrung im Überfluss, aber kein Stoppsignal Vielleicht liegt darin auch ein Schlüssel zum Verständnis der Adipositas. Professor Martina de Zwaan, Hannover, sieht die Epidemie der Adipösen als Folge davon, dass wir überall von stark zucker- und fetthaltigem Essen umgeben sind. „Überge- wicht ist eine normale Reaktion auf eine unnormale Umge- Professor Wolfgang Maier (Mitte) folgt Professor Peter Falkai (ganz rechts) als DGPPN-Präsident nach. „President Elect“ Dr. Iris Hauth (ganz links) wird den Staffelstab in zwei Jahren übernehmen.

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gebungsverfahren in diesem Feld kritisch begleiten. Letztlich so Maier, müssen die Psychiater „für ihr Fach eine Behand-lungsethik entwickeln“. Nötig seien Leitlinien sowohl für die Zwangsbehandlung als auch für eine gemeinsam mit den Pati-enten entworfene Therapiestrategie.

Defizite sieht Maier bei der Förderung der psychiatrischen Forschung. Diese Förderung hält er in Deutschland für „äußerst miserabel“. Es gebe je ein Deutsches Zentrum für Krebsfor-

schung, Neurodegenerative Erkrankungen, Diabetesforschung, Herzkreislaufforschung, Infektions- sowie Lungenforschung, aber keines zur Erforschung psychischer Krankheiten. „Wir müssen einiges tun, damit die nächste Bundesregierung in die-ser Frage eine andere Einstellung gewinnt“, sagte Maier. Thomas Müller, Springer Medizin

Eröffnungspressekonferenz des DGPPN-Kongresses, Berlin, 21.11.2012

47In|Fo|Neurologie & Psychiatrie 2013; 15 (1)

Adipositas als Suchtkrankheit? Sind stark übergewichtige Menschen esssüchtig? Bis auf wenige Ausnahmen lässt sich Adipositas wohl eher nicht als Suchtkrankheit deuten.

Liest man die Medienberichte, welche Fastfood-Konsum mit dem Rauchen vergleichen, oder die Versuche in den USA, die Lebensmittelindustrie für die Adipositas-Welle verantwortlich zu machen, dann sehen offenbar viele in ihren stark übergewich-tigen Mitbürgern die Opfer einer Suchterkrankung. Professor Johannes Hebebrand, Essen-Duisburg, betrachtet diese Sicht-weise jedoch eher kritisch. Man müsse sich zunächst fragen, ob bei Adipositas überhaupt eine Substanzgebrauchsstörung vor-liegen könne, wie es beim übermäßigen Konsum von Alkohol, Nikotin oder anderen Drogen der Fall ist, oder ob es konkrete Hinweise auf eine Verhaltensstörung gebe, vergleichbar mit der bei einer Spiel- oder Onlinesucht, sagte Hebebrand.

Leptin-Mangel lässt Gewicht explodierenHinweise, dass Substanzen von Bedeutung sein können, liefere etwa das Hormon Leptin. Es wird unter anderem von Adipozy-ten ausgeschüttet und meldet dem Gehirn die aufgenommene Energiemenge zurück – als Folge wird das Hungergefühl ge-dämpft. Bei einer seltenen, genetisch bedingten Leptin-Defizi-enz erfüllen die Betroffenen tatsächlich die sonst üblichen Kri-terien für eine Suchterkrankung: Sie essen länger und in größe-ren Mengen als geplant – haben ihren Konsum also nicht unter Kontrolle. Sie essen viel zu viel trotz schwerer sozialer und zwi-schenmenschlicher Probleme, überessen sich, obwohl sie wis-sen, dass dies körperliche und psychische Folgen nach sich zieht. Sie haben zwar den Wunsch, weniger zu konsumieren, schaffen

dies aber nicht und leiden unter starkem Craving – einem un-bändigen Drang, ständig zu essen. Die Folgen sind gravierend: Beschrieben werden extrem fettleibige dreijährige Kinder mit einem Gewicht von über 40 kg. Gleicht man den Leptin-Mangel aus, normalisieren sich Essverhalten und Gewicht. Allerdings lasse sich dieses Modell nicht auf Adipöse ohne Gendefekt über-tragen: Zusätzliches Leptin führe hier nur zu einer vorüberge-henden Gewichtsreduktion um drei bis vier Kilo, Leptin-Man-gel ist daher wohl bei den wenigsten Menschen mit starkem Übergewicht ein Grund für ihren übermäßigen Konsum.

Haben stattdessen Zucker und Fett Suchtpotenzial? Fastfood und Süßes könnten dazu verführen, noch mehr Nahrung mit hohem Fett- und Kohlenhydratgehalt zu konsumieren. Aber auch dafür gibt es nach Auffassung von Hebebrand keine be-lastbaren Belege. „Es ist bisher nicht gelungen, einen bestimm-ten Anteil an Zucker oder Fett in der Nahrung zu definieren, ab dem eine Sucht entstehen könnte, ebenso wenig ist es gelungen, Lebensmittelzusatzstoffe zu identifizieren, die eine Sucht erzeu-gen.“ Auch Tierversuche sprechen eher dagegen: Mäuse bevor-zugen zwar, wenn sie die Wahl haben, stark zuckerhaltige Nah-rung, konsumieren dafür aber insgesamt weniger vom übrigen Futter und halten ihr Körpergewicht konstant. Dick werden sie nur, wenn man ihnen ausschließlich Nahrung mit einem hohen Fett- und Zuckergehalt serviert, erläuterte Hebebrand.

Nahrung im Überfluss, aber kein StoppsignalVielleicht liegt darin auch ein Schlüssel zum Verständnis der Adipositas. Professor Martina de Zwaan, Hannover, sieht die Epidemie der Adipösen als Folge davon, dass wir überall von stark zucker- und fetthaltigem Essen umgeben sind. „Überge-wicht ist eine normale Reaktion auf eine unnormale Umge-

Professor Wolfgang Maier (Mitte) folgt Professor Peter Falkai (ganz rechts) als DGPPN-Präsident nach. „President Elect“ Dr. Iris Hauth (ganz links) wird den Staffelstab in zwei Jahren übernehmen.

Rund um die Uhr Zugang zu hochkalorischer Nahrung, gleich-zeitig lachen von Plakaten und Hochglanzmagazinen mager-süchtige Models – das kann die Wahrnehmung des eigenen Kör-pers bei jungen Mädchen durcheinander bringen und zu extre-men Diäten führen. Daran hat Professor Ulrike Schmidt, Lon-don, erinnert. Für sie sind Magersucht und Bulimie in ähnlichem Maße Auswüchse unserer Wohlstandsgesellschaft wie Adiposi-tas. Bisher sei es nicht gelungen, die Inzidenz dieser Erkrankun-gen zu senken: Die Zahl der jährlichen Anorexie-Neuerkran-kungen in Industrieländern liegt seit zehn Jahren relativ kon-stant bei etwa 10 bis 15 pro 100.000 Frauen unter 50 Jahren, 20 bis 25 pro 100.000 Frauen sind es für Bulimie. Andere Essstö-rungen wie Binge Eating sind sogar deutlich häufiger geworden, hier ist die Inzidenz innerhalb von zehn Jahren von etwa 17 auf 26 pro 100.000 gestiegen.

Programme mit Lehrern gehen oft schiefIn Großbritannien hatte sich vor einiger Zeit das Parlament mit dem Thema beschäftigt und in einem Bericht Vorschläge ge-macht, um Essstörungen entgegenzuwirken. Medien wurde etwa geraten, auf Werbung mit magersüchtigen Models zu ver-zichten, auch sollten Eltern und Lehrer für die Problematik sen-sibilisiert werden. So wurde die Einführung von Unterrichts-einheiten empfohlen, die ein positives Körperselbstbild und Selbstwertgefühl vermitteln. Allerdings, so Schmidt, sind viele solcher Programme gescheitert, vor allem, wenn sie von Leh-rern, und nicht von den Forschern, die sie entwickelt haben, aus-geführt wurden. Offenbar würden Lehrer hier oft nicht als kom-petent und vertrauenswürdig wahrgenommen. Inzwischen hät-ten die Briten aber ein Programm getestet, das von Experten, Lehrern und Jugendlichen gemeinsam entwickelt wurde. In

sechs Unterrichtseinheiten wird ein besserer Umgang mit Me-dien vermittelt, die ein unnormales oder unerreichbares Kör-perbild propagieren. Jugendliche sollen zudem dazu gebracht werden, sich in der Kommunikation untereinander weniger ne-gativ über das Aussehen anderer zu äußern. In einer Studie mit knapp 450 Schülerinnen im Alter von 12 bis 14 Jahren ließen sich durch das Programm Selbstvertrauen und Körperselbstbild signifikant bessern. Diese Faktoren blieben auch noch drei Mo-nate nach Studienende konstant gut, dagegen wurden sie in einer Kontrollgruppe schlechter, sagte Schmidt. Dies seien er-mutigende Hinweise zum Nutzen der Prävention, die nun in größeren und längeren Studien überprüft werden müssten.

Hat sich jedoch bereits eine Essstörung entwickelt, so hilft Ju-gendlichen häufig die familienbasierte Therapie. Hierbei werden die Eltern mit einbezogen, sie sollen in einem mehrphasigen Ab-lauf zugleich einen unterstützenden und kontrollierenden Ein-fluss ausüben. Damit könne nach Studiendaten bei 60–80 % der

Je früher man eine Therapie gegen Essstörungen be-ginnt, umso besser ist der Erfolg. Auch Präventionspro-gramme können das Körperselbstbild junger Menschen verändern.

Maßnahmen gegen Essstörungen wirken am besten bei Jugendlichen

aktuell

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bung.“ Sie sprach von einem „toxic food environment“: Der Überfluss an Nahrung, wie wir ihn erleben, ist in der Evolution nicht vorgesehen. In der Geschichte der Menschheit hatten wir es immer mit einem Mangel zu tun. Wenn es also mal genug zu essen gibt, dann lautet das Signal: Iss mehr! Der Körper nutzt einen temporären Überfluss, um Reserven für Mangelsituatio-nen zu sammeln. Ein Stoppsignal hat sich in der Evolution da-her nie entwickelt. Bei chronischem Überfluss muss dies gravie-rende Folgen haben. Eine kognitive Kontrolle der Ernährung sei daher umso wichtiger, sagte de Zwaan.

Hebebrand warnt zudem davor, die Adipositas über den Weg einer Verhaltensstörung als Sucht zu deklarieren. Zwar treffen für das Essverhalten Adipöser einige Kriterien zu, wie sie auch

bei nicht stoffgebundenen Süchten anzutreffen sind. Dazu zählt ein gewisser Kontrollverlust oder, dass Adipöse ihren Lebens-stil nicht ändern, obwohl sie wissen, dass er ihnen schadet, oder dass viele es nicht schaffen abzuspecken, obwohl sie es wollen. Doch letztlich seien sich die meisten Forscher darüber einig: Adipositas ist nur ganz selten als Sucht zu betrachten. Der Psy-chiater warnte daher vor einer „Medikalisierung“ des Lebens-stils. „Wenn wir das tun, sind wir alle irgendwie süchtig.“ Thomas Müller, Springer Medizin

Symposium „Essstörungen und Esssüchte – Volkskrankheiten des 21. Jahrhunderts“, DGPPN-Kongress, Berlin, 23.11.2012

Stimmt hier das Körperselbstbild noch?

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