Adoniram und Ann Judson - Sermon-Online

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Abenteurer Gottes

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Abenteurer Gottes

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Dave und Neta Jackson

Adoniram undAnn JudsonGefangen in der Goldenen Stadt

ChristlicheLiteratur-Verbreitung e.V.

Postfach 110135·33661 Bielefeld

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1. Auflage 2001

Originaltitel: Imprisoned in the Golden City© 1993 by Dave und Neta Jackson

© der deutschen Ausgabe 2001 by CLVChristliche Literatur-VerbreitungPostfach 11 01 35 · 33661 Bielefeld

Übersetzung: Sabine PujolUmschlag: Dieter Otten, GummersbachSatz: CLVDruck und Bindung: Ebner Ulm

ISBN 3-89397-444-X

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Alle Personen dieses Buches sind echt, und die meis-ten Ereignisse, die die amerikanischen MissionareAdoniram und Ann Judson während der Gefängnis-jahre von 1823 – 1826 in Birma erlebt haben, sindwahr. Das Ehepaar Judson hatte zwei birmanischeKinder adoptiert und Herr Rodgers hatte einen halb-birmanischen Sohn. Die birmanischen Namen derKinder sind jedoch nicht bekannt.

Der zeitliche Ablauf der Geschehnisse in Oung-Pen-La wurde leicht geändert, um die Geschichte zu ver-einfachen, und der Tiger im Käfig war in Wirklich-keit eine Löwin. Es ist auch nicht bekannt, ob dieblinde Frau von Dr. Price wirklich im Missionshauslebte, während ihr Mann im Gefängnis war, und eswar wahrscheinlich Maung Ing, der das Gefängnis-kissen gefunden und seinen Inhalt gerettet hatte.

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Inhalt

Die wilde Frau 9

Kriegskanus und Flussbanditen 20

Die Goldenen Füße aus Eis 33

Das Menschenpferd 45

Gefleckte Gesichter an der Tür 58

Das Todesgefängnis 69

Das harte Kissen 80

Ein Schrei in der Nacht 91

Verschwunden 105

Der Weg nach Oung-Pen-La 117

Der Tiger 126

Der offene Käfig 136

Vom Müllhaufen gerettet 146

Einiges über Ann und Adoniram Judson 157

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Die wilde Frau

Len-Lay hockte auf der offenen Veranda vor derkleinen Bambushütte am Rande der Stadt Ran-

gun. Die Gestalt, die sich im Schatten unter ihrgebückt versteckt hielt, bemerkte sie gar nicht. DasHaus stand, wie viele Häuser in Birma im Jahre 1823,auf etwa einem Meter hohen Pfählen. Daruntergrunzten die Schweine zufrieden vor sich hin, undals die Nacht hereinbrach, hatten die mageren Hüh-ner mit ihrem endlosen Picken aufgehört und such-ten sich zwischen den Pfählen einen Schlafplatz.

Das dunkelhaarige Mädchen summte leise vor sichhin, während sie Gemüse in einen brodelnden Topfmit Hühnerbrühe gab. Sie kam sich sehr erwachsenvor, als sie die heißen Kohlen in dem Behälter unterdem Topf prüfte; die Asche glühte hell. Das zwölf-jährige Mädchen wiegte sich geschmeidig zurück aufihre Fersen. Seit ihre Mutter im vergangenen Jahrfortgegangen war, hatte Len-Lay das Kochen undSaubermachen selbstständig erledigt – mit Mah-LosHilfe natürlich.

Len-Lay fragte sich, waswohl mit ihrer jüngerenSchwester passiert war …Mah-Lo hätte mit dem Was-sertopf längst zurücksein müssen. Wennsie nicht bald kam,würde die Brühe

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verdampfen und das Hühnchen anbrennen. Len-Layspähte ungeduldig durch den Dunst des Dezember-abends.

Dann erblickte sie sie. Eine kleine Gestalt kamschwankend durch die engen Reihen von Pfahlhäu-sern und balancierte einen Wassertopf auf ihrerSchulter. Len-Lay sprang auf, schnappte eine Schüs-sel mit dampfend-heißem Reis und eilte ins Haus.»Aphe! Vater!«, rief sie, während sie den Reis auf diein der Mitte des Zimmers ausgebreitete Essmattesetzte. »Mah-Lo kommt gerade. Wir können essen –«

Da zerriss ein Angstschrei die Stille des Hauses.

Maung Schway-Bay, der gerade in einer Ecke desHauses bei Kerzenlicht einen Brief schrieb, sprangauf und stieß den Schemel um, auf dem sein Tinten-fässchen stand. »Mah-Lo!«, rief er und rannte an sei-ner ältesten Tochter vorbei nach draußen. Len-LaysHerz klopfte heftig, als sie ihrem Vater vorsichtigfolgte und an seinem breiten Rücken vorbeischaute.

Die zehnjährige Mah-Lo wand sich im Griff einerwild aussehenden Gestalt und schrie, so laut siekonnte. Der Wassertopf war heruntergefallen undsein Inhalt verschüttet. Die Frau – war es überhaupteine Frau? – umklammerte das Mädchen mit langen,knochigen Armen; ihr Haar stand in alle Richtungenab und fiel ihr in die großen, wilden Augen. DasSchlimmste war, dass die wilde Frau lachte; es warein hohes, gackerndes Lachen, das bei Len-Lay eineGänsehaut hervorrief.

Maung Schway-Bay griff mit entsetztem Schweigennach dem Bambuszaun auf der Veranda. Warum

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stand ihr Vater wie angewurzelt da? Warum tat erdenn nichts?Da hörte Len-Lay, wie er hervorstieß: »Mah Kyi!«Ihre Mutter? Konnte das denn wirklich – »Jaaaaaa! Mah Kyi ist zurückgekommen!«, zischtedie Frau, als ob sie Len-Lays Gedanken lesen konnte. Mah-Lo hörte auf zu weinen, wand sich in derUmklammerung der Frau und starrte in die wildenAugen, die nur wenige Zentimeter von ihr entferntwaren.»Lass das Kind los, Mah Kyi«, befahl MaungSchway-Bay und stieg von der Veranda herunter.»Zurück!«, schrie die Frau. Ihr Mann blieb stehen. Indiesem Augenblick bemerkte Len-Lay, dass dieNachbarn das Schreien gehört und sich auf derStraße versammelt hatten. Maung Schway-Bay hobseine Hand, um ihnen zu signalisieren, dass sie sichnicht einmischen sollten.Er holte tief Atem. »Was willst du, Mah Kyi? Warumbist du zurückgekommen?«»Warum? Warum?« Ihre Augen wurden dabeiimmer größer. »Wegen meiner Kinder natürlich! Ichbin ihre Mutter. Ich bin gekommen, weil ich sie mit-nehmen will!«Len-Lay rang nach Luft und stellte sich an die Seiteihres Vaters. Maung Schway-Bays Stimme zitterteein wenig. »Du bist krank, Mah Kyi. Du kannst dieKinder nicht mitnehmen. Du musst weggehen undausruhen.«»Krank?«, protestierte Mah Kyi. »Sieh nur, wie starkich bin!« Sie spannte die Armmuskeln an und hob

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Mah-Lo in die Höhe. Das verängstigte Kind begannlaut zu jammern und versuchte sich zu befreien.

»Lass das Kind gehen, Mah Kyi! Du jagst ihr Angstein. Eine Mutter macht ihren eigenen Kindern dochkeine Angst!«

Mah Kyi stellte Mah-Lo wieder auf den Boden. DasKind schluchzte in der festen Umklammerung derFrau.

»Du bist der Kranke!« Die Frau hob ihren Finger. »Dubist in Gesellschaft von ausländischen Spionen! Duhörst auf ihr seltsames Gerede von Gott. Du hast dasKarma dieses Hauses gestört! Ich werde die Mädchenmitnehmen, bevor sie auch verrückt werden!«

Len-Lays Gedanken wirbelten ihr im Kopf herum.Wovon sprach ihre Mutter denn bloß? WelcheSpione? Meinte sie etwa Herrn Judson, den weißenMann, der in dem Missionshaus wohnte? Ihr Vaterverbrachte tatsächlich viel Zeit dort mit Lesen undReden, und vor ein paar Jahren hatte er etwas sehrSeltsames getan: Er ließ sich von dem weißen Mannim Wasser des Irrawaddy-Flusses untertauchen. DerMissionar nannte das Taufe, und ihr Vater sagte, dassdas bedeutete, dass er nun Jesus nachfolgte. Doch …das sollte ein Geheimnis sein. Alle Birmanen musstenan Buddha glauben. So war das Gesetz.

»Len-Lay«, flüsterte ihr der Vater ins Ohr. »Lauf zudem Bruder deiner Mutter. Sag ihm, dass Mah Kyizurückgekommen ist. Er muss schnell herkommen,bevor sie Mah-Lo etwas antut – oder sich selbst.«

Len-Lay schluckte. Das Haus ihres Onkels lag vier-einhalb Kilometer weit von Rangun entfernt in einem

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kleinen Dorf im Westen. Doch sie huschte gehorsamdie Stufen der Veranda hinunter.

»Fangt sie! Fangt sie!«, schrie ihre Mutter. »Lasst sienicht entkommen!«

Doch die kleine Menge stand unentschlossen vorMaung Schway-Bays Haus. Dann löste sie sich aufund ließ das Mädchen in die Nacht entkommen.

***Es war Morgen, als Len-Lay endlich wieder zu Hauseankam.Auf dem ganzen Weg zu dem Dorf ihres Onkels hattesie versucht, nicht an die Tiger zu denken, diemanchmal bei Nacht aus dem Wald hervorbrachen.Die winzigen Haare in ihrem Nacken standen ihrjedes Mal zu Berge, wenn unsichtbare Affen aufihren Bäumen kreischten. Sie eilte weiter und weiter,bis sie schließlich die strohgedeckten Bambushäuserdes Dorfes ihres Onkels wahrnahm, die sich in derDunkelheit abzeichneten. Der Bruder ihrer Mutter hatte mit einem Stirnrunzelnzugehört, als Len-Lay ihre Geschichte hervorkeuch-te. Dann lief er ohne ein Wort die Straße nach Rangunzurück. »Bleib über Nacht hier, Kind«, besänftigte sieihre Tante. »Du kannst morgen früh zurückgehen,wenn es nicht mehr gefährlich ist.«Nun betrat Len-Lay unsicher den kleinen umzäuntenHof und stieg die Stufen zu ihrem Haus empor. Siebemerkte, dass der Topf mit dem Hühnerfleischimmer noch auf dem kleinen Ofen stand. Die ganzeBrühe war verkocht und das Hühnchen und dasGemüse klebten hart und kalt am Boden.

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Dann hörte sie die Stimme ihres Onkels scharf undanklagend.

»Ja, meine unglückliche Schwester ist verrückt ge-worden; wir werden sie wieder wegbringen. Doch inEinem hat sie Recht, Maung Schway-Bay: Du bist inGesellschaft falscher Leute! Du hast eine falsche Reli-gion und du sprichst falsche Worte. Was ist schlim-mer für deine Kinder – eine verrückte Mutter oderein Vater, der seine eigene Religion verleugnet?«

In diesem Augenblick sah Maung Schway-Bay Len-Lay in der Tür und winkte sie herein. Sie ging lautlosüber den Bambusboden und setzte sich neben Mah-Lo, die halbversteckt hinter ihrem Vater stand.

Mit einem schnellen Blick durch den Raum sah Len-Lay, dass ihre Mutter gebeugt und teilnahmslos ineiner Ecke saß. Sie war eingeschlafen. Ihr Vater saßmit den Händen auf den Knien auf einem Schemelgegenüber seinem Schwager.

Len-Lays Onkel holte tief Luft. »Es gehen in der StadtGerüchte, dass die Engländer vom Meer aus einenAngriff auf Rangun planen. Die Leute sagen auch,dass die Weißen, die sogenannten Missionare, inWirklichkeit Spione sind, die unsere Militärgeheim-nisse verraten.«

Maung Schway-Bay musste laut lachen. »Das istdoch lächerlich!«, schnaubte er. »Sie sind Lehrer desChristentums –«

»Eben die Religion der Engländer.«

»Vielleicht. Aber diese Missionare kommen ausAmerika, nicht aus England.«

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Len-Lays Onkel schüttelte seinen Kopf, als er überdiese Sache nachdachte. »Trotzdem«, sagte er undspuckte aus, »es kann nur Böses aus deinem Umgangmit ihnen kommen. Als dein Schwager wäre es meinRecht, dich zu schlagen, um dieses Übel aus unsererFamilie herauszuschlagen. Denk darüber nach, wasich dir sage!«

Der Onkel stand abrupt auf, ging in die Ecke undschüttelte die Frau wach. »Komm, Schwester. Wirmüssen gehen.«

Mah Kyi schlug die Augen auf und schaute sich ver-wirrt um, als ob sie nicht mehr wüsste, wo sie sichbefand. Sie blickte Len-Lay und Mah-Lo an, dochzeigte sie keinerlei Zeichen des Wiedererkennens.Dann stand sie unterwürfig auf und ließ sich vonihrem Bruder aus dem Haus führen.

Len-Lay stand mit ihrem Vater und Mah-Lo in derTür und schaute ihnen nach. Plötzlich verbarg Len-Lay ihr Gesicht weinend an der Seite ihres Vaters.Die Worte der beiden Männer hatten ihr Angst einge-jagt. War ihr Vater in Gefahr? Würde ihr Onkel ihnwirklich schlagen?

Len-Lay ließ sich auf dem Boden der Veranda niederund umschlang ihre Knie. Sie zitterte am ganzen Kör-per. Alles war falsch! Als sich ihre Mutter zum erstenMal so merkwürdig benahm und dann weggehenmusste, hatte sich Len-Lay jede Nacht in den Schlafgeweint. Nach und nach hatte sie sich dann an dieAbwesenheit ihrer Mutter gewöhnt … und nun warsie so plötzlich wieder aufgetaucht, doch so anders,so … so furchtbar.

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Len-Lay fühlte sich hin- und hergerissen. Einerseitswünschte sie ihre Mutter zurück – ihre hübsche,lachende Mutter, die Len-Lays langes, schwarzesHaar gebürstet hatte, als sie ein kleines Mädchenwar, und die ihr beigebracht hatte, wie sie es oben aufdem Kopf in einer Frisur befestigen konnte. Len-Layhatte so gern schöne Kämme und Blumen im Haargetragen, weil sie so aussehen wollte wie ihre Mutter.

Aber diese Frau – diese wilde Frau mit dem gackern-den Lachen – wie konnte das ihre Mutter sein? Len-Lay schauderte. Sie hatte solche Angst gehabt, als siezuschauen musste, wie Mah-Lo in Mah Kyis festemGriff gefangen war. Sie war erleichtert, dass sie nichtmehr hier war!

Len-Lay schlug ihre kleinen Fäuste gegen die Knie.Fort! Fort! Fort! Dann sprangen ihr heiße Tränen indie Augen und liefen an ihren Wangen herunter.»Oh, Mutter … meine arme Mutter«, stöhnte sie.

Nach langer Zeit fühlte Len-Lay die Hand ihresVaters auf ihrer Schulter. »Meine älteste Tochter, dumusst deine Tränen abwischen und deiner Schwesterpacken helfen. Hier ist es nicht mehr sicher. Wir müs-sen zum Missionshaus gehen.«

***Die beiden birmanischen Mädchen standen rechtsund links neben ihrem Vater im Hof des Missions-hauses, und jede der beiden hielt ein Kleiderbündelin der Hand. Len-Lay trug einen blauen seidenenLongyi – das ist ein langer Rock, der um den Körpergewickelt wird – mit einer kurzen weißen Tunika.

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Goldene Armbänder, Halsketten und Fußkettenließen ihre nussbraune Haut leuchten.

Mah-Lo war ähnlich gekleidet; sie trug einen zitro-nengelben Longyi. Sie hielten sich nervös an demPatso ihres Vaters fest, seinen weiten Hosen, die ergestaltete, indem er ein Stück bunte Seide um seineHüften und Beine band.

Die Mädchen starrten den fremden Mann und dieFrau an, die ihnen zur Begrüßung entgegenkamen.Obwohl sie beide schon früher im Missionshausgewesen waren, hatten sie sich noch immer nicht an

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die helle Haut von Adoniram und Ann Judsongewöhnt. Er trug eine komische schwarze Jacke undschwarze Hosen; sie trug eine weiße Bluse mit langenÄrmeln und einem Spitzenkragen; ihr schwerer Rockwar von einem langweiligen Braun.Mah-Lo kicherte und Len-Lay wusste genau, was siedachte. Mochten diese Ausländer etwa keine schö-nen Farben?»Ruhe!«, zischte ihr Vater. Dann redete MaungSchway-Bay die Missionare an.»Lehrer, ich bin gekommen, um euch um einenGefallen zu bitten. Meine unglückliche Frau ist krankim Kopf und ich musste sie wegschicken. MeinSchwager – und sogar mein eigener Bruder – habenmir auch gedroht, mich zu schlagen, weil ich Jesusnachfolge. Ich bitte euch, nehmt meine Töchter beieuch im Haus auf. Lehrt sie lesen, damit sie JesuWorte auf dem Papier, das ihr geschrieben habt,lesen können.«Adoniram Judsons Lächeln hatte sich bei diesenWorten in einen tief besorgten Ausdruck gewandelt.Er warf seiner Frau einen Blick zu und dann zeigte erauf einen Stapel Kisten und Pakete, die im Hof desMissionshauses standen. »Lieber Bruder, wir verlas-sen Rangun«, sagte er auf Birmanisch. »Wir fahrenmorgen nach Ava, der Goldenen Stadt, um dort einzweites Missionshaus zu bauen. Ich habe nur hierdarauf gewartet, dass meine Frau aus Amerikazurückkehrt. Sicherlich möchtet ihr nicht, dass wireure Kinder so weit wegbringen –«Len-Lay zitterte vor Angst und Aufregung. Rangunverlassen?

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Nein, nein! Sie wollte nicht so weit weg von ihremVater gehen. Doch Ava, die Stadt des Königs, des Her-ren über alle Luft und alle Wasser … sie hätte sich nieträumen lassen, dass sie einmal dorthin reisen würde!Einen Moment lang sah Maung Schway-Bay verwirrtaus. Dann wurde sein Gesichtsausdruck entschlos-sen. »Doch. Ich werde sie gehen lassen. Nehmt meinemutterlosen Töchter unter euren Schutz in euerHeim. Lehrt sie lesen.«Niemand sagte ein Wort. Nervös blickte sich Len-Layum. Sie bemerkte einen seltsamen Stuhl, der zwi-schen den gepackten Kisten stand. Er hatte zwei ge-bogene Stücke Holz, die am Ende der Beine befestigtwaren. Wenn jemand darauf saß, würde er sicherlichumkippen, dachte sie bei sich.Dann hörte sie Frau Judson sagen: »Adoniram, wennMaung Schway-Bays Mädchen mit uns gehen, dannkönnte ich ja meine Mädchenschule gleich in Avabeginnen!«»Aber, Ann!«, protestierte ihr Ehemann. »Du bistgerade von einer langen Reise zurückgekehrt und voneiner langen Krankheit genesen. Bist du sicher, dassdu zwei halbwüchsige Mädchen versorgen kannst?«In Frau Judsons Augen schimmerten Tränen, dochihre Stimme zitterte nicht. »Gott hielt es für richtig,uns Roger, unser Baby, zu nehmen. Meine Arme sindleer gewesen. Nun scheint es, dass Gott sie mit diesenlieben Mädchen füllen will.«Herr Judson wischte seiner Frau zärtlich eine Haar-strähne aus dem Gesicht. »Nun gut«, sagte er undwandte sich wieder zu Maung Schway-Bay, »abge-macht.«

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Kriegskanus und Flussbanditen

Die Mädchen klammerten sich nicht an ihrenVater, als er fortging, sondern machten nur eine

höfliche Verbeugung. Doch Len-Lay fühlte einen Kloßim Hals, als sie ihn schnell die Straße hinuntergehensah. Sie legte ihren Arm schützend um ihre Schwester.

Als Maung Schway-Bay nicht mehr zu sehen war,kniete Frau Judson nieder und umarmte Len-Layund Mah-Lo herzlich. »Ihr erinnert mich an meinejüngeren Schwestern in Amerika, wo ich aufgewach-sen bin«, sagte sie und stieg die kleinen Stufen zumMissionshaus hinauf. Len-Lay sah, dass es genau wieihr Bambushaus auf Pfählen stand, es war nurgrößer. »Ich werde dich Mary Hasseltine nennen«,sagte sie lächelnd zu Len-Lay, und zu Mah-Logewandt: »Und dich werde ich Abby Hasseltine nen-nen, nach meinen zwei Schwestern.«

Len-Lay wusste nicht, was sie davon halten sollte.Alles geschah so schnell!

Das Missionshaus war voll von Leuten. Zwei weitereMissionsehepaare aus Amerika sollten hier bleiben,um die kleine Gemeinde in Rangun mit ihren acht-

zehn getauften Mitgliedernzu betreuen. Eines der Ehe-paare war mit Frau Jud-

son aus Amerika ange-kommen und sprach

noch kein Birma-nisch. So konnte

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man den ganzen Tag lang ein Geplapper in Englischhören, während die neuen Missionare auspacktenund die Judsons packten.Auf ihrem Rückweg von Amerika hatte Frau Judsonauch einen bengalischen Koch angestellt, der Koo-Chill hieß und ihr sehr zugetan zu sein schien. »FrauJoodthan hat mich angestellt«, sagte er, wobei er dasWort »Judson« auf birmanische Weise aussprach.»Wenn sie nach Ava geht, gehe ich mit!«In all der Aufregung während der letzten vierund-zwanzig Stunden hatten Len-Lay und Mah-Lo garnicht gemerkt, wie hungrig sie waren. Erst als sie denGeruch von Curry-Reis und Gemüse wahrnahmen,das Koo-Chill zum Abendessen gekocht hatte, fiel esihnen auf. Sie aßen mit gutem Appetit und Len-Laydachte, dass es eine schöne Abwechslung war, ein-mal das zu essen, was jemand anderes gekocht hatte.Nach dem Abendessen spazierten Adoniram undAnn Judson Arm in Arm zu dem kleinen Mango-baum-Hain hinter dem Missionshaus. Die Mädchen,die den ganzen Nachmittag nicht von Ann’s Seitegewichen waren, zögerten. Doch sie lächelte ihnenzu und winkte sie herbei. Sie sollten mitkommen unddie Kühle des Winterabends genießen.Die Judsons hielten neben einem kleinen Grab. »Hierhaben wir unser Baby Roger begraben«, erzählteFrau Judson den Mädchen ruhig. »Wenn er noch amLeben wäre, wäre er jetzt acht Jahre alt. Aber … erging noch vor seinem ersten Geburtstag zu Jesus.«Len-Lay blickte Mah-Lo an und fragte sich, was siewohl damit meinte: »Er ging zu Jesus?« War dasBaby nicht tot?

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Frau Judson sprach sanft weiter, während sie sicherinnerte: »Unser erstes Baby wurde tot geboren, alswir während unserer Reise nach Birma noch auf demSchiff waren. Wir vermissen beide schrecklich. Docheines Tages werden wir sie wiedersehen, wenn wirfür immer bei Jesus sein werden.«

Später in dieser Nacht lagen die Mädchen auf denweichen Decken, die Frau Judson für sie vorbereitethatte. »Die fremden Missionare sagen merkwürdigeDinge«, wisperte Len-Lay Mah-Lo zu. »Niemandlebt ewig – nicht einmal Buddha selbst! Die Priestersagen, wir können mehrmals als eine andere Personwiedergeboren werden, je nachdem, wie gut wir indiesem Leben waren. Doch der perfekte Endzustandist das Nichts.«

Ein tiefer Atemzug war ihre einzige Antwort. Mah-Lo war fest eingeschlafen und Len-Lay blieb mitihren Gedanken allein. Sie verstand die christlicheBotschaft nicht, doch die Vorstellung von einem end-gültigen »Nichts« tat in ihrem Herzen genauso wehwie der Abschied von ihrem Vater.

***Erst als die Mädchen ihre Bündel auf das Boot brach-ten, das Herr Judson für die etwa siebenhundertKilometer lange Fahrt auf dem Irrawaddy-Flussgemietet hatte, überkam Len-Lay Panik.

»W-werden wir Vater jemals wiedersehen?«, flüs-terte Mah-Lo, und ihr Kinn zitterte dabei. Len-Laykonnte ihr nicht antworten; der Knoten in ihrem Halswar einfach zu dick. Sie kauerten sich auf einerdicken Rolle Seil zusammen und schauten zu, wie

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Koo-Chill sofort ein Feuer in seinem tragbaren Ofenhinter der Bambuskabine anzündete. Herr Judsonund ein Fischer namens Maung Ing luden Bündel mitHaushaltssachen auf das Deck.

»Maung Ing kommt auch mit«, meinte Frau Judsonund setzte sich neben die Mädchen. »Er war einer derersten Birmanen, die sich taufen ließen. Doch seineFrau ließ sich von ihm scheiden, nur weil er Christgeworden war.« Sie betrachtete die traurigen Gesich-ter der Mädchen. »Die Nachfolge Jesu ist nicht ein-fach. Doch wir helfen einander stark zu sein, liebeMary … liebe Abby.« Sie nannte die Mädchen mitihren neuen Namen und nahm sie tröstend in dieArme.

Der Fischer hängte einen Weidenkäfig in der Eckeder Kabine auf. »Oh, schaut nur!« Frau Judson lachte.»Maung Ing hat seinen Papagei mitgebracht! Habtihr Herrn ›Verzeihung‹ schon kennen gelernt?«

Len-Lay und Mah-Lo mussten trotz ihres Kummerslachen. Der prächtige grüne Vogel verdrehte seinenKopf und schaute die Mädchen neugierig an.

Als die Erwachsenen wieder mit dem Einladenbeschäftigt waren, fassten Len-Lay und Mah-Lo denEntschluss, das kleine Boot zu erforschen, das fürmehrere Wochen ihr Zuhause sein würde. Als Len-Lay zurück zum Heck ging, machte sie plötzlicheinen Satz und stieß einen Schrei aus.

Dort, unter dem Lenkrad des Steuermanns, war einegigantische Python eingerollt.

Len-Lay ergriff Mah-Lo und drehte sich um. Im Weg-rennen stieß sie mit Frau Judson zusammen. Sprach-

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los deutete das Mädchen mit zitterndem Finger aufdie Schlange.

Frau Judsons Körper spannte sich an. »Papageien, ja;Schlangen, nein!«, meinte sie grimmig zu demKapitän, der nachschauen wollte, was passiert war.

»Frau Schlange?«, fragte der drahtige Kapitän. »Siegehört zum Schiff! Sie vertreibt die Räuber!«

»Aber – aber sie kann uns etwas antun!«, protestierteLen-Lay und entfernte sich rückwärts von der Rie-senpython, die sie nun beäugte. Sie hasste Schlangen,sogar noch mehr als Tiger. Mah-Lo sagte gar nichts,doch ihre Augen traten erschrocken hervor.

Der Kapitän grinste und enthüllte dabei sein Gebiss,in dem mehrere Zähne fehlten. »Niemals«, meinte erberuhigend, »solange wir dafür sorgen, dass sie vollReis ist. Doch ich sage euch, das Boot wird nicht ohneFrau Schlange fahren.«

Der Kapitän ließ sich nicht von seiner Meinungabbringen, und schließlich gab Ann Judson nach.»Bis wir nach Ava kommen, haben wir Nerven ausStahl!«, scherzte sie mit den Mädchen. Len-Lay wares immer noch ungemütlich und sie beobachtete dieSchlange argwöhnisch.

Schließlich war das Boot geladen, und die anderenMissionare kamen an Bord, um sich zu verabschie-den. »Ich habe nur eine einzige Sorge«, hörte Len-Layjemanden ruhig zu Herrn Judson sagen. »Der Königdroht immer wieder mit einem Krieg mit denEngländern entlang der bengalischen Grenze. Seinoberster General namens Bandula ist wie ein kleinerjunger Hund, der einer britischen Bulldogge in die

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Fersen beißt. Britische Soldaten werden euch viel-leicht flussaufwärts folgen, denn sie wollen versu-chen, General Bandulas lästiger Armee Einhalt zugebieten.«

Len-Lay runzelte die Stirn. Zum ersten Mal fiel ihrdas ein, was ihre Mutter und ihr Onkel gesagt hatten:dass die Judsons Spione für die Engländer waren.Mah-Lo erinnerte sich auch daran und sah sie ängst-lich an.

»Mach dir keine Sorgen«, flüsterte Len-Lay. »DieJudsons waren sehr nett zu uns.«

»Aber wenn der König uns mit Spionen erwischt …«flüsterte Mah-Lo zurück. Es war allgemein bekannt,dass Verräter in das schreckliche Todesgefängnisgeworfen oder von den Elefanten des Herrschers tot-getrampelt wurden.

In diesem Augenblick rief der Kapitän: »Die Flut istgekommen! Ablegen! Ablegen!«

Die anderen Missionare eilten vom Boot und halfenes in die Strömung zu schieben. Die Mannschaftmanövrierte das Boot vorsichtig zwischen Dutzen-den von Fischerbooten hindurch. Als sie die weißenAusländer sahen, kamen Händler in ihren kleinenflachen Ruderbooten und priesen Mangos, Bananen,Kokosnüsse, Körbe und wunderschöne Stoffe zumVerkauf an.

Die strohgedeckten Hütten von Rangun standendicht zusammengedrängt am Ufer des Irrawaddy-Flusses, wo er in den Golf von Martaban mündete.Hinter Rangun verlief der Fluss in Richtung Norden.Er war Birmas »Hauptstraße« ins Landesinnere.

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Nachdem die Flut das Boot jenseits des Flussver-kehrs getragen hatte, setzte die Mannschaft dasSegel, und der Steuermann nutzte den Wind, indemer das Boot geschickt hin und her manövrierte.

Plötzlich erblickte Len-Lay eine runde, goldeneSpitze, die sich majestätisch über den dicht belaubtenBäumen am Flussufer erhob. »Schaut!« Sie zeigte mitdem Finger darauf. »Die Schwe-Dagon-Pagode!«

Koo-Chill hörte auf, sich mit seinem Ofen zu beschäf-tigen und starrte ehrfurchtsvoll den riesigen Tempelan, der acht Haare vom Kopf des Gautama Buddhaenthielt, des Begründers des Buddhismus, der im

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sechsten Jahrhundert nach Christus gelebt hatte unddessen Name bedeutet: »Der Erleuchtete«.

Der Bengalenkoch hatte noch nie den heiligstenSchrein Birmas gesehen, und in der kurzen Woche inRangun, nach seiner Ankunft mit Frau Judson, hattees keine Besichtigung von Sehenswürdigkeiten ge-geben.

»Schwe-Dagon ist beinahe eine richtige Stadt«,erklärte Len-Lay dem dicken Koch. Der Stolz aufRanguns berühmte Pagode hatte ihr die Schüchtern-heit genommen. »Die Steinarbeiten sind so fein, dasssie wie Spitze aussehen.«

»Und die Priester verlassen die Pagode nur, wenn siemit ihren Bettelschalen betteln gehen«, meldete sichMah-Lo zu Wort.

»Die Schwe-Dagon-Pagode ist wirklich ein großarti-ges Monument«, sagte Herr Judson, der sich zu denKindern und Koo-Chill gesellt hatte, während sie dieleuchtende goldene Spitze schließlich in der Ferneverschwinden sahen. »Doch Gott ist nicht in einemgoldenen Tempel. Er ist im Himmel und sein heiligesBuch sagt uns, wie sein Geist in unseren Herzen woh-nen kann.«

Koo-Chill zuckte gutmütig die Achseln. »Ich bin euerKoch, ehrwürdiger Lehrer, nicht euer Schüler. Ichfolge euch nach Ava, doch ich folge Buddha in mei-nem Kopf.«

Herr Judson lachte. »Wir sind froh, dich dabei zuhaben, Koo-Chill. Aber wir werden noch einmal da-rüber sprechen, ja?«

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Tag für Tag segelte das volle Boot langsam den Irra-waddy-Fluss herauf. Allmählich gewöhnten sichLen-Lay und Mah-Lo an ihre neuen Namen, weil alleFrau Judsons Beispiel folgten und sie »Mary« und»Abby« nannten.

Obwohl Adoniram und Ann Judson von den zweiMädchen, einem Koch, einem birmanischen Christenund verschiedenen Leuten der Bootsmannschaftbegleitet wurden, benahmen sich die beiden wie einPaar in den Flitterwochen. Sie hielten sich stunden-lang an den Händen – Ann saß auf dem komischenStuhl, der hin und her schaukelte, Adoniram auf sei-nem Gepäck – während Ann ihm alles über ihrelange Reise zurück nach Amerika berichtete. Die See-fahrt und der lange Aufenthalt bei ihrer Familie hat-ten ihr geholfen, von der Krankheit gesund zu wer-den, die sie so lange in Rangun gequält hatte.

Len-Lay konnte kaum glauben, dass ihre neue Pfle-gemutter jemals krank gewesen war. Die Wangender weißen Frau waren rosig und ihre Augen funkel-ten vor Gesundheit. Die Augen von Herrn Judsonwaren von seiner schönen Frau anscheinend gefes-selt. »Meine liebe Ann«, murmelte er oft vor sich hin.Es war eine lange, zweijährige Trennung gewesen.

»Aber ich habe endlich das Neue Testament auf Bir-manisch übersetzt«, teilte Herr Judson seiner Fraudankbar mit. »Und der Missionsvorstand hat unseinen Arzt geschickt, während du weg warst. Dochder König hörte von seinen Fähigkeiten, mit dem Skal-pell umzugehen, und befahl ihm, nach Ava zu kom-men.« Er kicherte. »Dr. Price war ein voller Erfolg amHof des Königs – er scheint sich gut damit auszuken-

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nen, entzündete Zysten zu entfernen und Augenstarzu operieren. Aber …« Seine Stimme verlor sich.

Frau Judson kämmte gerade Mah-Los langes,schwarzes Haar. Es war schon ein tägliches Ritual:Die Mädchen saßen an Deck (außer Sichtweite vonFrau Schlange!), während Frau Judson ihr Haarkämmte und es ihnen nach birmanischer Mode aufdem Kopf frisierte.

»Aber was?«, wollte sie von ihrem Ehemann wissen.

Herr Judson schüttelte den Kopf. »Der königlicheHof fasziniert Dr. Price; er glaubt jetzt, er sei der besteFreund des Königs! Ich mache mir Sorgen um ihn. Ererkennt nicht, wie unbeständig birmanische Königesein können.«

Sein Gesicht hellte sich auf. »Zumindest ist KönigBagyidaw bereit, uns ein Missionshaus in Ava bauenzu lassen. Das heißt, er war es, als ich den guten Dok-tor mit seinen ärztlichen Wundervorführungenallein ließ!«

Die Unterhaltung wurde unterbrochen, als das Bootin der Nähe eines Dorfes festgemacht wurde, damitKoo-Chill Essen und andere Vorräte auf dem ört-lichen Markt kaufen konnte. Alle gingen an Land,um ihre Beine auszustrecken, doch sie lenkten dieAufmerksamkeit einer lauten Menge von Dorfbe-wohnern auf sich, die noch nie eine weiße Frau ge-sehen hatten.

Len-Lay fühlte sich sehr merkwürdig, mit ihrer Pfle-gemutter Hand in Hand zu gehen. Sie mochte Herrnund Frau Judson gern; sie waren nett zu denMädchen und versuchten, ihnen ein Zuhause zu ge-

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ben. Doch die Leute im Dorf schauten die Mädchenargwöhnisch an, als ob … als ob die Fremden dieMädchen verzaubert hätten oder so etwas Ähnliches.

Die Tränen kamen den Mädchen nachts, wenn sie inder kleinen Bootskajüte lagen. Jeder Tag brachte sieweiter weg von Rangun. Würden sie ihren Vaterjemals wiedersehen? Sie versuchten, ganz leise zusein, doch Ann Judson schien ihren Kummer zuspüren. Manchmal saß sie in der Dunkelheit nebenihren Liegematten, strich ihnen über die Haare undsummte ein Lied.

Tagsüber war es einfacher. Während sich das BootKilometer für Kilometer den breiten Fluss hinaufar-beitete, betrachteten die Schwestern mit großenAugen die verlassenen Städte, die als Ruinen amUfer standen. Kriechender Wein bedeckte giganti-sche weiße Steinpagoden und einstmals prächtigePaläste. Affen, die auf den verfallenen Buddha-Sta-tuen saßen, beschimpften die Reisenden.

»Jeder neue König wollte seine eigene Königsstadthaben«, erklärte Maung Ing den Mädchen und Koo-Chill. »Die alten Städte verrotteten im Dschungel. Biszum Ende unserer Reise werden wir noch mehrdavon sehen.« Herr Verzeihung, der auf Maung IngsSchulter saß, nickte mit dem Kopf, als stimme er zu.

»Seid ruhig! Seid ruhig!«, schnappte der Kapitän, alssie sich der verlassenen Stadt Pagan näherten. Hierwurde vor acht Jahrhunderten der Buddhismus zurStaatsreligion erklärt. Das Boot und seine Passagiereglitten leise an den geisterhaften Ruinen vorbei. DieMannschaft stand wachsam mit ihren Musketen undbeobachtete das Flussufer.

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»Manchmal verstecken sich die Dacoits, Flussbandi-ten, in den Ruinen und greifen die vorbeifahrendenBoote an«, erklärte der Kapitän später seinen Passa-gieren. »Wir hatten Glück. Seht ihr, Frau Python hatdie Räuber ferngehalten!« Und er lächelte ein zahn-loses Lächeln.

Gerade in diesem Augenblick hörte Len-Lay, wieHerr Judson flussaufwärts deutete und murmelte:»Und wie nennt man das da?«

Das Boot war gerade um eine Flussbiegung gefahrenund dort kam ihnen auf der einen Seite eine Flottevon riesigen goldenen Kanus entgegen. Jedes sahaus, als wäre es aus einem einzigen enormen Teak-baum gemacht und war 1,20 Meter mal 2,40 Metergroß. Die Hecks ragten empor, wo die Steuermännerstanden. Alle Boote waren voller Soldaten, die mitSpeeren und Musketen bewaffnet waren. Helle Flag-gen und Banner wehten zu Hunderten, und Paddlertrieben die Boote zu stetigem Trommelschlag voran.

Und in der Mitte der Flotte war ein großartiges gol-den geschmücktes Boot.

Mah-Lo begann, auf und ab zu hüpfen. »Dacoits! Da-coits!« Die Augen des jüngeren Mädchens waren weitaufgerissen und ihre Zähne klapperten vor Angst.

»Awwwk! Dacoits!«, krächzte Herr Verzeihung.

»Nein! Keine Dacoits! Es ist die Goldene Faust«, stießder Kapitän hervor, »die Kriegsschiffe des Königs.Und das flache Boot da … das ist General Bandulahöchstpersönlich!«

Da entfernte sich eines der Kriegsboote aus der Flotteund glitt mit starken, schnellen Ruderschlägen über

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den Fluss auf das kleine Boot zu. Ann Judson zogLen-Lay und Mah-Lo an sich.

Ein Soldat stand im Bug des goldenen Kanus undschwang einen langen Speer. »Haltet an im Namendes Königs!«, schrie er.

Die Mannschaft des kleinen Bootes ließ schnell dasSegel herab.

Als das Kriegsboot an ihre Seite kam, sprangen meh-rere Soldaten an Bord, darunter auch der Mann mitdem Speer. »Fasst ihn!«, rief der Soldat, während erden Speer auf Herrn Judsons Brust drückte. »Dieserenglische Spion ist unser Gefangener!«

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Die Goldenen Füße aus Eis

Bei der Anschuldigung des Soldaten ließen sichder Bootskapitän und die Mannschaft augen-

blicklich mit dem Gesicht auf den Boden fallen.»Ich bin unschuldig! Ich bin unschuldig!«, jammerteder Kapitän. »Ich hatte keine Ahnung –«Herr Judson gab dem ausgestreckten Körper desKapitäns einen Stups mit dem Fuß. »Wenn du mitdiesem Gejammere aufhörst, kann ich uns aus derKlemme holen«, meinte er ernst.Ann Judsons Griff um die Mädchen wurde fester, alsdie Soldaten bedrohlich näherkamen. Len-LaysMund wurde trocken; würden sie alle etwa gefangengenommen?Herr Judson erhob seine Hand. »Ich bin Amerika-ner«, sagte er mit fester Stimme. »Meine Frau und ichsind auf dem Weg zur Goldenen Stadt auf Befehl desKönigs Bagyidaws höchstpersönlich.«Der Soldat mit dem Speer zögerte.»Wir haben den Befehl, alle eng-lischen Spione zu ergreifen!«, wie-derholte er barsch.»Natürlich«, stimmte Herr Judsonfreundlich zu. »Aber wir sind keineEngländer. Der König wird ärgerlichsein, wenn ihr unsere Reise verhin-dert. Wir stehen auch unter Befehl –und zwar so schnell wie möglich zumGoldenen Thron zurückzukehren.«

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Der Soldat ließ den Speer langsam sinken; dannwandte er sich abrupt an den Kapitän. »Auf! Machteuch auf den Weg!«, schnauzte er. »Warum ist euerSegel herabgelassen? Auf! Auf!«

»Auf! Auf!«, äffte ihn Herr Verzeihung in seinemWeidenkäfig nach.

Die Mannschaft setzte hastig das Segel, während die Soldaten zurück in ihr goldenes Kanu sprangenund wieder zur Flotte zurückglitten. Die anderen beobachteten mit großen Augen die Soldaten aufdem Rückzug.

Dann begann Koo-Chill schallend zu lachen; seingroßer Brustkorb tanzte mit jedem Gelächter auf undab. Als die Spannung nachließ, fielen Maung Ing, dieJudsons und die Mädchen in sein Lachen ein. Nurder Kapitän runzelte noch immer die Stirn; seineWürde war verletzt.

»Es mag ja ›Frau Schlange‹ sein, die Räuber abhält«,keuchte Koo-Chill ganz atemlos vor Lachen, »aber esist Herr Joodthan, der die ganze birmanische Armeevertreibt!«

***Sechs Wochen nachdem das kleine Boot Rangun ver-lassen hatte, sichteten seine müden Passagiere unddie Mannschaft Ava, die Goldene Stadt, die Stadt desKönigs. Sie erhaschten durch die Palmen einen Blickauf große Pagoden und Paläste sowie auf ärmlicheBambushütten, die dicht gedrängt an den Ufern stan-den. Es war der 23. Januar 1824.

Als sich das Boot durch die übliche Ansammlungvon Fischerbooten und die Skiffs der Händler seinen

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Weg bahnte, hörten sie plötzlich jemanden rufen:»Hallo! Adoniram! Hier!«

»Hallo! Hallo!«, krächzte Herr Verzeihung.

Es war ein Mann in einem kleinen Boot, der sich vomgegenüberliegenden Ufer näherte und winkte undrief. Herr Judson lächelte und winkte zurück. »Dasist Jonathan Price, der uns entgegenkommt.«

Ein großer schlaksiger Ausländer kletterte an Bord.Len-Lay und Mah-Lo starrten ihn an. Dieser merk-würdige Amerikaner war sogar noch größer als HerrJudson, aber dünner, und er schien nur aus Armenund Beinen zu bestehen. Sein strohblondes Haar warborstig und stand ab, als hätte er gerade einen großenSchreck bekommen.

»Adoniram!«, begrüßte er Herrn Judson herzlich undschüttelte seine Hand. »Und das muss deine liebeFrau sein.« Dr. Price ergriff Ann Judsons schmaleHand und schwenkte sie kräftig auf und ab. »Will-kommen! Willkommen!«

Als er sich wieder an Herrn Judson wandte, ver-schwand das Lächeln langsam aus seinem Gesichtund machte einem ernsten Ausdruck Platz. »Ihrmüsst mit in mein Haus am Ufer kommen. Ich musseuch wichtige Dinge erzählen. Kommt, kommt. Folgtmir.«

Dr. Price war schon wieder in seinem kleinen Bootund paddelte zum anderen Ufer, bevor die Judsonsihm die anderen der Gruppe vorstellen konnten.Doch mehrere Stunden später aßen die Judsons,Maung Ing und die Mädchen zusammen mit Dr.Price in dem Ziegelsteinhäuschen, das er vor kurzem

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gebaut hatte und das den Blick auf den Fluss hatte.Koo-Chill jedoch weigerte sich, sich von seiner eige-nen »Bordküche« zu entfernen.Das Haus war sehr feucht und Len-Lay fröstelte. Dieneuen Ziegelsteine waren anscheinend noch nichtvollständig trocken. Medizinische Instrumente, Bü-cher und Papiere waren überall verstreut. »Ordnungist nicht gerade eine von Jonathans Stärken«, hörtesie Herrn Judson Ann zuflüstern. »Seine Frau starbkurz nach seiner Ankunft in Birma. Das Junggesel-lenleben ist überhaupt nichts für ihn.«Eine Birmanin servierte das Essen. Sie schielte an-dauernd und hielt alles ganz dicht vor die Augen, umes zu erkennen.»Dies ist Mah-Noo, meine Haushälterin«, erklärteDr. Price. »Sie hat eine Augenkrankheit – grauer Star.Ich hoffe, dass ich sie bald operieren kann.« SeinStirnrunzeln vertiefte sich. »Aber ich war in letzterZeit so abgelenkt, dass ich mich nicht um meine Pa-tienten kümmern konnte. Ich kann das einfach nichtverstehen! Über Nacht hat sich alles verändert!«»Was meinst du denn damit, Jonathan?«, fragte HerrJudson.»Der König! Er weigert sich, mich zu sehen. Mich!Seinen Freund und Arzt.« Dr. Price schüttelte traurigden Kopf. »Überall redet man von Krieg und plötz-lich wird allen Ausländern misstraut. Ich habe KönigBagyidaw zu erklären versucht, dass ich Amerikanerbin und kein Engländer; dass ich sein treuer Untertanbin. Doch er tut, als wäre ich nicht da!«Dr. Price schwieg niedergeschlagen. Dann schienihm noch ein Gedanke zu kommen und er stieß her-

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vor: »Ich weiß nicht, was das für den Aufbau einerzweiten Mission in Ava bedeutet. Du musst zumPalast gehen, Adoniram, und mit dem König zu spre-chen versuchen.«

»Der König hat uns bereits ein kleines Stück Land amFluss gegeben, damit wir ein Kyoung bauen kön-nen«, erinnerte ihn Herr Judson. Ein Kyoung war einHaus, in dem religiöse Lehrer lebten.

»Aber wird er dich predigen lassen? Nimm MaungIng nicht mit zum Palast. Ich glaube nicht, dass derKönig in der richtigen Stimmung ist, einen Birmanenzu sehen, der getaufter Christ ist.« Dr. Price ver-suchte fröhlich zu sein. »Nun, bis ihr das Kyoungbaut, könnt ihr alle hier bleiben –«

Sie hatten das Mahl aus Reis, Gemüse und Tee be-endet. Frau Judson beugte sich zu den Mädchen undsagte ruhig: »Mary und Abby, würdet ihr bitte Mah-Noo helfen gehen?«

Len-Lay dachte, dass Frau Judson merkwürdig aus-sah. Doch die Mädchen nahmen gehorsam die Scha-len und halfen der fast blinden Haushälterin, dieTöpfe zu schrubben und zu verwahren, während diedrei Amerikaner redeten.

Plötzlich hörten die Mädchen einen dumpfen Schlagund Herr Judson rief: »Ann!« Len-Lay und Mah-Lorannten in das Zimmer und sahen, dass Frau Judsonvom Stuhl gefallen war. Herr Judson war neben ihr.

»Nichts – nichts passiert, Adoniram«, flüsterte FrauJudson, während sie sich aufzusetzen versuchte. »Esist nur ein bisschen Fieber, das mich schwindeliggemacht hat.«

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»Das ist die Feuchtigkeit der Ziegel«, meinte HerrJudson grimmig. »Jonathan, wir danken dir für deineEinladung. Doch ich denke, wir müssen auf dem Bootbleiben, bis wir das Missionshaus gebaut haben.«

***Es dauerte zwei Wochen, bis sie das Bambushaus –drei Räume und eine offene Veranda – auf dem klei-nen Grundstück am Ufer gebaut hatten, das derKönig Herrn Judson auf seiner letzten Reise nachAva geschenkt hatte. Sobald es fertig war, stellte HerrJudson zwei Arbeiter ein, die gleich daneben ein fes-teres Haus zu bauen beginnen sollten. Nur ein Zie-gelhaus würde die stickige Hitze des Sommers ab-halten. Doch sie wollten dafür sorgen, dass die Ziegelvor dem Einzug vollständig getrocknet waren.Noch bevor sie das provisorische Haus gebaut hat-ten, ging Herr Judson zum Palast des Königs. FrauJudson hatte bereits begonnen, Len-Lay und Mah-Loauf dem Bootsdeck Unterricht zu geben, doch alledrei hielten ständig nach Herrn Judson Ausschau.Schließlich sahen sie den schwarzen Hut, der sichdurch die Menge birmanischer Turbane hindurch-wand. Als Herr Judson das Deck ihres »Hausbootes«betrat, bombardierten ihn Maung Ing und Frau Jud-son mit Fragen.»Hast du König Bagyidaw gesehen?«»Hat er mit dir gesprochen?«»Unterstützt er die Mission?«»Lässt er dich predigen?«Herr Verzeihung wurde bei dem ganzen Wirbel auf-geregt und krächzte noch dazwischen.

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Herr Judson schüttelte den Kopf und setzte sich aufeine Rolle Seil – ›schrecklich dicht neben FrauSchlange‹, dachte Len-Lay. »Er tat, als ob er michnicht kennt, genau wie Dr. Price uns schon gewarnthatte«, entgegnete er. »Ich verbeugte mich tief vorden ›Goldenen Füßen‹, doch es war, als wären sie ausEis! Der Herrscher hat mich weder angeschaut, nochhat er mit mir gesprochen.«

Maung Ing sah besorgt aus. »Das ist nicht gut, Bru-der. Wenn der König den fremden Lehrer in seinerGegenwart ignoriert, wird er dir sicher auch nicht

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erlauben, in Ava zu predigen! Und was wird er tun,wenn er herausfindet, dass Maung Ing Buddha ver-lassen hat, um Jesus zu folgen?« Der Fischer sahängstlich aus.

»Wir müssen Gott vertrauen«, erwiderte Frau Judsonschnell. »Gott hat uns – uns alle – zu einem bestimm-ten Zweck nach Ava gebracht. Wir müssen es einfachnoch einmal versuchen.«

Noch zweimal ging Herr Judson zum Königshof, ummit dem Herrscher zu sprechen; noch zweimal erhielter einen eisigen Empfang. Doch als das Bambushausauf Pfählen fertig war und die Judsons, Len-Lay undMah-Lo, Koo-Chill, Maung Ing und Herr Verzeihungeingezogen waren, hatte Herr Judson eine Idee.»Morgen werde ich Herrn Rodgers besuchen.«

Herr Rodgers, so erklärte Adoniram Judson, war einEngländer, der schon vor vielen Jahren birmanischerStaatsbürger geworden war. Er hatte eine Beamten-stelle an König Bagyidaws Hof, wie auch schon beidem vorigen König. »Vielleicht legt Rodgers eingutes Wort für uns ein.«

Herr Judson schenkte Len-Lay und Mah-Lo einLächeln. »Wir werden alle gehen – die ganze Familie.Vielleicht haben diese jungen Damen Erfolg, wo wiralten Amerikaner versagt haben!«

***Herrn Rodgers Haus war geräumig und reich ver-ziert – völlig anders als das kleine Missionshaus ausBambus. Ein Dienstbote lud Herrn und Frau Judsonund die beiden Mädchen in ein Wohnzimmer, wo sieauf Herrn Rodgers warteten.

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Bald kam ein Mann mittleren Alters auf sie zu. Er trugeine lange, gesteppte birmanische Tunika, die weitenPatso-Hosen und Sandalen. Sein grauer Bart hing ihmwie bei einer Ziege in einem langen Büschel vom Kinn.Ein stirnrunzelnder birmanischer Junge begleitete ihn.

Als der Mann vor ihnen stehenblieb, bemerkten dieMädchen, dass er tiefblaue Augen hatte!

»Was wollen Sie?«, knurrte der Mann. Er sprach bir-manisch, aber mit einem starken englischen Akzent.

Herr Judson machte eine höfliche Verbeugung. »Ichfreue mich, zu sehen, dass es Ihnen so gut geht, HerrRodgers«, begann er. »Meine Familie und ich sindgerade in der wunderschönen Stadt Ava angekom-men –«

»Unsinn«, brummte Herr Rodgers. »Mir geht es nichtgut. Es ist miserabel hier in Ava. Kommen wir zurSache.« Er wurde etwas freundlicher, als er sich zuFrau Judson umdrehte. »Bitte setzen Sie sich. Das istmein Sohn Myat«, sagte er, während er auf den Jun-gen deutete. »Myat, bitte führe die jungen Damen inden Garten.«

Mah-Lo ergriff Len-Lays Hand, als sie dem älterenJungen durch das Haus in einen wunderschönenGarten folgten, in dem Lotusbüsche, Palmen undMangobäume blühten.

»Mein Name ist Myat Rodgers«, sagte der Junge,immer noch mit einem Stirnrunzeln. Er war etwadreizehn, ein Jahr älter als Len-Lay. »Lebt ihr bei denausländischen Missionaren?«

Len-Lay nickte und versuchte, nicht dabei zu lächeln.Sie wusste, dass hinter dem Stirnrunzeln ein neugie-

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riger Bursche steckte. »Unsere Mutter ist … krankund unser Vater möchte, dass wir lesen lernen. FrauJudson eröffnet eine Schule für Mädchen. Also sindwir zu ihnen gekommen.«»Die Judsons leben jetzt in Birma, also warum habensie dann noch diese komischen Kleider an?«, wollteer wissen. Ohne auf eine Antwort zu warten, sagte erstolz: »Mein Vater ist Birmane. Mein Vater war Eng-länder, doch er ist birmanischer Staatsbürger gewor-den. Er kann mit Ausländern, die die birmanischeLebensweise nicht annehmen, nichts anfangen – undich auch nicht.«Mah-Lo hüpfte davon, weil sie einen bunten Schmet-terling fangen wollte. Nun war Len-Lay neugierig.»Warst du jemals in der Gegenwart des Goldenen?«»Des Königs? Aber sicher!« sagte Myat. »Wir kennendie ganze königliche Familie – sogar Prinz Meng-Myat-Bo, den Bruder des Königs, und die Prinzessinvon Sarawaddy. Bloß …« Das Stirnrunzeln kehrtewieder.»Was ist los?«Myat schien mit sich zu ringen, ob er nochmehrsagen sollte. Schließlich stieß er hervor: »Die dum-men Engländer werden alles ruinieren!«»Du meinst, wenn es Krieg gibt?«»Ja! König Bagyidaw möchte Bengalen überfallen,doch die Engländer sind dort zuerst hingekommen.Jeder Engländer ist plötzlich am Hof in Ungnadegefallen. Doch das ist nicht fair! Mein Vater war eintreuer birmanischer Untertan, nicht wie … wie eureamerikanischen Missionare, die Judsons!« Myat fun-kelte Len-Lay an.

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»Was meinst du damit?«, fragte Len-Lay abwehrend.Der Schmetterling war über der Gartenmauer ver-schwunden und Mah-Lo nahm wieder die Handihrer älteren Schwester.»Warum sind die Judsons ausgerechnet jetzt nachAva gekommen?«, sagte Myat trotzig. »Vielleichtsind sie Spione für die Engländer. Sie geben vielleichtvor, amerikanische Missionare zu sein, aber wie ver-dienen sie ihr Geld? Hast du sie irgendetwas arbeitensehen?«»Ich – ich …«, stotterte Len-Lay. Ihr Vater war Stoff-verkäufer, Maung Ing war Fischer, Koo-Chill warKoch. Herr Judson war zwar immer geschäftig –doch was machte er eigentlich, um seinen Lebensun-terhalt zu verdienen?Myat lächelte triumphierend. »Er wird wahrschein-lich von der britischen Armee dafür bezahlt, dass ersie mit nützlichen Informationen versorgt.«»Was sagt Myat da, Mary?«, wollte Mah-Lo wissen,die die Spannung zwischen den beiden fühlte.»Mary? Ist das dein Name?«, fragte Myat. »Wie istdenn deiner?« Er deutete auf Mah-Lo.»Frau Judson nennt mich Abby«, erwiderte Mah-Lo.»Sie sagt, wir erinnern sie an ihre Schwestern inAmerika.«»Ausländische Namen!«, schnaubte Myat verächt-lich. »Wie sind denn eure wirklichen Namen?«»Mah-Lo.« Mah-Lo hob trotzig ihr Kinn.»Len-Lay«, antwortete das ältere Mädchen stirnrun-zelnd. Sie mochte diesen arroganten, streitsüchtigenJungen nicht. Er war nur Halb-Birmane, und doch tat

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er so, als ob sie die Ausländerin wäre, nur weil sieund Mah-Lo bei den Judsons lebten.

Myat senkte die Stimme und beugte sich näher zuden Mädchen. »Ihr erinnert euch besser an eure bir-manischen Namen«, sagte er ernst. »Denn wenn HerrJudson als Spion angeklagt wird, werden zwei bir-manische Mädchen mit englischen Namen vielleichtauch ins Gefängnis geworfen, weil sie Feinden ge-holfen haben!«

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Das Menschenpferd

Mary und Abby!«, rief Frau Judson vom Hausaus. »Wir gehen!«

Len-Lay und Mah-Lo kamen angerannt. Myat Rod-gers folgte ihnen.

»Nein, ich kann Ihnen nicht helfen«, sagte Herr Rod-gers gerade schroff. »Wie ich Ihnen gesagt habe, binich selbst nicht mehr willkommen am königlichenHof. Doch selbst wenn ich es wäre, wir brauchenkeine ausländischen Missionare hier, die die Birma-nen von ihrem Lebensstil abzubringen versuchen.Das ist mein Rat, Judson: Verlassen Sie Birma. Neh-men Sie Ihre Familie und gehen Sie weg, solange Sienoch können.«

»Warum gehen Sie nicht weg von hier, Rodgers?«,fragte Herr Judson und setzte seinen schwarzen Hutauf.

Die Augen des Engländers verengten sich. »Ich binschon seit vierzig Jahren birmanischer Staatsbürger;meine Frau und mein Sohn sind Birmanen. Das istmein Zuhause – trotz der groben Behandlung durchden König in den letzten paar Wochen.« Herrn Rod-gers’ Worte klangen bitter.Er drehte sich brüsk umund ging davon, gefolgtvon Myat. Zurück blieb einDienstbote, der die Judsonshinausbegleitete.

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Die Straße hatte sich mit Leuten jeden Alters gefüllt,die einander schoben und durcheinander redeten.»Herr Rodgers ist kein sehr angenehmer Mensch«,meinte Ann Judson zu ihrem Mann, während sie sichdurch die Menge drängten. Sie musste schreien, umgehört zu werden.Herr Judson nickte grimmig. »Er ist ein enttäuschterMensch – genau wie Dr. Price, doch er hat noch mehrGrund dazu! Nach vierzig Jahren Dienst in der bir-manischen Regierung ist er jetzt ausgeschlossen, weiler Engländer ist. Ich glaube nicht … Was in aller Weltist denn hier los?«Der Lärm auf der Straße wurde immer größer. Len-Lay hielt Mah-Los Hand sehr fest, während sie ver-suchte, Herrn Judsons schwarzen Anzug und FrauJudsons breitkrempigen Hut nicht aus den Augen zuverlieren. Sie hörten Musik, die näher kam. Plötzlichkam eine Gruppe von muskulösen Akrobaten um dieEcke, die zu den anfeuernden Rufen der Menge Sal-tos auf der staubigen Straße schlugen.Die Judsons nahmen die Mädchen an der Hand, zogensie in die Tür einer kleinen Pagode und ließen dieAkrobaten passieren. Bald marschierte eine »Musik-band« herbei, die Flöten spielten und trommelten, ge-folgt von Tänzerinnen in bunten Seidengewändern.Plötzlich fiel es Len-Lay ein. Die »Wintermonate« mitihren milden Temperaturen waren bald vorbei; dieheißen Sommermonate standen vor der Tür. Sie zogFrau Judson aufgeregt am Ärmel.»Es ist Tabaung – das größte Fest des Jahres!«, riefLen-Lay ihr ins Ohr. »Es findet immer vor Neujahrs-beginn statt.«

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Frau Judson blickte einen Moment verwirrt drein.»Neujahr? Oh, natürlich! Das habe ich ganz verges-sen!«, meinte sie. »März ist der letzte Monat des Jah-res in Birma.«

Danach kamen mehrere Boxer, die mit einem Lenden-schurz bekleidet waren und wild in die Luft schlugen.Ein Ausrufer lief neben ihnen her und verkündete einBoxmatch, das später im Laufe des Tages stattfindensollte. Den Boxern folgte eine große Gruppe buddhis-tischer Priester in gelben Gewändern, die Weihrauch-gefäße schwenkten und im Chor sangen.

Len-Lay hörte, wie Herr Judson sagte: »Ann, diesesheidnische Festival ist nicht der Ort für einen Chris-ten. Lass uns –«

Da wurde die Menge erwartungsvoll still und stiller.Schreie wie »Hier kommen sie!« erklangen aus Hun-derten von Kehlen. Riesige weiße Elefanten kamenins Blickfeld; sie waren reich mit Blumengirlanden,Quasten und feinbestickten Teppichen geschmückt.

»Weiße Elefanten!«, rief Len-Lay. Es gab nur einePerson in ganz Birma, die weiße Elefanten hatte: derKönig. Aber wo war er?

Mah-Lo hüpfte hin und her, um etwas zu sehen. HerrJudson hob sie auf, weil er selbst neugierig war.

Hinter den Elefanten schienen zehn Trompeter zuposaunen: »Macht Platz! Macht Platz! Der König! DerKönig!« Und dann erblickte Len-Lay etwas sehrMerkwürdiges: Ein prächtiger, vergoldeter Wagenerschien, doch anstatt von Pferden gezogen zu wer-den, wurde er auf Stangen von sechs jungen Män-nern getragen.

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Fünf von den Wagenträgern waren Birmanen, wasman an den auffallenden Turbanen erkennen konnte,die ein Zeichen für Würdenträger waren. Doch ganzvorne lief ein hübscher Engländer. Als der Wagennäher kam, blickte der junge Ausländer zu den Jud-sons auf, die auf der Schwelle der Pagode standen;sein Blick traf auf Len-Lay – und was tat er? Er blin-zelte ihr zu!

Len-Lay war so überrascht, dass sie fast vergessenhätte, auf den König im Wagen zu achten. Alle Leuteum sie herum machten eine tiefe Verbeugung, als derKönig vorbeikam. Sogar die Judsons senkten ihrenKopf respektvoll. Len-Lay konnte nur einen hastigenBlick auf den jungenhaften König werfen – seinenKopf hielt er hoch –, bevor auch sie sich tief ver-beugte. Und schon war der Wagen verschwunden.

Auf dem ganzen Nachhauseweg plapperten die Kin-der über das Schauspiel, das sie gesehen hatten. Siehatten noch nie etwas Derartiges in Rangun gesehen.

»Der König scheint nicht sehr alt zu sein«, meinteMah-Lo.

»Er ist erst etwa dreißig«, bestätigte Herr Judson.»Das erste Mal, als ich nach Ava kam, vor fünf Jah-ren, war er nach dem Tod seines Vaters gerade zumKönig ernannt worden – und er spielte gerade Bock-springen im Königshof!«

»Nein! Das ist nicht dein Ernst!« Frau Judson brach inLachen aus.

»Der König ist außerdem sehr klein – nicht größer alsLen-Lay hier. Habt ihr seine fliehende Stirn bemerkt?Das ist ein Familienmerkmal – eine Missbildung der

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Knochen. Sein Bruder, Prinz Meng-Myat-Bo, ist lei-der verkrüppelt, doch der König ist nur krummbei-nig.«

Der Herr der weißen Elefanten krummbeinig? dachteLen-Lay. Irgendwie wurde damit ihre Vorstellungvon dem, wie ein König aussehen sollte, verkehrt.»Was ist mit dem Ausländer?«, fragte sie neugierig.»Der, der den Königswagen trägt? Ist der ein Sklavedes Königs?«

Herr Judson zuckte die Schultern. »Ich dachte, ichkenne alle Engländer in Birma – es gibt ja nicht viele.Aber diesen jungen Mann habe ich vorher noch niegesehen!«

***Noch am selben Nachmittag begann Ann Judson mitihrer Mädchenschule. Sie saß mit Len-Lay und Mah-Lo auf der Veranda des Missionshauses und half denzwei Mädchen, die Buchstaben des birmanischenAlphabets zu zeichnen. Herr Verzeihung in seinemKäfig, der vom Dach herabhing, putzte ausdauerndseine Federn.

Als Len-Lay die gespitzte Gänsefeder in das Tinten-fässchen tauchte, erinnerte sie sich plötzlich an dasTintenfässchen, das ihr Vater an dem Tag umge-stoßen hatte, als ihre Mutter zurückkam. Die Erinne-rung an ihren Vater war ganz klar und deutlich – erhatte gerade einen Brief geschrieben.

Das schmerzliche Gefühl von Heimweh über-schwemmte sie.

Len-Lay machte mit dem Zeichnen des Alphabetsweiter. Nun lernte sie schreiben, genau wie ihr Vater!

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Wenn sie fleißig lernte, könnte sie ihm vielleichtschon bald einen Brief schreiben!

Eine Menge neugieriger Erwachsener und Kinderstand vor dem Hof des Missionshauses und beobach-tete den Unterricht. Frau Judson ging die Treppenhinunter und erklärte den Zuschauern, dass sie eineSchule eröffnete und dass sie gerne den MädchenLesen und Schreiben beibringen würde.

Ein paar Erwachsene spotteten: »Jungen lernenschreiben und lesen, nicht Mädchen!« Doch FrauJudson lächelte nur und meinte, sie sollten es sichüberlegen.

Das Papier und die Tinte wurden verwahrt, und dieMädchen halfen Koo-Chill dabei, das Abendessenauf die niedrigen Tische zu stellen, als sie ein fröh-

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liches »Hallo! Jemand zu Hause?« vom Hof her ver-nahmen.

»Hallo! Jemand zu Hause?«, wiederholte Herr Ver-zeihung.

Lachend rannten Len-Lay und Mah-Lo zur offenenTür. Es war der Engländer, das »Menschenpferd«des Königs.

Aber nun trug er birmanische Reitkleidung und hieltdie Zügel eines wundervollen schwarzen Pferdes inder Hand, das vor dem Bambuszaun stand. Als er dieMädchen in der Tür sah, sagte er: »Ah, die jungenDamen!«, und grinsend winkte er ihnen zu. »Darf ichmich vorstellen? Mein Name ist Henry Gouger.«Und er neigte seinen Oberkörper.

Frau Judson erschien und lud den Fremden freund-lich ein, mit ihnen zu Abend zu essen. Koo-Chillmurmelte etwas von »uneingeladenen Gästen« vorsich hin, doch das hörte auf, als der junge Mann dieköstliche Fischsuppe des Kochs laut lobte.

Henry Gouger war vor einem Jahr mit seinem eige-nen Handelsschiff nach Ava gekommen, sagte er,weil er hoffte, dass er durch den Handel mit den Bir-manen ein Vermögen verdienen würde. Er hattebereits mit allen englischen Waren Handel getrieben– mit Spitze, Tee, gewebtem Stoff, Sätteln, Porzellan-geschirr, Eisenwerkzeugen, Töpfen und Pfannen –im Tausch für Gold, Silber und Juwelen. Er war einausgesprochen reicher Mann.

»Und ich bin erst fünfundzwanzig!«, lachte er. Dannzuckte er mit den Schultern. »Aber die Birmanenhaben das dumme Gesetz, dass kein Gold und keine

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Juwelen außer Landes gebracht werden dürfen. Sositze ich nun hier – ein reicher Mann, doch ich kannes nicht mit nach Hause nach England nehmen, ummich daran zu freuen!«

Len-Lays Neugierde wuchs. »Aber warum haben Sieden Wagen des Königs getragen? Hat er Sie zu sei-nem Sklaven gemacht?«

Gouger warf seinen Kopf zurück und lachte lauthals.»Oh, nein, ganz im Gegenteil. Den Wagen des Königstragen zu dürfen ist eine Ehre. So zeigt er seine Wert-schätzung für all die langen Diskussionen, die wirüber Astronomie und Kartenzeichnen geführt haben.Und offen gesagt, mir macht es Spaß, für den Königdas Pferd zu spielen. Nur …« Das verschmitzte Zwin-kern seiner grauen Augen verschwand plötzlich.

»Man hat Ihnen nur eben gesagt, dass Sie am Königs-palast nicht länger willkommen sind«, beendete HerrJudson den Satz grimmig.

Gouger seufzte tief. »Wie haben Sie das erraten? Ichhatte mich schon gefragt, wann es dazu kommenwürde. Ich habe gesehen, wie er dem alten Rodgersdie kalte Schulter gezeigt hat, und ich wusste, dass esnur eine Sache der Zeit ist. Gestern nach dem Festkam ein Laufbote mit der Nachricht, dass die eng-lischen Truppen General Bandula von der benga-lischen Grenze zurückgedrängt haben. Ich wurdesofort vom Hof verbannt.«

Gouger, Maung Ing, die Judsons und sogar Koo-Chill redeten noch lange an diesem Abend über dieMöglichkeit eines Krieges zwischen Birma und denEngländern. »Die Engländer wollen keinen Krieg!«,

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rief Gouger aus. »Doch König Bagyidaw hält ihrZögern für ein Zeichen von Schwäche. So unter-nimmt er mehr und mehr Vorstöße … ich fürchte, erwird das noch einmal bereuen.«Gelangweilt von dem Kriegsgerede räumten Len-Lay und Mah-Lo den Tisch ab, wuschen Koo-ChillsTöpfe ab und gingen dann hinaus auf die Terrasse,um mit Herrn Verzeihung zu spielen.Später, als Gouger Abschied nahm, sagte AdoniramJudson: »Wir haben deine Gesellschaft sehr genos-sen, Henry. Bitte komm wieder. Wir würden unsbesonders freuen, wenn du am Sonntag zu unseremGottesdienst kämst – wir haben uns bisher am Flussim Haus von Dr. Price versammelt.«Gouger grinste und zuckte die Achseln. »Dr. Price,eh? Ein wichtigtuerischer Dummkopf, dieser Mann.Ich persönlich bin nicht gerade ein Mann der Kirche.Aber, weil ihr mich nun eingeladen habt … ja, ichwerde kommen.«

***Henry Gouger wurde häufiger Gast im Missions-haus. Besonders Henry und Adoniram verstandensich glänzend. Judson schätzte Gougers Wissen undKenntnisse, und die beiden Männer diskutiertenstundenlang über Wissenschaft, Geografie und Phi-losophie. Was Gouger anging, so waren die Judsonsfür ihn die Familie, die ihm fehlte. Frau Judsonsweiblicher Charme entzückte ihn, und er neckte diebeiden Mädchen ununterbrochen.Und zu Maung Ings großer Freude stand Gouger aufder Veranda und redete sogar höflich mit Herrn Ver-zeihung.

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Doch zwischen Judson und Gouger gab es auch Mei-nungsverschiedenheiten. Herr Judson schimpfte übereinige zweifelhafte Geschäfte seines jungen Freundesund Gouger machte häufig skeptische Bemerkungenüber »die heuchlerische Religion«. Doch wie derjunge Engländer versprochen hatte, nahm er sonn-tags an den Gottesdiensten bei Dr. Price teil. Manch-mal drängten sich auch acht oder zehn neugierige Bir-manen während des Gottesdienstes ins Haus.Unter der Woche lernten Len-Lay und Mah-Lo täg-lich mit Frau Judson. Sobald sie das birmanischeAlphabet gelernt hatten, begann Frau Judson mitdem Leseunterricht. »Denn … so … hat … Gott … die … Welt … geliebt…« Len-Lay las jedes Wort einzeln auf dem BlattPapier, das Frau Judson ihr gegeben hatte. Sie blickteauf. »Was ist das für ein Text?«»Das ist ein Text aus der Bibel, unserer HeiligenSchrift«, erklärte Frau Judson lächelnd.»Aber er ist auf Birmanisch geschrieben!«, wundertesich Len-Lay.»Ja, und zwar deshalb, weil Herr Judson die Bibel ausdem Englischen ins Birmanische übersetzt. DeinVater hat einige christliche Schriften in seiner eige-nen Sprache gelesen und deshalb hat er sich ent-schlossen, ein Nachfolger Jesu zu werden.«Die Worte und Gedanken waren sehr seltsam, dachteLen-Lay. Warum hat Gott seinen eigenen Sohn ge-opfert – nur, damit die Menschen ewig leben konn-ten? Doch wenn ihr Vater wollte, dass sie diese Worteverstand, dann würde sie fleißig weiterlernen, umlesen zu lernen.

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Es gab nun ein drittes Mädchen in der Schule. Die Ehe-frau eines der königlichen Hofbeamten hatte von AnnJudsons Mädchenschule gehört. Eines Tages tauchtedie Mutter mit ihrer Tochter in einem Palanquin auf –das ist ein Stuhl, der durch Stangen von zwei Dienerngetragen wird. »Lehre sie lesen«, befahl sie, bevor siemit einer großartigen Geste davonrauschte.Len-Lay und Mah-Lo freuten sich über die Freundin.Neben Lesen und Schreiben unterrichtete Frau Judsondie Mädchen auch im Nähen, Kochen und in derHauswirtschaft. Als es Mai wurde, machte die feuchteHitze Frau Judson manchmal krank, doch sie führteden Unterricht vom Bett aus fort.Eines Tages, während des Unterrichts, fragte HerrJudson seine Frau, ob er die Mädchen für eine Besor-gung haben könnte. »Mary und Abby«, sagte erernst, »bitte bringt diese Nachricht zu Henry Gouger.Er wird euch dafür Geld geben. Doch passt auf, dassihr das Geld nicht verliert – das ist alles, was wir fürden nächsten Monat zum Leben haben.«Indem er sich an seine Frau wandte, sagte er ruhig:»Ich würde ja selbst gehen, doch Maung Ing hatgerade eine Nachricht von Dr. Price gebracht – einmedizinischer Notfall hat ihn sehr aufgeregt. Price istjetzt auf dem Weg hierher, um mit mir zu sprechen.«Die Mädchen hüpften fröhlich zu Henry GougersHaus. Sie hatten ihren englischen Freund schon meh-rere Tage nicht gesehen, und er brachte sie immerzum Lachen.Auch heute war keine Ausnahme. »Prinzessin Mary!Prinzessin Abby!«, rief Gouger aus, indem er sich vorihnen so tief verbeugte, als seien sie Königinnen. »Ihr

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ehrt mich durch euren Besuch. Ich denke, für dieseGelegenheit müssen wir … die Pfefferminzbonbonsherausholen!«Während die Mädchen ihre englischen Pfefferminz-bonbons lutschten, überreichte Len-Lay die Nach-richt von Herrn Judson.»Hmmm. Ein weiterer Scheck, der eingelöst werdensoll. In Ordnung.« Henry Gouger verschwand imHaus und kam bald mit einem Sack birmanischer Sil-bermünzen zurück. »Versteck das in deinem Rock«,meinte er zu Len-Lay, »und geht direkt nach Hause.«Als die Mädchen sich ihren Weg durch die volle undschmutzige Straße nach Hause bahnten, erblicktensie eine vertraute Gestalt am Ende des Weges, die siebeobachtete. Es war Myat Rodgers. Spionierte erihnen nach? Er stand mitten im Weg, so dass dieMädchen gezwungen waren, anzuhalten.»Was habt ihr im Haus des englischen Händlersgemacht?«, wollte er wissen.Das geht dich gar nichts an, dachte Len-Lay. DochMah-Lo erwiderte: »Herr Gouger hat uns Geld gege-ben, das wir Herrn Judson geben sollen.« Len-Laystarrte ihre Schwester an.Myat warf den Mädchen einen seltsamen Blick zu.Dann sagte er: »Ich dachte, ihr solltet wissen, dasseure amerikanischen Missionare nicht das sind, wassie vorgeben. Jetzt habe ich den Beweis!« Er machteeine Pause, damit sie begreifen konnten, was ergesagt hatte; dann beugte er sich zu den Mädchenvor, als ob er ihnen ein Geheimnis verraten wollte.»Der andere Amerikaner, Dr. Price, arbeitet doch mitHerrn Judson zusammen, oder nicht?«

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Len-Lay wollte überhaupt nichts sagen, doch schließ-lich antwortete sie: »Ja.«

Myat lächelte selbstgefällig. »Ich habe gerade gehört,dass der ›Doktor‹ eine Frau mit grauem Star zu ope-rieren versucht hat – und nun ist sie blind wie einMaulwurf!«

Len-Lay öffnete den Mund vor Erstaunen. Wer konn-te das sein? Doch nicht Mah-Noo, die arme Haushäl-terin! Dann hob Len-Lay ihren Kopf und blickte Myatdirekt an. »Das glaube ich nicht«, antwortete sie.

Myat lachte. »Egal, ob du es glaubst oder nicht – es istwahr. Judsons amerikanischer Freund tut nur so, alsob er ein Doktor wäre. Jetzt wird es jeder erfahren,dass er ein Betrüger ist.«

Len-Lay nahm Mah-Lo bei der Hand und zog sie mit,während sie die Straße entlangrannte.

»Ich habe euch doch gesagt, dass die EngländerHerrn Judson bezahlen!«, rief Myat hinter ihnen her.

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Gefleckte Gesichter an der Tür

Die Mädchen rannten den ganzen Weg bis nachHause, bis sie atemlos vor der Tür des Missions-

hauses standen. Dr. Price war bereits dort – mit Mah-Noo, seiner Haushälterin.

»Ich soll dich trauen!«, sagte Herr Judson gerade.»Bist du etwa verrückt geworden, Jonathan? Ichkann dich nicht mit dieser – dieser Birmanin verhei-raten. Deine guten Absichten sind dumm! Du bistamerikanischer Staatsbürger! Du bist erst zwei Jahrein Birma; Gott allein weiß, wie lange du hier bleibst.Du kannst doch nicht –«

»Adoniram!«, unterbrach ihn Dr. Price. Er schobMah-Noo sanft nach vorn. »Schau sie dir an! Sie istvöllig blind und das ist meine Schuld. Wenn ich sie

heirate, kann ich mich umsie kümmern – um meinentragischen Fehler gutzu-

machen.«

Len-Lay fühlte, wie ihrder Atem stockte. Esstimmte also! Dr. Price

hatte Mah-Noo operiert –und die Operation warschief gegangen.

»Oh, Jonathan«, meldete sichnun Ann Judson zu Wort,indem sie sich neben die Haus-

hälterin stellte und zärtlich den

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Arm um sie legte. »Es ist immer ein Risiko, grauenStar zu operieren. Du hast dein Bestes gegeben. AberMitleid ist keine gute Grundlage für eine Ehe.«

»Wir werden füreinander sorgen. Das ist der einzigeWeg«, erwiderte er.

Herr Judson schüttelte den Kopf. »Ich kann das nichttun, Bruder Jonathan. Mah-Noo ist nicht einmal gläu-big.«

»Noch nicht«, meinte der Arzt stur. »Doch sie denktdarüber nach, was ich ihr von Jesus Christus erzählthabe. Ich bin zuversichtlich, dass sie sich taufen las-sen wird.« Dr. Price holte tief Luft. »Bruder Adoni-ram, ich bitte dich darum, eine Trauung zu vollzie-hen. Das amerikanische Gesetz und die Natur jedochsehen auch Fälle vor, in denen ein Priester nichtgefunden werden kann: Ich kann Mah-Noo nachdem Gewohnheitsrecht zu meiner Ehefrau machen!«

In der darauffolgenden verblüffenden Stille holteLen-Lay den Beutel mit den silbernen Geldstückenaus ihrem Rock hervor, legte ihn auf den Tisch, dreh-te sich um und verließ das Haus. Ihre Gedanken undGefühle kämpften heftig miteinander, als sie dieVeranda hinunterkletterte und in eine Ecke des Gar-tens zu dem Akazienbaum rannte, den Ann Judsonvor kurzem gepflanzt hatte. Sie setzte sich unter denBaum und umschlang ihre Knie.

Vielleicht hatte Myat doch recht. Vielleicht war Dr.Price gar kein echter Doktor. Doch selbst wenn erkein Arzt war, hieß das noch lange nicht, dass er einSpion war. Doch warum tat er dann so als ob? Odervielleicht war er einfach nur kein besonders guter

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Arzt, meinte sie zu sich selbst. Und was war mit denJudsons? Sie sind gute Menschen. Aber … warumbezahlt Gouger ihnen Geld? Herr Judson arbeitetdoch nicht für den jungen Engländer – also warumsollte er ihm Geld geben? Es sei denn –

»Len-Lay?«, flüsterte Mah-Lo, als sie sich neben ihreSchwester unter die Akazie setzte. »Hat Myat dochrecht? Sind die Judsons und Dr. Price Spione für dieEngländer?«

Len-Lay schüttelte den Kopf. »Ich – ich weiß es nicht.Ich glaube aber nicht.«

»Aber was, wenn sie doch welche sind?«, beharrteMah-Lo. »Oh, Len-Lay! Ich habe Angst! Was passiert,wenn der König erfährt, dass Dr. Price die Haushäl-terin blind gemacht hat? Wird er dann böse? Wird eralle Amerikaner ins Gefängnis werfen? Was wirddann aus uns? Wir hätten nie von Vater weggehensollen!«

***Herr Judson stimmte schließlich zu, die Trauung vonDr. Price und Mah-Noo vorzunehmen.

Ann Judson half Mah-Noo, ihr Haar für die Feier zuschmücken. Sie band einen Kranz mit weißen undrosa Blumen, den sie auf das volle, schwarze, obenauf dem Kopf zusammengenommene Haar legte.Len-Lay dachte, dass das schlichte Gesicht der Haus-hälterin mit seinen leeren, blinden Augen beinahehübsch aussah, als sie Dr. Prices Hand nahm undruhig auf birmanisch sagte: »Ja, ich will.«

Die kleine Gruppe von Ausländern – Adoniram undAnn Judson sowie Henry Gouger – traf sich weiter-

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hin jeden Sonntag mit Maung Ing, Len-Lay und Mah-Lo im Haus von Jonathan und Mah-Noo Price zueinem christlichen Gottesdienst. Als sich die Gerüch-te von Krieg in der Stadt mehrten, kamen nach undnach die anderen neugierigen Birmanen nicht mehr.

Was Herrn Rodgers betraf, so versuchte er, seinePosition am Königshof zurückzugewinnen, und erweigerte sich, mit irgendwelchen anderen Auslän-dern in Ava Kontakt zu haben, seien es Engländeroder Amerikaner.

An einem Sonntag Ende Mai hatte die kleine Gruppevon Gläubigen gerade das Vaterunser auf birma-nisch beendet, als Koo-Chill, der normalerweisenicht am Gottesdienst teilnahm, in das Ziegelhäu-schen am Fluss gestürmt kam.

»Herr Joodthan!«, keuchte der bengalische Koch.»Ich habe es gerade gehört! Die Engländer habenRangun angegriffen und erobert! Viele Birmanensind aus der Stadt geflohen.«

»Rangun!«, riefen alle. Die Stadt Rangun, die an derSüdspitze Birmas lag, war das Tor zum übrigenLand. Wenn sie gefallen war, war es nur noch eineFrage der Zeit, bis die Engländer den Irrawaddy-Fluss nach Ava hinaufsegeln würden.

Len-Lay und Mah-Lo blickten einander mit angstvol-len Augen an. Was war mit ihrem Vater geschehen?Ging es Maung Schway-Bay gut?

Der stämmige Koch konnte endlich wieder Luftholen. »General Bandula und seine Truppen kampie-ren immer noch entlang der bengalischen Grenze.Das Gerede in den Straßen lautet, dass General Kyi

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Wungyi und General Thonby Wungyi mehr Truppensammeln, um den Irrawaddy hinunterzufahren undRangun zurückzuerobern. Alle sagen, dass es vieleweiße Gefangene geben wird!«

Henry Gouger schüttelte den Kopf. »Ha! Die armenGeneräle Wungyi. Sie haben keine Ahnung, mit wemsie es zu tun haben.«

Herr Judson runzelte die Stirn. »Henry«, meinte ernachdenklich, »da bist du als Engländer in einerschlimmen Lage. Du hast ein finanzielles Interesse anBirma und wirst ganz bestimmt als Spion verdäch-tigt. Wir Missionare jedoch sind nicht der Geschäfteoder des Handels wegen hier; oder noch wichtiger,wir sind Amerikaner. Unsere Hauptsicherheit ist es,wenn wir unsere amerikanische Staatsangehörigkeitklar erkennen lassen.«

Dr. Price merkte, worauf Judson hinaus wollte.»Wenn du gefasst wirst, Henry, können wir dir viel-leicht von außen helfen. Aber wenn wir zusammengesehen werden, werden wir vielleicht alle gefangen!«

Judson nickte. »Es tut mir sehr leid, dass ich das sagenmuss, Henry. Aber du darfst uns nicht mehr besu-chen kommen – und zwar so lange nicht, bis dieseKrise vorüber ist. Bitte versteh das, lieber Freund.«

Henry Gouger ging zur offenen Tür und schautedurch die sich im Wind wiegenden Palmen nachdraußen. Die Sonne ging gerade über dem Irra-waddy unter und tauchte die Spitzen und Türme vonAvas Palästen und Tempeln in Feuer. »Natürlich. Ihrhabt Recht. Das ist keine gute Zeit, sich mit einemEngländer sehen zu lassen.«

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Der junge Mann zwang sich zu einem Lächeln,drehte sich um und blies Len-Lay und Mah-Lo einenKuss zu. »Auf Wiedersehen, Prinzessin Mary. AufWiedersehen, Prinzessin Abby. Vergesst euren altenFreund nicht!« Und damit war er verschwunden.»Glaubst du wirklich –?«, fragte Frau Judson traurig.»Ja«, erwiderte ihr Ehemann. »Ich weiß, dass dasunfreundlich scheint. Aber Henry weiß, dass ichRecht habe; wir dürfen nicht zusammen gesehenwerden, bis die Situation sich entschärft hat. Nun …kommt, wir beten.«Nach dieser Nachricht aus Rangun versuchte derkleine Missionshaushalt weiterzuleben wie gewöhn-lich – außer, dass die Tochter des königlichen Hofbe-amten nicht mehr zu Frau Judsons Unterricht kam.Die Arbeiter bauten weiter an dem Ziegelhäuschenneben dem Bambuskyuong. Herr Judson führte stun-denlange Gespräche mit Maung Ing und schrieb.Manchmal ging Maung Ing fischen, um Koo-ChillsTöpfe zu füllen, und Koo-Chill ging jeden Tag zumMarkt, um frische Lebensmittel zu kaufen und dieneuesten Kriegsnachrichten zu hören.Schon ein paar Tage später brachte der Koch Neuig-keiten. »Die Männer des Königs haben Henry Gou-ger und Herrn Rodgers festgenommen!«, berichteteer. »Herr Gouger hatte eine Zeitung aus Indien zuHause, in der stand, dass die englische Regierungvielleicht eine bewaffnete Flotte nach Rangunschicken wird. Er wurde verhaftet, weil er das nichtdem König mitgeteilt hat.«Doch bevor die Missionare irgendetwas tun konnten,um dem Engländer zu helfen, wurden Herr Judson

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und Dr. Price selbst vor einen örtlichen Richter ge-laden, dem sie verschiedene Fragen beantwortensollten. Ann und die Mädchen warteten voller Angstund sie waren sehr erleichtert, als Herr Judson andiesem Abend nach Hause kam.

»Was ist passiert?«, rief Frau Judson aus.

Herr Judson zuckte mit den Schultern. »Der Richtersagte, dass wir viele Briefe schreiben. Er wollte wis-sen, ob wir Berichte ins Ausland schicken. Price undich haben ihm einfach erzählt, dass wir Freunden inden Vereinigten Staaten schreiben – ein Land, dasTausende von Kilometern von England entfernt ist.Er ließ uns gehen.«

Das Ehepaar umarmte sich. Ann lachte: »Gott seiDank!«

Auch Len-Lay und Mah-Lo wurden ruhiger. Viel-leicht würde doch nichts Schlimmes passieren.

Doch am nächsten Abend – am Dienstag, dem achtenJuni –, als der kleine Haushalt gerade Koo-ChillsAbendessen verzehren wollte – hörten sie einenTumult im Hof und Herr Verzeihung begann, vonseinem Käfig auf der Veranda zu krächzen. Dannhörte man ein lautes Klopfen an der Tür. Bevor HerrJudson überhaupt aufstehen konnte, wurde die Türeingetreten und ein Dutzend oder mehr Birmanenstürmten in das Zimmer. Mah-Lo schrie auf. Einerder Männer hatte Kreise in seine Wangen einge-brannt – es waren die gefürchteten Gefleckten Ge-sichter! Alle Birmanen hatten von diesen früherenKriminellen gehört – manchen fehlte ein Ohr, dieNase oder ein Auge –, die Aufseher für die Gefäng-

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nisse geworden waren. Die Gefleckten Gesichterwaren bekannt für ihre grausame Behandlung ande-rer Gefangener.

Ein anderer Mann trat vor, der ein schwarzes Buchhielt. Er trug den Turban eines Stadtmagistrats odereines Richters. »Wer ist der ausländische Lehrer?«,fragte er herrisch.

»Ich bin das«, erwiderte Herr Judson, während ervom Tisch aufstand.

»Sie sind verhaftet!«

Kaum hatte der Mann das gesagt, ergriffen dieGefleckten Gesichter Herrn Judson und warfen ihnauf den Boden. Während sie auf seinem Rücken knie-ten, zogen sie die Arme des Missionars nach hintenund banden sie an den Ellbogen mit einer dünnenSchnur fest zusammen. Herr Judson zuckte vorSchmerz zusammen.

»Hören Sie auf!«, schrie Frau Judson. »Ich kannIhnen Geld geben – bloß nehmen Sie bitte die Schnurab!«

»Nehmt sie auch fest!«, fauchte der Magistrat mitdem schwarzen Buch.

Ohne nachzudenken warf sich Len-Lay an Frau Jud-son und hielt sie fest. Hinter ihr weinte Mah-Loimmer noch, die von Koo-Chills dicken Armen um-fangen wurde. Maung Ing war entsetzt beim Anblickseines auf dem Boden gefesselten amerikanischenGlaubensbruders.

Herrn Judson gelang es, auf die Knie zu kommen.»Bitte! Lassen Sie meine Frau in Ruhe!«, keuchte er.»Ich werde mit Ihnen gehen.«

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Die Gefleckten Gesichter banden die Schnur nunnoch fester. Dann schleppten sie Adoniram Judsonaus dem Haus, gefolgt von den anderen Männern.Eine erregte Menge hatte sich draußen versammelt,doch als sie sahen, dass Herr Judson getreten und zuBoden gestoßen wurde, begannen viele der Kindervor Angst zu weinen. Die Arbeiter an dem Ziegel-haus hatten schon ihre Werkzeuge hingeworfen undwaren davongelaufen.

Während die Männer Ann Judsons Ehemann davon-schleppten, reichte sie schnell einen kleinen Beutelbirmanischer Silbermünzen dem schwer erschütter-ten birmanischen Fischer. »Maung Ing! Folge HerrnJudson. Vielleicht kannst du die Gefleckten Gesichterüberreden, die Schnur zu lösen. Und sag mir, wohinsie ihn bringen!«

Maung Ing überwand seine Angst, nahm rasch dasGeld und rannte die Straße hinunter.

Len-Lay zitterte vor Angst und Mah-Lo weinte nochimmer in Koo-Chills Armen. Frau Judson scheuchtesie alle ins Haus und verriegelte die Tür. Ihr Gesichtwar blass, doch ihre Stimme war fest.

»Koo-Chill! Bitte bleibe hier als Wache an der Türund sage mir Bescheid, wenn irgendjemand kommt.Abby, du musst aufhören zu weinen. Mary, ihr beidekönnt mir helfen. Wir müssen schnell machen!«

Len-Lay fachte auf Frau Judsons Anordnung dasFeuer wieder an, das immer noch in Koo-Chills Ofenglühte. Frau Judson und Mah-Lo kamen aus demSchlafzimmer mit einer Hand voll Briefen, Tage-büchern und anderen Papieren. Fast eine Stunde lang

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fütterten die Frau und die beiden Mädchen dasFeuer, bis nichts als Asche übrig blieb.»Nun«, sagte sie leise, »nehmt die Asche und verteiltsie im Garten. Wir dürfen keine Spur davon hinter-lassen, dass wir irgendetwas verbrannt haben.«Len-Lay und Mah-Lo schaufelten die Asche in einegroße Schüssel und öffneten dann vorsichtig dieHaustür. Die Dunkelheit war schon hereingebro-chen, doch Koo-Chills Vertrauen erweckende Gestaltwar im Mondlicht sichtbar. Ohne zu reden brachtendie Mädchen die Asche in den Gemüsegarten undverstreuten sie zwischen den Reihen – genauso, wiesie es jeden Tag mit der Asche von Koo-Chills Feuermachten.Als die Mädchen leise zum Haus zurücktappten, sahLen-Lay, wie Frau Judson mit einem dicken Paketunter dem Arm die Veranda herunterstieg. Sie nahmeine Schaufel und verschwand hinter dem Haus.Während sie im Haus auf Frau Judson warteten, stot-terte Mah-Lo immer noch halb weinend: »Wenn –wenn die Judsons nichts B-böses getan haben,warum hat Frau Judson dann all diese Papiere verb-brannt?«Len-Lay fragte sich genau dasselbe. Und was war indem mysteriösen Paket, das Frau Judson hinter demHaus vergrub?Len-Lay nahm das Gesicht in ihre Hände. Vor ihremgeistigen Auge konnte sie sehen, wie das schreckli-che Gefleckte Gesicht Herrn Judsons Arme hinter sei-nem Rücken verdrehte und ihn fortschleppte. Siehatte Angst … und war verwirrt. Warum, warum,warum bloß geschah das alles?

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Die Tür öffnete sich sachte und schloss sich wiederhinter Frau Judson. Sie lehnte sich einen Momentlang an die Tür. Im Halbdunkel schien sie blass undatemlos. Dann sagte sie: »Mary und Abby, wir müs-sen unsere Hände waschen.« Mit einer weichen Bür-ste und einer Schüssel Wasser schrubbte sie beidenMädchen die Hände und dann ihre eigenen, bis keineSpur von Asche oder Schmutz mehr zu sehen war.

Als sie gerade ihre Hände abgetrocknet hatten, hör-ten sie ein leises Klopfen an der Tür. Die Mädchensprangen auf und klammerten sich an Frau Judson.Waren etwa die Gefleckten Gesichter zurückgekom-men? Frau Judson legte ihren Finger an die Lippenund schüttelte verneinend den Kopf. Dann schob sievorsichtig den Riegel zurück.

Maung Ing schlüpfte heftig atmend ins Haus.Schweiß glitzerte auf seinem Gesicht und seinemHals, durchtränkte auch seine Tunika. Er schlucktemehrere Male und sagte dann mit erstickter Stimme:»Unseren Bruder … Dr. Price … hat man auch festge-nommen. Ich bin ihnen nachgegangen. Zuerst wur-den sie ins Haus des Gouverneurs gebracht, unddann …«

Der birmanische Christ hielt inne; sein Brustkorbbewegte sich heftig auf und ab.

»Wohin, Maung Ing? Wohin wurden sie gebracht?«,rief Ann Judson.

Endlich stieß Maung Ing die Worte hervor. »Alleweißen Gefangenen wurden … ins Todesgefängnisgebracht!«

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Das Todesgefängnis

Ann Judson blickte Maung Ing voller Entsetzenan. Einen Moment lang dachte Len-Lay, ihre

Pflegemutter würde in Ohnmacht fallen. Doch kaumhatte Maung Ing die gefürchteten Worte gesagt, alssie Koo-Chill hörten, der noch immer am Tor Wachestand und nun rief: »Da kommt jemand!«

Schon wieder hörte man Lärm im Hof, dann ein lau-tes Klopfen an der Tür. »Frau Joodthan, machen Sieauf!«, schrie der Magistrat, der bereits vorher mit sei-nem schwarzen Buch dagewesen war. »Ich mussIhnen ein paar Fragen stellen!«

Mit einer schnellen Warnung an dieMädchen, dass sie nichts von den ver-brannten Papieren sagen sollten, schlossFrau Judson für einen kurzen Momentdie Augen, als ob sie ein verzweifeltesGebet sprechen würde. Dann schobsie den Riegel der Tür zurück.

Derselbe Beamte kam herein, aberdiesmal allein; doch draußen standeine gewalttätige Menge. Frau Judsonbot dem Mann einen Stuhl an; dannsetzte sie sich selbst auf den Schaukel-stuhl, den sie aus Amerika mitge-bracht hatte.

Der Mann bombardierte die Auslän-derin mit einer Frage nach der ande-ren: Woher kamen sie? Warum waren

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sie nach Birma gekommen? Was machten sie in Ava?Warum lebten diese beiden birmanischen Mädchenbei ihnen? Welche Religion lehrten sie? Wie viel Geldhatte sie? Wer gehörte noch zum Haushalt? Kanntesie den Engländer Henry Gouger? Herrn Rodgers?Welche Beziehung hatte sie zu ihm? Und so weiterund so weiter.

Frau Judson beantwortete alle Fragen gelassen.Maung Ing stand hinter ihr; sie schien aus seinerGegenwart Kraft zu schöpfen. Len-Lay und Mah-Loknieten dicht neben ihr.

Schließlich klappte der Magistrat sein schwarzesBuch zu und stand mit einem Stirnrunzeln auf: »Siedürfen dieses Haus nicht verlassen«, befahl er. »Ichwerde eine meiner Wachen am Tor postieren, damitSie auch gehorchen.« Dann schritt er über dieVeranda und stieg die Stufen zum Hof hinunter.

Maung Ing beobachtete von der Tür aus, wie derMagistrat mit dem Mann sprach, der draußen gewar-tet hatte. »Oh, Herr Jesus, beschütze uns«, murmelteer. »Er hat zehn von seinen Leuten dagelassen, dieuns bewachen sollen!« Mit einer schnellen Bewegungöffnete er den Weidenkäfig von Herrn Verzeihung,nahm den Papagei heraus und warf ihn in die Luft,damit er auf die nahen Bäume fliegen konnte.

Frau Judson sah beunruhigt aus. »Wo ist Koo-Chill?«

Maung Ing schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn nichtgesehen. Schnell. Verriegelt die Tür.«

Kaum war der Magistrat fortgegangen, hörte manlaute Schreie und ein Klopfen an der Tür. »Lass unsrein, weiße Frau!«, schrien Stimmen. »Lass uns rein,

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damit wir dich ›beschützen‹ können!« Es ertönteraues Gelächter.

Entsetzt schoben Maung Ing, Frau Judson und diebeiden Mädchen den Tisch vor die Tür. Weil sie nichtwusste, was sie sonst machen sollte, brachte FrauJudson die Mädchen in ihr eigenes Bett. Die Mädchenmachten zwar die Augen zu, aber sie konnten nichtschlafen. Die Stimmen draußen stießen weitere Dro-hungen und Forderungen aus, dass Frau Judson dieTür aufmachen sollte.

Dann hörte das Schreien auf. Als sie Bewegungen inihrem Zimmer hörte, öffnete Len-Lay die Augen.Frau Judson kniete neben ihrem Bett. Sie hatte dieHände gefaltet und ihre Lippen bewegten sich laut-los. Len-Lay wusste, dass sie betete.

Plötzlich brach das Gelächter wieder aus, diesmalhinter dem Haus. Dann folgte lautes Stöhnen. FrauJudson öffnete vorsichtig das Bambus-Rollo imSchlafzimmer. Len-Lay kroch aus dem Bett undschaute aus dem Fenster neben ihr. Sie konnte kaumeinen Schrei unterdrücken.

Koo-Chills Arme und Beine waren in einer schmer-zenden Position an einem Paar rauer Stöcke ange-bunden; das Gesicht des bengalischen Kochs verrietseine Qual.

»Hören Sie auf!«, schrie Frau Judson aus dem Fens-ter. »Bitte lassen Sie meinen Diener in Ruhe. Ich gebejedem von Ihnen morgen Geld. Aber Sie müssen ihnsofort gehen lassen.«

Die »Wachen« überlegten. Sie diskutierten mit FrauJudson hin und her. Schließlich einigten sie sich auf

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einen Preis und banden Koo-Chill von den Stöckenlos.Erschöpft sanken Frau Judson und Len-Lay aufs Bett.Sie mussten geschlafen haben, denn das Nächste,woran Len-Lay sich erinnerte, war das Morgenlicht,das das Bambushaus erhellte.

***Wie sie es versprochen hatte, gab Frau Judson dengroben Männern am nächsten Morgen die Silber-stücke. Koo-Chill, der zwar müde aussah, aber dochnicht so sehr von seinem Martyrium mitgenommenwar, wurde ins Haus gelassen. »Oh, Koo-Chill!«, rie-fen die Mädchen und warfen sich in seine starkenArme. Er drückte sie an sich, machte sich dann amFeuer zu schaffen und begann, eine große MengeReis zu kochen.Maung Ing nickte zustimmend. »Nach birmani-schem Brauch müssen die Verwandten und Freundefür das Essen der Gefangenen sorgen«, meinte er zuFrau Judson.»Aber diese – diese Grobiane lassen mich nicht ein-mal aus meinem Hof heraus!«, erwiderte Frau Jud-son besorgt. »Wir werden gehen«, meinte er und zeigte auf sichund die beiden Mädchen.Len-Lay riss die Augen auf. Nicht zum Todesgefäng-nis!»Doch«, sagte Maung Ing mit fester Stimme. »Dreisind besser als einer: einer spricht mit den Wachen,einer überreicht das Essen und der andere überbringtdie Nachrichten – oder was es auch immer zu sagen

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gibt. Sie werden uns nur einen kleinen Augenblickerlauben. Kommt. Wir müssen tapfer sein. Wir müs-sen zusammenarbeiten.«

Frau Judson wollte die Mädchen nicht gehen lassen,doch Maung Ing überzeugte sie schließlich. ObwohlLen-Lay Angst hatte, schöpfte sie Mut durch die Tap-ferkeit, die Maung Ing zeigte. Er hatte sich immer be-sorgt gefragt, wann die birmanischen Beamten heraus-finden würden, dass er Christ geworden war. Doch alsnun echte Gefahr drohte, war er irgendwie stärker.

Koo-Chill wickelte Reis und einige geräucherte Fischein Palmblätter. Frau Judson schrieb schnell ein paarZeilen an ihren Mann, die Len-Lay dann in ihren Long-yi steckte. Dann traten die drei Boten auf die Veranda.

Mah-Lo bemerkte den leeren Käfig. »Was ist dennmit Herrn Verzeihung?«

Mit einer schnellen Kopfbewegung zu den sich wie-genden Palmen über ihm, meinte Maung Ing ruhig:»Herr Verzeihung ist dort oben sicherer als in seinemKäfig – zumindest solange, bis diese Schurken weg-gehen.«

Die meisten der »Wachen« schliefen nach der langen,lauten Nacht. Die beiden, die noch wach waren, nah-men gierig das Geldgeschenk an, das Maung Ingihnen anbot, und sie ließen sie durch das Tor. »Abernicht die Ausländerin!«, knurrte einer, als ob er sichselbst beweisen wollte, dass er seine Pflicht nicht ver-nachlässigte.

Durch die engen schmutzigen Straßen bis zumTodesgefängnis an der anderen Seite von Ava warenes ungefähr drei Kilometer zu laufen. Während

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Maung Ing und die Mädchen immer näher kamen,schlug ihnen ein furchtbarer Gestank von ungewa-schenen Körpern, verfaultem Essen und menschli-chen Exkrementen entgegen. Len-Lay hatte dasGefühl, sie müsste sich erbrechen.

»Atme einfach nur durch den Mund«, riet Maung Ingihr mitfühlend.

Sie erreichten das Gefängnistor, das von einemhohen Bambuszaun mit scharfen Spitzen umgebenwar.

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»Welcher Gefangene?«, wollte ein Torhüter wissen.

»Adoniram Judson und Jonathan Price, amerikani-sche Missionare«, antwortete Maung Ing.

Das Tor wurde geöffnet und die drei kamen in einenäußeren Gefängnishof. Len-Lays Knie zitterten; siekonnte Mah-Los schnelles Atmen hören. Wenn die-ses Tor nun geschlossen wurde und sie nicht mehrherauskommen konnten?

Ein Wächter ging durch ein zweites Tor in eineninneren Gefängnishof. Bevor sich das Tor wiederschloss, konnte Len-Lay ein Bambusgebäude ohneFenster erkennen. Es dauerte sehr lange, bis dasinnere Tor wieder aufgemacht wurde; der Wächtertrat beiseite und ließ den Blick auf zwei Gefangenefrei, die hinter ihm hergeschlurft waren.

Die Mädchen bekamen einen Schock. Es waren HerrJudson und Dr. Price. Doch sie waren beide kaumwiederzuerkennen.

Beide Männer hatten an jedem Bein drei Fußfesseln,die durch jeweils eine kurze Kette miteinander ver-bunden waren. Herr Judson trug noch immer seinenschwarzen amerikanischen Anzug, doch er war zer-knittert, zerrissen und starr vor Dreck. Wo das Ge-fleckte Gesicht ihn auf dem Weg ins Gefängnis insGesicht geschlagen hatte, war eine Schwellung zuerkennen. Das Haar beider Männer war von Dreckverkrustet, ihre Gesichter waren verschmutzt und …sie stanken.

»Gott segne euch!«, brachte Dr. Price hervor.

Herr Judson öffnete seinen Mund, doch er wurde aufeinmal von seinen Gefühlen überwältigt. Ohne etwas

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zu sagen, streckte er seine Hand nach dem Essen aus.Len-Lay bemerkte, dass seine Arme steif und wundschienen.

Maung Ing und die Mädchen legten Koo-ChillsPalmblätter mit Reis und geräuchertem Fisch in ihreHände. In der Hoffnung, dass der Wächter nicht zuihr hinschaute, nahm Len-Lay Frau Judsons Brief-chen aus ihrem Longyi und steckte es Herrn Judsonin die Hand.

»Oh, Mary und Abby«, stöhnte er. »Es tut mir leid,dass ihr das hier sehen musstet.«

»Maung Ing!«, flüsterte Dr. Price. »Du musst uns hierrausholen. Wir sind durch die Hölle gegangen!Nachts werden unsere Füße an einen Stab gebunden,und wir werden nach unten aufgehängt wiegeschlachtete Schafe –«

»Sei still, Jonathan!«, krächzte Herr Judson und deu-tete mit dem Kopf auf die Mädchen.

»Was ist mit Herrn Gouger und Herrn Rodgers?«,fragte Maung Ing.

»Sie leben –«

»Genug!«, rief der Wächter hinter ihnen. »Ihr habteuer Essen. Der Besuch muss gehen.« Er stieß dieGefangenen weg von dem inneren Tor, verschloss esund begleitete dann Maung Ing und die Mädchendurch den äußeren Hof. Dann wurden sie nachdraußen geschoben.

Vor dem Gefängnistor stand Myat Rodgers. Er hieltein Essenspaket in der Hand und sah verängstigt aus.

»Habt ihr meinen Vater gesehen?«, fragte er besorgt.

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»Nein, junger Mann«, antwortete Maung Ing sanft.»Aber er ist noch am Leben.«

Myats Gesicht verdunkelte sich. »Warum ist meinVater im Todesgefängnis? Er ist ein loyaler birmani-scher Staatsbürger! Es ist alles die Schuld der anderenAusländer.« Der Junge funkelte Len-Lay und Mah-Loan. »Einer von ihnen ist ein Spion – oder vielleichtsogar sie alle! Aber der König vertraut jetzt nieman-dem mehr – nicht einmal meinem Vater. Das ist nichtfair! Er hat dem Königshaus vierzig Jahre gedient –und jetzt wird er dafür so schlecht behandelt!«

Len-Lay und Mah-Lo, die noch immer ganz erregtwaren von dem, was sie im Gefängnishof gesehenhatten, wussten nicht, wie sie auf Myats Gefühlsaus-bruch reagieren sollten. Aber Len-Lay hatte Mitleidmit ihm, trotz seiner ärgerlichen Anschuldigungen.Wenn Herr Rodgers so schlecht aussah wie Herr Jud-son und Dr. Price, dann stand Myat ein großerSchock bevor.

»Die Männer des Königs kamen sogar zu uns nachHause und haben alle Papiere meines Vaters durch-sucht«, tobte Myat. »Aber sie haben nichts gefunden– nicht wie bei diesem Kerl Gouger.«

»Was meinst du damit?«, fragte Maung Ing schnell.

Myat lächelte triumphierend. »Das werdet ihr nochfrüh genug herausfinden. Sie werden auch zu euchnach Hause kommen.«

»Oh, aber es ist alles verbr … oh!« Mah-Lo wollteMyat gerade erzählen, was sie mit allen Papieren derJudsons gemacht hatten, als sie mit einem schnellenFußtritt von Len-Lay zum Schweigen gebracht wurde.

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»Niemand ist ein Spion, junger Mann«, sagte MaungIng hastig. »Die Regierung wird bald feststellen, dassdein Vater und all diese Männer unschuldig sind,und wird sie freilassen. Nun … du bringst besser die-ses Essen deinem Vater. Wenn er dich sieht, wird dasauch Nahrung für seine Seele sein.«

Der Ärger verschwand langsam aus Myats Augenund die Angst kehrte zurück. Ohne ein weiteresWort marschierte er zum Gefängnistor. Bevor sichMaung Ing und die Mädchen auf den drei Kilometerlangen Weg zurück zum Missionshaus machten, hör-ten sie noch, wie der Wächter schnappte: »WelcherGefangene?« und Myat mit nur leicht zitternderStimme antwortete: »Rodgers, bekannt als Yadza,birmanischer Staatsbürger.«

***Der Magistrat mit dem schwarzen Buch war schonwieder zu Hause, als Maung Ing und die Mädchenankamen. Er verlor kein Wort über die fehlendenMitglieder des Haushalts, solange Frau Judson ihmnicht entwischte.

»Bitte, lassen Sie mich nach Ava gehen, damit ich denGouverneur der Stadt sprechen kann«, bat Frau Jud-son. »Mein Mann ist unschuldig. Ich muss ihn vertre-ten.«

»Nein«, antwortete der Magistrat stur. »Mein Befehlist, Sie hier zu bewachen.«

»Dann sagen Sie mir wenigstens, warum mein Mannins Gefängnis gebracht wurde«, beharrte Frau Jud-son. »Was wird ihm denn vorgeworfen?«

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»Wir sind noch immer bei den Untersuchungen.Doch es sieht schlecht für Ihren Mann aus. Wir wis-sen ganz sicher, dass er von den Engländern Geldbekommt. Warum sollten sie ihm Geld zahlen –wenn er nicht als Spion für sie arbeitet?«

»Was?«, rief Frau Judson. »Was meinen Sie damit?Wir bekommen kein Geld von den Engländern!«

»Das ist nicht wahr, gnädige Frau«, grinste der Magis-trat. »Der junge Kaufmann, Herr Gouger, hat Ihnenregelmäßig Geld gegeben. Wir haben den Beweis –«

Len-Lay wollte nichts mehr hören. Sie ergriff Mah-Los Arm und zog sie aus dem Haus. Ohne auf Mah-Los Proteste zu achten, schleppte Len-Lay ihreSchwester in den Garten. Die brutalen Wachen amTor machten rohe Bemerkungen, als die Mädchenvorbeikamen, aber Len-Lay dachte, dass sie be-stimmt nichts tun würden, solange der Magistrat imHaus war.

Sobald die Mädchen die Akazie erreicht hatte,schleuderte Len-Lay ihrer Schwester entgegen: »Hastdu gehört, was der Mann gesagt hat?«

»J-ja«, stotterte Mah-Lo.

»Du und dein großer Mund!«, sagte Len-Lay ärger-lich. »Du hast Myat gesagt, dass Herr Gouger unsGeld für die Judsons gegeben hat. Er muss es weiter-erzählt haben – und darum haben sie Herrn Judsongefangen genommen.«

Len-Lay atmete heftig, während sie Mah-Lo bei denSchultern nahm. »Verstehst du denn nicht, was pas-siert ist? Es ist unsere Schuld, dass Herr Judson imTodesgefängnis sitzt!«

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Das harte Kissen

Mah-Lo entzog sich dem Griff ihrer älterenSchwester. Sie wich ihren Augen aus und ihre

Lippen bebten. Dann hob sie den Kopf und streckteihr Kinn trotzig vor. »Das ist nicht meine Schuld. Ichhabe nicht gewusst, dass es eine schlimme Sache vonHerrn Gouger war, den Judsons Geld zu geben.«

»Vielleicht war es das, vielleicht auch nicht! Wir wis-sen das einfach nicht«, argumentierte Len-Lay.

»Was meinst du damit, ›wir wissen das nicht‹? DerMagistrat hat gesagt, dass Herr Gouger Herrn Jud-son dafür bezahlt hat, dass er für die Engländer spio-niert«, erinnerte Mah-Lo ihre Schwester.

»Das hat er gesagt.« Dann schwieg Len-Lay. Wiederum wirbelten die Gedankenund Gefühle in ihrem Inneren hin undher, und sie spürte schon wieder einenKnoten in ihrem Hals. Schließlichmeinte sie: »Glaubst du denn, Herr Jud-son sitzt zu Recht im Todesgefängnis?«

Mah-Lo sah betroffen aus. »Nein!Natürlich nicht!«

»Glaubst du, dass er ein Spion ist?«,bohrte Len-Lay weiter.

»Ich …« Mah-Lo blickte zu Boden. »Ichweiß nicht.«

Der Magistrat kam gerade über denHof des Missionshauses. Len-Lay,

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die sich sehr elend fühlte, ging zurück zum Haus,gefolgt von Mah-Lo.

»Denken Sie dran!«, rief der Mann Frau Judson zu,die in der offenen Tür stand. »Wir kommen zurückund machen eine Liste von all Ihrem Besitz und IhrenHaushaltssachen. Ein Gefangener hat keinen eigenenBesitz mehr; es ist alles Eigentum des Königs!«

An diesem Tag gab es keinen Unterricht; Frau Judsonwar zu verstört. Sie blieb lange in ihrem Zimmer,betete oder ging gedankenverloren im Haus auf undab. Auch die Mädchen sprachen kaum miteinander.Alles, was Len-Lay denken konnte, war: Ist es wirk-lich unsere Schuld gewesen?

Als der Abend anbrach, versprach Frau Judson wie-der, den Wachen draußen Geschenke und Geld zugeben, wenn sie sie diese Nacht nicht stören würden.Es funktionierte auch; obwohl die Männer ein Lager-feuer im Missionshof machten und lautes Gelächtererscholl, gab es keine Drohungen oder Klopfen ander Tür. Frau Judson ließ die Mädchen wieder in ihreigenes Bett krabbeln, wo sie erschöpft einschliefen.

Am nächsten Morgen wurde Maung Ing auf dieandere Seite des Flusses geschickt, wo er Mah-Noo,die blinde Frau von Dr. Price, holen und zum Missi-onshaus bringen sollte. In der Zwischenzeit kochteKoo-Chill einen großen Topf mit Curryhähnchen, dieer in Palmblätter wickelte.

Der Magistrat kam sehr früh, um sicherzugehen,dass Frau Judson immer noch unter Hausarreststand. Diesmal bat sie ihn, einen Brief an den Gou-verneur der Stadt zu überbringen, in dem stand, dass

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sie ihn besuchen wollte, um ihm ein Geschenk zugeben. Widerwillig erklärte sich der Mann dazubereit, die Nachricht zu übergeben … und kehrtenach ein paar Stunden mit der Erlaubnis für FrauJudson zurück, den Gouverneur heute Nachmittagzu besuchen.

Als Maung Ing mit Mah-Noo zurückkehrte, wolltendie Wächter keinen Fremden mehr in den Hof lassen,aber der Magistrat entschied nach einigem Nachden-ken, dass die Frau des anderen amerikanischen Mis-sionars dann eben auch »seine« Gefangene seinwürde. Die arme Frau hatte ihr eigenes Haus nichtverlassen wollen, doch sie hatte dort keine Möglich-keit, Nachrichten von Dr. Price zu bekommen oderihm Essen und anderes zu bringen.

Also war sie schließlich einverstanden damit, hierherzu kommen.

Als Mah-Noo hörte, dass Frau Judson den Gouver-neur der Stadt besuchen wollte, meinte sie: »FrauJoodthan, meine Freundin. Zieht diese amerikani-schen Kleider aus und zieht Euch wie eine Birmaninan. Das zeigt dem Gouverneur, dass Ihr wirklich eineFreundin Birmas seid.«

Sie gab Ann Judson einen wunderschönen königs-blauen Longyi und eine kurze Tunika mit einem pas-senden Seidenschal von der Ehefrau eines der Hofbe-amten. Nachdem sie angezogen war und den Schalüber ihre Schultern gelegt hatte, fragte Frau JudsonLen-Lay, ob sie ihr bei der Frisur helfen würde, dennsie trug ihr Haar normalerweise in einem Knoten imNacken.

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Len-Lay kämmte Frau Judsons dunkelbraunes Haarnach birmanischer Art nach oben, doch so sehr siesich auch bemühte, konnte sie die kleinen Lockennicht fassen, die das Gesicht ihrer Pflegemutter um-rahmten. Aber mit ein paar Blumen aus dem Garten,die sie ihr oben ins Haar steckte, hatte die Frisurschließlich doch das gewünschte Aussehen.

Frau Judson sah wunderschön aus.

Dann bemerkte Len-Lay Frau Judsons Schuhe – gro-bes, schwarzes amerikanisches Schuhwerk. »Oh,nein«, protestierte Frau Judson, als sie die missbilli-genden Blicke der Mädchen sah. »Meine Kleiderhabe ich gewechselt, aber meine Schuhe behalte ich.«

Die kleine Gruppe entschied, dass Maung Ing undLen-Lay mit Frau Judson gehen sollten, um den Ge-fangenen das Essen zu bringen. Diesmal gab ihnenKoo-Chill auch Obst und eine Kanne Tee mit.

Im Palast des Gouverneurs verbeugte sich Frau Judson tief und gab dem ältlichen Gouverneur eine Servierplatte mit einem Bild des Weißen Hauses inWashington darauf. Das Geschenk entzückte ihn.Der alte Mann, der offensichtlich von dieser wunder-schönen Ausländerin bezaubert war, hörte sichgeduldig ihre Bitte an.

»Oh Weiser«, sagte sie, »alle Ausländer sind ins To-desgefängnis geworfen worden. Die Gefleckten Ge-sichter behandeln sie schlecht. Aber der Lehrer undder Arzt kommen aus Amerika – einem Land, dasviele tausend Kilometer von England entfernt ist. Siehaben nichts mit diesem Krieg zwischen Birma undEngland zu tun.«

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Der Gouverneur strich sich über seinen langen Kinn-bart. »Ich kann sie nicht aus dem Gefängnis holen.Aber man kann es ihnen dort bequemer machen.Hier – sprecht mit meinem obersten Beamten. Erwird Euch sagen, was man tun kann.«

Wie sich herausstellte, verlangte der oberste Beamteein hohes Bestechungsgeld, bevor er irgendetwas tunwürde, um den Gefangenen zu helfen. Wiederummusste Ann Judson hin und her verhandeln, bis derMann sich endlich für eine Summe entschied: zwei-hundert Silbermünzen – das waren ungefähr hun-dert amerikanische Dollar – und zwei Stücke feinenStoff. Im Gegenzug würde der Beamte Frau Judsonein Palmblatt geben, auf dem Anweisungen standen.

Als das Trio sich dem Todesgefängnis näherte, warFrau Judson entsetzt angesichts des schrecklichenGestankes. Len-Lay fürchtete sich, wieder zu diesemfurchtbaren Ort zu gehen, aber sie versuchte, tapferzu sein. Sie konnte das Zittern von Frau Judson förm-lich spüren, als das Gefleckte Gesicht das erste Toröffnete und sie in den inneren Gefängnishof führte.

Jemand war bereits dort, der einem GefangenenEssen gebracht hatte. Len-Lay erkannte einen vonGougers Bediensteten und merkte dann, dass Gou-ger selbst vor dem inneren Tor stand.

»Oh, Frau Judson«, meinte er kläglich. »Ich wünsch-te, Sie hätten mich nicht so gesehen.« Henry Gougerschlurfte mit seiner Essensration so schnell weg, wiees die Ketten an seinen Füßen erlaubten.

Frau Judson blieb stumm, als ob sie versuchte, dieEisenfesseln und den furchtbaren Zustand ihres

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Freundes zu ignorieren. Sie heftete ihren Blick aufdas fensterlose Bambushaus hinter dem Tor. Nachlanger Zeit erschien eine Gestalt an der Tür – siekroch heran.

Es war Adoniram Judson.

Frau Judson stieß einen kleinen Schrei aus undbedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Sie schwankteund wäre beinahe umgefallen, doch Len-Lay schlangeinen Arm um Frau Judsons schmale Taille und hieltsie fest.

Als Herr Judson auf das Tor zukroch, trat Maung Ingvor und half ihm aufzustehen. Mit einem leichtenSchauder senkte Frau Judson die Hände und blickteihrem Mann ins Gesicht. Mit großer Anstrengunglächelte sie.

»Oh, Ann«, flüsterte er durch die rissigen undgeschwollenen Lippen. »Es ist wundervoll, dich zusehen. Aber, bitte … komm nicht her.«

»Ich habe Anordnung des Gouverneurs, es dir hierangenehmer zu machen«, sagte sie und reichte dieBotschaft auf dem Palmblatt.

Das Gefleckte Gesicht warf einen Blick auf die Nach-richt. »Raus hier!«, knurrte er.

»Aber –«

»Raus hier!«

Maung Ing und Len-Lay gaben Herrn Judson schnelldas Essen und den Tee, bevor das Gefleckte Gesichtsie grob aus dem Gefängnis scheuchte. Niemandsagte ein Wort, als sie die drei Kilometer zurück nachHause trotteten.

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Len-Lay fühlte sich elend. Wenn es nun wirklich ihreSchuld war, dass Herr Judson im Todesgefängniswar? Der Gedanke daran lag ihr wie ein Stein imMagen.

***Der Magistrat kam zurück und durchsuchte mit FrauJudson das ganze Haus. Er nahm mehrere Dinge ansich, die er für »nett« und »wertvoll« hielt, undmachte eine Liste von allem anderen. Aber als er die-ses Mal ging, nahm er die Wachen mit. Der Gouver-neur hatte den Befehl gegeben, dass Ann Judsonkommen und gehen konnte, wann sie wollte.

Beim nächsten Besuch im Gefängnis berichteteMaung Ing, dass Frau Judsons Anstrengungen Erfolggehabt haben mussten, denn die ausländischenGefangenen wurden aus dem schrecklichen Folter-haus entfernt, wo sie jede Nacht an ihren gefesseltenFüßen an einer langen Stange aufgehängt wurden,bis nur ihre Schultern den Boden berührten. Nunschliefen sie in einem offenen Verschlag im innerenGefängnishof. Der Verschlag war zwar auch nichtviel, aber wenigstens konnten sie sich ausstreckenund besser atmen.

Alle Mitglieder des Haushaltes waren froh. Nur eineSache verwirrte sie. Herr Verzeihung war nichtzurückgekommen.

Jeden zweiten Tag ging Frau Judson zum Gouverneur,um sich für ihren Mann einzusetzen. Sie tat dasfreundlich, trank Tee und sprach mit den verschiede-nen Leuten am Hof. An den anderen Tagen besuchtesie andere bedeutende Beamte in der Stadt und fragte

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sie, ob sie für die Missionare beim König ein gutesWort einlegen würden. Wie Mah-Noo vorgeschlagenhatte, trug sie jetzt nur birmanische Kleidung, was dieBirmanen hoch erfreute. Die meisten hörten höflich zu,schüttelten aber die Köpfe. »Wir können nichts tun.«

Oft war Frau Judson an diesen Sommermorgenkrank; manchmal musste sie erbrechen und blieb fastbis zum Nachmittag im Bett. Die ständige Sorge unddie endlosen Bemühungen, die Gefangenen zubefreien, zehrten an ihrer Kraft. Oft musste sie sichauf Maung Ing, Len-Lay und Mah-Lo verlassen, diemit Essen, sauberer Kleidung und Nachrichten zumGefängnis gingen.

Die Nachrichten, die sie zum Missionshaus brachten,waren von Tag zu Tag unterschiedlich. Manchmalwaren die Gefangenen guter Hoffnung; manchmal,wenn die birmanische Armee eine Niederlage ein-stecken musste, wurden sie zum Folterhaus ge-schleppt. Das bedeutete noch mehr Besuche bei Re-gierungsbeamten und mehr Bestechungsgelder, umjede auch noch so kleine Verbesserung zu erreichen.

Als die langen, heißen Sommermonate endlich in denHerbst übergingen, schien auch Frau Judsons Kraftwiederzukehren. Eines Tages ging sie persönlichzum Todesgefängnis, um Adoniram zu besuchen.Als sie zurückkam, zerschnitt sie einen ihrer altenbraunen amerikanischen Röcke und nähte zweigroße Rechtecke Stoff zusammen. Die Mädchenschauten ihr neugierig zu, aber weil Frau Judsonkeine Erklärung gab, stellten sie auch keine Frage.

Als die Nacht hereinbrach und die Mädchen in FrauJudsons Bett lagen, konnten sie trotz der Stille der

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Nacht nicht schlafen. Plötzlich hörten sie, wie ihrePflegemutter das Haus verließ. Nach ein paar Minu-ten hörten sie das leise Kling, Kling einer Schaufel,mit der hinter dem Haus gegraben wurde.»Sie vergräbt etwas anderes hinter dem Haus!«, flüs-terte Mah-Lo.»Oder sie gräbt etwas aus«, flüsterte Len-Lay zurück.Das ältere Mädchen tappte auf Zehenspitzen zurSchlafzimmertür und lugte in das Schlafzimmer, als

Frau Judson mit einem großenPaket zurückkam – es sah ge-nauso aus wie das, was sie vor-

her vergraben hatte. FrauJudson steckte das Paket

in die Stofftasche undstopfte dann Fetzenihres alten Rockes

hinein.Len-Lay schlich zu-

rück ins Bett. Wiederüberkam sie eine große

Verwirrung. Sollte sie denJudsons trauen oder sie

verraten? Die ganze Nachthindurch schossen ihr diese

Gedanken durch den Kopf.Am nächsten Morgen war klar, was Frau Judsongemacht hatte: ein unbequem aussehendes braunesKopfkissen.»Adoniram hat mich gebeten, ihm ein Kopfkissen zubringen, das so hart und hässlich ist, dass es ihm kei-ner der Gefleckten Gesichter stiehlt!«, lächelte sie.

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»Aber ich muss die Schwägerin der Königin heutebesuchen. Sie ist meine letzte Hoffnung, bei demKönig ein Gesuch zu machen. Mary und Abby, wür-det ihr Maung Ing begleiten, wenn er heute das Essenabgibt, und Herrn Judson dieses Kissen geben?«Len-Lay zögerte. Sie wollte fragen, was sich im Inne-ren des Kissens befand, aber sie traute sich nicht.Wenn nun ein Geflecktes Gesicht es ihr aus der Handreißen und aufschlitzen würde?Aber Frau Judson bat sie mit einem inständigenBlick: »Bitte. Nehmt das Kissen.« Schließlich nickteLen-Lay. Es war ihre Schuld, dass Herr Judson einge-sperrt worden war, und das Mindeste, was sie jetzttun konnte, war, ihre Furcht zu verbergen und dasKissen zu überbringen.Aber Mah-Lo schüttelte ihren Kopf. »Nein! Ich habeBauchweh! Ich möchte hier bei Mah-Noo und Koo-Chill bleiben. Außerdem – ich hasse es, zum Todes-gefängnis zu gehen! Ich will nicht mehr dorthin!«Und damit rannte Mah-Lo aus dem Zimmer undwarf sich aufs Bett.Len-Lay schaute ihrer Schwester nach; dann meintesie schnell: »Schon gut. Maung Ing und ich könnendas Essen und das Kissen allein hinbringen.«Als sich der Birmane und das Mädchen dem Todes-gefängnis näherten, wurde Len-Lay immer ängst-licher. Das Kissen war sehr schwer; bestimmt wür-den die Gefleckten Gesichter merken, dass etwasdarin versteckt war. Der Schweiß lief ihr den Rückenhinunter.Myat Rodgers stand vor dem Gefängnistor und war-tete darauf, dass die Wächter ihn mit dem Essen zu

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seinem Vater ließen. Oh nein! Len-Lay geriet inPanik. Myat wird sicher erraten, dass wir mit diesemKissen etwas ins Gefängnis schmuggeln wollen. Erist so misstrauisch. Sie versuchte, das Kissen zu tra-gen, als sei es ganz leicht. Aber mit jedem Schrittfühlte es sich schwerer an.

Aber Myat schien sie kaum zu beachten. Seine Schul-tern hingen herab und er betrachtete den Schmutz anseinen Füßen.

»Wie geht es deinem Vater, dem ehrwürdigen HerrnRodgers?«, fragte Maung Ing freundlich.

Einen Moment sagte Myat gar nichts. Dann blickte ersie teilnahmslos an: »Mein Vater ist verrückt gewor-den. Er ist sicher, dass ihn die Gefleckten Gesichterfoltern und töten werden. Jeden Tag bittet er mich,ihm Gift zu bringen, damit er sich umbringen kann.Aber meine Mutter gibt es mir nicht.«

Len-Lay rührte sich nicht, aber sie hätte am liebstenihre Hand ausgestreckt und Myat berührt, um ihmzu zeigen, dass sie ihn verstehen konnte. Im Momentsah er gar nicht wie der hochmütige, höhnische Jun-ge aus, als den sie ihn kennen gelernt hatte; er warjetzt durcheinander und verängstigt.

»Deine Mutter hat recht«, entgegnete Maung Ingsanft. »Man darf nie die Hoffnung verlieren.«

»Aber es sieht nicht gut aus mit dem Krieg«, mur-melte Myat. »Habt ihr es denn noch nicht gehört? DieEngländer haben General Kyi Wungyi und GeneralThonby Wungyi besiegt. Die englischen Soldatenmarschieren langsam auf Ava zu. Bald werden wiralle Kriegsgefangene sein – oder tot!«

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Ein Schrei in der Nacht

Zwei Gefleckte Gesichter erschienen am Tor, undanstatt die Gefangenen zu holen, nahmen sie

mürrisch das graubraune Kissen und das Essen fürHerrn Judson und Herrn Rodgers. Myat schien fasterleichtert, dass er nicht hineingehen musste. AberLen-Lay wusste, dass dies bedeutete, dass die auslän-dischen Gefangenen wieder im Folterhaus angeket-tet waren.

Als Maung Ing und Len-Lay zurück zum Missions-haus kamen, war Frau Judson gerade von ihrem Be-such bei Prinzessin Sarawaddy zurückgekommen.Aber die schlechten Nachrichten von der Kriegsfrontversetzten die ganze Stadt Ava in missmutige Stim-mung. Der kleine Haushalt ermutigte FrauJudson, lieber ein paar Tage zu Hause zu blei-ben, als ein glattes »Nein« auf ihre Bitte umFreilassung der Gefangenen zu riskieren.

»Warum hast du dich geweigert, mituns ins Todesgefängnis zu gehen?«,fragte Len-Lay ihre Schwester. Sie hat-ten gerade das Abendessen beendet undsaßen allein auf der Veranda unter HerrnVerzeihungs leerem Käfig. Jeden Abendspähten sie in die Baumkronen in der Hoff-nung, einen Blick auf das Tier zu erha-schen.

Aber heute Abend war Mah-Lo ver-drossen. »Ich habe Herrn Judson

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das Geld fürs Spionieren gegeben, aber ich werde aufkeinen Fall ein Kissen für einen Spion überbringen!«

»Du dummes Mädchen!« Len-Lay runzelte die Stirn.»Du weißt doch gar nicht, was in dem Kissen war!«

»Du weißt doch ganz genau, dass es ein Schmuggel-kissen war!«, schoss Mah-Lo zurück. »Frau Judsonhat irgendetwas in diesem Kissen versteckt; das wis-sen wir beide. Und wenn wir damit geschnappt wor-den wären? Dann würden wir jetzt alle im Todesge-fängnis sitzen!«

Len-Lay nickte. »Ja, ich hatte große Angst«, gab siezu.

Mah-Lo starrte sie an. »Wirklich? Aber warum bistdu dann hingegangen?«

»Weil …« Len-Lay hielt inne. Warum war sie denneigentlich hingegangen? Irgendwo im Unterbewusst-sein erinnerte sie sich an einen Text aus der Bibel, densie gelesen hatten: »Denn so sehr hat Gott die Weltgeliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab …« Die Jud-sons waren so; sie hatten alles aufgegeben. Sie ver-stand nicht alles, was sie taten, aber sie liebten Birmaund die Birmanen. Und im Moment war alles soschrecklich und durcheinander, dass sie einfachirgendjemandem vertrauen musste.

Aber sie wusste nicht, wie sie das Mah-Lo erklärensollte.

***Ann Judson war unruhig, weil sie den Gefangenennicht helfen konnte. Nach einer Woche entschloss siesich, die Mädchen mitzunehmen und einen weiterenBesuch bei der Prinzessin von Sarawaddy zu machen

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und sie vorsichtig zu fragen, ob die Prinzessin mitihrer Schwägerin, der Königin, schon gesprochenhatte. Frau Judson zog den Mädchen ihre schönstenseidenen Longyis und bestickten Blusen an; sie selbstborgte sich eine von Mah-Noos großen Tunikas, diesie, wie Len-Lay insgeheim dachte, ziemlich plumpwirken ließ.Der Palast des Bruders des Königs und seiner Frauhatte einen wunderschönen Hof, in dessen Mitte sichein kleiner Teich mit kühlem Wasser befand. ZweiPfauen, der eine von glitzerndem Blaugrün, derandere weiß, spazierten langsam über die schim-mernden Kacheln und zogen ihre langen Federn aufdem Boden hinter ihnen her.Mah-Lo starrte mit offenem Mund die feine Ausstat-tung an. Len-Lay versuchte gleichgültig zu tun, aberauch sie war in Versuchung, alles anzustarren.Sie warteten fast eine halbe Stunde auf die Prinzessin,aber als ein Diener sie endlich in ihr privates Wohn-zimmer geleitete, war Len-Lay erstaunt, wie kühl eshier war. Die dicken Steinmauern des Palastes hieltendie schwüle Hitze des beginnenden Herbstes ab –ganz anders als in ihrem Bambuskyuong.Die Prinzessin trug leuchtendes Scharlachrot, wasein Zeichen für Adel war. Ihre hellen roten Lippen,die roten Kämme und die Juwelen in ihrem Haargaben ihr einen rosigen Schimmer wie bei einem Son-nenuntergang. Wie die meisten Birmaninnen war siekleiner als Frau Judson, aber sie war schlank undstand aufrecht.Frau Judson und die Mädchen verbeugten sich höf-lich. Die Prinzessin erwiderte die Verbeugung. »Ich

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bin es, die durch einen Besuch der Frau eines auslän-dischen Lehrers geehrt ist«, sagte sie.

Len-Lays Herz pochte. Das war ein gutes Zeichen. Indiesem Haus wurden die Judsons zumindest respek-tiert.

Ein anderer Diener brachte kühle Fruchtgetränke.Die zwei Frauen saßen auf einer gepolsterten Bankund plauderten auf Birmanisch, während sich dieMädchen auf eine wunderschöne bemalte Mattedaneben setzten und von dem süßen Mangosaft tran-ken. Während einer kurzen Pause in ihrer Unterhal-tung fragte Frau Judson: »Oh, Dame von Smaragd-rot, habt Ihr meine Bitte der Königin vorgetragen?«

Prinzessin Sarawaddy blickte hinunter auf ihreschmalen braunen Hände, die mit Goldringen undJuwelen bedeckt waren. »Ja, das habe ich.« Nacheinem kurzen Augenblick hob sie ihren Blick undschaute Frau Judson traurig an. »Die Königin hatgesagt, dass die ausländischen Gefangenen nicht ge-tötet werden, aber sie müssen im Todesgefängnisbleiben.«

Frau Judsons Schultern fielen herab. Mitleidig legtedie Prinzessin ihre braune Hand auf die der weißenFrau. »Ihr seid bereits in fortgeschrittenem Zustand.Geht es Euch gut? Kann ich irgendetwas tun, um Euchzu helfen, wenn Euer Mann noch nicht aus demGefängnis entlassen ist, wenn das Kleine geboren ist?«

Die Worte der Prinzessin verblüfften die Mädchen.Beide starrten ihre Pflegemutter an. Frau Judsonbekam ein Baby?

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Sie hätte es wissen müssen, schimpfte Len-Lay spätermit sich selber. Frau Judson war es oft morgens nichtgut gegangen … und in letzter Zeit hatte sie sichimmer diese großen Tunikas von Mah-Noo ausge-borgt. Birmaninnen sprachen offen über diese Dinge,aber Frau Judson hatte gar nichts gesagt. Len-Layschüttelte den Kopf. Ausländerinnen hatten manch-mal eine komische Art.

Aber Ann Judsons Schwangerschaft wurde bald fürjeden offensichtlich – sogar für Adonirams rote, ge-blendete Augen. »Oh, Ann«, stöhnte er beim nächs-ten Mal, als Besuch erlaubt war. »Wie nutzlos ichmich fühle; ich kann dir nicht helfen. Warum hast dumir das nicht früher gesagt?«

»Ich wollte dir nicht noch mehr Sorgen machen, meinLieber«, sagte seine Frau sanft.

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Len-Lay, die Frau Judson an diesem Tag begleitethatte, schaute weg, um ihren Pflegeeltern einen Mo-ment des Alleinseins zu gönnen. Als sie sich um-schaute und versuchte, sich nicht um die stinkendeLuft oder die Ratten im Gefängnishof zu kümmern,fiel ihr auf, dass sie Myat schon seit ein paar Wochennicht mehr gesehen hatte.

»Wann kommt das Baby?«, hörte sie Herrn Judsonmit müder Stimme fragen.

»Anfang Februar – denke ich«, murmelte Frau Judson.

Len-Lay sah eines der Gefleckten Gesichter kommen.Schnell drehte sie sich zu Herrn Judson um. »Ist MyatRodgers in letzter Zeit gekommen, um seinen Vaterzu besuchen?«, fragte sie.

Ein sorgenvoller Blick überschattete Herrn JudsonsGesicht. »Nein, Mary. Um die Wahrheit zu sagen, eshat in letzter Zeit niemand Herrn Rodgers Essengebracht. Wir haben unseres mit ihm geteilt.«

»Genug!«, schrie das Gefleckte Gesicht. »Raus! Raus!Das ist keine Teeparty!« Innerhalb weniger Sekun-den drängten die Wachen Len-Lay und Frau Judsongrob durch das Tor.

Auf dem ganzen Nachhauseweg war Len-Lay sor-genvoll. Was war mit Myat geschehen? Maung Ingwar fischen gegangen; also vertraute sie Koo-Chillihren Kummer an.

»Dann schau doch bei ihm vorbei«, antwortete derKoch ungeduldig. Die Monate, in denen er neben sei-nen normalen Pflichten auch noch für die Gefange-nen kochen musste, hatten ihn sehr reizbar gemacht,obwohl er das vor Frau Judson immer verbarg. »Und

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nimm Abby mit. Ich kann ihr schmollendes Gesichtnicht mehr sehen.«Frau Judson ruhte sich gerade aus; also überredeteLen-Lay Mah-Lo, mit ihr zu Rodgers’ großem Hauszu laufen. Die Mädchen trotteten schweigend in dasViertel von Ava, wo die meisten Beamten wohnten.Rodgers’ Haus schien ungewöhnlich ruhig, aber Len-Lay zog an der Klingelschnur und hörte das Klingender Glocke im Inneren.Die Mädchen warteten einige Minuten und wollten esgerade aufgeben und weggehen, als die Tür sich einenSpaltbreit öffnete. Ein Auge blickte sie an; dann wurdedie Tür noch ein paar Zentimeter weiter geöffnet.Es war Myat.Len-Lay lächelte. »Oh, Myat! Ich bin so froh, dass dues bist. Wir – äh – haben uns schon Sorgen gemacht,weil wir dich schon eine ganze Zeit nicht mehr imGefängnis gesehen haben.«Myat blickte sie einfach nur durch die schmaleTüröffnung an.»Na komm, lass uns rein!«, forderte Mah-Lo. »Wirwollen dich besuchen. Lass uns nicht hier draußenauf der Straße stehen.«Die Tür öffnete sich noch weiter; Myat drehte sichwortlos um und ging zurück in den kleinen Hof imInneren des Hauses. Die Mädchen folgten ihm. Keineinziger Diener war zu sehen.»Geht es dir gut, Myat?«, fragte Len-Lay. »Ist irgend-etwas passiert?«Myat nickte. Er deutete auf das leere Haus. Unter sei-nem linken Augenlid zuckte ein Muskel.

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»Der Magistrat ist gekommen und … hat alles imHaushalt mitgenommen. Er sagte, dass jetzt allesdem König gehört. Meine – meine Mutter wusstenicht, was sie machen sollte. Ihre Verwandten habensie abgeholt. Sie haben gesagt, ihre Familie sei jetzt –entehrt, weil ihr englischer Mann ein – ein Verrätersei. Sie wollte mich mitnehmen, aber ich wusste, dasssie … mich nicht haben wollten.« Myat machte einenlangen, zitternden Atemzug. »Weil ich … halbEngländer bin.«Len-Lay starrte ihn an. »Du meinst, du bist hier ganzallein?«Myat nickte. »Die Diener sind auch gegangen. Undich – ich habe kein Essen für meinen Vater. Jetzt …wird er sterben.«Der Junge wandte den Kopf ab.»Nein! Nein … er wird nicht sterben«, sagte Len-Lay.»Herr Judson und Dr. Price – und wahrscheinlichauch Henry Gouger – teilen ihr Essen mit ihm.«Myat drehte sich um und blickte die Mädchenerstaunt an. »Warum? Warum sollten sie das tun?«Seine Augen senkten sich.»Mein Vater hat sich doch geweigert, ihnen zu helfen.«»Maung Ing hat mir einmal gesagt, dass die Nachfol-ger von Jesus Christus ihre Feinde lieben sollen«,stieß Mah-Lo hervor. »Herr Rodgers ist doch kein Feind«, schimpfte Len-Lay.Mah-Lo zuckte mit den Schultern. »Und was wird jetzt aus dir?«, fragte Len-Lay Myat.»Du musst mit uns zum Missionshaus kommen.

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Koo-Chill wird dir gern etwas zu essen geben.«Denke ich, fügte sie im Stillen hinzu.Myat schüttelte den Kopf und riss sich zusammen.»Nein. Ich bin kein Bettler. Ich werde schon zurecht-kommen.«Die Mädchen waren auf ihrem Nachhauseweg sehrschweigsam; jede war in ihre eigenen Gedanken vertieft. Es war Mah-Lo, die zuerst das Schweigenbrach – und ihre Gedanken drehten sich dabei nichtum Myat Rodgers.»Mary«, meinte sie langsam, »wenn Frau Judson sichum ihr eigenes Baby kümmern muss … glaubst du,dass sie uns dann noch haben will?«Len-Lay hielt an und blickte ihre Schwester an. Siehätte beinahe gesagt: Aber natürlich! Aber etwashielt sie zurück. Wenn Frau Judson das Baby hatte,hatte sie vielleicht auch keine Zeit mehr, ihnen Bir-manisch lesen und schreiben beizubringen. Und alsMaung Schway-Bay seine Töchter zu den Judsonsgebracht hatte, hatte Ann Judson »ja« gesagt, weilihre eigenen Arme leer waren. Aber was würde pas-sieren, wenn sie nun ihr eigenes Baby in den Armenhalten würde?»Ich weiß es nicht«, sagte sie endlich und nahm Mah-Los Hand. »Wir müssen einfach abwarten. Was kön-nen wir denn sonst tun?«

***Koo-Chill kam heute mit Neuigkeiten vom Marktheim: Der König hatte General Bandula befohlen,von der bengalischen Grenze zurückzukommen.Plötzlich änderte sich die Stimmung. General Ban-

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dula würde diese Rotröcke in die Flucht schlagen!General Bandula würde die Engländer aus Rangunvertreiben! General Bandula würde Birma retten! Alsder General im Oktober auf seinem Weg nach Ran-gun durch Ava marschierte, war er bereits ein Held.

Das war auch eine gute Nachricht für die Gefange-nen. Wieder hörte der Gouverneur der Stadt zu, alsFrau Judson ihn um eine bessere Behandlung der Ge-fangenen anflehte. Sie versüßte ihre Bitte mit Ge-schenken.

»Eines Tages wird der Magistrat mit seiner Liste wie-derkommen – aber dann werden viele Dinge feh-len!«, sagte Len-Lay kichernd zu ihrer Schwester.

Noch ein paar Bestechungen mehr, und die ausländi-schen Gefangenen wurden wieder aus dem Folter-haus geholt und jeder in einen kleinen Verschlag iminneren Gefängnishof gebracht. Die Wachen erlaub-ten Frau Judson, ein oder zwei Stunden mit ihremMann in seinem Verschlag zu verbringen.

Doch mit fortschreitender Schwangerschaft wurdedie Zahl von Anns Besuchen geringer. Sie schienerschöpft und lag oft teilnahmslos auf ihrem Bett.Koo-Chill versuchte ständig, sie mit seinen Gerichtenzum Essen zu reizen, aber manchmal war eine kräf-tige Brühe alles, was sie aß.

Mah-Noo beschäftigte die Mädchen mit dem Aus-bessern von Kleidung und mit dem Nähen von Klei-dern für das Baby. Viele von Ann Judsons amerikani-schen Kleidungsstücken verschwanden und tauch-ten als eine kleine Decke oder ein Hemdchen wiederauf.

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Maung Ing und Len-Lay statteten die täglichen Besu-che im Gefängnis ab. Wenn Herr Judson nach Annfragte, grinste Maung Ing immer nur breit und sagte:»Frau Joodthan sagt, ich soll dir ausrichten, dass dasBaby ihr Fußtritte versetzt wie ein Eseltreiber seinemEsel!« oder »Frau Joodthan lässt dich herzlich grü-ßen!« Len-Lay fragte sich, ob Herr Judson jemalsmerkte, dass Maung Ing seiner Frage auswich.

Der November und der Dezember des Jahres 1824vergingen mit einigen langweiligen Routinearbei-ten. Frau Judson brachte es trotz ihres schlechtenGesundheitszustandes fertig, den Mädchen Unter-richt zu geben, indem sie kurze Passagen aus derBibel als Übungen zum Schreiben und Lesen be-nutzte, die sie auf Birmanisch auf ein Blatt Papiergeschrieben hatte.

Ende Dezember hörten sie ein donnerndes Kanonen-signal auf dem Fluss. Das bedeutete schlechte Nach-richten. General Bandulas Hauptangriff war fehlge-schlagen und die Engländer trieben ihn und seinesiebentausend Mann zurück.

Herr Judson war nun schon acht Monate lang gefan-gen. Frau Judson wollte ihn besuchen und ihm Mutmachen, aber Maung Ing und Koo-Chill blieben fest:Sie musste ihre Kraft für die Geburt des Kindes auf-heben.

Eines Nachts Ende Januar wurde Len-Lay von einemmerkwürdigen Geräusch geweckt. Sie setzte sich aufihrem Strohlager am Fuß von Frau Judsons Bett aufund lauschte. Da war es wieder: ein langes, tiefesStöhnen.

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Sofort krabbelte Len-Lay an die Seite des Bettes. FrauJudson atmete schwer, und ihr Haar war nass vorSchweiß. »Hol Mah-Noo –«

Len-Lay weckte alle auf. »Schnell! Schnell! Das Babykommt!«

Mah-Noo nahm sofort den Platz an Frau JudsonsSeite ein, wrang feuchte Tücher aus und benetztedamit ihren feuchten Körper. Sie löste Frau JudsonsKleider und massierte ihren Bauch sanft. Ihr blindesGesicht lächelte kurz. »Der Kopf des Babys liegt nachunten; gut!«

Alle warteten gespannt. Die Stille wurde nur durchFrau Judsons schweres Atmen und das tiefe Stöhnengebrochen, das man alle zehn Minuten hörte. Dochdie Stunden vergingen; die Sonne ging auf, und nochwar nichts passiert. Koo-Chill machte etwas zu essen,aber niemand war hungrig.

Maung Ing begann, im Wohnzimmer auf und ab zulaufen. »Sie ist zu erschöpft!«, sorgte er sich. »DasBaby kommt nicht!«

»Raus!«, befahl Koo-Chill. »Bringt den Reis ins Ge-fängnis, aber redet nicht mit Herrn Judson darüber.Habt ihr verstanden? Kein Wort!«

Der bengalische Koch ging dann in das Schlafzim-mer. »Ich werde deine Augen sein, Mah-Noo«,meinte er sanft. »Sag mir, was ich tun soll.«

»Wir müssen sie heben«, entgegnete die blinde Frau.»Sie hat nicht die Kraft dazu. Aber sie muss geradesitzen, damit das Baby kommen kann.«

Zärtlich half der starke Mann Frau Judson zu einersitzenden Position. Sie war so schwach, dass ihr gan-

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zes Gewicht auf ihm ruhte. Ihr Kopf rollte hin undher. Angstvoll beobachteten Len-Lay und Mah-Loalles durch die Tür.

Langsam beschritt die Sonne ihren Bogen am Him-mel und versank dann hinter den Spitzen der golde-nen Pagoden. Manchmal kamen Mah-Noo oder Koo-Chill für eine kurze Pause aus dem Schlafzimmer.Die Mädchen holten schnell frisches, kühles Wasseroder saubere Tücher, wenn sie gebeten wurden;ansonsten kauerten sie direkt vor der Schlafzimmer-tür. Maung Ing jedoch ging im Hof auf und ab undbetete zu Jesus Christus.

Im Haus wurde es dunkel. Kerzen wurden angezün-det. Fast zwanzig Stunden waren vergangen, seitLen-Lay zuerst alle im Haus geweckt hatte. Plötzlichverzog sich Frau Judsons Gesicht zu einer letzten,großen Anstrengung.

»Ja, ja. Jetzt pressen!« Mah-Noo gab beruhigendeAnweisungen. »Pressen! Pressen!«

Das Stöhnen wurde zu Schreien. Len-Lay und Mah-Lo klammerten sich vor der Tür aneinander und ver-bargen ihre Gesichter. Immer weiter schrie Frau Jud-son, nur von Mah-Noos Befehlen unterbrochen:»Pressen! Pressen!«

Und dann war plötzlich alles still. Zu still.

Dann hörten sie Mah-Noos weiche, drängende Stim-me. »Schrei, Kleines, schrei!«

Maung Ing schaute mit großen Augen von der Ve-randa aus ins Haus. Len-Lay schüttelte den Kopf; siewollte ihm sagen, dass sie nicht wusste, was da vor-ging.

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Dann gruben sich Mah-Los Finger in Len-Lays Arm.Sie hörten es aus dem Schlafzimmer: einen langen,dünnen Schrei.

Der Schrei eines Babys!

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Verschwunden

Auch Maung Ing hörte das Schreien des Babys. Ereilte zu den beiden Mädchen und umarmte sie

freudig. »Gelobt sei Gott, unser Vater!«, rief er,während Tränen seine Wangen hinunterliefen. »DasBaby lebt!«

Koo-Chill kam zur Tür des Schlafzimmers. Einmüdes Lächeln breitete sich auf seinem rundenGesicht aus. »Kommt herein – nur einen Augen-blick«, sagte er zu den Mädchen. »Frau Joodthanfragt nach euch.«

Schüchtern betraten Len-Lay und Mah-Lo das win-zige Zimmer. Frau Judson lag auf dem Bett und ihrdunkles Haar lag zerzaust und feucht auf dem Kis-sen. In ihrer Armbeuge hielt sie das Baby, das in einevon Mah-Noos selbst gemachten Decken gewickeltwar und seine Faust in den Mund gesteckt hatte.

Frau Judson lächelte schwach.Mit Mühe nahm sie das winzigeBündel und streckte es Len-Layentgegen. »Mary und Abby«,flüsterte sie, »ihr sollt eureneue kleine Schwester ken-nen lernen … Maria Elisa-beth.«

Len-Lay schaute Mah-Loan und der Blick beiderMädchen sagte dasselbe: Siehat das Baby ›unsere kleineSchwester‹ genannt!

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Len-Lay nahm das Bündel und setzte sich auf eineEcke des Bettes. Mah-Lo schob die Decke ein wenigbeiseite, um besser sehen zu können. Das Baby warnoch nicht einmal gewaschen; es war klein und weißund nicht besonders hübsch. Aber Len-Lay küsste essanft auf die Stirn, bevor sie es Frau Judson zurück-gab.

Frau Judson schlief noch die ganze Nacht und fastden ganzen nächsten Tag und die Nacht, bis aufkurze Pausen, in denen sie die kleine Maria stillte.Am nächsten Tag überbrachten Maung Ing und Len-Lay die gute Nachricht Herrn Judson im Gefängnis.

»Er ist so glücklich, Frau Joodthan!«, berichteteMaung Ing strahlend. »Er sagt, er kann es nichtabwarten, Sie und die kleine Maria zu sehen. Sie sol-len ausruhen und Kraft sammeln.«

Was Maung Ing Frau Judson nicht erzählt hatte, war– und Len-Lay wusste es –, dass Herr Judson bei derNachricht, dass seine Frau und das Baby beide leb-ten, sein Gesicht in den Händen vergraben undgeweint hatte.

Am zweiten Tag saß Frau Judson schon im Bett auf-recht und nippte an Koo-Chills köstlicher Brühe.Mah-Lo saß im Schneidersitz am Fußende ihres Bet-tes und drückte das schlafende Baby an sich. Len-Laykniete neben ihrer Pflegemutter und bürstete ihrvolles, dunkles Haar.

»Liebe Mary! Liebe Abby!«, sagte Frau Judson, als sieihre leere Schale absetzte. »Ihr wart so ein großerTrost für mich. Denkt ihr, ihr könntet … würdet ihrmich bitte ›Mama Ann‹ nennen – statt Frau Judson?«

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Len-Lay hörte mit dem Bürsten auf. Mah-Lo sahüberrascht aus.

»Natürlich werden wir immer Mah-Kyi und MaungSchway-Bay als eure leiblichen Eltern ehren«, beeiltesich Frau Judson zu sagen. »Aber weil wir sozusageneure zweite Familie sind … vielleicht könntet ihr unsMama Ann und Papa Don nennen?« Frau Judsonblickte unsicher von einem Mädchen zum anderen.

Plötzlich legte Mah-Lo das Baby ab, warf sich in FrauJudsons Arme und brach in Tränen aus. Nun warFrau Judson an der Reihe verblüfft zu sein.

»Oh weh, oh weh«, sagte sie, während sie dieschluchzende Mah-Lo hielt. »Ich wollte dich wirklichnicht aus der Fassung bringen, Abby. Wir vergessendas Ganze einfach.«

»Ohhh, Frau Judson«, jammerte das kleine Mädchen.»Sie würden mich nicht haben wollen, wenn siewüssten, was ich getan habe!« Und sie weinte nochheftiger.

Frau Judson schaute Len-Lay verständnislos an.

Len-Lays Mund wurde plötzlich ganz trocken. Sieergriff die Bürste, schluckte schwer und sagteschließlich halb flüsternd: »Wissen Sie, Frau Judson,es ist alles unsere Schuld, dass Herr Judson jetzt imGefängnis ist.«

Ann Judsons Augen weiteten sich. »Was sagst dudenn da bloß für einen Unsinn? Es ist natürlich nichteure –«

Jetzt, wo Len-Lay angefangen hatte, brachen dieWorte nur so aus ihr hervor. »Erinnern Sie sich nichtan den Tag, an dem Herr Judson uns mit einer Nach-

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richt zu Herrn Gouger geschickt hat? Und – und HerrGouger uns Geld gegeben hat, das wir Herrn Judsonüberbringen sollten?«

Frau Judson nickte stirnrunzelnd.

»Also, wir haben Myat Rodgers auf dem Nachhause-weg getroffen, und er wollte wissen, was wirmachen. Mah-Lo – ich meine Abby – hat ihm das mitdem Geld gesagt. Aber sie hat das nicht so gemeint!Wir konnten doch nicht wissen, dass Herr Judson insGefängnis kommt, weil er von dem Engländer Geldgenommen hat! Myat muss es irgendjemandemerzählt haben – denn – denn die schrecklichen Ge-fleckten Gesichter haben Herrn Judson geholt! Und –und wir haben gehört, wie der Magistrat Ihnen ge-sagt hat, dass Herr Gouger Herrn Judson wegenSpionage bezahlen muss!«

Jetzt warf Len-Lay ihr Gesicht in Frau Judsons Schoß.»Oh, Frau Judson!« Sie brach ebenfalls in Tränen aus.»Nun werden Sie uns hassen und uns wegschicken –für immer!«

Nun war das Geheimnis erzählt. Len-Lay und Mah-Lo waren von Weinen geschüttelt. Dann fühlte Len-Lay, wie Frau Judsons Hände sie hochhoben.

»Still, still jetzt, ihr beide«, sagte sie fest. »Schautmich mal an.«

Allmählich hörte das Schluchzen auf. Len-Lay undMah-Lo setzten sich auf, hielten aber ihren Blickgesenkt. Frau Judson hob die Gesichter der Mädchen:»Mary und Abby. Schaut mich an.«

Schließlich hoben die Mädchen ihren Blick.

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»Hört mal gut zu. Es stimmt, dass Herr Judson festge-nommen wurde, weil der Gouverneur herausgefun-den hat, dass Henry Gouger ihm Geld gegeben hat.Aber das ist nicht eure Schuld! Der Magistrat hat alleRechnungsbücher von Herrn Gouger mitgenommenund da stand alles drin: Soundso viel Geld hatte erHerrn Judson in diesem Monat, soundso viel im nächs-ten gegeben usw. Versteht ihr? Er hat das herausge-funden, weil Herr Gouger alles in seine Bücher einge-tragen hatte – nicht, weil ihr es Myat erzählt habt.«

Es dauerte einige Zeit, bis die Mädchen die Bedeu-tung von Frau Judsons Worten begriffen. Dannspürte Len-Lay, wie ihr ein Stein vom Herzen fiel.Frau Judson war nicht böse. Sie gab ihnen nicht dieSchuld. Es war überhaupt nicht ihre Schuld.

»A-aber was ist mit dem Geld?«, stotterte Mah-Lo.Len-Lay wusste, was sie wissen wollte: War es Spio-nagegeld?

Frau Judson lachte kurz auf. »Ich habe das demMagistrat zu erklären versucht, aber er wollte nichthören. Herr Gouger hat einfach unsere Schecks ein-gelöst.«

Die Mädchen schauten sie verständnislos an. Wasbedeutete das, Schecks einlösen?

Maria Elisabeth begann sich zu bewegen. Frau Jud-son nahm das Baby auf und klopfte ihm auf denRücken. »Wisst ihr«, fuhr sie fort, »es ist gefährlich,Geld in einem Brief zu schicken. Wenn also der Mis-sionsvorstand in Amerika für unsere UnterstützungGeld sammelt, dann gehen sie auf die Bank und sen-den uns einen Scheck – ein Stück Papier, auf dem der

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Geldbetrag steht. Und wir müssen dann den Scheckhier zu einer Bank bringen und die Bank muss unsdann das Geld geben. Später holt sich diese Bank dasGeld von der amerikanischen Bank wieder zurück.«

»Aber«, wunderte sich Len-Lay, »es gibt doch keineBank in Birma.«

»Genau«, sagte Frau Judson seufzend. »Deshalbhaben wir unsere Schecks Herrn Gouger gegebenund er hat uns das Geld gegeben. Dann hat er dieSchecks an seine Bank in England geschickt –«

Maria Elisabeth unterbrach sie mit einem kräftigenSchrei und Frau Judson gab es auf, die Sache mit derBank zu erklären. Die Mädchen kletterten vom Bett.Aber an der Tür drehte sich Mah-Lo um und blieszwei Küsse.

»Einer für Maria«, sagte sie mit einem scheuenLächeln, »und einer für Mama Ann.«

***Das Baby war schon zwanzig Tage alt, als Frau Jud-son kräftig genug war, zum Gefängnis zu laufen.Maung Ing und die beiden Mädchen gingen mit. Sietrugen so viel Reis, Gemüse und Obst, wie Koo-Chillhatte erstehen können.

Herr Judson war hager und seine zerrissenen Kleiderschlotterten an ihm. Aber als er seine kleine Tochter inden Arm nahm, erhellte sich sein Gesicht. Das Babywar winzig, aber mit seiner kräftigen Faust wedelte esihm ins Gesicht. Sogar zwei oder drei Gefleckte Ge-sichter schauten zu ihnen herüber; sie hatten noch nieein so bleiches und weißes Baby gesehen.

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Am nächsten Tag brachte Maung Ing ein Gedichtmit, das Herr Judson in seinem Verschlag im Gefäng-nishof geschrieben hatte.

Frau Judson entfaltete das kleine Stück Papier undlas die Worte zärtlich vor:

»Schlaf, kleiner Liebling, schlaf,ruhend an deiner Mutter Brust;lass keinen groben Klang von Kettenklirrendeinen sanften Schlaf stören.«

Aber zwei Wochen später sagten die Gefängnis-wachen der kleinen Familie grob, dass sie HerrnJudson nicht sehen könnte. Alle ausländischenGefangenen waren zurück ins Folterhaus gebrachtworden. Ann Judson ging daraufhin sofort zumGouverneur.

»Bittet mich nicht mehr um irgendwelche Gefallen!«,sagte ihr der alte Mann. »Geht. Ich kann Euch nichtmehr helfen.«

Aber Frau Judson war hartnäckig. Innerhalb wenigerTage war sie wieder da, mit ihrem Baby und den bei-den birmanischen Mädchen an ihrer Seite, und flehteden Gouverneur an, die Gefangenen auf den Hof zulassen.

»Ihr wisst nicht, worum Ihr bittet!«, schrie der Gou-verneur. »Der Bruder des Königs hat stark angedeu-tet, dass die Gefangenen getötet werden sollen. Ichhabe sie ins Gefängnisgebäude hineinbringen lassen– außer Sichtweite – um ihnen das Leben zu retten.«Der alte Mann sah aus, als würde er gleich zu weinenanfangen. »Jetzt geht! Bleibt zu Hause, wenn Euchdas Leben Eures Mannes lieb ist.«

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Len-Lay wusste, dass ihre Pflegemutter sich nunernstlich Sorgen um das Leben ihres Mannes machte.Sie beschäftigte sich mit den Dingen im Haus, küm-merte sich um Maria Elisabeth und unterrichtete dieMädchen auch weiter. Aber jeden Tag, wenn MaungIng von seiner Essensübergabe zurückkam, fragte sieihn sofort, ob er Nachricht von ihrem Mann habe.Aber es gab keine.

Der Februar zog sich dahin und es war mittlerweileMärz. Der Käfig von Herrn Verzeihung hing nochimmer leer von dem Verandadach herunter. Immerwenn die Mädchen zu ihm aufschauten, fühlten siesich traurig. Und seitdem die Engländer die Küsten-stadt Rangun eingenommen hatten, war auch nochkeine Nachricht von der Mission dort gekommen.Warum bekamen sie nicht wenigstens einen Brief?War ihr Vater, Maung Schway-Bay, tot oder leben-dig? Würden sie ihn jemals wiedersehen?

Zweimal, als Len-Lay mit Maung Ing den Gefange-nen Essen brachte, tauchte auch Myat auf, als hätte erauf sie gewartet. Er sagte wenig, aber seine teurenKleider hatten ihren Glanz verloren und er sah dün-ner aus. Jedesmal gab er ihnen ein paar Bananen,Mangos oder Erdnüsse für seinen Vater dazu unddann verschwand er so schnell, wie er gekommenwar.

»Dieser Junge braucht eine Familie«, hatte MaungIng geknurrt.

***Ende März wurden sie eines Morgens ganz früh miteinem ›Bumm!‹ geweckt – dem Geräusch einer

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Kanone am Fluss. Dann folgte ein zweites ›Bumm!‹.Der kleine Haushalt versammelte sich auf derVeranda des Missionshauses. Was hatte das zubedeuten?»General Bandula hat einen Sieg errungen, dasbedeutet es«, sagte Koo-Chill. Er eilte zum Markt, soschnell er konnte, um dort die neuesten Nachrichtenzu hören. Gerüchte verbreiteten sich wie ein Lauf-feuer, aber keiner wusste Genaues.Nicht einmal die beiden Kanonensignale ändertenetwas an der Situation der Gefangenen. Die Aufseherdes Todesgefängnisses nahmen die tägliche Essens-ration mit einem Knurren entgegen und schlugendas Tor hinter sich zu. Len-Lay fragte sich, ob sie dasEssen wirklich den Gefangenen gaben oder sie hun-gern ließen – aber sie sprach ihre Sorge nicht aus.Die milden Temperaturen von Birmas »Winter« än-derten sich langsam und es wurde wärmer undfeuchter. Dann kam das Kanonensignal noch einmal.Diesmal war das, was sich durch Ava rasend schnellverbreitete, kein Gerücht, sondern eine Tatsache: DieEngländer hatten General Bandula im Kampf umge-bracht.

Die Bewohner von Ava gerieten völlig in Panik.Einige Familien luden ihren Besitz auf Ochsenkarrenund verließen die Stadt. Prinzessin Sarawaddysandte eine dringende Nachricht an Frau Judson, diedaraufhin mit Maria und den beiden Mädchen zumPalast eilte. Die Ehefrauen einiger Hofbeamten unddie königliche Familie selbst waren dort.Die Prinzessin fragte Frau Judson, was sie dennmachen sollten. Sollten sie bleiben und den eng-

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lischen Soldaten tapfer gegenübertreten? Sollten siedie Stadt verlassen? Würden die englischen Soldatensie umbringen – oder sie zu Sklaven machen – odernoch Schlimmeres?

»Nein, nein«, versicherte ihnen Frau Judson. »DieEngländer bringen keine Zivilpersonen um – schongar nicht Frauen. In Wirklichkeit wollen sie Birmagar nicht. Wenn die birmanische Armee die Kämpfeeinstellt, werden sie einen Friedensvertrag machenund abziehen.«

Die Frauen sahen einander erstaunt an. Sie wusstennicht, ob sie der Ausländerin glauben sollten odernicht.

Sechs Wochen waren vorbeigegangen, seit man AnnJudson nicht mehr erlaubt hatte, ihren Mann zusehen, aber sie konnte nicht aufgeben. Wieder einmalging sie zum Haus des Gouverneurs – und diesmalhatte sie Erfolg. Er hatte ihr endlich die Erlaubnisgegeben, einen Besuch im Gefängnis zu machen!

Frau Judson ließ das Baby Maria zu Hause bei Mah-Noo und den Mädchen und ging in Begleitung vonMaung Ing zum Gefängnis. Aber als sie zurück-kehrte, sah Len-Lay, dass sie geweint hatte.

»Mama Ann«, sagte sie, »haben sie dich wegge-schickt?«

Frau Judson sank in den Schaukelstuhl und zog dieMädchen an sich. »Nein. Sie ließen Adoniram an dieGefängnistür kommen. Aber … er hat jetzt fünf Fuß-ketten; er kann kaum laufen. Und dieser Dreck! Es ist… unaussprechlich grausam!« Sie brach in Tränenaus, als die Mädchen versuchten, sie zu trösten.

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Eine Woche später, am 2. Mai 1825, wollte Frau Jud-son ihren Mann alleine besuchen. Sogar mit derErlaubnis des Gouverneurs dauerte es oft sehr lange,bis sie die Gefleckten Gesichter dazu bringen konnte,Herrn Judson aus dem Gefängnisgebäude herauszu-holen. Aber weil sie dem Gefangenen Essen brachte,kam sie zumindest durch das Tor.

Heute war sie schon ungewöhnlich lange fort undMaung Ing begann sich bereits Sorgen zu machen, alssie lächelnd zurückkehrte. »Heute ist etwas sehr Selt-sames passiert«, sagte sie, während sie ihr feuchtesGesicht abwischte und sich in den Schaukelstuhl fal-len ließ. »Die Gefleckten Gesichter ließen mich mitAdoniram sprechen, aber dann kam ein Diener undsagte, der Gouverneur wolle mich sofort sprechen.Anfangs hatte ich Angst – aber er wollte mich etwasüber seine europäische Uhr fragen, die nicht richtigging! Er servierte mir Tee und wir haben lange mit-einander geredet. Aber vielleicht ist das ein gutesZeichen; er war wieder so freundlich.«

Len-Lay brachte ihr das Baby Maria zum Füttern unddie Mädchen setzten sich zu Frau Judsons Füßen fürihre Lesestunde. Mah-Noo, Maung Ing und Koo-Chill diskutierten leise darüber, was sie im Gemüse-garten anpflanzen sollten, als sie eine vertrauteStimme hörten, die sie von draußen eindringlich rief.

»Maung Ing! Len-Lay! Mah-Lo! Kommt schnell!«

Len-Lay schaute verwirrt auf. »Nanu, das ist jaMyat!«, sagte sie.

Die Mädchen und Maung Ing liefen eilig auf dieVeranda, gefolgt von Koo-Chill und Frau Judson.

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Myat Rodgers hielt sich an dem Gartentor fest undversuchte, wieder zu Atem zu kommen.

»Sie sind weg! Sie sind alle weg!«, keuchte er.

»Wer ist weg?«, wollte Maung Ing wissen.

»Die Gefangenen! Alle ausländischen Gefangenensind weggebracht worden!«

»Das ist doch unmöglich«, meinte Frau Judson. »Ichhabe meinen Mann erst heute Morgen besucht.«

»Aber ich war doch dort!«, beharrte Myat. »Ich sageeuch, sie sind weg, und die Gefleckten Gesichterauch!«

»Wo sind sie? Wohin hat man sie denn gebracht?«,fragte Maung Ing.

»Ich – ich weiß nicht«, antwortete Myat. »Ich habejeden gefragt, aber niemand wollte es mir sagen. Siesind einfach – verschwunden!«

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Der Weg nach Oung-Pen-La

Frau Judson, die ihr Baby der Obhut Mah-Noosübergab, lief mit Myat und den anderen die drei

Kilometer zum Todesgefängnis, um selbst zu sehen,was los war. »Machen Sie auf! Machen Sie auf!«, riefsie, während sie laut an das äußere Tor klopfte.Das Gefängnis schien außergewöhnlich ruhig zusein. Erst nach einer langen Weile öffnete ein Ge-flecktes Gesicht das Tor wenige Zentimeter.»Ich möchte meinen Mann sehen«, verlangte FrauJudson.»Gehen Sie weg«, antwortete das Gefleckte Gesichthöhnisch. »Er ist nicht hier.«»Aber wo ist er denn? Wohin haben Sie ihn ge-bracht?«, rief sie, doch das Tor wurde ihr vor derNase zugeschlagen.Völlig außer sich schaute Frau Judson hin und herauf die schmutzigen Straßen, die das Gefängnis um-gaben. Maung Ing trat zu ihr und nahm sie bei denSchultern. »Frau Joodthan, hören Sie auf! Hören Sieeinen Augenblick auf. Wir müssenüberlegen, was zu tun ist.«Maung Ings fester Griff hatte eineberuhigende Wirkung auf Frau Jud-son. »Ja … ja, Sie haben recht. Wirmüssen überlegen.«Maung Ing hob sein Gesicht zumHimmel. »Vater unser im Himmel,geheiligt werde dein Name …«

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Frau Judson kniete sich in den Staub und betete mitihm das Vaterunser. Len-Lay fiel ebenfalls auf ihreKnie und zog Mah-Lo auch neben sich herunter.Myat stand neben Koo-Chill und riss die Augen aufvor Erstaunen.

»… und erlöse uns von allem Übel. Denn dein ist dasReich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.Amen.«

Die kleine Gruppe stand auf.

»Ich muss zurück zum Gouverneur«, verkündeteFrau Judson.

»Eine gute Idee«, pflichtete ihr Maung Ing bei. »Neh-men Sie Mah-Lo mit. Wir anderen werden uns in denStraßen verteilen und sehen, ob wir irgendetwaserfahren können.«

Während Frau Judson und Mah-Lo die Richtung zudem Haus des Gouverneurs einschlugen, schickteMaung Ing Koo-Chill und Len-Lay zum Marktplatzund Myat zum Fluss. Er selbst eilte in eine andereRichtung davon.

Dem Beispiel Koo-Chills folgend fragte Len-Layjeden, den sie traf: »Habt ihr die ausländischenGefangenen gesehen? Wisst ihr, wohin man siegebracht hat?« Einer nach dem anderen jedoch schüt-telte den Kopf oder sie schauten einfach weg, als obsie nicht gehört hätten. Len-Lay versuchte, den Kochnicht aus den Augen zu verlieren, während sie sichvom einen Ende des Marktes bis zum anderen durch-fragten. Ab und zu trafen sich ihre Blicke, aber erschüttelte auch den Kopf: Kein Glück.

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Dann sah sie, wie Koo-Chill mit einer alten Frausprach, die in eine bestimmte Richtung zeigte. Als sieaber den Arm Koo-Chills fasste, war die alte Fraubereits wieder in der Menge verschwunden.

»Was hat sie gesagt?«, fragte sie aufgeregt.

Koo-Chill legte einen Finger auf seine Lippen, nahmLen-Lays Hand und lief mit ihr zum Missionshaus.Frau Judson und Mah-Lo waren schon da; sie unter-hielten sich gerade mit Mah-Noo. Auch Maung Ingkam innerhalb kurzer Zeit. Als er eintrat, fingen allegleichzeitig an zu reden, aber Maung Ing sagte:»Schschtt! Seid ruhig! Hört erst einmal Frau Judsonzu!«

Frau Judsons Gesicht war vor Sorgen ganz ange-spannt. »Der Gouverneur hat gerade heute Morgenherausgefunden, dass der neue General – der Nach-folger von General Bandula, sein Name ist PakunWan – angeordnet hat, dass die Gefangenen woan-ders hingebracht werden. Deshalb hat er eine Bot-schaft an mich gesandt, dass ich dringend zu ihmkommen soll – um mir den Schreck zu ersparen,glaube ich.«

»Oder um Sie daran zu hindern, eine Szene zumachen«, brummte Koo-Chill.

»Eines weiß ich aber genau: Sie leben noch!«, verkün-dete Maung Ing jetzt. »Ich bin zu dem Platz gegan-gen, an dem die Gefangenen hingerichtet werden; erwar leer und es war dort nur altes Blut.«

In Frau Judsons Augen schimmerten Tränen. »Gottsei Dank!«, rief sie aus. Sie ließ sich in ihren Schaukel-stuhl sinken.

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Len-Lay zupfte Koo-Chill am Ärmel. »Was hat diealte Frau denn gesagt?«

Alle Blicke richteten sich auf den Koch.

»Wir haben jeden, den wir getroffen haben, gefragt,ob sie die ausländischen Gefangenen gesehen hätten.Eine alte Frau hat mir zugeflüstert: ›Amarapura –schau in Amarapura!‹, und sie hat in Richtung Nor-den gedeutet.«

»Die alte Königsstadt!«, rief Maung Ing. »Wir müs-sen uns sofort auf den Weg dorthin machen!«

»Nein … warte.« Frau Judson wischte sich die Trä-nen ab. »Wir können nicht alle gehen. Maung Ing –du musst hier bei Mah-Noo bleiben und dich um dasMissionshaus kümmern. Die Mädchen werden mitmir gehen; ich brauche sie als Hilfe für Maria. Koo-Chill begleitet uns auch.«

Maung Ing wollte protestieren, aber alle redeten wie-der durcheinander. Plötzlich hörten sie auf derVeranda eine vertraute Stimme, die rief: »Hallo!Hallo! Jemand zu Hause?«

Maung Ing und die Mädchen stürzten nach draußen.Am Terrassengeländer saß Herr Verzeihung. Erstellte seinen Kopf schief und begrüßte sie: »Hallo!«

Maung Ings Gesicht verriet eine Mischung vonErstaunen und Freude. Die Mädchen grinsten voneinem Ohr zum anderen, als er den leuchtend grünenPapagei vorsichtig auf den Finger nahm und ihnzurück in seinen Weidenkäfig setzte.

Frau Judson, die an der Tür stand, lächelte, währendihr erneut die Tränen die Wangen herunterliefen.»Willkommen zu Hause, Herr Verzeihung. Vielleicht

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hat Gott dich zurückgeschickt … als ein Hoffnungs-zeichen!«

***Als Len-Lay aufwachte, fühlte sie sich steif, und allestat ihr weh. Sie sah sich um. Sie war auf dem Deckdes kleinen geschlossenen Bootes, das Koo-Chillgestern aufgetrieben hatte, eingeschlafen. Koo-Chillsaß im Bug. In seinen dicken Armen hielt er Mah-Lo,die auf seinem Schoß saß. Daneben versuchte FrauJudson, die unruhige Maria zu besänftigen.

So viel war in den letzten vierundzwanzig Stundenpassiert! Frau Judson hatte Kleider, Schlafmatten, einpaar Töpfe und ein paar billige Schmuckstücke alsGeschenke in zwei große Koffer gepackt. Dann warKoo-Chill losgezogen, um ein Boot für sie zu suchen,mit dem sie die sechs Kilometer nach Amarapura aufdem Irrawaddy-Fluss hinauffahren konnten. Ama-rapura war die Königsstadt gewesen, als noch KönigBagyidaws Vater König gewesen war.

Aber seit sie sich beim Todesgefängnis in verschie-dene Richtungen getrennt hatten, hatte niemandmehr Myat Rodgers gesehen. Len-Lay machte sichSorgen um ihn. Obwohl er mittlerweile vierzehnJahre alt und damit fast ein Mann war – es war schonein Jahr her, seit sie ihn zum ersten Mal getroffen hat-ten – schien er ohne Familie so allein und hatte nie-manden, zu dem er gehen konnte.

Sie hatten noch eine letzte Nacht im Missionshausverbracht. Dann waren sie früh aufgestanden, umsich auf den Weg zu den Gefangenen zu machen.»Ich will sehen, ob ich Myat finden kann«, hatte

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Maung Ing Len-Lay versichert, als sie ins Boot stieg.Mit Herrn Verzeihung auf seiner Schulter winkte erihnen vom Flussufer aus im frühen Morgenlicht zu.Nun stand die Sonne schon hoch am Himmel. Len-Lays Kopf tat weh und ihr Mund war ausgetrocknet.Sie kroch unter das Strohdach und schloss ihreAugen wieder.Als sie ein zweites Mal aufwachte, steuerte der Boots-mann das Boot mit einem Stab an die Anlegestelle inAmarapura. Sie fragte sich, warum sie so müde war.Sie half Koo-Chill und Mah-Lo beim Ausladen desGepäcks und ließ sich dann auf einem Koffer nieder,während der Koch sich nach einem Wagen umsah.Frau Judson schritt an der Anlegestelle mit dem Babyim Arm auf und ab. Endlich tauchte Koo-Chill aufmit einem Fahrer und einem quietschenden Wagenmit stabilen Rädern, der von einem mageren Ochsengezogen wurde. »Versuch es beim Gerichtsgebäu-de«, sagte Frau Judson, während sie in den Wagenkletterten. Zum Gerichtsgebäude waren es noch ein-mal drei Kilometer Fahrt durch Amarapura, und derzweirädrige Wagen quietschte und schwankte denganzen Weg.Koo-Chill suchte Wasser, während Frau Judson hineinging, um den örtlichen Magistrat zu sprechen.Len-Lay trank das kühle Wasser dankbar, aber sieschüttelte den Kopf, als ihr Koo-Chill einen geräu-cherten Fisch anbot. Sie hatte keinen Hunger.Schließlich kam Frau Judson wieder heraus. »DieGefangenen wurden in das Dorf Oung-Pen-La ge-bracht«, meinte sie müde. »Noch einmal zwölf Kilo-meter in Richtung Norden.«

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Der Fahrer wollte nicht mitgehen und Koo-Chillfeilschte mit ihm in der heißen Sonne eine halbeStunde lang, bevor er die große Summe Silbermün-zen als Lohn annahm. Mittlerweile weinten das BabyMaria und Mah-Lo vor Hitze und Erschöpfung.

Der Ochsenkarren holperte Kilometer um Kilometerüber den ausgefahrenen Weg nach Oung-Pen-La,und knirschender Sand wurde von den Hufen desOchsen hochgewirbelt, der jedem in Augen, Ohrenund Mund stach. Die Sonne schien heiß und unbarm-herzig und Len-Lays Kopfschmerzen wurden immerschlimmer.

Die Sonne war endlich hinter den Baumwipfeln ver-schwunden, als der Ochsenkarren durch das kleineDorf Oung-Pen-La knarrte. Frau Judson drängte denFahrer dazu, noch ein kleines Stückchen weiter hin-ter das Dorf zu fahren, bis sie am ›Gefängnis‹ anka-men: eine verwahrloste Bambushütte, kaum mehr alseine Plattform mit einem kaputten Strohdach, die aufetwa 1,20 Meter hohen Pfählen stand. Die Hütte warvon einem Pfahlzaun umgeben – oder besser gesagt,von den Überresten eines Zaunes.

Len-Lay konnte die Gefangenen sehen, die auf derPlattform lagen, während einige Dorfbewohner ver-suchten, das Dach über ihnen zu reparieren. Schnellhalf Koo-Chill Frau Judson aus dem Wagen, lud dieKoffer aus und bezahlte den mürrischen Fahrer.

Es waren hier nur drei Gefängnisaufseher, und siewaren keine Gefleckten Gesichter. Der Oberaufseherzuckte die Schultern, als Ann Judson bat, mit den Ge-fangenen sprechen zu dürfen. Als sie die kleinen Stu-fen zur Plattform hinaufkletterten, sahen sie, dass die

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Gefangenen jeweils zu zweit zusammengekettet wa-ren. Ihre Kleider hingen in bloßen Fetzen an ihren kno-chigen Leibern; das Haar war matt und verschmiert.Aber am schlimmsten waren die Füße, die von demschmerzhaften Zweitagesmarsch von Ava bis hierhermit offenen, blutigen Blasen bedeckt waren.

»Adoniram«, sagte Frau Judson leise.

Herr Judson – der kaum wieder zu erkennen war –öffnete leicht die Augen.

»Oh, Ann«, stöhnte er. »Warum bist du gekommen?Ich habe gehofft, du würdest uns nicht folgen.« Dannsank er benommen zurück.

Trotz des schrecklichen Zustandes der Gefangenenwar Len-Lay froh, Herrn Judson, Henry Gouger undDr. Price zu sehen. Sogar Herr Rodgers lebte. Undalle waren nicht mehr in dem furchtbaren Todesge-fängnis. Koo-Chill gab ihnen etwas Wasser. Dannversammelte sich die kleine Gruppe unter einemBaum, um zu überlegen, woher sie Essen und eineUnterkunft bekommen könnten.

Der Oberaufseher, der durch die Ankunft der Gefan-genen und ihrer Besucher verwirrt war – das Gefäng-nis in Oung-Pen-La hatte offensichtlich jahrelang leergestanden –, hatte Mitleid mit Frau Judson und ihrerkleinen verwaisten Familie und lud sie ein, die Nachtin seinem Haus zu verbringen. Das Haus aus Bam-bus und Stroh hatte zwei Räume; die Familie desAufsehers lebte in einem von ihnen. Der anderediente als Kornspeicher. Koo-Chill und Frau Judsonbreiteten ihre Schlafmatten neben den Kornvorrätenaus.

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»Mama Ann«, wisperte Len-Lay Frau Judson nachdem Gutenachtkuss zu. »Ich fühle mich nicht wohl.«

»Ich weiß, ich weiß«, flüsterte ihre Pflegemutterzurück. »Es war ein schrecklicher Tag. Du wirst dichsicher besser fühlen, wenn du ausgeschlafen hast.«

Aber Len-Lay schlief nicht gut. Die Kopfschmerzenpochten hinter ihren Augen; die ganze Nacht langdachte sie, ein Schwarm Insekten dröhne in ihrenOhren. Sie fühlte sich heiß und unruhig. Manchmaldachte sie sogar, sie würde noch immer in dem unbe-quemen Ochsenkarren hin- und hergeschaukelt.

Gegen Morgen fiel sie in einen unruhigen Schlaf; sieträumte, sie rannte und rannte, um ihren Vater zufinden, Maung Schway-Bay … dann suchte sie plötz-lich Myat Rodgers … und rief immer wieder HerrnVerzeihung.

»Sie hat Fieber«, hörte sie jemanden sagen. Es warKoo-Chill.

»Schau, Mama Ann«, sagte die Stimme eines Mäd-chens. »Sie hat merkwürdige Flecken im Gesicht.«

Die Stimme einer Frau: »Oh, Koo-Chill, glaubst du –«

»Ich weiß es nicht«, sagte Koo-Chill. »Aber es könntesein.«

»Oh, Vater im Himmel! Was machen wir bloß?«

»Was ist es, Mama Ann? Was ist los mit Len-Lay?«

Schweigen. Len-Lay dachte, dass sie vielleicht immernoch träumte. Ihr Kopf tat weh, und es war so heiß.Dann hörte sie wieder Frau Judsons Stimme.

»Sie hat die Pocken.«

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Der Tiger

Als Dr. Price hörte, wie Frau Judson Len-LaysSymptome beschrieb – hohes Fieber, Kopf-

schmerzen, Erbrechen und kleine rote Punkte auf Ge-sicht, Rücken und Armen –, bestätigte er den Befund.

Nach ein paar Tagen sank das Fieber, aber die klei-nen roten Punkte waren zu Wasserblasen geworden,die Len-Lays Körper bedeckten. Sie lag in dem Korn-speicher im Haus des Gefängnisaufsehers, zu krankund müde, um sich darum zu kümmern, wasdraußen geschah.

Frau Judson flößte Len-Lay gerade kräftige Brüheein, als Koo-Chill von einem Besuch bei den Gefange-nen zurückkam. »Henry Gougers Diener ist heutemit einem Sack Reis und gesalzenem Fisch aufge-taucht, die er mit uns allen teilen will«, berichtete er.»Das löst erst einmal unser Essensproblem.«

Frau Judson nickte, aber ihre Gedanken waren wo-anders. »Ich mache mir Sorgen umAbby und die kleine Maria. Ichwurde in Amerika gegen Pockengeimpft – aber die Kinder sind esnatürlich nicht. Ich bin sicher, dass

sie sich anstecken werden.«

»Oh, da fällt mir ein«, begannKoo-Chill und nahm die Schale

mit der Suppe Frau Judson aus derHand. »Dr. Price möchte Sie im Ge-fängnis sprechen. Keine Angst. Ich

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hatte die Pocken schon als Kind.« Koo-Chill scheuch-te sie weg und fütterte Len-Lay selbst mit dem Restder Brühe.Als Frau Judson vom Gefängnis zurückkehrte, ver-rieten ihre Augen, dass sie ein wenig Angst hatte,aber sie begann, entschlossen in einem der Koffer zuwühlen. »Dr. Price meint, ich soll die anderen Kindersofort impfen, bevor Mary zu ansteckend wird. Koo-Chill, bitte such Abby – sie spielt irgendwo mit demBaby. Hmm – wo sind bloß die Kerzen, die wir mitge-nommen haben?«Als Koo-Chill Mah-Lo und das Baby in den Korn-speicher brachte, hatte Frau Judson schon eine Kerzean der Kochstelle der Frau des Aufsehers angezündetund sterilisierte gerade eine ihrer Nähnadeln in derFlamme.»Mary und Abby, hört mir gut zu«, sagte sie sanft.»Ich werde mit dieser Nadel in eine von Marys Bla-sen stechen, und dann steche ich dir damit in denArm, Abby. Dann werde ich dasselbe mit Mariamachen. Du musst ganz still halten, damit ich dichnicht verletze.«Die Frau des Aufsehers war sehr neugierig; sie sahvon der Tür aus zu. Nachdem Frau Judson erklärthatte, was sie tun wollte, verschwand die Frau, abersie war in wenigen Minuten mit ihren vier nacktenKindern zurück. »Bitte gib ihnen die kleinen Po-cken«, bat sie. Später meinte sie zu Koo-Chill: »Wenndie amerikanische Frau ihre eigenen Kinder mitPocken sticht, dann muss das gut sein.«Len-Lays Blasen füllten sich jedoch bald mit Eiterund das hohe Fieber kehrte zurück. Tag und Nacht

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verschwammen, leise Stimmen drangen in ihrBewusstsein und verschwanden wieder. Ihr Körperfühlte sich an, als ob er brenne, und sie hätte sich amliebsten die Haut vom Körper gerissen. Aber siekonnte ihre Hände gar nicht bewegen. Sie schlug mitden Armen um sich und schrie laut auf, bis sie wie-der in einen erschöpften Schlaf fiel.

Am zwölften Tag nach dem Verlassen Avas öffneteLen-Lay die Augen und starrte in einen Raum, derihr nicht vertraut war. Wo war sie bloß? Wo warenMah-Noo, Maung Ing und Herr Verzeihung? Danndämmerte es ihr langsam: Sie war im Haus des Ge-fängnisaufsehers in Oung-Pen-La, und sie war sehr,sehr krank gewesen.

Sie versuchte aufzustehen, aber ihre Hände warenmit weichen Tüchern am Boden fest gebunden.»Mama Ann!«, rief sie erschrocken.

Frau Judson war sofort an ihrer Seite und löste ihr dieLappen. »Sei still, liebe Mary«, besänftigte sie sie.»Wir mussten deine Hände fest binden, damit dudich nicht kratzt und die Infektion verbreitest. Hier –du bist frei.« Ihre Pflegemutter lächelte: »Gelobt seiGott. Das Fieber ist verschwunden. Du wirst gesundwerden.«

Aber Len-Lay musste noch eine weitere Woche imKornspeicher verharren, bis die Blasen aufbrachenund sich kleine Schorfwunden bildeten. Mah-Lobrachte ihr in der Zwischenzeit die letzten Neuig-keiten.

»Die Gefängnisaufseher haben den Zaun um dasGefängnis herum erneuert, und die Gefangenen

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müssen schlafen, während ihre Füße in den Blockgeschlossen sind. … Aber wir können sie jederzeitbesuchen … und die Aufseher lassen die Gefangenenin dem Gehege tagsüber herumlaufen … und es gibthier keine Ratten … und die Frau des Aufsehers hatihre ganze Wäsche gewaschen, und Mama Ann hatdafür gesorgt, dass sie alle ein Bad nehmen durften.«

Hier brach Mah-Lo in schallendes Gelächter aus. »Siehat alle Kinder aus der Umzäunung gejagt, aber einpaar Jungen sind auf die Bäume geklettert. Sie woll-ten wissen, was für eine Hautfarbe die Gefangenenunter der Schmutzkruste haben!« Und das kleineMädchen schoss wieder davon, um mit den Kindernder Wärter zu spielen.

Als Frau Judson Len-Lay endlich erlaubte, mit ihreinen Gefangenenbesuch zu machen, sahen die Ge-fangenen alle viel besser aus als das letzte Mal, als siesie gesehen hatte. Ihre Fußwunden waren verheiltund sie trugen nur jeweils eine Kette an ihren Hand-und Fußgelenken. Herr Judson und die anderen be-grüßten sie herzlich, obwohl sie nach den elf bitterenMonaten im Todesgefängnis jetzt erst langsam wie-der zu Kräften kamen.

»Ann, hast du von irgendjemandem gehört, warumwir hierher gebracht wurden?«, fragte Herr Judsonseine Frau voller Sorge.

Sie schüttelte den Kopf. »Alles, was ich weiß, ist, dassder neue General, Pakun-Wun, den Befehl gegebenhat. Wir haben ein Zimmer bei der Familie des Wär-ters gemietet, und er sagt bloß, dass ›der Tiger‹ euchhierher geschickt hat.«

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»Als uns die Gefleckten Gesichter allein gelassen hat-ten, sagten sie uns, wir würden lebendig verbranntwerden«, fügte Dr. Price hinzu. »Aber ich glaubenicht, dass sie das Dach dieses erbärmlichen Stalls re-parieren würden, wenn sie uns umbringen wollten.«

»Seien Sie da nicht so sicher«, mischte sich Herr Rod-gers ein. Len-Lay erschrak. Es war das erste Mal, dasssie hörte, dass er an der Unterhaltung teilnahm.»General Pakun-Wun – das aufgeblasene Schweinnennt sich selbst ›der Tiger‹ – wurde hier in Oung-Pen-La geboren. Nach meiner Schätzung plant er,hier an uns ein dreckiges Exempel zu statuieren,wenn er die Engländer besiegt.«

Als sie gerade gehen wollten, hörte Len-Lay HerrnJudson zu seiner Frau sagen: »Gibt es eine Nachrichtüber mein Kissen?«

Ann starrte ihn an. »Niemand hat an das Kissengedacht, Adoniram! Wir hatten Angst um deinLeben!«

Er seufzte. »Die Gefleckten Gesichter haben uns soschnell aus dem Todesgefängnis gezerrt, dass nie-mand Zeit hatte, an irgendetwas zu denken. Ich – ichfürchte, dass es für immer verloren ist …« Er starrtemit traurigen Augen in die Ferne. »Oh, Ann. So vieleJahre Arbeit – vergebens. Ich bin in jeder Hinsichtgescheitert. Birma ist verloren, verloren.«

Len-Lay hatte das hässliche braune Kissen mit demmysteriösen Päckchen völlig vergessen. Was redetePapa Don da bloß?

Die Impfung von Mah-Lo und den Kindern des Auf-sehers war ein voller Erfolg: Sie hatten sich alle ange-

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steckt, doch die Krankheit brach so milde aus, dass esdie Kinder kaum vom Spielen abhielt. Doch das armeBaby Maria wurde sehr krank; wie bei Len-Laybedeckten die hässlichen Blasen ihren Körper vonKopf bis Fuß und sie quälte sich und schrie tagelang.

Doch die Dorfbewohner von Oung-Pen-La hattenvon der Impfung gehört. Als sie sahen, dass die Kin-der des Aufsehers der schrecklichen Krankheit entka-men, brachten viele von ihnen ebenfalls ihre Kinderfür eine Impfung zu Frau Judson. Doch der Stress,nacheinander zwei kranke Kinder zu pflegen, dasHandeln mit den Einwohnern um Lebensmittel, dieImpfung der Kinder und das Versorgen und Auf-muntern der Gefangenen begannen sich an ihr zu zei-gen. Sie war müde und verlor immer mehr Gewicht.

Als das Baby Maria jedoch fast von den Pockengesund geworden war, ließ Frau Judson die beidenälteren Kinder bei Koo-Chill und mietete einenWagen vom Dorf, der sie nach Amarapura bringensollte, damit sie Vorräte und Medikamente besorgenkonnte. Sie war mehrere Tage unterwegs, und Koo-Chill, auf dessen breitem Gesicht eine tiefe Furche zusehen war, beobachtete ständig die Straße.

Endlich tauchte der Wagen auf. Noch bevor er näherkam, konnten die Mädchen das sechs Monate alteBaby wimmern hören. Koo-Chill und die Mädchenrannten dem Wagen entgegen. Frau Judson laggekrümmt auf dem Boden des Wagens und hielt dasschreiende Baby Maria an ihre Brust gedrückt.

»Die Ruhr, glaube ich«, murmelte der Fahrer unddeutete mit dem Kopf auf Frau Judson. Len-Laynahm das Baby, während Koo-Chill Frau Judson

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sanft in seinen starken Armen aufhob und sie in denKornspeicher des Aufsehers brachte und dort aufeine Matte legte.Frau Judson war so krank, dass sie nichts allein tunkonnte, schon gar nicht das Baby versorgen. Mariaschrie bereits pausenlos vor Hunger. Koo-Chill, derungern von Frau Judsons Seite wich, außer, um dasEssen für die Familie und die Gefangenen zumachen, drängte: »Len-Lay, das Baby braucht Mut-termilch zum Überleben. Sag dem Aufseher, wirmüssen eine Birmanin finden, die das Kind stillt!«Len-Lay fühlte sich hilflos, als sie das schreiendeBaby hochhob, das so dünn war, dass seine Ärmchenund Beinchen wie kleine Stöcke aussahen, undsuchte eilig den Wärter. Wie konnte sie seine Auf-merksamkeit gewinnen? Sie war ja nur ein Mädchen,und außerdem praktisch eine Fremde. Wenn ihrMama Ann nur sagen könnte, was sie tun sollte!Len-Lay fand den Aufseher beim Gefängnis, als ergerade die Klötze reparierte, in denen die Füße derGefangenen jede Nacht steckten. Als er MariasSchreien hörte, eilte Herr Judson, so schnell es seineFußketten erlaubten, an Len-Lays Seite und nahmdas schluchzende Kind in seine Arme. Ohne nachzu-denken wandte sich Len-Lay direkt an den Aufseher.»Oh, Vater«, sagte sie mit einer respektvollen Ver-beugung. »Ihr wisst, dass die Frau des amerikani-schen Missionars sehr krank ist; sie hat keine Milchfür ihr Baby. Wir müssen eine Frau finden, die dasKind stillt, oder es muss sterben.«Der Wärter schaute böse. »Das geht mich nichts an«,meinte er barsch. »Erst werden mir ohne Warnung

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Gefangene geschickt. Mein Reisfeld zeigt schon dieSpuren der Vernachlässigung. Dann zieht die Fami-lie des Gefangenen bei mir ein! Nun sind alle krank.Nein! Nein! Nein! Ich werde nicht –«

»Oh großzügiger Vater«, mischte sich Herr Judsonein, während er versuchte, trotz Marias Schreienruhig zu sprechen. »Ich bin Euch sehr dankbar füralles, was Ihr für mich und meine Familie getan habt.Ich würde Euch nicht bitten, eine Amme für meinKind zu finden. Nur … lasst mich zum Dorf gehen,und ich werde eine gute Frau finden, die Mitleid mituns hat.«

»Unmöglich!«, schnappte der Aufseher.

Mama Ann hat niemals ›unmöglich‹ als eine Antwortakzeptiert, dachte Len-Lay. »Wir werden Euch Ge-schenke geben«, meinte sie schnell. »Eine LängeSeide für Eure Frau … und Silbermünzen für Sie.«Noch während sie das sagte, musste Len-Layschlucken. Wie konnte sie es wagen, dem AufseherGeschenke anzubieten – Dinge, die ihr nicht einmalgehörten! Aber aus dem Augenwinkel heraus sah sie,dass Herr Judson schwach lächelte.

Und so wurde es beschlossen: Herr Judson durfte dasBaby dreimal täglich ins Dorf bringen – seine Hand-gelenke und Knöchel natürlich sicher angekettet –und eine Birmanin suchen, die das Kind stillte. Len-Lay oder Mah-Lo brachten das Baby ins Gefängnisund begleiteten ihn dann ins Dorf. Aber es war HerrJudson selbst, der in Ketten um Milch für sein hun-gerndes Kind bettelte und die Sympathie der Frauenim Dorf auf sich zog.

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Auf diese Weise überlebte die kleine Maria, undlangsam wurde Frau Judson auch wieder gesund.Kriegsnachrichten gab es selten, doch ab und zusickerten ein paar Berichte durch: Die Engländer hat-ten die Stadt Prome eingenommen, doch waren siebisher noch nicht weiter vorgedrungen … GeneralPakun-Wun marschierte von Stadt zu Stadt und Dorfzu Dorf, um eine neue Armee gegen die Engländeraufzustellen … Die neuen Truppen waren nicht aus-gebildet, aber zumindest war ihre Zahl groß.

Man hörte auch Gerüchte über das Schicksal derGefangenen. Der Name des Dorfes, Oung-Pen-La,bedeutete ›Siegesfeld‹. Die Gefangenen sollten lautdieser Gerüchte lebendig vor den birmanischenTruppen begraben werden, während diese zumKampf gegen die Engländer aufmarschierten. Gene-ral Pakun-Wun sagte angeblich: »Die ausländischenGefangenen ins Siegesfeld pflanzen, kann nur dieErnte eines Sieges gegen die ausländischen Erobererbedeuten!«

Dann erwachte Len-Lay eines Nachts durch lautesBrüllen, das vom Dorf her kam. »Mama Ann!«, schriesie. »Ein Tiger ist aus dem Dschungel gekommen!«

Aber dann hörte sie Koo-Chills Stimme sagen: »Wasist denn das Verrücktes? Kommt mal her und sehteuch das an!«

Len-Lay und Mah-Lo rannten auf die Veranda; FrauJudson, der Aufseher und seine Familie folgten.Direkt vor dem Haus wurde ein hölzerner Käfigabgesetzt, der von sechs Männern getragen wurde.Außerdem waren vier Soldaten dabei. Im Käfigschritt in dem kleinen Raum ein Tiger auf und ab. Die

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Rippen des Tieres traten hervor, und es brüllteimmer wieder vor Hunger.

»Wo ist der Oberaufseher?«, schrie einer der Solda-ten, um das Brüllen des Tigers zu übertönen.

»Heh!«, schrie der Aufseher zurück, der nur einenLendenschurz trug und völlig aufgebracht war, weilman ihn mitten in der Nacht geweckt hatte. »Wasbedeutet das alles?«

»Öffne die Palisade!«, forderte der Soldat. »Wirhaben einen weiteren Gefangenen für dich!«

»Was? Ihr müsst verrückt geworden sein! Ich werdekeinen ausgehungerten Tiger in mein Gefängnisstecken!«

Der Soldat starrte den Aufseher an. »Öffne die Pali-sade, du Erbärmlicher. Das ist ein Befehl von GeneralPakun-Wun!«

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Der offene Käfig

Am nächsten Morgen gingen Len-Lay und Mah-Lo nervös mit dem Essen für die Gefangenen

zum Gefängnistor. Innerhalb des Zauns war er: DerTiger schritt in seinem Käfig auf und ab. Ab und zuließ er ein unglückliches Brüllen vernehmen.

Die Gefangenen waren darüber auch nicht geradeerfreut. »Wie findet ihr unseren neuen Gefährten,hm, Mary und Abby?«, fragte Herr Judson mit einemmüden Lächeln, als er den Mädchen das Essen ab-nahm. Offensichtlich hatte er in der Nacht nicht ge-nug geschlafen.

Henry Gouger stieß ein kurzes Lachen aus: »GeneralPakun-Wun hat einen merkwürdigen Sinn fürHumor.«

»Humor?!?«, schnauzte Herr Rodgers ärgerlich. »Erhat wahrscheinlich vor, uns dem Tiger zum Fraß vor-

zuwerfen, sobald er dazu kommt.«

»Seien Sie still, Rodgers«, meinteDr. Price. »Es gibt keinen Grund,diesen beiden jungen Damensolch einen Schrecken einzuja-gen.« Er warf einen kritischenBlick auf Len-Lay. »Die Narbenvon den Pocken sehen gar nichtso schlimm aus, Mary Hasseltine… Übrigens, habt ihr irgendet-was von meiner Frau gehört, von

Mah-Noo?«

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Len-Lay schüttelte den Kopf, wendete aber den Blickdabei nicht von dem Tiger. Der Tiger starrte zurückund fletschte die Zähne. Sie hatte Angst vor ihm, abersie hatte auch Mitleid. »Gibt der Wärter ihm dennnichts zu fressen?«, fragte sie schüchtern.

»Nein, ich gebe ihm nichts!«, dröhnte eine wütendeStimme hinter ihr. Es war der Oberaufseher, der ge-rade gekommen war, um seinen »neuen« Gefange-nen bei Tageslicht zu begutachten. »Ich habe keinenBefehl, diese … diese erbärmliche Kreatur zu füt-tern.« Der Aufseher stapfte hin und her, winkte mitden Armen und starrte jeden an. »Wir sind ein armesDorf! Glaubt der General etwa, wir haben hier einpaar Ziegen, die nur darauf warten, dass sie der HerrTiger frisst?« Und damit stapfte er wieder aus derUmzäunung.

»Ich glaube nicht, dass General Pakun-Wun geradean Ziegen gedacht hat …«, murmelte Herr Rodgersvor sich hin.

Die Mädchen ließen sich überreden, Frau Judsonnichts von dem zu erzählen, was Herr Rodgers ge-sagt hatte. Doch in der Nacht, als sie den Tiger wie-der und wieder vor Hunger brüllen hörten, lagen siemit pochenden Herzen auf ihren Matten. Warumhatte man den Tiger gebracht? Vielleicht hatte HerrRodgers recht? Hatte General Pakun-Wun befohlen,dass die Gefangenen in diesen schrecklichen Käfiggeworfen wurden?

Eines Nachts, als sie sich gerade zum Schlafengehenfertigmachten und das pausenlose Brüllen des Tigersimmer noch im Hintergrund zu hören war, zog FrauJudson die Mädchen zu sich und sagte: »Ich möchte

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euch eine Geschichte erzählen. Es ist eine wahreGeschichte über einen Mann mit Namen Daniel, dervor langer Zeit lebte. Daniel war während eines Krie-ges gefangen und als Sklave in ein fernes Landgebracht worden. Der König dieses Landes abermochte Daniel und er gab ihm eine bedeutende Stelleam Königshof –«

»Wie Herr Rodgers eine hatte?«, unterbrach Mah-Lo.

»Ja, ungefähr so eine. Nur, dass Daniel den wahrenGott im Himmel liebte. Und jeden Tag betete er zuGott – auch wenn es gegen das Gesetz dieses Landeswar, niemanden außer den König anzubeten.«

Len-Lay bemerkte, dass Koo-Chill in der Tür-schwelle des Kornspeichers saß und ebenfallszuhörte.

»Eines Tages erzählten Daniels Feinde dem König,dass er jeden Tag zu Gott im Himmel betete. Dasmachte den König traurig, denn er hatte ein Gesetzgemacht, dass jeder, der einen anderen Gott anbetete,in eine Löwengrube geworfen werden sollte!«

Mah-Lo hielt den Atem an.

»Aber … aber so war das Gesetz, und also warfen dieLeute des Königs Daniel in die Löwengrube.«

Len-Lay begann zu zittern. Nun wusste sie, dass FrauJudson sich ebenfalls fragte, ob die Gefangenen demhungrigen Tiger vorgeworfen würden. Aber warumerzählte sie diese schreckliche Geschichte?

»Am nächsten Tag ging der König zur Löwengrube.Er war sicher, er würde Daniel in Stücke gerissenvorfinden. Aber da saß Daniel in der Löwengrubeund ihm war kein Haar gekrümmt!«

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»Unmöglich!«, murmelte Koo-Chill in der Tür. FrauJudson tat so, als hätte sie ihn nicht gehört.

»Der König war so aufgeregt, dass er seinen Män-nern befahl, Daniel aus der Grube zu holen. Danielerzählte ihm: ›Ich habe zu meinem Gott gebetet und

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ihn gebeten, den Löwen das Maul zu stopfen, undwie du siehst, haben sie mich nicht verletzt!‹«

Frau Judsons Stimme wurde plötzlich ganz weich.»So, liebe Mary und Abby, wir wollen Gott bitten,dass er das Maul dieses Tigers stopft – und denMund von General Tiger auch!«

Zwei Wochen waren nach der Ankunft des Tigersverflossen.

Dann wachte Len-Lay eines Morgens mit einemmerkwürdigen Gefühl auf; irgendetwas war heuteanders. Dann merkte sie, was es war: Es war dieStille.

Man hörte den Tiger in der Umzäunung nicht mehrbrüllen.

»Mama Ann!«, rief sie aus. Es überfiel sie eine furcht-bare Angst, so dass ihr fast die Worte im Halsesteckenblieben. Hatte General Pakun-Wun etwaangeordnet, dass …

Frau Judson stieg bereits mit dem Baby Maria auf demArm von der Veranda des Hauses des Aufsehers undrannte in Richtung Gefängnis. Len-Lay, Mah-Lo undKoo-Chill waren ihr dicht auf den Fersen.

Als sie die Straße entlangrannten, wurde plötzlichdas Gefängnistor geöffnet, und der Aufseher mar-schierte heraus. »Aus dem Weg!«, schrie er. »Zurück,zurück!«

Hinter ihm kamen mehrere Dorfbewohner aus demTor, die den Körper des toten Tigers hinter sich her-zogen. Er bestand nur noch aus Haut und Knochen.»Das arme Tier«, murmelte Frau Judson. »Es ist ver-hungert.«

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Koo-Chill sah erleichtert und verärgert zur gleichenZeit aus. »Sie brauchen kein Mitleid mit dem Tiger zuhaben. Sie haben doch Ihren Gott gebeten, dem Tierdas Maul zu stopfen, oder nicht?« Und er drehte sichum und ging zurück zum Haus.

In wenigen Tagen kam einer von Gougers Dienstbo-ten mit einer Neuigkeit zum Gefängnis, und es kamheraus, warum der Aufseher keine weiteren Befehleerhalten hatte. General Pakun-Wun war tot!

»Was?«, rief Herr Rodgers aus, als die beiden Fami-lien im Haus des Aufsehers bei den Gefangenen inder Umzäunung waren. »Ist er im Kampf mit denEngländern gefallen?«

Gougers Dienstbote schüttelte den Kopf; seine Augenblitzten. »Nein, nein. Der Tiger hatte König Bagyidawgebeten, die Truppen des Prinzen befehligen zu dür-fen; der König verneinte, weil Pakun-Wun selbst keinAdliger war. Dann bat Pakun-Wun den persönlichenBewacher des Königs, mit ihm in den Krieg zu ziehen;da wurde der König misstrauisch. Schließlich bat derGeneral den König als Nächstes, zur Mengun-Pagodezu gehen – sie liegt außerhalb von Ava – und dort fürden Erfolg des Krieges zu beten.«

»Das klingt ja nach einer Verschwörung. Zuerstnimmt man dem König seinen Bewacher und dannseinen Thron!«, grinste Henry Gouger.

Der Dienstbote nickte heftig. »Das ist genau das, wasKönig Bagyidaw gedacht hat! Der König hat denBefehl gegeben, dass man Pakun-Wun entferne ausseiner Goldenen Gegenwart. Er wurde auf demganzen Weg zur Hinrichtung geschlagen und getre-

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ten – ich habe es selbst gesehen –, wo ihn dann dieweißen Elefanten zu Tode getrampelt haben.«

Eine kleine Weile waren alle still. Len-Lay versuchte,nicht an die Elefanten zu denken … auf der anderenSeite fühlte sie sich unendlich erleichtert. Plötzlichfingen alle an, gleichzeitig zu sprechen, und HenryGouger versuchte sogar brüllend und jauchzendeinen kleinen Tanz, indem er in seinen Ketten hinund her hüpfte.

»Ich glaube nicht mehr, dass wir irgendwelcheTodesdrohungen fürchten müssen«, meinte der jun-ge Engländer schließlich. »Jetzt muss die englischeArmee handeln; wir sind jetzt wertvolle Geiseln.«

Mah-Lo zupfte Koo-Chill am Ärmel. »Ich glaube,dass Gott auch dem anderen Tiger das Maul gestopfthat.«

»Hmmm!«, meinte der bengalische Koch.

Die beiden Schwestern grinsten einander an. Das wargenau das, was Len-Lay auch gedacht hatte.

***Der Wärter wollte den leeren Tigerkäfig wegneh-men, doch Herr Judson fragte ihn um Erlaubnis, ihnreinigen zu dürfen, um ihn dann als seine eigene pri-vate ›Zelle‹ zu benutzen. Achselzuckend stimmte derAufseher zu. Er schloss Herrn Judson jeden Abendim Käfig ein und öffnete morgens die Tür, so dass ermit den anderen in der Umzäunung herumlaufenkonnte.

Da die Gefangenen jetzt nicht mehr in unmittelbarerGefahr schwebten, schien Herr Judson die Energie zu

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finden, mehr nachzudenken. Er verlangte sogarPapier und Stift, um in dem Käfig zu schreiben.

Frau Judson saß jeden Tag eine kleine Weile bei ihmund beruhigte die wimmernde Maria. Len-Lay sah,dass Herr Judson sehr oft seine Frau und sein Kindmit besorgten Augen anblickte; beide waren dünnund schwach. Die langen Monate als Besucher desGefängnisses, Krankheit und das schlechte Essenzehrten an ihnen.

Eines Tages spielte Len-Lay gerade mit dem Baby, alssie ihre Pflegeeltern in dem Tigerkäfig sprechenhörte. »Ich war wohl leider weder ein sehr guter Ehe-mann für dich noch ein guter Vater für unsere Kin-der«, sagte Herr Judson hilflos zu seiner Frau.

»Schschtt«, erwiderte Frau Judson. »Ist das etwadeine Schuld? Du hast so viel leiden müssen.«

Herr Judson nickte. »Ich weiß. Aber ich wollte auchaufgeben; ich hatte nicht die Geduld, die Prüfung zubestehen, die der Herr von mir verlangt hat.« Er hobseine Hand, bevor seine Frau ihn unterbrechenkonnte. »Ich habe dir nie gesagt, dass ich versuchtwar, mich in den Fluss zu stürzen und alles zu been-den – an dem Tag, an dem wir aus dem Todesgefäng-nis nach Oung-Pen-La geführt wurden.«

Es war einige Augenblicke still in dem Tigerkäfig.Dann sprach Herr Judson erneut.

»Ich habe mich bitter bei Gott beklagt, dass ich dasKissen mit dem Buch verloren habe –«

Len-Lay spitzte die Ohren. Ein Buch? Welches Buch?

»– und mein Glaube schwankte. Weiß Gott denn allesund kümmert es ihn, dass wir hier wie angekettete

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Hunde sitzen? Hat er uns etwa vollkommen verlas-sen? Wir sind als Missionare nach Birma gekommen.Aber was haben wir denn in den vergangenen sech-zehn Monaten erreicht? Nichts!«

»Oh Adoniram!«

»Aber ich habe nachgedacht«, fuhr der Missionarfort. »Jesus hat gesagt, dass ein Weizenkorn in dieErde fallen und sterben muss, bevor es Frucht brin-gen kann.«

»Aber du hast doch Frucht gebracht!«, stieß Frau Jud-son hervor. »Schau auf Maung Ing, Maung Schway-Bay und die anderen birmanischen Christen! Wir –wir wissen zwar nicht, was aus der kleinen Gemein-de in Rangun geworden ist, aber sicherlich habeneinige den Krieg überlebt. Jeder von ihnen ist einSame, der in Birma gepflanzt wurde.«

Herr Judson nickte. »Du hast recht. Das habe ich auchgedacht. Es ist nur … ich wusste nicht, wie schwer esist, dieses Weizenkorn zu sein und zu sterben.«

***Henry Gouger hatte recht. Die Engländer nähertensich langsam Ava, und die Birmanen erkannten, dasssie irgendwann einmal Frieden schließen mussten.Aber niemand am birmanischen Königshof konnteEnglisch sprechen und niemand im englischen Lagerkonnte Birmanisch. Plötzlich erinnerte man sich wie-der an die Gefangenen, die in Oung-Pen-La dahinve-getierten. Sie konnten doch Englisch und Birmanisch!

Im August tauchte eine Gruppe aufgeregter Beamterbeim Gefängnis auf und verfrachtete alle Gefange-

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nen nach Amarapura. Als sie in der Nacht zum Ge-fängnis zurückkehrten, erzählte Herr Judson Annund den Mädchen, dass jeder von ihnen in einen se-paraten Raum geführt und dann gebeten wurde,einige englische Dokumente nacheinander zu über-setzen. Die Ergebnisse wurden dann verglichen, umzu sehen, ob man den englischsprachigen Gefange-nen vertrauen konnte.Zwei Monate vergingen, während die Gerüchte inOung-Pen-La laut wurden, dass ein Friedensvertragangeboten, aber leider abgelehnt worden war. Dann,am 4. November 1825, stieg ein berittener Soldat vordem Gefängnistor ab. Unter dem Arm hatte er dieSpitze des Stoßzahnes eines Elefanten, die mit blutro-ten Quasten geschmückt war – das war der persönli-che Nachrichtenbehälter des Königs –, aus dem er einPalmblatt zog.Es war der Befehl für Adoniram Judsons Entlassung.Er sollte sich sofort zum König begeben. Er brauchteeinen Dolmetscher, um die Friedensbedingungenauszuhandeln.Len-Lay und Mah-Lo, die mit Ann Judson und Koo-Chill angerannt kamen, konnten kaum ihren Ohrentrauen. Sie konnten heim nach Ava gehen!Herr Rodgers sprach: »Und was wird aus mir? Ichhabe dem König vierzig Jahre lang treu gedient! Ichkann sein Dolmetscher sein.«Der Soldat runzelte die Stirn. »Du bist ein Engländer,Alter!«, rief er. »Der König braucht einen Dolmet-scher, der weder Engländer noch Birmane ist. Er willkeinen anderen als den Amerikaner. Also, Aufseher,mach die Ketten los!«

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Vom Müllhaufen gerettet

Es gab einen ergreifenden Abschied am nächstenMorgen. Einerseits wollte Herr Judson seine

Frau und seine Kinder so schnell wie möglich zurücknach Ava bringen, wo sie endlich ein Dach über demKopf und genügend zu essen hatten. Andererseitsfiel es ihm schwer, seine Mitgefangenen zurückzu-lassen, die immer noch Ketten trugen.

Herr Rodgers schluckte seinen Stolz herunter undsagte: »Sie sind ein anständiger Mann, Judson. Sielegen doch beim König ein gutes Wort für mich ein,oder?«

Len-Lay, die in dem gemieteten Wagen zwischenihren Koffern und Schlafmatten saß, fragte sich, obHerr Rodgers sich an den Tag erinnerte, als er sichgeweigert hatte, sich für die Judsons beim König ein-zusetzen.

»Aber natürlich!«, antwortete Herr Judson. »Ichwerde dafür sorgen, dass die Freilassung aller aus-ländischen Gefangenen in einem Friedensvertragmitenthalten ist.«

»Wir werden deine Frau wahrscheinlich noch mehrvermissen als dich!«, versuchteDr. Price zu scherzen. »FrauJudson, Sie waren ein Engel,den uns Gott geschickt hat, einBecher kühlen Wassers fürunsere ausgetrockneten Seelen…« Seine Stimme zitterte, und

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der Doktor wandte sich abrupt ab, ohne verbergenzu können, dass er weinte.

»Mach dir keine Sorgen um uns«, meinte Henry Gou-ger munter. »Aber du sollst wissen, Adoniram, dassdu es warst, der uns die Kraft gegeben hat, dieseschrecklichen langen Monate im Gefängnis zu ertra-gen.«

»Oh, Henry. Wenn du nur wüsstest, wie oft meinGlaube gewankt hat –«

»So! Du bist also ganz menschlich! Dein Glaube magvielleicht gewankt haben, aber er ist nicht gestorben.Und …« Hier begann Henry Gougers Stimme zu zit-tern, »… solange du ausgehalten hast, so lange konn-ten wir auch aushalten.«

Die Soldaten wurden langsam ungeduldig. Sie woll-ten weg. Mit einem Geldgeschenk überredete FrauJudson die Frau des Aufsehers, das Essen für die an-deren Gefangenen zu kochen. Das sollte mit dem,was Gougers Dienstbote einmal pro Woche von Avamitbrachte, reichen, bis die Gefangenen entlassenwurden.

»Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen!«, riefen dieMädchen, als der Ochsenkarren die ausgefahreneStraße entlangrumpelte. Koo-Chill und Herr Judsongingen neben dem Karren her, während der Soldatdie Nachhut bildete. Dann machte sich die kleineGruppe auf den Weg nach Amarapura, nach Ava –und dann nach Hause.

***In Amarapura trennte der Soldat Herrn Judson vonseiner Familie und brachte ihn zum Gerichtsge-

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bäude, dann nach Ava und direkt zum Palast desKönigs. Koo-Chill suchte wieder ein Boot, um denRest der Familie auf dem Irrawaddy-Fluss nach Avabringen zu können.

Sind erst sechs Monate vergangen, seit wir Ava verlas-sen haben, um die Gefangenen zu suchen?, dachteLen-Lay, als der Bootsmann das Segel setzte. Es schienLen-Lay, als seien bereits zwei Jahre vergangen.

Die Sonne hatte sich hinter den Bäumen im Westenversteckt, aber es war noch hell, als Frau Judson, dieMädchen und Koo-Chill das Boot entluden und ansUfer kletterten. Len-Lay und Mah-Lo rannten schonvoraus. Da war der Hofzaun … der Gemüsegartenund die Akazie … und Herr Verzeihung in seinemvom Verandadach herabhängenden Weidenkäfig.

»Maung Ing! Mah-Noo!«, riefen sie. »Wir sind nachHause gekommen! Wir sind hier!«

»Hallo! Hallo!«, krächzte Herr Verzeihung.

Maung Ing riss die Tür auf; sein Mund stand weitoffen und er machte große Augen. »Waaas? Oh, demHerrn im Himmel sei Dank! Ihr seid zurückgekom-men!«

Der Birmane eilte die Treppen hinunter, während ersich grinsend verbeugte, ihnen die Taschen abnahmund sich wieder verbeugte. Mah-Noo erschien an derTür und lächelte glücklich. Len-Lay sprang auf dieVeranda und ließ die blinde Frau »sehen«, dass siewirklich zu Hause waren, indem sie sie berührte. Indem Augenblick merkte das Mädchen, dass irgendje-mand hinter Mah-Noo stand. Es war Myat Rodgers.

»Myat! Ich bin so froh, dass es dir gut geht!«

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Aber schon drängten sich Frau Judson mit dem Babyund Mah-Lo auf die Veranda, gefolgt von Maung Ingund Koo-Chill, die die Koffer und Taschen trugen.Im Haus stellten alle gleichzeitig Fragen, bis Mah-Noo plötzlich in die Hände klatschte.

»Setzt euch! Setzt euch!«, befahl sie. »Wir wollen Teetrinken. Dann können wir reden.«

Len-Lay wollte Myat fragen, was er im Missionshausmachte. Aber Koo-Chill gab ihr die Aufgabe, Mah-Noo dabei zu helfen, den Tisch mit Tee, Obst und kal-tem Reis mit geräuchertem Fisch zu decken. Koo-Chill bestand darauf, dass Frau Judson etwas aß,bevor sie zu erzählen versuchte.

Endlich konnten sie die ganze Geschichte erzählen –von dem Gefängnis in Oung-Pen-La, den Pockenund dem hungrigen Tiger im Käfig, und schließlichvon dem Befehl des Königs, Herrn Judson freizulas-sen, um Dolmetscher für die Engländer und Birma-nen zu sein.

»Was ist mit meinem Vater?«

Es war das erste Mal seit ihrer Ankunft, dass Myatgesprochen hatte. Alle Augen schauten auf ihn. Erwar jetzt fünfzehn Jahre und gewachsen. Len-Laydachte, dass er irgendwie anders war.

»Dein Vater lebt und … ihm geht es gut«, erwiderteFrau Judson vorsichtig. Obwohl die Bedingungen inOung-Pen-La besser waren als im Todesgefängnis,waren alle Gefangenen dünn und bei schlechterGesundheit. »Ich bin sicher, er wird bald freigelas-sen. Er wird sehr froh sein, wenn er erfährt, dass esdir gut geht.«

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Maung Ing grinste von einem Ohr zum anderen undlegte seine Hand auf Myats Schulter. »Wir habeneuch auch etwas zu erzählen! Myat, sag ihnen, wasan dem Tag passierte, als die Gefangenen ver-schwunden waren und wir uns alle in der Stadtgetrennt hatten, um herauszufinden, was mit ihnengeschehen war!«

Myat sah verlegen aus. Aber auf Maung Ings Drän-gen hin begann er seine Geschichte.

»Ich ging zum Fluss, um zu sehen, ob mein Vater unddie anderen Gefangenen vielleicht mit dem Boot weg-gebracht worden waren. Aber niemand hatte sie gese-hen. Anstatt zurück zum Missionshaus zu gehen undzu erfahren, ob ihr anderen irgendetwas herausgefun-den habt, bin ich zum Todesgefängnis marschiert –der Ort, an dem ich meinen Vater zum letzten Mal ge-sehen hatte. Vielleicht hatte er ja irgendetwas zurück-gelassen, irgendetwas, was mich an ihn erinnerte.«

Len-Lay lächelte Myat aufmunternd zu.

»Ich klopfte an das Tor, aber die Gefleckten Gesichterwollten mich nicht hereinlassen. Also schlich ich umdas Gefängnis von außen herum, weil ich nicht wuss-te, was ich nun tun sollte. Hinter dem Gefängnis warein riesiger Abfallhaufen. Ich war so schmerzerfüllt,dass ich anfing, den Müll zu durchwühlen, um etwaszu finden – irgendetwas –, das meinem Vater ge-hörte. Aber ich fand nichts –«

Der Junge hielt inne. »Erzähl weiter! Auf!« drängteMaung Ing.

»Ich fand nichts – außer einem hässlichen alten Kis-

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sen. Ich erkannte, dass es das Kissen war, das Len-Lay für Herrn Judson ins Gefängnis gebracht hatte.«

Frau Judson rang nach Luft. »Schschtt!«, beruhigtesie ihr Baby, das zu wimmern anfing.

»Ich war so wütend, dass ich das Kissen zerriss«, fuhrMyat fort, »und da fand ich das Buch. Also, eigentlichsah es gar nicht wie ein Buch aus. Es waren einfachnur sehr viele Blätter, die beschrieben waren. Ichstopfte das Papier zurück in das Kissen und ranntedamit nach Hause. Ich dachte: ›Jetzt habe ich endlichden Beweis, dass Herr Judson ein Spion ist!‹«

Len-Lay riss die Augen auf. Hatte Myat tatsächlichetwas gefunden, das Herrn Judson zurück insGefängnis bringen würde? Sie blickte ängstlich FrauJudson an, aber ihre Pflegemutter war damit beschäf-tigt, das Baby zu stillen. Auf ihren Lippen lag ein lei-ses Lächeln.

»Die Schrift war birmanisch und so begann ich zulesen«, erzählte Myat weiter. »Aber es war eineGeschichte von einem Mann mit Namen Jesus … undso wusste ich jetzt, dass Herr Judson doch wirklichein Religionslehrer und kein Spion ist.«

»Eine Geschichte?«, stieß Mah-Lo hervor.

»Das war alles, was in dem Kissen war?«, wundertesich auch Len-Lay. »Eine Geschichte?«

Frau Judson lächelte. »Nicht bloß eine Geschichte,Mary und Abby, sondern das gesamte Neue Testa-ment – die Teile der christlichen Bibel, die uns vonGottes Sohn, Jesus, erzählen. Adoniram hatte Jahregebraucht, es ins Birmanische zu übersetzen. Er hates beendet, kurz bevor wir von Rangun nach Ava

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kamen. Ich habe es in dem Kissen versteckt, weil ichAngst hatte, der Magistrat würde es uns wegnehmenund vernichten. Aber als die Gefangenen aus demTodesgefängnis verschwunden waren …«, ihre Stim-me senkte sich zu einem Flüstern. »Wir haben ge-glaubt, es sei für immer verloren.«

»Nein, nein! Es wurde gefunden!«, lachte Maung Ing.»Aber erzähl nur weiter, Myat, weiter!«

Nun lächelte auch Myat. »Ich las weiter, weil ichüberhaupt nicht aufhören konnte. Dieser Jesus waranders als jeder, den ich vorher getroffen habe! Aberich hatte so viele Fragen –«

Eines Tages war er zum Missionshaus gekommenund fragte nach Maung Ing. »Ich habe so viele Fragenüber diesen Jesus«, hatte er erklärt.

Voller Freude darüber, dass das Kissen und seinwertvoller Inhalt gefunden worden waren, erklärteMaung Ing bereitwillig Myat alles, was dieser gele-sen hatte. Er lud Myat ein, bei ihm und Mah-Noo inder Mission zu bleiben und mit ihm zusammen dasWort Gottes zu studieren. Und Mah-Noo war hoch-erfreut, dass sie nun einen Jungen hatte, um den siesich kümmern konnte.

Nachdem er seine Geschichte beendet hatte, stelltesich Maung Ing hinter Myat und legte seine Händeauf die Schultern des Jungen. »Ihr seht hier einenneuen Nachfolger Christi«, meinte er stolz. »In HerrnJudsons Abwesenheit habe ich ihn auf die Taufe vor-bereitet und –«

»Und er hat mich in den Irrawaddy getaucht!«, lachteMyat.

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Alle lachten und klatschten.

»Mein Herz ist voller Freude!« Frau Judson umarmteMyat. »Myat, du bist jederzeit hier willkommen. Dukannst bei uns bleiben, bis dein Vater aus demGefängnis kommt. Aber jetzt ist es schon sehr spät.Wir müssen alle ins Bett. Vielleicht kommt Herr Jud-son morgen.«

***Müde von ihrer langen Reise schliefen die Mädchenauch lange. Aber schließlich wurden sie von lautemKrächzen auf der Veranda geweckt.

»Hallo! Hallo! Verzeihung! Wer kommt da? Krkrkr!«

Dann hörten sie, wie Frau Judson hervorstieß: »Es istAdoniram!«

Die Mädchen sprangen von ihren Schlafmatten aufund eilten in den Hauptraum des Bambushauses.

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Herr Judson hielt seine Frau und sein Baby in seinenArmen. Dann begrüßte er Mah-Noo und den strah-lenden Maung Ing.

Durch die Haustür konnte Len-Lay zwei Soldatensehen, die vor dem Tor warteten.

»Ich kann nicht bleiben«, sagte Herr Judson schnell.»Der König schickt mich – bewacht – flussabwärts,um den englischen General zu treffen und die Bedin-gungen für einen Friedensvertrag mitzubringen. Daskann bedeuten, dass ich mehrmals hin- und herrei-sen muss – vielleicht ein paar Wochen, vielleicht einpaar Monate.«

»Oh, Adoniram.« Das Lächeln verschwand aus AnnJudsons Gesicht.

»Aber sobald der Friedensvertrag erst einmal unter-zeichnet ist, hat der König versprochen, dass ich freibin – und die anderen Gefangenen auch.« Herr Jud-son sah müde aus, aber er lächelte den Mädchen zu.»Also – ich habe nur ein paar Minuten Zeit, um einpaar Sachen mitzunehmen. Könnt ihr eine Schlaf-matte und eine Decke entbehren?«

»Wie wäre es mit einem Kissen?«, mischte sich Myatein. Er legte das hässliche braune Kissen in HerrnJudsons Arme.

Niemand bewegte sich oder sagte ein Wort. Herr Jud-son starrte das Kissen voll Erstaunen an. Dann nahmer das Kissen an seine Brust und fiel auf die Knie. »OhGott, mein Vater!«, flüsterte er mit rauer Stimme. »Duhast mich nicht verlassen. Du hast dieses Werk be-wacht, damit Birma dein Wort in seiner Sprache hat.Herr, ich glaube! Hilf meinem Unglauben.«

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Man hörte die Soldaten von dem Tor aus rufen:»Beeilen Sie sich, Herr Joodthan! Wir müssen dasBoot erreichen!«

»Beeilen Sie sich! Beeilen Sie sich!«, krächzte HerrVerzeihung.

Es gab einen schnellen Abschied. Das harte Kissenaus dem Gefängnis wurde durch ein weiches ersetzt,dazu kamen eine Decke und eine Schlafmatte. Unddann ging Herr Judson in Richtung Fluss, währendalle ihm von der Veranda aus zuwinkten.

Als alle zurück ins Haus gingen, räusperte sich Koo-Chill laut. »Hrhrmmmm!«

Alle schauten den bengalischen Koch an und warenstill. Er hatte das Gefängniskissen in der Hand.

»Mit Ihrer Erlaubnis, Frau Joodthan«, sagte er miteiner respektvollen Verbeugung, »würde ich – ähm –auch gerne die Blätter in dem Kissen lesen. Ich magGeschichten und hier drin müssen wirklich guteGeschichten sein. Steht in dem Buch auch die Ge-schichte von Daniel und den Löwen?«

Frau Judson lachte: »Nein, diese Geschichte ist imAlten Testament, das bis jetzt noch nicht übersetzt ist.Aber ich freue mich sehr, wenn du die Geschichtenvon Jesus liest, Koo-Chill. Wenn wir nach Rangunkommen, können wir zu einem Missionar gehen, deruns Bücher druckt, damit viele Leute in Birma GottesWort lesen können.«

Len-Lay und Mah-Lo blickten einander an. Frau Jud-son hatte gerade gesagt: »Wenn wir nach Rangunkommen.« Das hieß, dass sie bald ihren Vater wie-dersehen würden, Maung Schway-Bay! Da erinnerte

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sich Len-Lay wieder an die Worte, die ihr Vater beimAbschied gesagt hatte: »Lehrt sie lesen, damit sie dieWorte Jesu auf dem Papier, das Ihr geschrieben habt,lesen können.«

»Mama Ann«, sagte Len-Lay, »können wir mit derSchule weitermachen, während wir auf Papa Donwarten? Ich möchte auch gern die Bibel lesen.«

Mah-Lo nickte eifrig.

»Pass auf«, meinte Myat grinsend zu Koo-Chill.»Wenn du dieses Buch liest, könnte es dein Lebenverändern.«

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Einiges über Ann und Adoniram Judson

Adoniram Judson wurde am 9. August 1788 in Brad-ford, Massachusetts, als Sohn eines Pastors geboren.Im Alter von sechzehn Jahren begann er sein Stu-dium an der Brown Universität, das er in nur dreiJahren beendete. Mit Zweifeln am Glauben wollteder junge Mann »die Welt kennen lernen«, aber nachdem Tod eines Freundes war er so betroffen, dass ernach Hause zurückkehrte und im Alter von zwanzigJahren das Bibelseminar in Andover besuchte, wo ersein Leben Gott ernstlich weihte.

Der junge Judson war fest entschlossen, der ersteamerikanische Missionar im Ausland zu sein – einRuf, den auch seine junge Liebe Ann Hasseltine hatte,die nur ein Jahr jünger war als er. Im Februar 1812heirateten Ann und Adoniram Judson; zwei Wochenspäter segelten die Frischverheirateten in Begleitungeines anderen jungen Ehepaares nach Indien.

Aber die Britische Ostindienkompanie war den jun-gen Missionaren gegenüber feindlich eingestellt unddrohte sie auszusetzen. Unsicher darüber, wo sie ihreMissionsarbeit beginnen sollten, erreichten die Jud-sons nach anderthalb Jahren seit der Abreise vonAmerika schließlich Rangun in Birma.

Im Gegensatz zu Indien, das aufgrund der Ostindien-kompanie einen großen Anteil europäischer Bevöl-kerung hatte, lebte nur eine Hand voll Weißer inBirma. Obwohl die Mehrheit der Birmanen unter einer

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grausamen und unberechenbaren Monarchie in Ar-mut lebte, gab es kein Kastensystem (das in Indien dieMenschen nach Rasse und Status streng in Klasseneinteilte). Die Sprache war schwierig und die Judsonswendeten täglich zwölf Stunden für das Sprachstu-dium auf. Ein noch größeres Hindernis bei der Ver-breitung der Guten Nachricht war der Buddhismus,der keine Vorstellung (und daher auch keine Worte)von einem ewigen Gott oder einem ewigen Leben mitGott für die Menschen enthielt. Im Laufe von zehnJahren jedoch bildeten achtzehn bekehrte Birmanenden Kern der ersten christlichen Gemeinde in Birma.

Das »Tropenfieber« war der größte Feind der Jud-sons, der schließlich auch das Leben ihres BabysRoger forderte, es starb 1815 im Alter von siebenMonaten (das erste Kind war an Bord des Schiffes totgeboren worden). Oft fesselte das Fieber monatelangauch Ann und Adoniram ans Bett. Dennoch arbeiteteAdoniram Tag für Tag daran, das griechische NeueTestament ins Birmanische zu übersetzen. Im Juli1823 beendete er es schließlich, kurz bevor Ann voneinem zweijährigen Aufenthalt aus gesundheitlichenGründen in Amerika zurückkehrte.

In der Zwischenzeit waren mehrere andere Missio-narsehepaare zu der Mission in Rangun gekommen,darunter auch George Hough, ein Drucker, der Ado-nirams Übersetzung druckte, und Dr. Jonathan Price,ein Arzt, den man bald in die Königsstadt Ava holte,wo er den König höchstpersönlich betreuen sollte.

Während andere Missionare die kleine birmanischeGemeinde in Rangun betreuten, gingen Adoniramund Ann mit zwei birmanischen Pflegekindern nach

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Ava in den Norden, um auch dort eine Mission zu er-richten. Aber als 1824 der britisch-birmanische Kriegausbrach, gerieten alle Ausländer in Verdacht, briti-sche Spione zu sein, und wurden ins Todesgefängnisgeworfen. Acht Monate nach der Verhaftung Adoni-rams schenkte Ann einem Mädchen, Maria, das Leben.

Nach anderthalb Jahren Gefängnis wurde Adoni-ram, ein »neutraler Amerikaner«, schließlich entlas-sen, um den Frieden mit den Briten auszuhandeln.Aber die Jahre der Not, der Krankheit und desKampfes hatten Ann gezeichnet, so dass sie 1826 imAlter von sechsunddreißig Jahren in AbwesenheitAdonirams starb. Die zwei Jahre alte Maria starbwenige Monate später.

Adoniram versuchte, seinen Kummer zu ertränken,indem er sich ganz in der Missionsarbeit vergrub.Dann verbrachte er zwei Jahre als Einsiedler imDschungel. Als er schließlich aus der Depressionherausfand, heiratete er Sarah Boardman, eine jungeMissionarswitwe, die ihm acht Kinder schenkte (vondenen aber nur fünf das Erwachsenenalter erreich-ten). Sie starb nach elf Jahren Ehe. Auf dem Heimat-urlaub in Amerika heiratete Judson 1846 die jungeEmily Chubbock und sie gingen nach Birma, wo siesich als Mutter um Adonirams Kinder und ihreeigene kleine Tochter kümmerte.

Aber Adonirams Gesundheit war gebrochen und erstarb 1850 im Alter von einundsechzig Jahren. Er hin-terließ eine vollständige Übersetzung der Bibel auf Bir-manisch. Außerdem war er für andere junge Amerika-ner eine Quelle der Ermutigung, die ihr Leben eben-falls für die Mission in fremden Ländern einsetzten.

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