AdP - 2012 Gemeinschaftsschule - Timm Kern

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„Es muss immer die Gemeinschaftsschule sein!“ G. Warminski-Leitheußer, Kultusministerin, 18.04.2012 Am 18. April 2012 hat der Landtag mit der Mehrheit von Grünen und SPD die Einführung der Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg beschlossen. Die FDP/DVP-Landtagsfraktion hat geschlossen gegen den entsprechenden Gesetzentwurf der Landesregierung gestimmt. Dabei waren die wesentlichen Gründe für die Entscheidung der Fraktion die folgenden: 1. Die Einführung der Gemeinschaftsschule erfolgt ohne jede fundierte pädagogische Vorarbeit oder Vorbereitung, Leidtragende der weitreichenden Umstellung der Pädagogik dürften damit die schwächeren Schüler sein. Ein Berichtsantrag der FDP/DVP-Fraktion (Landtags-Drucksache 15/1431) ergab, dass für die 40 zum Schuljahr 2012/13 an den Start gehenden Gemein- schaftsschulen kein Bildungsplan vorliegt und keine Lehrerfortbildungen angeboten werden. Bis zur vorgesehenen Fertigstellung des Bildungsplans im Juli 2015 sollen die Gemeinschaftsschulen hilfsweise anhand des Realschul-Bildungsplans unterrichten, die Lehrerfortbildung soll dann ab Herbst 2014 beginnen. Gleichzeitig soll an den Gemein- schaftsschulen nicht mehr in Klassen, sondern in heterogenen Lerngruppen aus Schülern mit allen Leistungsniveaus unterrichtet werden. Noten und Wiederholen sind abgeschafft, und in den stark individualisierten Lernformen soll der Lehrer nur noch als Lernbegleiter beim Erfüllen des individuellen Arbeitsplans durch Dr. Timm Kern, MdL Bildungspolitischer Sprecher den Schüler fungieren. Angesichts der man- gelnden Vorbereitung der Lehrkräfte auf diese weitreichende Umstellung der Pädagogik und angesichts deren sehr einseitiger Ausrichtung auf stark individualisierte Lernformen drohen gerade die schwächeren Schüler, die Anleitung und Orientierung benötigen, nicht ausreichend gefördert oder gar vernachlässigt zu werden. 2. Die Gemeinschaftsschule wird einseitig und zu Lasten anderer Schularten privi- legiert. Als einzige weiterführende Schulart gilt für die Gemeinschaftsschule der Klassenteiler 28; einen Antrag der FDP/DVP-Fraktion auf Senkung des Klassenteilers für alle Schularten gemäß einem einstimmigen Beschluss des Landtags vom Frühjahr 2011 lehnte die grün- rote Landtagsmehrheit ab (Drs. 15/1204-3). Die Gemeinschaftsschulen erhalten ferner nicht nur ein Starterpaket mit zusätzlichen

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„Es muss immer die Gemeinschaftsschule sein!“ G. Warminski-Leitheußer, Kultusministerin, 18.04.20 12

Am 18. April 2012 hat der Landtag mit der Mehrheit von Grünen und SPD die Einführung der Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg beschlossen. Die FDP/DVP-Landtagsfraktion hat geschlossen gegen den entsprechenden Gesetzentwurf der Landesregierung gestimmt. Dabei waren die wesentlichen Gründe für die Entscheidung der Fraktion die folgenden:

1. Die Einführung der Gemeinschaftsschule erfolgt ohne jede fundierte pädagogische Vorarbeit oder Vorbereitung, Leidtragende der weitreichenden Umstellung der Pädagogik dürften damit die schwächeren Schüler sein. Ein Berichtsantrag der FDP/DVP-Fraktion (Landtags-Drucksache 15/1431) ergab, dass für die 40 zum Schuljahr 2012/13 an den Start gehenden Gemein-schaftsschulen kein Bildungsplan vorliegt und keine Lehrerfortbildungen angeboten werden. Bis zur vorgesehenen Fertigstellung des Bildungsplans im Juli 2015 sollen die Gemeinschaftsschulen hilfsweise anhand des Realschul-Bildungsplans unterrichten, die Lehrerfortbildung soll dann ab Herbst 2014 beginnen. Gleichzeitig soll an den Gemein-schaftsschulen nicht mehr in Klassen, sondern in heterogenen Lerngruppen aus Schülern mit allen Leistungsniveaus unterrichtet werden. Noten und Wiederholen sind abgeschafft, und in den stark individualisierten Lernformen soll der Lehrer nur noch als Lernbegleiter beim Erfüllen des individuellen Arbeitsplans durch

Dr. Timm Kern, MdL Bildungspolitischer Sprecher

den Schüler fungieren. Angesichts der man-gelnden Vorbereitung der Lehrkräfte auf diese weitreichende Umstellung der Pädagogik und angesichts deren sehr einseitiger Ausrichtung auf stark individualisierte Lernformen drohen gerade die schwächeren Schüler, die Anleitung und Orientierung benötigen, nicht ausreichend gefördert oder gar vernachlässigt zu werden.

2. Die Gemeinschaftsschule wird einseitig und zu Lasten anderer Schularten privi-legiert. Als einzige weiterführende Schulart gilt für die Gemeinschaftsschule der Klassenteiler 28; einen Antrag der FDP/DVP-Fraktion auf Senkung des Klassenteilers für alle Schularten gemäß einem einstimmigen Beschluss des Landtags vom Frühjahr 2011 lehnte die grün-rote Landtagsmehrheit ab (Drs. 15/1204-3). Die Gemeinschaftsschulen erhalten ferner nicht nur ein Starterpaket mit zusätzlichen

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Lehrerwochenstunden, sondern auch dauer-haft zusätzliche Lehrerwochenstunden für besondere pädagogische Aufgaben. Hinzu kommen Lehrerwochenstunden für den gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderungen (Inklusion) – andere Schularten erhalten für ihren inklusiven Unterricht keine zusätzliche Förderung. Und schließlich sind die Gemeinschaftsschulen verpflichtend gebundene Ganztagesschulen, so dass sie nicht nur Vorrang beim Ganztagesausbau besitzen, sondern in den Genuss weiterer zusätzlicher Lehrerwochen-stunden kommen. Die FDP/DVP-Fraktion ist der Auffassung, dass alle Schulen bzw. Schularten besondere pädagogische Aufgaben haben und hierfür alle bestmöglich ausgestattet werden müssen. Eine Privile-gierung der „Lieblingskinder“ lehnen wir ab. Es ist jedoch zu befürchten, dass Grün-Rot durch den demographischen Wandel rechnerisch frei werdende Lehrerstellen nicht für wichtige Vorhaben im Bildungsbereich einsetzt, wie beispielsweise die Sprachförderung und den Orientierungsplan im Kindergarten, den Aus-bau der Ganztagesschulangebote oder den Ausbau der beruflichen Gymnasien, sondern für die Privilegierung der Gemeinschafts-schulen reserviert. Ein Hinweis hierauf sind die laut Finanzminister Schmid im Jahr 2012 frei werdenden 3300 Lehrerstellen, von denen weniger als ein Drittel gemäß Haushaltsplan zusätzlich im Bildungsbereich investiert werden; vom Rest fehlt jede Spur.

3. Die Kommunen werden hinsichtlich der sich für die Schulträger ergebenden finanziellen Folgen der Einführung einer Gemeinschaftsschule vollständig im Unklaren gelassen. Obwohl ausdrücklich keine Gegner der Gemeinschaftsschule, haben der Städtetag und der Gemeindetag in ihren Stellungnahmen zum Gesetzentwurf ein ver-nichtendes Gesamturteil über die Gemein-schaftsschule gefällt (vgl. Gesetzentwurf mit Stellungnahmen, Drs. 15/1466). Beklagt haben die kommunalen Landesverbände unter anderem, dass weder der Gesetzentwurf Aussagen über entstehende Mehrkosten ent-hält, noch Gespräche oder gar Vereinbarungen mit den Vertretern der Kommunen statt-gefunden haben. Mehrkosten können bei-spielsweise durch zusätzlichen Schulraum-bedarf und eine spezielle Infrastruktur für die Gemeinschaftsschul-Pädagogik entstehen, aber auch durch höhere Schüler-beförderungskosten.

4. Um die Gemeinschaftsschule zu verankern, nutzt Grün-Rot die Not der Kommunen aus, die angesichts zurück-gehender Schülerzahlen um den Erhalt ihres Schulstandorts kämpfen. Unter den zum Schuljahr 2012/13 startenden Gemein-schaftsschulen finden sich fast ausschließlich bisherige Haupt- und Werkrealschulen, die Mehrzahl von ihnen ist einzügig oder ein- bis zweizügig , das heißt verhältnismäßig klein. Es ist kein Gymnasium dabei und, bis auf eine

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Ausnahme, keine Realschule. Und diese einzige Realschule, die Geschwister-Scholl-Schule Tübingen, ist insofern ihrerseits eine Ausnahme, als hier eine bereits zu Zeiten der CDU/FDP-Landesregierung begonnene er-weiterte Kooperation von Realschule und Hauptschule praktiziert wird. Ein Riedlinger Gemeinderat brachte es in einer Debatte über die Einführung der Gemeinschaftsschule auf den Punkt: Man müsse wohl aus politischen Gründen zuschlagen, nicht aber aus päda-gogischen (Alb-Bote Münsingen vom 27.10.2011).

5. Die Gemeinschaftsschule kann nur als pädagogisch-schulorganisatorisches Gesamtpaket übernommen werden. Weder innerhalb dieses Pakets noch darüber hinaus erhalten die fürs Schulleben vor Ort Verantwortlichen mehr Gestaltungsfreiheit. Im Gegenteil schließt der Gesetzentwurf eine Kooperation einer Gemeinschaftsschule mit einer bestehenden Schulart sogar explizit aus. Auch Kooperationen von anderen Schularten genehmigt das Kultusministerium nur, wenn hier die Absicht vorhanden ist, mittelfristig Gemeinschaftsschule zu werden. So lehnte das Ministerium eine von der Gemeinde Weil im Schönbuch beantragten Schulversuch ab, der längeres gemeinsames Lernen in den Klassen 5 und 6 auf der Basis des Realschullehrplans sowie anschließend die Bildung von Klassen nach Leistungsniveaus bzw. angestrebtem Haupt-, Werkreal- und

Realschulabschluss vorsah. Im Ablehnungs-schreiben legte die Kultusministerin jedoch die Einrichtung einer Gemeinschaftsschule nahe: „Ich würde mich sehr freuen, wenn sich Schulträger und Schule der Gemeinde Weil im Schönbuch dem Gedanken an eine Gemein-schaftsschule nähern könnten.“ Dass eine Schulentwicklung „von unten“ kaum mehr als ein Lippenbekenntnis der Koalitionspartner von Grün-Rot ist, belegt auch die Ablehnung eines Entschließungsantrags der FDP/DVP-Fraktion durch die Landtagsmehrheit. Der Antrag zielte darauf ab, die Landesregierung zu ersuchen, alle Anträge der Schulträger auf Kooperation von unterschiedlichen Schularten grundsätzlich zu genehmigen – unabhängig davon, ob eine Gemeinschaftsschule oder eine nach Leistungsniveaus bzw. nach Bildungsgängen differenzierende Schulorganisation oder Päda-gogik angestrebt wird (Drs. 15/1572).

6. Mit der Einführung Gemeinschaftsschule verfolgt die grün-rote Koalition das Ziel, das vielfältige und differenzierte Schulwesen abzuschaffen. Ministerpräsident Kretschmann stellte den Gesetzentwurf der Öffentlichkeit mit den Worten vor, die Gemeinschaftsschule sei „der erste Schritt weg vom dreigliedrigen Schulsystem.“ Grün-Rot hat zwar die Gemeinschaftsschule als zusätzliche Schulart ins Schulgesetz aufgenommen und beteuert stets, es werde dadurch lediglich die schulische Angebotspalette erweitert. Doch die Zielsetzung der Koalitionspartner ist die

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Zerschlagung des vielfältigen und differenzierten baden-württembergischen Schulwesens. Die oben beschriebene Politik der einseitigen Privilegierung und dirigistischen Bevormundung lässt keinen anderen Schluss zu. In dieselbe Richtung deuten die Maßnahmen der Landesregierung, die andere Schularten ausbremsen oder gar demontieren. Die neue Werkrealschule als Weiter-entwicklung der Hauptschule wurde durch die Abschaffung der geplanten Kooperation mit den Berufsfachschulen ihres besonderen berufspraktischen Profils beraubt, und vor allem die Realschule sowie das Gymnasium wurden durch die ideologisch motivierte überstürzte Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung vor nicht zu unter-schätzende Schwierigkeiten gestellt. Die beruflichen Schulen, die mit ihrer Angebots-vielfalt die zentrale Institution des Bildungsaufstiegs darstellen und mehr als die Hälfte der Hochschulzugangsberechtigungen vermitteln, werden kaum gefördert beziehungs-weise gezielt vernachlässigt. Der von allen Landtagsfraktionen in der vergangenen Legis-laturperiode geforderte Ausbau der beruflichen Gymnasien kommt nur schwach voran und muss gegenüber den grün-roten Prestige-projekten „Gemeinschaftsschule“ und „Teilrückkehr zu G9“ zurückstehen. Zudem werden gerade mit diesen beiden Prestige-projekten Schulangebote geschaffen, die sich angesichts sinkender Schülerzahlen mit den beruflichen Gymnasien einen kaum ziel-

führenden Verdrängungswettbewerb zu liefern drohen.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die mit der Einführung der Gemein-schaftsschule verbundene Bildungspolitik der grün-roten Landesregierung nach Einschätzung der FDP/DVP-Landtags-fraktion ideologisch motiviert und mitnichten an Leistungsförderung, Stär-kung der Eigenverantwortung vor Ort und Streben nach Qualität der Bildungs-angebote ausgerichtet ist. Im Interesse von besseren Bildungschancen für junge Menschen in unserem Land lehnt die FDP/DVP-Fraktion deshalb diese ideologie-geleitete und eben nicht den Bedürfnissen des Einzelnen gerecht werdende Bildungs-politik von Grünen und SPD entschieden ab.

Dr. Timm Kern, MdL Bildungspolitischer Sprecher