agora42 1/2016 Ökonomie und Spiritualität

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AGORA 42 Das philosophische Wirtschaftsmagazin AUSGABE 01/2016 ÖKONOMIE & SPIRITUALITÄT Ausgabe 01/2016 | Deutschland 9,80 EUR Österreich 9,80 EUR | Schweiz 13,90 CHF

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Spiritualität, so, so ... Schaltet die agora42 jetzt den Schonwaschgang ein, um im Markt der Eso-Magazine zu wildern? Käufer erkuscheln statt um Erkenntnis kämpfen? – Ganz im Gegenteil ...

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Das philosophische Wirtschaftsmagazin

AUSGABE 01/2016

ÖKONOMIE & SPIRITUALITÄT

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T E R R A I N

THier werden Begriffe,

Theorien und Phänomene vorgestellt, die für unser gesellschaftliches

Selbstverständnis grundlegend sind.

— 08DIE AUTOREN

— 09Thomas MetzingerSpiritualität und intellektuelle Redlichkeit — 16Birger P. Priddat Gott, Welt, Seele – und Kapitalismus

— 20Bill MichaelsSpiritualität und Wissenschaft

— 25Georg MonjoieGeist und Natur. Ein Essay zur Zeit

— 31Nicholas WenzelDie Befreiung des Selbst. Philosophie als Lebensform

— 36PORTRAITTyler Durden – Oder: Der spirituelle Kampf(von Marcel Levermann)

— 44EXTRABLATT

— 3 EDITORIAL

— 4 INHALT

— 98IMPRESSUM

— 96MARKTPLATZDie Werkstattgespräche Berlin – Was ist ein gutes Enden?

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INHALT

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H O R I Z O N TI N T E R V I E W

HIAuf zu neuen Ufern! Wie lässt sich

eine andere gesellschaftliche Wirklichkeit denken, wie lassen sich konkrete

Veränderungen herbeiführen?

LAND IN SICHT

— 86KMU gegen TTIP –Für faire Spielregeln

— 88Great Ape Project –Über Menschenaffen und Unmenschen

— 90 Mein Grundeinkommen –Können statt müssen

— 92GEDANKENSPIELEvon Kai Jannek

— 60 Alix Faßmann Anselm Lenz Hier stehen wir, wir können auch anders

— 70 Harald WelzerÜber Wissen und Wünschen

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VERANTWORTUNGUNTERNEHMENAbenteuer Unternehmertum. Ein Gespräch mit Wolfgang Heck (Teil 1)

— 46Geist, Geld und GlaubeInterview mit Michael W. Driesch

agora 42 Inhalt

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Hier werden Begriffe, Theorien und Phänomene vorgestellt,

die für unser gesellschaftliches Selbstverständnis grundlegend sind.

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THier werden Begriffe, Theorien und Phänomene vorgestellt,

die für unser gesellschaftliches Selbstverständnis grundlegend sind.

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Thomas Metzinger ist Leiter des Arbeitsbereichs Theoretische Philosophie an der Universität Mainz und Direktor der Forschungsstelle Neuroethik am Philosophi-schen Seminar. In seiner Rolle als Adjunct Fellow ist er unter anderem auch Leiter der MIND-Group am Frankfurt Institute for Advanced Study. www.fias.uni-frankfurt.de/mindgroup/

— Seite 9

Birger P. Priddatist Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre und Philosophie an der Uni- versität Witten / Herdecke und Mitherausgeber der agora42.

— Seite 16

Georg Monjoieist Maler. Er studierte Germanistik und Philosophie, lebt und arbeitet in Stuttgart. www.georgmonjoie.com

— Seite 25

Nicholas Wenzel ist Geschäftsführer von InternsGoPro, einem Unter-nehmen, das sich für bessere Praktika in Europa einsetzt. Davor hat er an der Hum-boldt-Universität zu Berlin Subjektphilosophie gelehrt und einen Onlinekurs zu sozialen Innovationen für die EBS Universität für Wirt-schaft und Recht entwickelt.

— Seite 31

Bill Michaels ist promovierter Gesell- schaftswissenschaftler und erforscht Geschichte und Erkenntnisse der Parapsychologie.

— Seite 20

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DIE AUTOREN

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Kann es so etwas wie eine vollständig säkularisierte Spiritualität geben? Oder ist diese Idee kein kohärenter Gedanke – etwas, das man bei näherem Hinsehen überhaupt nicht widerspruchsfrei beschreiben kann? Dieses philosophische Problem ist so interes-sant und für viele heute so wichtig geworden, dass wir uns ihm ganz vorsichtig und in kleinen Schritten nähern sollten.

Text: Thomas Metzinger

Spiritualität und

intellektuelle Redlichkeit

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Mit der Aufklärung ist die Ökonomie von einer „beseelten“ zur seelenlosen geworden. Die in der alten, christlichen Welt vor-herrschende Spiritualität, also die Vorstellung einer geistigen Verbindung zu einer höheren, göttlichen Ordnung, löste sich auf. Die Hoffnung, im Himmel entschädigt zu werden für ein mehr oder weniger armseliges Leben, wurde eingetauscht für die Opti-on, im Leben selbst Erlösung zu erreichen: Unbegrenztes Wachs-tum und eine stetige Steigerung des Lebensstandards sollten das Paradies aus dem Himmel auf die Erde holen. Nun aber ist auch dieser Glaube verloren gegangen …

Text: Birger P. Priddat

Gott, Welt, Seele –

und KapitalismusT

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Wenn Adam Smith von der „unsichtbaren Hand“ spricht, welche die Märkte steuere, so

meinte er damit die Hand Gottes. Die Wirtschaftswissenschaftler sind sich zwar uneins, inwieweit das stimmen mag, vor-nehmlich aber deshalb, weil die Geburt des modernen Kapitalismus, dessen Urva-ter Adam Smith ist, aus der Religion vielen seltsam erscheint – denn der Kapitalismus sei doch eine rationale, effizienzorientierte Veranstaltung. Letztlich aber vergisst man bei einer solchen Betrachtungsweise, dass die natürliche Ordnung, die Smith für die sich ausgleichenden Märkte unterstellt, ein metaphysischer Rest einer theologi-schen Welt ist, in der Gott alles geschaffen und wohl geordnet hat. Jede Ordnung ist noch die Ordnung Gottes. Oder, teilauf-geklärt, die der Natur. Aber die Ordnung der Natur wiederum ist die Gottes (selbst noch bei Isaac Newton, mit dem Smith be-freundet war). Die Aufklärung arbeitet ein säkulari-siertes Weltbild heraus, in dem die Ge-schichte (wie die Naturgeschichte) selbst-ständig – ohne Ordnung und Leitung Gottes – operieren kann. Der Historiker Reinhart Koselleck redet von der Sattelzeit (um 1800), in der sich epochale Änderun-gen vollziehen. Die Welt wird seitdem als Prozess erklärt, der sich ins Unbestimmte, Offene hinein vollzieht. Sie ist nicht mehr durch einen Schöpfungsplan (oeconomia divina) vorherbestimmt (providentia), also unfertig beziehungsweise steigerbar. Es geht nicht mehr darum, darüber zu sinnen, was Gott vor-gesehen hat, sondern darü-ber, was Menschen aus der Welt machen. Wir reden dann vom Fortschritt. Adam Smith hat den Fortschritt öko-nomisch definiert: als Wachstum mit dem Ziel, den Lebensstandard zu erhöhen. Das armselige Leben aller soll materiell ver-bessert werden. Die neue Wirtschaft, die erst im 19. Jahrhundert Kapitalismus ge-nannt wird, zeichnet sich durch steigen-de Produktivität aus. Der „Reichtum der Nationen“ ist vermehrter Güterreichtum, erreicht durch freie Märkte und Arbeits-teilung. Smith war sich gewiss, dass das abendländische Tugendprogramm diese

Entwicklung nicht hätte vorantreiben kön-nen: „Wohlstand vs. Tugend“ lautete seine Formel in den Lectures on Jurisprudence. Um Reichtum zu erlangen, müssten wir (vermehrt) auf Tugenden verzichten. Doch ändert sich noch mehr: Die neue politische Ökonomie kapriziert sich auf das materielle Wohlergehen, die alte theo-logische Welt hingegen auf die Seele. Das Leben war eher darauf ausgerichtet, es gottgefällig auszuführen, damit die Seele in den Himmel komme – als höchstes Gut. Alle irdischen Reichtümer nützten dafür nichts: Es war eine „oikonomia psychon“ – eine Seelenökonomie. Bleiben wir für einen Moment bei die-sem Gedanken: Gott, der Herr, erscheint als Hausvater einer oeconomia divina, die Novalis noch die „universale Haushaltung Gottes“ nennen konnte. Hier sind alte abendländische Ressourcen im Einsatz: die Haushaltsführung (oikonomia), die dem Hausvater (pater familias, oikosdepo-tes) obliegt. Die Theologie hat – geprägt durch die Lehre des Apostels Paulus – die-ses Motiv für die Schöpfung übernommen: eine (uns heute fast unbekannte) Ökono-mie der Schöpfung, die bis vor die Auf-klärung galt. Sich in diese Ökonomie der Schöpfung einzufügen, war die Demuts-pflicht eines jeden Christenmenschen. Sie war gekoppelt an das Versprechen der Erlösung im Himmel (alternativ: der Ver-dammnis in der Hölle). Dass in der Tiefe des Christentums noch eine andere, nicht herrschaftsbetonte soma / psyche (Körper/Seele)-Transformation eingewoben ist (der sich in Gestalt Jesu selbst für die Menschen opfernde Gott – kein Herrscher, sondern ein Erbarmer), sei nur erinnert.

Kapitalismus als ErlösungDer Kapitalismus hat die Erlösungsfunk-tion übernommen, nun aber nicht für die Ökonomie der Seelen, sondern für die Ökonomie des materiellen Lebens. Der Seelenpart wurde aus der Ökonomie elimi-niert, nicht aber die Erlösungshoffung. Al-lerdings musste sich dafür die Zeitvorstel-lung grundsätzlich ändern. Der Tod wurde nicht mehr als ein Phasenübergang in den Himmel verstanden, der die Seelen ewig le-

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agora 42 Gott, Welt, Seele – und Kapitalismus

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Sokrates Verteidigungsrede vor dem Athener Gericht ist berühmt geworden. Er werde nimmer aufhören, zu philosophieren und jedem in seiner gewohnten Art folgendermaßen ins Gewissen zu reden: „Mein Bester, du bist Athener, ein Bürger der größten und durch Bildung und Macht berühmtesten Stadt, und du schämst dich nicht, dich darum zu kümmern, wie du zu möglichst viel Geld kommst, aber um die Vernunft und Wahrheit und darum, dass du eine möglichst gute Seele hast, kümmerst du dich nicht?“

Text: Nicholas Wenzel

Die Befreiung des Selbst

—Philosophie als Lebensform

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Als Sokrates starb, verurteilt zum Tod durch den Giftkelch, starb mit ihm der vielleicht berühmteste

Verfechter eines kompromisslosen Stre-bens nach Selbsterkenntnis. Zuvor hatte er zwei Möglichkeiten, sich dem Todesurteil zu entziehen, entschieden in den Wind ge-schlagen: das öffentliche Bekenntnis, nicht mehr zu philosophieren, und die von sei-nen Freunden angebotene Fluchtmöglich-keit aus dem Kerker. Sokrates verunsicherte, irritierte. Denn er stellte infrage, was selbstverständlich war. Er stellte nichts weniger als die Denk-, Wahrnehmungs- und Handelsweisen seiner Mitbürger auf den Prüfstand. Bin ich wirklich tugendhaft? Was ist Gerech-tigkeit? Und wer gibt mir überhaupt das Recht, mich um die Belange des Staates zu kümmern, wenn ich nicht einmal Herr meiner Selbst bin? Wer erst einmal mit So-krates ein Gespräch führte, war sich seiner selbst nicht mehr so sicher. Die Anklage fiel entsprechend aus: Sokrates verderbe die Jugend und erkenne die Götter nicht an. Seine Methode, bekannt als „sokrati-scher Dialog“, ist einfach: Sokrates fragt, um zu verstehen, und hakt nach, wenn er nicht überzeugt ist. Das geht so weit, dass er, wie Platon beschreibt, den Gesprächs-partner so weit hat, „dass er Rede stehen muss über sich selbst, auf welche Weise er jetzt lebt und auf welche Weise der das vo-rige Leben gelebt hat“.

Ethische VortrefflichkeitDas Verhalten des Sokrates steht sinnbild-lich für das Selbstverständnis weiter Berei-che der antiken griechisch-römischen Phi-losophie, insbesondere der platonischen, aristotelischen und stoischen Schulen. Sie will den Menschen innerlich formen und bilden. Der Stoiker Seneca (4 v. Chr. – 65 n. Chr.) schreibt dazu: „Sie leitet unser Leben und unsere Handlungen. Sie zeigt uns, was wir tun und lassen sollen. Sie al-lein garantiert uns ein Leben ohne Furcht.“ Nach Meinung dieser Philosophenschulen stellen die Leidenschaften, wie ausschwei-fende Begierden und übertriebene Ängste, für den Menschen die Hauptursache für Leid, Sorge und Unglück dar. Und die Phi-losophie – verstanden im wörtlichen Sinn, also als Liebe zur Weisheit  – habe den Zweck, den Menschen davon zu befreien.

Sie versteht sich als eine Therapie der Lei-denschaften und verbindet diese mit einer tiefgreifenden Umwandlung der Denk- und Verhaltensweise. Erst diese ermögliche es, einen Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit oder der Vollkommenheit zu erlangen. Erst so könne man, in anderen Worten, tugendhaft werden, eine schöne Seele entwickeln und einen Zustand der Glückseligkeit (altgr.: eudaimonia) errei-chen. Und genau das sei das Ziel philo-sophischer Tätigkeit. Wir philosophieren nicht, so Aristoteles (384 –322 v. Chr.), um zu erfahren, was ethische Werthaftigkeit sei, sondern um gute Menschen zu werden. Die hellenistischen und römischen Philo-sophenschulen stellen daher die Arbeit des Individuums an sich selbst in das Zentrum der philosophischen Tätigkeit.

Erkenne dich selbstDoch wie sieht die Arbeit an sich selbst aus? Was kann sie bewirken? Und wo setzt sie an? Eine Antwort liefern die Überle-gungen über den Begriff der Gewohnheit. Gewohnheit wird in der antiken Ethik im erweiterten Sinn verwendet, das heißt, un-ter unseren jeweiligen Gewohnheiten wird die Gesamtheit unserer Denk-, Wahrneh-mungs- und Handlungsmuster verstanden. Sie beeinflussen die Art und Weise, wie wir mit Misserfolgen und Kritik umgehen, wie wir auf Angst und unvorhergesehene Ereignisse reagieren etc. Gewohnheiten bestimmen unser Leben ganz maßgeblich. Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 –1716) geht so weit zu sagen, dass wir zu drei Vierteln wie Automaten agieren. Und eben hier liegt der Ansatz der antiken römisch- hellenistischen Philosophie. Sie fordert dazu auf, unsere Gewohnheiten im Den-ken und Verhalten minutiös zu prüfen und zu verändern. Denn hier liegt der Schlüssel dazu, ein gutes Leben im Sinne der ethi-schen Vortrefflichkeit führen zu können. Die Arbeit an sich selbst beginnt mit geistigen Übungen. So empfehlen die Stoiker das eigene Verhalten zu reflek-tieren. Dazu gehört es, Grundsätze des eigenen Lebens zu überdenken, die man bislang unhinterfragt für wahr gehalten hat. Der Rückzug in das Selbst – die Me-ditationen, die Lektüre von Texten über ethische Fragestellungen, die Gespräche mit Vertrauten, der Austausch von Ideen,

STOAAls Stoa wird eine Richtung der griechisch-römischen Philosophie (ca. 300 v. Chr. – ca. 200 n. Chr.) bezeich-net, die nach ihrem ursprünglichen Versammlungsort, einer Säulenhalle (griechisch: stoa) in Athen benannt wurde. Für die Stoiker war die Gleichgültigkeit gegenüber materiel-len Gütern eine wesentliche Vorausset-zung für Freiheit. Als weise galt derjenige, welcher sich nicht von äußeren Umständen leiten lässt, sondern Herr seiner selbst ist, indem er durch seine Vernunft die Leiden-schaften und Triebe beherrscht.

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Portrait

Tyler Durden

—Oder:

Der spirituelle Kampf

Text: Marcel Levermann

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Als unauffälliger Stellvertreter eines durchschnittlichen Bürgers im Kapitalismus der Jahrtausendwende ist das Leben Tyler Durdens, dem Protagonisten des Films Fight Club, zivilisatorischer Sicherheit und finanziellem Selbsterhalt gewidmet. Als Versicherungsbe-auftragter eines großen Autokonzerns soll er beurteilen, ob sich Rückrufaktionen fehler-hafter und damit potenziell tödlicher Autos für den Konzern unter dem Strich rechnen oder nicht. Die Vorgabe des Konzerns ist, dass sie nur dann durchgeführt werden sollen, wenn die erwarteten Folgekosten einer juristischen Auseinandersetzung höher sind als die Kosten der Rückrufaktion. Den Ökonomismus seines grauen Büroalltags ergänzt eine konsumorientierte Oberflächlichkeit im Privatleben. Seine Wohnung bestückt er stets aufs Neue gemäß den aktuellen Einrichtungstrends, Wohndesignkataloge substitu-ieren Pornohefte und werfen die Frage auf, welche Esszimmergarnitur seine Persönlich-keit definieren könnte. Hinter der unauffälligen Maske des passiven Konsumenten brodelt jedoch eine große Unruhe. Aufgrund ausgeprägter Schlaflosigkeit sucht er einen Arzt in der Hoff-nung auf, dass dieser ihm rasch einige Pillen gegen sein Leiden verschreibt. Stattdessen wird er auf Selbsthilfegruppen verwiesen, damit er erfahren könne, was wirkliches Lei-den sei. Der Besuch solcher Treffen – beispielsweise von Krebskranken –, unter falscher Identität und die jeweilige Krankheit vortäuschend, verschafft ihm eine temporäre Beru-higung. Als er jedoch auf Marla (Helena Bonham Carter) trifft, die sich bei diesen Treffen ebenfalls als Kranke ausgibt, bricht die erschwindelte Stabilität erneut ein. Zwischen den beiden entsteht eine brüchige Beziehung, die von ständiger Annäherung und Abstoßung geprägt ist. Zu einer grundlegenden Wendung kommt es, als der Protagonist (Edward Nor-ton) auf den „zweiten“ Tyler Durden (Brad Pitt) trifft, mit dem er dann auch den Fight Club gründet. Wie sich herausstellen wird, existiert diese Figur als eigenständige Person nur in seiner Vorstellung. Tatsächlich handelt es sich dabei um ihn selbst, er agiert als Pitt-Tyler (beispielsweise, wenn er zu schlafen glaubt), der all jene Persönlichkeitsanteile repräsentiert, die der bisherigen Lebensführung überdrüssig sind. Während einer An-sprache – exakt in der Mitte des Films – in der er die Ausübung von verhassten Jobs zum Zwecke sinnlosen Konsums verurteilt, formuliert Pitt-Tyler einen entscheidenden Satz: „Unser großer Krieg ist ein spiritueller, unsere große Depression ist unser Leben.“ Der Film erklärt sich hier als Versinnbildlichung eines innerpsychischen Prozesses, der von materieller Versklavung zu spiritueller Befreiung führt.

Schatten lichtenDieser innerpsychische Prozess beginnt damit, sich der prinzipiell „gestörten“ menschli-chen Psyche bewusst zu werden. Dem philosophischen Psychoanalytiker Jacques Lacan (1901–1981) zufolge jagt jeder Mensch aufgrund eines bereits mit der Geburt initiier-ten Mangelerlebens einem lebenslang unstillbaren Begehren hinterher. Dieses Begehren wird von einem imaginierten (vorgestellten) Ich strukturiert, das sich über Spiegelungs- und Vorstellungsinhalte nachträglich definiert (siehe Infobox Spiegelstadium). Da diese Ich-Formation eine willkürliche Konstruktion auf der Basis von Sinneseindrücken ist, kann sie niemals als selbstgenügsame Vollständigkeit erfahren werden. Fortwährend werden externe Objekte mit einem narzisstischen Begehren besetzt, um den intern er-lebten Mangel zu kompensieren. Dies ist eine Grundbedingung für die kapitalistische Akkumulation: Egal, wie viel jemand besitzt, stets wünscht er mehr bei gleichzeitiger Angst vor Verlust des aktuellen Besitzes. Gleichzeitig hält das Ich beständig eine Tren-nung zwischen Ich und Nicht-Ich (Objektwelt) beziehungsweise Ich und Gesellschaft aufrecht, unter der es eigentlich leidet.

ÖKONOMISMUS

Im Allgemeinen versteht man unter Ökonomismus die Überbetonung ökonomischer Faktoren bei der Betrachtung der gesellschaftlichen Entwicklung beziehungsweise das „alles beherrschende Dogma von Effizienz und Gewinnmaximierung“ (Johannes Rau).Der Begriff geht zurück auf eine im 18. Jahrhundert in Frankreich entstandene ökonomische Theorie, deren Anhänger sich als économistes (Ökonomisten) bezeichneten. Sie leiteten wirtschaftlichen Reichtum allei-ne von der Landwirtschaft her und versuchten entsprechend, die Ökonomie aus staatshaushaltlichen Betrachtungen herauszulösen und auf eine naturrechtliche Grundlage zu stellen. Die Gesetze der ökonomi-schen Beziehungen würden nicht vom staatlichen Gesetzgeber, sondern von der natürlichen Ordnung vorgegeben. Heute findet sich dieser Grundgedan-ke in der Vorstellung einer globalen wirtschaftlichen Ordnung wieder, die einer eigenen, quasinatürlichen Gesetzlichkeit folgt.

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Spiritualität offeriert einen Ausgang aus diesem lacanschen Dilemma: Wenn das Ich nicht wie eine Instanz existiert, sondern „gemacht“ – im Sinn von vorgestellt – ist, muss es etwas geben, aus dem die Vorstellung dieses Ichs und mithin die Trennung zwischen Ich und Nicht-Ich hervorgeht. Auf diese Quelle gilt es sich zurückzubesinnen, um die egois-tischen Konditionierungen zu durchschauen und aus der persönlichen Gedankenmatrix auszusteigen. Spiritualität zielt also auf die Untergrabung des Ichs ab und damit darauf, ein non-duales Bewusstsein zu erlangen. Es geht darum, sich als eingelassen in einen sinnvollen Gesamtzusammenhang zu begreifen. Spiritualität ist mithin auch die Kunst der Zufriedenheit, da mit dem Ich-Verlust auch der Verlust des virtuellen Mangelerlebens einhergeht. Die Unabhängigkeit, die diese „Selbstzufriedenheit“ bedeutet, ermöglicht es, das Hamsterrad angstgeprägter Akkumulation zu verlassen und auf dem emotionalen Brachland des Ökonomismus Empathie und Gemeinsinn zu pflanzen. Vom Ich befreit man sich allerdings nicht so leicht wie etwa von einer Fessel. Denn im Gegensatz zu einer Fessel ist das Ich gar nicht sichtbar, solange man von unbewussten Programmen gesteuert wird, die von kulturellen Konditionierungen und traumatischen Erlebnissen geprägt sind. Den unbewussten Gegenpart zum Alltags-Ich, das sich inner-halb kultureller und selbstbewahrender Normen bewegt, bezeichnete C. G. Jung (1875–1961) als Schatten. An diesem Ort führt der spirituelle Weg in den Fight Club: Wer zur Erleuchtung kommen möchte, muss seinen Schatten lichten, sich seinen Verdrängungen bedingungslos stellen und alle unterdrückten negativen Emotionen bewusst durchleiden.

Leiden und FreiheitIn den Selbsthilfegruppen kann sich Tyler erstmals dem Kontrollzwang seines vom Ich bestimmten Verstandes entziehen: „Ich ließ los. Ich verlor mich in Vergessen, (…) Stille, (…) Vollkommenheit. Ich fand Freiheit.“ Dass danach Marla erstmals auftaucht, ist kein Zufall. Sie dient als Spiegelfigur dieses glückseligen Zustands bedingungsloser Geborgen-heit (Liebe), trifft er sie doch bei einem Seminar zur Öffnung des Herzchakras. Dass Tyler sich erst am Beginn seines spirituellen Weges befindet, zeigen beispielsweise die unnach-giebigen Verhandlungen, die er und Marla darüber führen, wer welche Selbsthilfegruppe wann besuchen darf – ohne dass ihn dabei der andere an die bloß simulierte Krankheit und damit den Selbstbetrug erinnert.

»Unser großer Krieg ist ein spiritueller, unsere große Depression ist unser Leben.«

SPIEGELSTADIUM

In seinem berühmten Essay Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunk-tion von 1949 erläutert der französi-sche Psychoanalytiker Jacques Lacan (1901–1981), weshalb lebenslang Momente der Identifikation mit Bildern fortexistieren, denen wir uns angleichen wollen. Zwischen dem sechsten und 18. Lebensmonat erlebt das Kleinkind, das sich noch nicht als körperliche Einheit erfährt, ein plötzliches Zusammenkommen der bis dato unzusammenhängenden Eindrücke seiner selbst, wenn es sich in einem Spiegel als eine einheitliche Gestalt erblickt. Da es diese Gestalt selbst aber noch nicht ist, bleibt die Identifikation voreilig und vorläufig und wird somit zur Matrix aller folgenden imaginären Identifikationen, die jedoch nie zur erwünschten vollständigen Selbstabschließung führen können. Deshalb erlebt sich das Subjekt als gefährdet und sucht in der Panzerung der bildlichen Gestalt einen ultimativen Halt, der sich jedoch immer als Enttäuschung entpuppt.

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Tyler Durden – oder: Der spirituelle Kampf agora 42

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Geist, Geld und Glaube

Interview mit Michael W. Driesch

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Herr Driesch, Sie sind ursprünglich Wirtschaftswissenschaftler, Ihr Inter-esse gilt jedoch schon seit Längerem der wissenschaftlichen Erforschung der Spiritualität. Was ist Ihre Definition von Spiritualität?

Vereinfacht gesagt: Spiritualität ist eine Gegenposition zum Materialismus. Sie ist die Überzeugung, dass der Geist den Menschen bestimmt und nicht die Materie – mit al-len Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Dabei wird „Geist“ nicht als höhere Instanz verstanden, sondern bezeichnet die Tatsache, dass wir als Menschen „geistdominierte“ Wesen sind, dass wir die Welt denken und denkend ordnen. Dem Materialismus zufolge ist der Mensch hingegen bloß das Ergebnis von phy-sikalischen Prozessen, die vor Millionen von Jahren ihren Anfang nahmen. Aus ihm folgt, dass wir nur eine Ansammlung von Materie sind, letztlich wie Maschinen funktionieren und genauso berechenbar sind wie diese. Dieses Denken hat sich auch auf die Wirtschaft übertragen. Eigentlich ist das Wirtschaften etwas grundlegend Menschliches. Heute je-doch wird der Mensch in ökonomischen Zusammenhängen sehr reduziert gedacht – als Konsument, als Arbeitskraft, letztlich als Faktor in einer Gleichung. Hinzu kommt, dass der Materialismus behauptet, dass wir keinen freien Willen haben und somit für unsere Handlungen gar nicht verantwortlich sind. Insofern trägt ein materialistisches Weltbild sicherlich nicht dazu bei, verantwortliches Handeln zu fördern. Demgegenüber bin ich der festen Überzeugung, dass eine Mischung aus Ökonomie und Spiritualität zu einer besseren Welt führen kann. Und ich finde, dass dies im öffentlichen Dialog stärker the-matisiert werden sollte.

Worin besteht der Unterschied zwischen Spiritualität und dem Idealis-mus, der sich als Erkenntnistheorie ebenfalls gegen den Materialismus richtet?

Einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Spiritualität und Idealismus, demzufolge die Wirklichkeit ebenfalls durch unser Erkennen und Denken bestimmt ist, gibt es nicht. Es ist eher ein Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Den Idealismus kennzeichnet eine philosophische Grundaussage, den Begriff der Spiritualität siedele ich in der Praxis des menschlichen Lebens an.

Von Søren Kierkegaard stammt folgender Satz, den er 1836 formu-lierte, als eine Wirtschaftskrise in Europa herrschte: „Man befürchtet im Au genblick nichts mehr als den totalen Bankrott, dem, wie es scheint, ganz Europa entgegengeht, und vergisst darüber die weit gefährlichere, anscheinend unumgehbare Zahlungsunfähigkeit in geistiger Hinsicht, die vor der Tür steht.“

Kirkegaard meinte damit den Verlust der Freiheit durch ein Denken, das nach dem sogenannten Tod Gottes nur noch rational und rein äußerlich ist und die menschliche Seele beziehungsweise die subjektive Seite des Menschen ausblendet. Stimmen Sie Kierkegaard zu?

Definitiv. Das ist auch meine Gedankenwelt. Ich beziehe mich dabei nur nicht gerne auf Gott, weil man über Gott direkt zur Religion kommt und somit zu einem Denken, das in gewissen Dogmen gefangen bleibt. Religion zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass fest-geschriebene Glaubenssätze befolgt werden. Wie diese freiwillige Beschränkung geistiger Entwicklung der geistigen Zahlungsunfähigkeit vorbeugen kann, wäre mir schleierhaft.

Fotos: Janusch Tschech

Michael W. Drieschgeboren 1963, studierte Wirtschaftswis-senschaften und promovierte mit einer Arbeit über Kunst und Ökonomie an der Universität Witten / Herdecke. Er ist unter anderem Ehemann, Vater, Unternehmer, Business Angel (Business Angels Agentur Ruhr), Filmemacher (beispielsweise Die Eylandt Recherche), Autor (unter anderem DER GLAUBE ZU WISSEN, Grupello Verlag, 2015) und Vorstand des Düsseldorfer Instituts für Kunst und Wis-senschaft, das jährlich den Hans Driesch Wissenschaftspreis für transdisziplinäre Wissenschaft verleiht. Michael W. Driesch forscht seit einigen Jahren an den Schnittstellen von Kunst, Spiritualität und Wirtschaft, mit aktuellem Schwerpunkt auf Anomalistik und Parapsychologie.

MATERIALISMUSDer Materialismus ist eine Weltan-schauung, derzufolge alles Existie-rende ausschließlich eine materiel-le Grundlage hat und zum Beispiel auch unser Bewusstsein, unsere Gefühle oder unsere Überzeugung, einen freien Willen zu haben, eine durch rein physikalisch-chemische Prozesse erklärbare Illusion ist.

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agora 42Michael W. Driesch

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Wenn nicht Gott beziehungsweise Religion, was kann stattdessen Sinn oder Halt geben und gegen die geistige Zahlungsunfähigkeit helfen?

Liebe. Ganz einfach. Das hört sich banal, buddhistisch oder spiritualistisch an, ist aber letztlich die Essenz, auf die alles zurückzuführen ist. Da muss sich jeder nur sein eige-nes Leben ansehen: Warum bist du in einer Beziehung? Warum hast du Kinder? Warum heulst du dir die Augen aus dem Leib, wenn deine Eltern sterben? Warum weinst du, wenn Freunde sterben? Was hält dich im Leben? Was vermissen Menschen am meisten, wenn sie alleine sind?

Kann man das auf die Wirtschaft übertragen? Reicht es aus zu sagen: „Wir brauchen mehr Liebe in der Ökonomie?“

Aus meiner Sicht gibt es zwei Bausteine, die unser Leben ausmachen. Da ist zum einen das, was ich das Ökonomische nenne, also alles, was wir in physischer Hinsicht brauchen: Nahrung, Kleidung, ein Dach über dem Kopf, vielleicht auch kleine persönliche Din-ge. Wir brauchen aber auch den geistigen Teil. Ohne gelingende menschliche Beziehun-gen – und dafür verwende ich den Überbegriff Liebe – läuft überhaupt nichts. Null. Wir Menschen wollen Liebe. Wir wollen Zuneigung. Und diese Zuneigung, der freundliche Umgang untereinander, kommt in der Ökonomie zu kurz. Ein banales Beispiel: Geplanter Verschleiß. Was ist denn das bitte für ein Deal? Ich verkaufe dir einen Drucker, du gibst mir Geld dafür, aber ich verrate dir nicht, dass dort ein Chip eingebaut ist, der das Teil in fünf Jahren außer Betrieb setzt, damit du ein neues kaufen musst. Warum tue ich das anderen Menschen an? Natürlich kann man jetzt sagen, das soll die Wirtschaft ankurbeln, das schafft Arbeitsplätze, bla, bla, bla. Aber all diese Ausflüchte können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei ihnen nur um billige Rechtfertigungsstrategien handelt. Dass es in erster Linie nur noch darum geht, Geld zu verdienen – und zwar auf Teufel komm raus.

»Eigentlich muss man die großen Kapital- gesellschaften verbieten.«

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agora 42Interview

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Ist den religiösen Dogmen ein ökonomisches Dogma gefolgt: der Profit, die Vermehrung des Kapitals?

Ja, und der Mensch fällt dabei hinten runter. Ich sage dazu gerne provokant: Eigentlich muss man die großen Kapitalgesellschaften verbieten. Denn dort gibt es nicht mehr die verantwortlichen Inhaber, sondern Legionen von Aktionären, die sich vor der Verant-wortung hintereinander verstecken können, und CEOs, die einfach mit goldenem Hand-schlag nach Hause gehen, wenn sie Mist gebaut haben. Das Unternehmen, das Herr Win-terkorn geleitet hat, belügt und betrügt den halben Planeten, und er geht einfach nach Hause. Wäre er persönlich in der finanziellen Haftung gewesen, wäre seine Situation jetzt eine ganz andere und er hätte sicherlich vorher viel besser hingeguckt. Dazu entsteht bei Kapitalgesellschaften eine Fokussierung auf die Profitmaximierung, die zum Beispiel zur Folge hat, dass ein Unternehmen wie die DHL die Löhne von Mitarbeitern weiter reduzieren will, obwohl das Unternehmen drei Milliarden Euro Gewinn gemacht hat. Da könnte ich auf die Barrikaden gehen. Ich kann auch nicht erkennen, warum man ständig ein Wachstum hinlegen soll. Wenn ich eine Million im Jahr verdiene, muss ich doch nicht im nächsten Jahr 1,2 Millionen verdienen – da darf ’s doch auch mal weniger sein, oder?

Es gibt inzwischen zahlreiche Bestrebungen, alternative Wirtschaftsformen zu etablieren, die einen gegenüber dem derzeitigen Wirtschaften grundle-gend anderen Ansatz vertreten. Wie stehen Sie zu diesen Bestrebungen?

Ich bin kein Freund von alternativen ökonomischen Ideen wie beispielsweise der Ge-meinwohlökonomie, denn allzu oft meinen deren Vertreter, die „Wahrheit“ gefunden zu haben. Entsprechend laufen sie Gefahr, die gesamte Gesellschaft in ihr System pressen und jedem Menschen vorschreiben zu wollen, wie er sich zu verhalten hat. Das läuft we-niger auf ein verantwortungsvolles Wirtschaften denn auf eine gesteuerte Zwangswirt-schaft hinaus. Siehe Kommunismus oder Sozialismus. Ich denke nicht, dass wir Grundlegendes ändern müssen. Unser Wirtschafts-system, damit meine ich die soziale Marktwirtschaft – sozial fett geschrieben – hat sich bewährt. Wir leben nicht zuletzt durch diese deutsche Erfindung in unserem Land auf einem hohen Niveau, auch jene, die wenig haben, wenn man das global vergleicht. Wenn wir aufhören würden, den Profit den Menschen überzuordnen, wenn wir es schaffen wür-den, liebevoller miteinander umzugehen und den Menschen nicht aus Marketingsicht, also bloß als Konsumenten, sondern als Menschen in seiner Gesamtheit sowie in seiner Verbundenheit mit allen anderen Menschen in den Mittelpunkt zu rücken, dann hätten wir schon viel gewonnen.

Aber die soziale Marktwirtschaft ist nicht das System, das wir de fac-to haben. Die Mittelständler verhandeln nicht TTIP. Die Leitlinien, nach denen Wirtschaft und Gesellschaft ausgerichtet werden, geben große Unternehmen vor.

Deshalb sage ich ja auch so provokativ, dass man Kapitalgesellschaften verbieten müsste. Wenn der handelnde Manager oder Unternehmer in der persönlichen Pflicht und Haftung steht, agiert er in der Regel anders, auch bezogen auf sein soziales Umfeld verantwortungs-bewusster. Nur ist das in der Praxis nicht umsetzbar und auch keine ernst gemeinte For-derung. Ich glaube aber, dass man die Wirtschaft von den Wirtschaftssubjekten aus, durch einen Bewusstseinswandel, verändern kann. Ändert sich der Mensch, ändert sich auch der Rest. Diese Veränderung erreicht man nicht durch eine Revolution, sondern dadurch, dass sich die Menschen erfahren und lernen, dass Sie nicht nur ein zufälliges Produkt rauer Zu-fallsprozesse sind, sondern mehr hinter allem steckt, als die Naturwissenschaften offiziell verkünden. Es entstünde ein ganz anderer Zugang zum Mitmenschen, wenn ich bereits von einer grundsätzlichen Verbundenheit ausgehe, statt von vereinzelten Individuen, die egozentriert nur ihr Ding durchziehen. Wenn sich der Mensch vom Homo oeconomicus zum Homo spiritualis entwickelt, dann würde das ökonomische Miteinander viel besser und smarter ablaufen. Das ist mein Gedankenexperiment – und nicht mehr!

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Michael W. Driesch

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Auf zu neuen Ufern! Wie lässt sich eine andere gesellschaftliche

Wirklichkeit denken, wie lassen sich konkrete Veränderungen

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Auf zu neuen Ufern! Wie lässt sich eine andere gesellschaftliche

Wirklichkeit denken, wie lassen sich konkrete Veränderungen

herbeiführen? HH O R I Z O N T

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Hier stehen wir, wir können auch andersText: Alix Faßmann / Anselm Lenz

Wie weit muss eingreifendes Denken heute gehen? Alix Faßmann und Anselm Lenz haben ihre Karrieren hinge-schmissen und eine philosophische Lobby in Berlin auf-gebaut. Das Haus Bartleby – Zentrum für Karrierever-weigerung wurde mit der Absicht gegründet, ein neues Verständnis von Arbeit zu entwickeln und zu untersuchen, wie Wirtschaft neu gestaltet und geordnet werden kann. Zusammen mit dem Club of Rome wurde vom Haus Bartle-by nun Das Kapitalismustribunal ausgerufen. Für die ago-ra42 legen Alix Faßmann und Anselm Lenz dar, warum es zu dieser Entwicklung kommen musste.

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„Der Kapitalismus ist eine reine Kultreligion, vielleicht die extremste, die es je gegeben hat.“ – Walter Benjamin

Der Stern unserer Ökonomie verblasst. Hinter uns liegt eine Epoche des schleichenden Ver-falls einstmals prachtvoller westlicher Werte. Die Vergangenheit hat ihre Strahlkraft verlo-ren, sie wirft kein Licht mehr in die Zukunft, wir folgen nur noch ihren langen Schatten. Wie können wir die Schatten deuten? Wollen sie sagen, dass nach der nächsten Biegung, nach der nächsten Krise, doch noch alles besser werde? Wir sollen dran glauben, aber keiner kann es. Etwas geht zu Ende, ist bereits zu Ende gegangen. Nichts ist mehr sicher. Bis eine neue, weltgestaltende Praxis ins Licht tritt, müssen wir das Wesen einer Epoche er-fassen, die wir soeben verlassen. Den Moment des Innehaltens, den Moment des Übergangs

vom Alten zum Neuen nennt Edmund Husserl „Epoché“. In dieser Sekunde darf das Sein nicht das Bewusstsein bestimmen, kein Dog-ma gelten. Wir müssen einen Abstand zwischen uns und die Welt bringen, um etwas erkennen zu können. Sei es zunächst der Ausstieg aus einem als sinnlos erscheinenden Job oder der Weg ins Ungewis-se mit anderen Menschen zusammen. Oder gar eine zivilgesellschaft-liche Distanznahme in Form einer „Großen Weigerung“ (Herbert Marcuse). Calvinismus und protestantische Arbeitsethik können unter den Vorzeichen des postmodernen Kapitalismus keine Orientierung mehr bieten. Doch wo findet die überfällige „Reformation“ der Öko-nomie einen Ort der gesellschaftlichen Aushandlung, wenn wir uns doch im Niemandsland befinden?

Das Haus Bartleby wurde 2014 als eine Lobby für ein neues Verständnis von Arbeit gegründet. Kürzlich ist die vom Haus Bartleby herausgegebene Anthologie Sag alles ab! (Edition Nautilus; hausbartleby.org) erschienen.

Das Kapitalismus- tribunal ist ein zivilgesellschaftliches Gerichtsverfahren nach überpositivistischen Gesichtspunkten ähnlich dem Russell-Tribunal von 1966. Seit dem 1. Mai 2015 ist jeder lebende Mensch anklageberechtigt. Alle Anklagen werden verlesen, veröffentlicht und systema-tisiert und anschließend vor dem Wiener Gerichtshof in einem fairen Verfahren verhandelt (siehe dazu: capitalismtribunal.org).

Alix Faßmann und Anselm Lenz

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„Hier steh ich nun, ich kann nicht anders.“ – Martin Luther

Was wir heute mit einiger Sicherheit sagen können, ist, dass der Ka-pitalismus 2007 kollabiert ist. Unsere Staaten sind seither unrettbar verschuldet. Die europäischen Gesellschaften haben einen ökonomi-schen Schlag bekommen, von dem sie sich unter Fortsetzung gewohn-ter Grundannahmen nicht mehr erholen können. Die millionenfache Einwanderung von Menschen aus Dürreregionen und Kriegsgebieten stellt uns zudem vor Aufgaben, die im Rahmen unseres Konkurrenz-systems nicht zu lösen sind. Fataler noch für unser Selbstverständnis – weil nicht durch neue Gesetze oder massive Aufbietung staatlich organisierter Res-sourcen zu bewältigen – ist das tief sitzende und sich seit bald vier Jahrzehnten breitmachende Gefühl von Resignation in ganz Europa. Dabei sind erste Umrisse zu erkennen, worum es dabei gehen könn-te. Der Ökonom Thomas Piketty wies im vergangenen Jahr empirisch nach, dass materielle Sicherheit und Aufstieg durch eigene Arbeit nicht mehr erreichbar sind. Damit sind gleich zwei wesentliche Moti-vationen, im Kapitalismus zu arbeiten, weggefallen: 1. Die Erhöhung des materiellen Lebensstandards und 2. eine reelle Chance auf Reich-tum und Macht. Wenn diese Ziele nicht mehr erreicht werden können, wird alle Arbeit zur vergebenen Liebesmüh: Warum noch ein Haus in die Höhe bauen, wenn das Fundament bereits bröckelt? Und warum sich noch engagieren, wenn dem Normalsterblichen der Zugang zur Chefetage verschlossen ist? Demgegenüber erscheint der erstaunlich stille Rückzug gan-zer Kohorten in die Armut als folgerichtige Reaktion. Es ist schlicht-weg nichts mehr zu erreichen, das über das eigene Überleben hin-ausginge, Fantasien von Selbstverwirklichung wechseln sich immer schneller ab mit der Wirklichkeit erschöpfter Arbeitsmonaden, die sich fragen, warum sie ihren Job jetzt auch noch lieben müssen, wo sie schon immer weniger Geld vom Eigentümer oder Auftraggeber bekommen – und das noch nicht einmal sicher. Die Auflösung der Unterscheidung von Beruf und Freizeit gerät so zunehmend zur Hor-rorvision einer neuen, höfischen Gesellschaft, in der die Unterwerfung unter die Machthaber keine Raucherpause und kein Refugium mehr kennen darf. Was mit einem Anstrich von Kreativität und Aufstiegs-chancen daherkommt, ist am Ende einfach genauso abhängige Ar-beit, aber immer mehr ein Anlass, die Bezahlung einzudampfen.

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Über Wissen und Wünschen

Die Fähigkeit von Menschen, die Wirk-lichkeit entsprechend ihrer Wünsche und Überzeugungen wahrzunehmen, ist grenzenlos. Das erklärt unsere „Apo-kalypseblindheit“, also die Unfähigkeit, das vorhandene Wissen über künftige Gefahren angemessen einzuschätzen und daraus die richtigen Schlussfolge-rungen zu ziehen. Und es erklärt das beunruhigende Phänomen, dass ei-nerseits kaum Zweifel daran bestehen kann, dass vielen Gesellschaften in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten ein ökologischer Kollaps bevorsteht und sich die Lebensbedingungen für alle Menschen mittelfristig stark verändern werden, dass andererseits aber nie-mand ernsthaft daran glaubt.

Vor einigen Jahren war ich zu einer Ver-anstaltung eingeladen, die ein sehr kritischer und hinsichtlich der Zukunfts-probleme höchst besorgter junger Un-ternehmer initiiert hatte, und bei der es um den Zusammenhang von Klimaerwär-mung und Gewalt ging. Dieser Unterneh-mer hatte es in kurzer Zeit geschafft, eine äußerst aktive Gruppe von Mittelständ-lern aufzubauen, die sich für eine klima-

politische Aktivierung der Bürgerinnen und Bürger der Gemeinde einsetzt. Mit Erfolg: Zu der Vortragsveranstaltung fan-den sich mehr als hundert Zuhörer ein, was für eine Kleinstadt von etwa 20.000 Einwohnern erheblich ist. Nach dem Ende der Veranstaltung erzählte der In-itiator beim Bier, er habe sich gerade ei-nen 560 PS starken Audi RS6 bestellt, die leistungsstärkste Limousine, die auf dem Markt zu haben war. Warum? Weil, wie er sagte, „jetzt die letzte Gelegenheit ist. In ein paar Jahren kann man so was sowie-so nicht mehr fahren.“ Dieser Fall zeigt, dass Menschen zwi-schen ihr Wissen und ihr Handeln Ab-gründe von der Dimension des Maria-nengrabens legen können und oft nicht das geringste Problem damit haben, die eklatantesten Widersprüche zu verein-baren und im Alltag zu leben. Dass uns das wundert, liegt an dem Menschen-bild, das sich aus Moralphilosophie und -theologie in unsere Vorstellungswelt eingeschlichen hat und das es prinzi-piell für möglich und wünschenswert hält, dass Menschen widerspruchsfrei sein könnten, was aber mit der sozialen Realität nicht zu vereinbaren ist. Men-schen verhalten sich in unterschiedlichen

Text: Harald WelzerHO

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Neue Rubrik

Abenteuer Unternehmertum

Ein Gespräch mit Wolfgang Heck

– Teil 1 –

Der Windgott als Symbol für Taifun in Wolfgang Hecks Büro

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NEUE RUBRIK: VERANTWORTUNG

UNTERNEHMEN

Echte Gespräche werden immer seltener, privat wie beruflich. Manchmal fehlt uns der Mut, immer öfter aber auch die Muße, um uns aufrichtig über persönliche Erfahrungen, Hoffnungen und Zweifel auszutauschen. Auch der Primat von Auflage und Profit seitens der Medien sowie die Selbstvermarktungsinte-ressen der Interviewten sind eine Hürde für solche authenti-schen Gespräche. In der Gesprächsreihe VERANTWORTUNG UNTERNEHMEN setzen Frank Obergfell und Philippe Merz von der Thales- Akademie diesem Trend etwas entgegen: einen offenen Aus-tausch auf Augenhöhe mit jeweils einem mittelständischen Unternehmer. Warum gerade mittelständische Unternehmer? Weil diese Spezies zwar stets als „Rückgrat der deutschen Wirtschaft“ besungen wird, aber nur selten öffentlich in Er-scheinung tritt. Das ist schade, denn viele Unternehmerinnen und Unternehmer sind kernige Charakterköpfe, die von fas-zinierenden Erfolgen und Niederlagen, Erfahrungen und Ein-sichten zu berichten haben. Die Gesprächsreihe VERANTWORTUNG UNTERNEHMEN erhält daher nun einen festen Platz in der agora42, getreu der Einsicht des griechischen Philosophen, Unternehmers und Na-menspatrons der Thales-Akademie: „Jemand anderem einen Rat zu erteilen ist leicht. Sich selbst zu erkennen ist schwer.“

FO — Wann hatten Sie zum ersten Mal den Eindruck, dass Sie ein „Unternehmertyp“ sein könnten? Gab es da eine ein-schneidende Erfahrung?

WH — Ich glaube, das ist bei mir auch aus der Not heraus ent-standen. In meiner Kindheit und Jugend gab es viele Momente, die meine Sehnsucht danach geweckt haben, auf irgendeinem Feld richtig gut zu werden. Gerade Jugendliche schwätzen viel, aber tun dann wenig. Da beginnen die Sätze mit „Wenn ich könnte …“, „Wenn ich wollte …“ oder „Wenn ich Geld hätte…“. Und damals habe ich mir immer gedacht: Das muss man in die Tat umsetzen, das muss man „materialisieren“! Denn darin liegt letztlich das Glück, im Materialisieren.

PM — Gab es hier denn Vorbilder, die Sie motiviert haben?

WH — Ich war schon als Junge, so mit acht, neun Jahren, fasziniert von Menschen, die auf Expeditionen gingen – von Sven Hedin, Roald Amundsen, Fridtjof Nansen, Vasco da Gama oder Marco Polo. Deren Bücher habe ich verschlungen. Daneben gab es auch die Welt der Sagen und Märchen. Die habe ich geliebt, weil sie so viele neue Räume öffneten: Da waren Kreativität, Wunder und Staunen – bis hin zu den drei Wünschen, die man in manchen Mär-chen frei hat. Diese Spannung zwischen der Welt der unbegrenzten Möglichkeiten und meiner engen Kindheit hat in mir eine Sehn-sucht nach Erfahrungen geweckt, die mein Leben nicht hergab.

DER GESPRÄCHSPARTNERWolfgang Heck ist kein gewöhnlicher Unternehmer, und die Life Food GmbH/Taifun-Tofuprodukte ist kein gewöhnliches Unternehmen. Der im südbadi-schen Emmendingen geborene Langzeitreisende und Autodidakt schien nicht gerade auserwählt, um den heute europaweit erfolgreichsten Hersteller von Bio-Tofu zu gründen und beinahe 30 Jahre lang er-folgreich zu führen. Doch genau so kam es: Ab 1986 experimentierten er und sein erster Geschäftspart-ner in einem Freiburger Keller mit Tofuprodukten aus biologischem Soja, von denen sie zunächst vier Kilo pro Woche auf dem Freiburger Münstermarkt verkauften. Heute produzieren 230 Mitarbeiter 100 Tonnen Bio-Tofu pro Woche, der Umsatz wächst jährlich um zehn Prozent und liegt mittlerweile bei 30 Millionen Euro. Dennoch steht die sozial und ökologisch verantwortungsvolle Unternehmensfüh-rung für Heck noch immer im Zentrum seines Han-delns. Regelmäßig erhält er Übernahmeangebote von amerikanischen und japanischen Holdings, die vom Bio-Boom profitieren wollen. Doch Heck hatte seinen Mitarbeitern schon vor Jahren versprochen, das Unternehmen nie zu verkaufen. Dieses Verspre-chen löste er 2014 ein, indem er alle Geschäftsan-teile in die Heck-Unternehmensstiftung einbrachte.

DIE THALES-AKADEMIE FÜR WIRTSCHAFT UND PHILOSOPHIE

Die gemeinnützige Thales-Akademie widmet sich den wirtschaftsethischen Fragen unserer Zeit, ins-besondere den Herausforderungen der verantwor-tungsvollen Unternehmensführung. Als offenes und ideologiefreies Forum schlägt sie die Brücke zwi-schen Wissenschaft und Wirtschaft und richtet sich an alle heutigen und zukünftigen Verantwortungs-träger. Sie bietet Seminare und Vorträge für Unter-nehmen und Organisationen an sowie – gemeinsam mit der Universität Freiburg – die berufsbegleitende Weiterbildung „Wirtschaftsphilosophie und Unter-nehmensethik“. Gegründet wurde die Thales-Akademie von Frank Obergfell, der als promovierter Philosoph und mittelständischer Unternehmer in vierter Generation Theorie und Praxis vereint. Auch der Geschäftsführer Philippe Merz ist seit Beginn dabei, auch er ist pro-movierter Philosoph und leidenschaftlicher Dozent in Sachen Wirtschaftsethik.

www.thales-akademie.de

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12.02.2051Liebes Tagebuch,

heute war ich zum ersten Mal seit mehr als zehn Jahren in der Kir-che. Trotz des hohen Eintrittsprei-ses war die katholische Xujiahui-Kathedrale recht gut besucht. Eigentlich ungewöhnlich in Zei-ten, in denen es ein Überangebot an Orakeln und Orientierungshil-fen gibt, in denen man sich für kleines Geld Verjüngungskuren und zusätzliche Lebensjahre kau-fen kann. Die Menschen – und ich glaube, auch eine ganze Reihe Roboter – waren wahrscheinlich aus demselben Grund da wie ich. Archäologen in Nordisrael hatten die Mikro-Oberflächenstruktur diverser Steine ausgewertet. Sie konnten die Schallwellen rekon-struieren, die über die Jahrtau-sende auf die Steine eingewirkt hatten. Und sie hatten tatsächlich einen Stein entdeckt, der Zeuge der Bergpredigt war und diese im Originalton auf seiner Oberfläche gespeichert hatte. Ich hatte mir in der Cloud schon einige Berichte dazu angesehen. Die echte Berg-predigt wich an einigen Stellen deutlich von den Versionen im Matthäus- und Lukas-Evangelium ab. Sie war anscheinend noch ra-dikaler in ihren Forderungen nach Gewaltverzicht und Feindesliebe und sie enthielt auch eine Passa-ge zum mitfühlenden Umgang mit Pflanzen, Tieren und der Schöpfung im Ganzen. Die Pries-terin im heutigen Gottesdienst erläuterte, dass dies auch die ak-tuelle Debatte um die Rechte von Robotern berühre, denn schließ-lich gehörten auch Roboter zur universellen Schöpfung. Solch eine fortschrittliche Position hat-te ich von der katholischen Kirche nicht erwartet. Die Kirche hatte

sich seit meinem letzten Besuch auch optisch verändert. Die Hei-ligenbildchen waren durch mo-derne Displays ersetzt worden. Dem Weihrauch waren funkti-onale Substanzen beigemischt worden. Und in diversen Sépa-rées hatten Gläubige die Mög-lichkeit, mit holographischen

Simulationen verschiedener Heiliger in Austausch zu treten. Dieses Angebot war allerdings alles andere als preiswert. Eine 30-Minuten-Unterhaltung mit der Jesus-Simulation hätte mich ein halbes Monatsgehalt gekostet. Dazu war ich nicht bereit, auch wenn die Nutzerkommentare im

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GEDANKENSPIELE

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Produktkatalog von bewegen-den Erlebnissen zeugten. Es gab auch Simulationen der zwölf Apostel. Die halbstün-dige Petrus-Lizenz kostete im-merhin noch stolze 99 Bitcoin. Ich entschied mich für eine Unterhaltung mit Judas, dem preiswertesten Jünger, für 9 Bitcoin. Die Simulation war absolut immersiv und superrea-listisch. Ein recht kleiner, dunkel-haariger Mann in den Dreißigern stellte sich mir als Judas Ischariot vor. Er sprach mich als Sünder an und verlangte Buße von mir. Und er berichtete von seinen eigenen Sünden und Verfehlungen, vor allem vom Verrat an Jesus Chris-tus. Es klang ein bisschen wie auswendig gelernt. Doch als ich Judas auf die neue Version der Bergpredigt ansprach, nahm die Unterhaltung eine überraschen-de Wendung. Judas erkundigte sich genau nach dem Stein und wie die Abdrücke der histori-schen Schallwellen ausgelesen wurden. Als er es verstanden zu haben schien, bat er mich – nein, er flehte mich regelrecht an – nach einem Stein zu suchen, der Zeuge des letzten Abendmahls war. Denn auch hier sei es wichtig, so Judas, dass die Wahrheit ans Licht käme und dass sein Name endlich reingewaschen würde. In Wirklichkeit, so Judas, sei er nämlich der beste Freund von Jesus und der einzige wirklich er-leuchtete Jünger gewesen. Jesus

Kai Jannek, Director Foresight Consulting bei Z_punkt

habe ihn um den Verrat gebeten, um von seiner körperlichen Hül-le befreit zu werden und seiner Aufgabe als Messias vollkom-men gerecht werden zu können.

Dass er, Judas, anschlie-ßend in den Freitod ging, sei im Nachhinein als Schuldeingeständnis

vollkommen fehlinterpre-tiert worden. Er beschrieb

mir noch, wo genau das letzte Abendmahl stattgefunden hatte. Dann war die halbe Stunde zu Ende. Judas nickte mir zur Verab-schiedung zu und schloss die Au-gen. Ich verließ das Séparée. Auf dem gesamten Heimweg habe ich darüber nachgedacht, ob ich dem Wunsch des Apostels nach-kommen sollte. Es würde die Kirche ganz schön erschüttern, wenn sich seine Geschichte als wahr herausstellen sollte. Noch bin ich zu keiner Entscheidung gekommen und werde später wahrscheinlich die Tarot-Karten zu Rate ziehen. Ich melde mich die Tage wieder. Versprochen!

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Gedankenspiele