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AGORA 42 Das philosophische Wirtschaftsmagazin AUSGABE 02/2015 QUALITÄT Qualität oder Quantität? Wozu eigentlich Qualität? Lässt sich Qualität managen? Ausgabe 02/2015 | Deutschland 8,90 EUR Österreich 8,90 EUR | Schweiz 13,90 CHF

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Was ist eigentlich Qualität? Ist sie objektiv oder subjektiv? Lässt sich Qualität managen? Und was hat Qualitätsmanagement mit Planwirtschaft zu tun? Kann Qualität zur Ideologie werden?

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Das philosophische Wirtschaftsmagazin

AUSGABE 02/2015

QUALITÄT

Qualität oder Quantität? ! Wozu eigentlich Qualität? ! Lässt sich Qualität managen?

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T E R R A I N

THier werden Begri!e,

"eorien und Phänomene vorgestellt, die für unser gesellscha#liches

Selbstverständnis grundlegend sind.

— 8DIE AUTOREN

— 9Henrik HerklotzQualität – Ein geschundenes Wort — 15Felix HeidenreichSinnsti!ung durch Qualitätsstreben

— 20Mathias Binswanger Wissenscha! auf Abwegen – Wie die Publikationswut die Qualität ruiniert

— 24Rainer DollaseVerkehrte Welt: Qualität ist menschlich

— 28Claus Dierksmeier Quantitative oder qualitative Freiheit?

— 32Wolfgang Ullrich Das Konsumbürgertum und seine Werte – Über stilbildende Waren und entstellenden Ramsch

— 38PORTRAIT„Lieber Geld verlieren als Vertrauen“ –Robert Bosch und sein Begri" von Qualität(von Dietrich Kuhlgatz)

— 46EXTRABLATT

— 3 EDITORIAL

— 4 INHALT

— 98IMPRESSUM

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INHALT

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H O R I Z O N TI N T E R V I E W

HIAuf zu neuen Ufern! Wie lässt sich

eine andere gesellschaftliche Wirklichkeit denken, wie lassen sich konkrete

Veränderungen herbeiführen?

— 48Die besten Zeiten kommen nochInterview mit Christian Lindner

— 80FRISCHLUFTVollgeld und Full Reserve Banking – (K)eine Alter- native?!

— 90LAND IN SICHTmeta beneHaus Bartlebystandpunktgrau magazin

— 96GEDANKENSPIELEvon Kai Jannek

— 62 Fabian Scheidler Ausstieg aus der Mega-maschine

— 70 Gilbert Dietrich Das Ende des Ho!ens – Kann ein Leben ohne Zukun" Qualität haben?

— 74MARKTPLATZPancart #ales-Akademie für Wirtscha" und Philosophie

agora 42 Inhalt

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Hier werden Begri!e, "eorien und Phänomene vorgestellt,

die für unser gesellscha#liches Selbstverständnis grundlegend sind.

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THier werden Begri!e, "eorien und Phänomene vorgestellt,

die für unser gesellscha#liches Selbstverständnis grundlegend sind.

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Henrik Herklotz hat Physik an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena studiert und ist seit 1990 Mitarbeiter im Fachgebiet Qualitätswissenschaft am Institut für Werkzeugmaschi-nen und Fabrikbetrieb (IWF) der Technischen Universität Berlin.

— Seite 9

Claus Dierksmeier ist Professor für Globalisie-rungsethik sowie Direktor des Weltethos Instituts an der Uni-versität Tübingen. Ende 2015 erscheint sein neuestes Buch mit dem Titel Welche Freiheit?

— Seite 28

Felix Heidenreich studierte Philosophie und Po-litikwissenscha!en in Heidel-berg, Paris und Berlin. Er ist wissenscha!licher Koordinator am Internationalen Zentrum für Kultur- und Technikfor-schung (IZKT) der Universität Stuttgart.

— Seite 15

Wolfgang Ullrich ist Professor für Kunstwissen-scha! und Medienphilosophie. Er arbeitet als freier Autor in Leipzig und München. Von ihm zum "ema erschienen: Habenwollen. Wie funktioniert die Konsumkultur? (S. Fischer Verlag, 2006) sowie Alles nur Konsum. Kritik der warenäs-thetischen Erziehung (Verlag Klaus Wagenbach, 2013).

— Seite 32

Mathias Binswangerist Professor für Volkswirt-scha!slehre an der Fachhoch-schule Nordwestschweiz in Olten und Privatdozent an der Universität St. Gallen.

— Seite 20

Rainer Dollase ist emeritierter Professor für Psychologie. Er hat in Saar-brücken, Köln und Düssel-dorf studiert, war an den Hochschulen Aachen, Köln, Essen und Bielefeld als Hoch-schullehrer beziehungsweise Wissenscha!ler tätig. Zuletzt von ihm erschienen: Classroom Management (Schulmanage-ment-Handbuch 142, Olden-bourg Verlag, 2012), Gruppen im Elementarbereich (Kohl-hammer Verlag, 2015).

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DIE AUTOREN

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Kaum ein Wort ist in den vergangenen Jahrzehnten so strapaziert worden wie „Qualität“. Mit deutschem Fleiß wurde es geknetet und in alle Richtungen ausgewalzt wie ein Hefeteig. Dieser aber, wo er doch so schön aufgegangen ist, schlägt nun Blasen, platzt auf und fällt in sich zusammen.

Text: Henrik Herklotz

Qualität –Ein

geschundenes Wort

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„Minimize to the max!“ lautet die Devise der neuen Minimalis-ten. Von Japan über die USA bis nach Europa breitet sich diese Bewegung aus, deren Anhänger ihren Besitz auf die Zielmarke von 100 Objekten zu reduzieren versuchen. Quantitäten zu ver-ringern, um an Qualität zu gewinnen – dieses Prinzip, so die Ho!nung, ist auf Dinge, Erfahrungen und Beziehungen gleicher-maßen anwendbar. Damit stellt sich die Bewegung gegen eine ökonomische Wachstumslogik, die mit Masse den Verlust an Klasse wettzumachen sucht.

Text: Felix Heidenreich

Sinnsti!ung durch

Qualitäts- streben

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wird. Eine nahe liegende Erklärung hier-für könnte lauten, dass sich die Bedeutung von „Qualität“ dem angenähert hat, was gemeinhin als „das Gute“ bezeichnet wird und nach dem Aristoteles zufolge ohnehin jeder Mensch strebt. Doch womöglich muss man an kon-kreten Beispielen beleuchten, was es mit der Qualität und dem Guten auf sich hat. Nehmen wir den Manufactum-Katalog zur Hand, jene Bibel einer nostalgisch-verklä-renden Feier der „guten Dinge“, die ge-meinhin als Signum einer neuen, schwarz-grünen Bürgerlichkeit gilt und in dieser Funktion immer wieder geschmäht wurde. Hier wird uns die Qualität von Schreib-tischlampen, Regenjacken und Kernseifen angepriesen. Aber worin bemisst sich de-ren Qualität? Zwei Elemente scheinen hier ineinan-der zu greifen. Die Produkte müssen ihre Zwecke zum einen besonders gut und zum anderen nachhaltig erfüllen. Qualität ver-spricht Langlebigkeit. Dies gilt nicht nur für technische Produkte, sondern auch für literarische Texte: Wenn ein Text besonders gut gelingt, das heißt, wenn er bestimmte Qualitätskriterien erfüllt, entsteht ein Klas-siker, der auch über Kultur- und Epochen-grenzen hinweg geschätzt wird. Wie bei literarischen Texten werden auch bei den „Klassikern“ unter den Produkten spezi!-sche Anforderungspro!le als bekannt vo-rausgesetzt. Allgemeiner formuliert: Die Manufactum-Welt ist ein Kosmos, in dem man weiß, was man will und in dem jedes Ding noch seinen Ort hat. Die Qualität von

tisierung. Wer sich beim Meditieren ent-spannt, brennt auch unter kapitalistischen Rahmenbedingungen nicht so schnell aus, funktioniert brav und hält die Klappe. Zum Neo-Feudalismus, in dem nach Angaben der Hilfsorganisation Oxfam die 85 reichs-ten Personen der Welt über ebenso viel Vermögen verfügen wie die ärmere Häl"e der Weltbevölkerung zusammen, passen die Praktiken aus dem indischen Kasten-system oder der japanischen Feudalge-sellscha" erschreckend gut, so die #ese. Denn das Streben nach Qualität verengt den Fokus auf die Sphäre des unmittelbar Gestaltbaren: In der U-Bahn sitzen die Leser von Sti!ung Warentest und grübeln über die optimale Kaufentscheidung, wäh-rend die Reallöhne sinken. Wer im Kleinen alles richtig machen will, macht im Großen gar nichts. Ist Sinnsti"ung durch Qualitäts-streben also reine Ideologie? Oder lassen sich hier verschiedene Formen plausibel di$erenzieren?

Warum eigentlich Qualität?Die Frage nach der Qualität von Dingen, Erfahrungen oder Beziehungen führt in einen Strudel aus erkenntnistheoretischen Fragen: Lässt sich eine qualitas tatsächlich bestimmen? Ist Qualität eine objektive Ei-genscha" von Dingen oder liegt sie ganz subjektiv im Auge des Betrachters? Wie verhalten sich Qualität und Quantität zu-einander? Angesichts der Schwierigkei-ten, Qualität zu bestimmen, ist es umso erstaunlicher, dass sie allgemein als gut, wünschens- und erstrebenswert angesehen

„Minimize to the max“, das Einsparen des Nicht-Not-wendigen bei höchsten

Ansprüchen bezogen auf das Verbleiben-de – diese Formel erinnert nicht zufällig an das zentrale Leitbild des japanischen Zen-Buddhismus. Mittels der Ästhetik der Zen-Gärten, der Kloster-Architektur und verschiedener Praktiken wie der Me-ditation wird die Aufmerksamkeit seit Jahrhunderten systematisch durch Reduk-tion geschult. Dass diese Grundintuition weltweit vor allem von jungen Menschen wiederentdeckt wird, ist erfreulich. Quali-tativ hochwertiger Konsum ist langlebiger, nachhaltiger, weniger ressourceninten-siv, darf man ho$en. Die Bewegung führt damit alte Handwerkskunst („Arts and cra"s“), die Vorstellungen des Deutschen Werkbunds und die Design-Konzepte der Ulmer Schule um Max Bill und Tomás Maldonado (an der sich bekanntlich das Apple-Design orientiert) zusammen: Ein-fachheit, Zeitlosigkeit, Reduktion auf das Wesentliche, Harmonie zwischen Mensch und Ding, so lautet das Ideal. Aber vielleicht ist gerade die Orientie-rung am Leitbild des Zen-Buddhismus ein Indiz dafür, dass auch die Orientierung an Qualität zur Ideologie werden kann. Zen mag inneren Frieden ermöglichen – als Katalysator von Demokratisierungs-prozessen ist er bislang nicht aufgefallen. Dezidiert linke Kritiker wie Slavoj %i&ek betrachten die globale Ausbreitung von Yoga und Buddhismus denn auch als An-zeichen einer verhängnisvollen Entpoli-

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Wissenscha!liche Exzellenz wird zu einem großen Teil daran gemessen, wie viele Artikel ein Wissenscha!ler in Topjournals verö"entlicht hat. Deshalb werden Wissenscha!ler heute dazu angehalten, möglichst viele Artikel in wissenscha!lichen Fach-zeitschri!en zu publizieren. Dahinter steckt die naive Annahme, dass mehr Publikationen zu mehr Erkenntnis führen und damit letztlich das Gemeinwohl steigern. In Wirklichkeit führt der Wettbewerb um immer mehr Publikationen aber dazu, dass der Inhalt wissenscha!licher Publikationen immer wirklichkeitsfer-ner, belangloser und langweiliger wird.

Text: Mathias Binswanger

Wissenscha! auf Abwegen

—Wie die Publikationswut

die Qualität ruiniert

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In fast allen Wissenscha!sdisziplinen sind Publikationen der wichtigste und meistens auch der einzige messbare

Output. Was ist also naheliegender, als den Output beziehungsweise die Qualität eines Wissenscha!lers oder eines Insti-tuts anhand der Zahl der Publikationen zu messen? Denn ist es nicht so, dass vie-le Publikationen das Resultat intensiver Forschungsarbeit sind und insofern unser relevantes Wissen erhöhen? Und muss deshalb nicht jeder Wissenscha!ler dazu angetrieben werden, möglichst viel zu publizieren, um eine maximale „wissen-scha!liche Produktivität“ zu erreichen? Wer nur ein wenig Kenntnis von Univer-sitäten und dem wissenscha!lichen Be-trieb besitzt, kann diese Fragen mit einem klaren Nein beantworten. Mehr Publika-tionen bewirken zwar eine Zunahme von beschriebenen Seiten, aber deren Zahl sagt nichts über die Bedeutung der Forschungs-leistungen eines Wissenscha!lers oder ei-ner Institution aus, genauso wenig wie die Zahl der gespielten Töne etwas über die Qualität eines Musikstücks aussagt. Natürlich wird nicht jede Publikation und damit jede mit wissenscha!lichem Inhalt beschriebene Seite gleich als wis-senscha!liche Leistung gewertet. Relevant sind Verö"entlichungen in Fachzeitschrif-ten, welche die eingereichten Arbeiten ei-nem „strengen“ und „objektiven“ Auswahl-verfahren unterziehen, dem sogenannten Peer-Review-Verfahren. Dieses soll sicher-stellen, dass nur „qualitativ hochstehende“ Arbeiten publiziert werden, die dann als „echte wissenscha!liche Publikationen“ gelten. Bei dem unter Wissenscha!lern künstlich inszenierten Wettbewerb geht es genau genommen darum, möglichst viele Artikel in akzeptierten wissenscha!lichen Zeitschri!en (solchen mit Peer-Review-Verfahren) zu verö"entlichen.

Allerdings existieren auch unter den wissenscha!lichen Journals nochmals strikte Hierarchien, welche die durch-schnittliche „Qualität“ der angenommenen Artikel widerspiegeln sollen. Fast in jeder Wissenscha!sdisziplin gibt es einige we-nige, mit Ehrfurcht betrachtete Top-Zeit-schri!en (A-Journals) sowie verschiedene Gruppen von nicht ganz so hochstehen-den Zeitschri!en (B- oder C-Journals). In Letzteren lässt sich zwar leichter ein Arti-kel unterbringen, sie haben aber nicht den gleichen Stellenwert wie ein A-Journal. Die Verö"entlichung eigener Arbeiten in ei-nem A-Journal ist deshalb das wichtigste und o!mals einzige Ziel eines modernen Wissenscha!lers – damit steigt er in die Champions-League seiner Disziplin auf. Gehört man einmal zu diesem illustren Club, wird es viel leichter, weitere Artikel in A-Journals zu publizieren, mehr For-schungsgelder zu bekommen, teurere Ex-perimente durchzuführen, das eigene Ins-titut weiter auszubauen und durch all diese Aktivitäten „exzellenter“ zu werden. Der von dem Wissenscha!ssoziologen Robert Merton beschriebene, sich auf intrinsische Motivation stützende „Taste for Science“, der die Wissenscha!ler eigentlich antrei-ben sollte, wurde so durch den extrinsisch motivierten „Taste for Publications“ er-setzt.

Autismus statt QualitätssicherungWas versteht man nun aber konkret un-ter einem Peer-Review-Verfahren? Wenn ein Wissenscha!ler einen Artikel in einer wissenscha!lich anerkannten Zeitschri! verö"entlichen will, dann muss er ihn zuerst bei den Editoren des Journals ein-reichen, die meist arrivierte Champions ihrer Disziplin sind. Diese Editoren haben allerdings in vielen Fällen keine Zeit, sich um das Tagesgeschä! „ihrer“ Zeitschri! zu

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Im Uterus – eine gesunde Mutter vorausgesetzt – haben wir die optimale Komfortzone erfahren: Für alles wurde gesorgt, Qua-lität pur. Nach der Geburt !ng das Leid an. Es zwackte, piekte, brannte, tat nicht das, was man wollte. Die Natur gab uns das Plärren mit auf den Weg, damit wir Bezugspersonen herbeizitie-ren konnten, die unsere Komfortzone restaurierten, weil ihnen das Geschrei auf die Nerven ging. Selber an unserer Qualität arbeiten konnten wir noch nicht. Das war die Geburtsstunde des Qualitätsmanagements: ein Soll de!nieren – handeln lassen

– evaluieren. Oder: Zielvereinbarung tre"en – herumprobieren lassen – bewerten. Wie auch immer, der Tenor ist: „Ich will Qua-lität und zwar sofort, und wenn ich sie nicht bekomme, dann plärre ich.“

Text: Rainer Dollase

Verkehrte Welt:

Qualität ist menschlich

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Waldorf und Statler, die beiden älteren Herren in der Loge der Muppet Show, stehen stellver-

tretend für die mosernden, regressiven Nichtskönner, deren einzige Kompetenz im Mäkeln an dem Gebotenen besteht; für diejenigen, die nicht wissen, wie man Gutes herstellt; für jene, die Überlegenheit auf dem Wege der Ersatzbefriedigung zu gewinnen glauben: „Indem ich Kritiker und Kontrolleur bin, weiß ich besser als andere, wie es geht.“ – Natürlich wissen sie es nicht. In der ermüdenden Primitivlogik von „plan – do – check – act“, die auch nicht dadurch intellektueller wird, dass man sie als Demingkreis oder Shewhart-Zyklus bezeichnet, versteckt sich kindliche, menschliche Handlungslogik. Eine Hand-lungslogik, die auch beim Krabbelkind, das einen Ball ergattern möchte, vorliegt und zu der jeder psychisch gesunde Mensch immer und in jedem (Zeit-)Alter fähig ist und war. Also: Banalität pur. Die Säuglingslogik weicht im Normal-fall im Laufe des Lebens einer komplexe-ren, anstrengenden Bewältigungsphilo-sophie: Du musst wissen, wie es geht und was du kannst. Per aspera ad astra. Ohne harte Lehrjahre, Belohnungsaufschub und Verzicht auf Bequemlichkeit keine Hand-lungskompetenz. Sicher, du musst wissen, was du willst und was der Kunde will, du darfst auch an das Paradies auf Erden glau-ben, an ein dreieckiges Viereck – aber Ziele zu setzen, ist die Fähigkeit der Unterstufe, der Klippschüler. In der Oberstufe muss man Ziele nicht nur formulieren, sondern auch umsetzen können. Erwachsene mit Säuglingslogik machen nur Probleme. Nun, in einer Zeit, in der unspezi!sche Heilserwartungen an Produkte der Com-puterbranche genährt werden, breitet sich der regressive Irrglaube aus, Visionen seien der Schlüssel zum Erfolg. Sie zu haben, sei das Entscheidende, die Umsetzung besten-

falls nachrangig. Aber weder Kennedys le-gendäre Vision vom 25. Mai 1961 – „First, I believe that this nation should commit it- self to achieving the goal, before this deca-de is out, of landing a man on the moon and returning him safely to the earth“ – noch die berühmte Rede von Steve Jobs am 12. Juni 2005, die mit den Worten en-det: „Stay hungry, stay foolish“, kamen von Phantasten, Illusionisten oder Qualitäts-Bürokraten, sondern von Realisten, die der Wirklichkeit in enger Absprache mit Machern all das abpressen konnten, was tatsächlich erreichbar ist und war.

Qualitätskontrolle – der Mensch als Maschine?Wenn nun jemand daherkommt und mit dem für manche o"enbar neuen Wort „Qualitätsmanagement“ so tut, als prä-sentiere er eine noch nie da gewesene Methode, so täuscht er aus missionari-schen Gründen seine Zeitgenossen. Denn diese Methode stellt lediglich die normale menschliche Handlungslogik dar: Sie be-schreibt, dass man das, was man möchte oder was man tun soll, anschließend kon-trolliert, und wenn man es nicht erreicht hat, sein eigenes Verhalten ändert. Diese Handlungslogik gibt es seit der Steinzeit. Was heißt das? Jeder Handwerker, was auch immer er macht, kontrolliert die Ef-fekte seiner Handarbeit und grei# korri-gierend ein. Das ist sein Qualitätsmanage-ment. Insofern war es durchaus sinnvoll, menschliche Handlungslogik auf Band-straßen und Maschinen zu übertragen; es war sogar ein genialer technischer Ent-wicklungsschritt, den wir der Kyberne-tik – als Wissenscha# der Steuerung und Regelung von Maschinen – zu verdanken haben. Menschliche Handlungsplanung macht Maschinen wie Menschen. Wenn beispielsweise in einer Bandstraße ein Feh-

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Die besten Zeiten

kommen noch

–Interview mit

Christian LindnerIN

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Die Leitbegriffe Wachstum, Wohlstand und Fortschritt, die für die Indus-trienationen des Westens prägend waren, sind widersprüchlich gewor-den. Sie haben ihre Selbstverständlichkeit eingebüßt. Müssen wir uns auf die Suche nach neuen Leitbegriffen machen?

Die Begri!e Wachstum, Wohlstand und Fortschritt sind im kritischen Diskurs – insbe-sondere von der politischen Linken – unter einen Generalverdacht gestellt worden. Die westlichen Gesellscha"en neigen zu einer Art Selbstbezichtigung. Da möchte ich nicht mitmachen. Da ist mir zu viel schlechte Laune im Spiel. Wenn Wachstum, Wohlstand und Fortschritt fehlen beziehungsweise ausblei-ben, weiß man sehr genau, dass eine Gesellscha" auf keinem guten Weg ist. Wir sollten darüber diskutieren, welche positive Bedeutung Wachstum, Wohlstand und Fortschritt für uns haben können. Ich halte es nicht für sinnvoll, dass sich Gesellscha"en, die sich im Wandel be#nden, in die Verteidigung des Status quo $üchten und nur das, was ist, umverteilen und verwalten wollen. Ganz im Gegenteil sehe ich großartige Chancen, den Fortschritt zu nutzen, um über ein stärkeres Wachstum einem größeren Kreis von Men-schen zum Wohlstand zu verhelfen.

Was genau verstehen Sie unter Fortschritt?Eine Verbesserung der Lebensbedingungen einer möglichst großen Zahl von Menschen. Fortschritt bedeutet immer auch, o!en zu sein für den Wandel und für Veränderung. Was bliebe uns angesichts der demogra#schen und der technologischen Entwicklungen auch anderes übrig?

Heutzutage wird Fortschritt gerne am neuesten technischen Gadget bemessen – kommt ein neues iPhone auf den Markt, dann gilt das als Fortschritt. Ist dieses rein technische Fortschrittsverständnis etwas, wovon wir uns lösen müssen?

Deshalb spreche ich von der Verbesserung von Lebensbedingungen und nicht nur von technischem Fortschritt. Allerdings neigt mancher heute dazu, Technologie vorschnell zu kritisieren. Warum eigentlich? Wir wollen doch die Lebensbedingungen auch durch die Nutzung der Technologie verbessern. Denn wenn Fachkrä"e zunehmend fehlen, wie hier in Europa, dann bietet verbesserte Technologie auch eine Chance für soziale Teilhabe und für den Erhalt des Wohlstandsniveaus durch gesteigerte Produktivität.

Lebensqualität hat auch mit sauberer Luft oder sauberem Wasser zu tun. Und Wachstum ist nun einmal mit Umweltzerstörung und Ressourcenver-brauch verbunden. Wie kommt man da heraus?

Ich möchte Ihrer Kreativität auf die Sprünge helfen. Wachstum muss nicht per se etwas mit Ressourcenverbrauch und Umweltzerstörung zu tun haben. Auf ihrem Dreikönigs-parteitag haben die Freien Demokraten aus Baden-Württemberg ein Papier zum soge-

Fotos: Janusch Tschech

Christian LindnerChristian Lindner wurde 1979 in Wuppertal geboren. Er studierte Politikwissenschaft, Öffentliches Recht und Philosophie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und schloss sein Studium 2006 mit einem Magister Artium ab. Von 1997 bis 2004 war Lindner Inhaber einer Werbe-agentur sowie Mitgründer eines Internet- unternehmens.

Christian Lindner gehört seit 1995 der Freien Demokratischen Partei (FDP) an. Von 2000 bis 2009 war er Abgeordneter des nordrhein westfälischen Landtags, wo er für die Themen Generationen, Familie, Integration sowie Innovation, Wissenschaft, Forschung und Technologie zuständig war. Von 2004 bis April 2010 war Lindner zugleich Generalsekretär des FDP-Landes-verbandes Nordrhein Westfalen.

2009 wechselte Lindner in den Deutschen Bundestag und wurde zum Generalsekre-tär der FDP berufen. Dieses Amt gab er im Dezember 2011 zurück. Seit der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Mai 2012 ist Lindner Mitglied des Landtages, Vorsitzender der Landtags-fraktion und des Landesverbandes der FDP. In der Folge der Landtagswahl in Nordrhein Westfalen verzichtete er auf sein Bundestagsmandat. Am 7. Dezember 2013 wurde Lindner zum Bundesvorsitzenden der FDP gewählt.

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Auf zu neuen Ufern! Wie lässt sich eine andere gesellschaftliche

Wirklichkeit denken, wie lassen sich konkrete Veränderungen

herbeiführen?

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Auf zu neuen Ufern! Wie lässt sich eine andere gesellschaftliche

Wirklichkeit denken, wie lassen sich konkrete Veränderungen

herbeiführen? HH O R I Z O N T

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Ausstieg aus der Mega-

maschine—

Text: Fabian Scheidler

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Wir leben in einer paradoxen Welt: Um unseren Lebensstandard zu halten, müssen wir ständig mehr konsumieren und wegwerfen. Wenn wir nicht alle paar Jahre unser Telefon, unseren Computer, unsere Kaffeemaschine, unsere Kücheneinrichtung, unsere Schu-he, Jacken und Regenschirme ausmustern und durch neue Pro-dukte ersetzen würden, käme unser ganzes Wirtschaftssystem ins Trudeln. Denn dieses System kann mit gesättigten Bedürfnissen nicht fertig werden.

„Jedes Jahr ein neues Smartphone!“, lautet der Werbeslogan eines Kommunikationskonzerns. Die gespenstische Vermehrung von Mö-belhäusern, die so groß wie ganze Stadtviertel sind, zeugt davon, dass wir Betten, Schränke, Tische und Stühle nicht mehr, wie einst, Jahrzehnte besitzen und irgendwann vererben, sondern in immer schnelleren Zyklen verschleißen und wegwerfen. Computer, Handys und andere Elektronikgeräte werden auf Hardware- und Software-Ebene so designt, dass sie nach wenigen Jahren kaum mehr zu ge-brauchen sind; und wenn wir einen neuen Drucker kaufen, dann stel-len wir fest, dass er ein neues Betriebssystem erfordert, das wiederum auf dem alten Rechner nicht mehr läuft, und so fort. Wir ertrinken in einem Meer von Produkten, die in immer kürzeren Intervallen ihren Geist aufgeben. Zugleich verbringen wir immer mehr Zeit damit, alte Dinge zu entsorgen, neue herbeizuschaffen und unverständliche Be-dienungsanleitungen aus dem Internet zu laden. Mit Lebensqualität hat das immer weniger zu tun. Nicht für diejenigen, die in dem immer schneller rotierenden Konsumrad mitlaufen, und noch viel weniger für diejenigen, auf denen der Müll, der am Ende bei alldem heraus-kommt, abgeladen wird. Doch wer Wirtschaftsnachrichten liest, weiß: Bricht das Wachstum der Binnennachfrage ein, ist das eine Katastro-phe. Selbst eine Stagnation auf hohem Niveau bedeutet schon eine Krise – dann sind Arbeitsplätze gefährdet und die Konjunkturmaschi-ne lahmt. Wie aber sind wir in diese absurde Situation hineingekom-men? Und wie kommen wir wieder heraus?

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Die Inthronisierung des WachstumsKapitalismus beruht seit seinen Anfängen in der Frühen Neuzeit dar-auf, mit allen Mitteln aus Geld mehr Geld zu machen, und das bis in alle Ewigkeit. Doch erst im 20. Jahrhundert waren Güterproduktion und Löhne so gewachsen, dass sich eine Massenkonsumgesellschaft entwickeln konnte, die nach dem Zweiten Weltkrieg – im „Golden Age of Capitalism“ – geradezu explodierte. Westeuropa, Nordame-rika und Japan verzeichneten damals zweistellige Wachstumsraten, auf die man heute zum Teil neidisch zurückblickt. Doch Wirtschafts-wunder-Nostalgiker vergessen mitunter, dass genau in dieser Zeit die Weichen für einige der absurdesten und destruktivsten Entwicklun-gen gestellt wurden, die uns heute nicht nur sinnlosen Konsum son-dern eine planetarische ökologische Krise bescheren. Ein Beispiel dafür ist der Boom der Automobilindustrie. Nüch-tern betrachtet ist der automobile Individualverkehr im Vergleich zur Eisenbahn eine ausgesprochen irrationale Erfindung: Er verschlingt ein Vielfaches an Energie; enorme Flächen müssen für den Straßen-bau versiegelt werden, die für Landwirtschaft, Wohnen, städtisches Leben und Natur nicht mehr zur Verfügung stehen; jedes Jahr werden allein durch Unfälle mehr als eine Million Menschen weltweit getötet (mehr als in bewaffneten Konflikten sterben) und etwa 40 Millionen schwer verletzt; und er führt in letzter Konsequenz in einen „rasen-den Stillstand“, in einen Dauerstau, wie wir ihn von Shenzhen über Mumbai und Rom bis Los Angeles überall auf der Welt erleben. Doch selbst wo man nicht im Stau steht, kommt man mit dem Auto, wie der Kulturkritiker Ivan Illich einst errechnet hat, grundsätzlich nicht schneller als mit einem Fahrrad voran, wenn man die Zeit einberech-net, die nötig ist, um das Geld zu verdienen, das für den Kauf des Autos, für Benzin, Reparaturen, Steuern für den Straßenbau, Versi-cherungen und Strafzettel gebraucht wird. Trotz der Absurdität des automobilen Systems setzten nach dem Zweiten Weltkrieg praktisch alle Regierungen von Washington über Paris bis Brasilia und Tokio auf eine Strategie des „tout voiture“ („alles Auto“), während zugleich

Wir ertrinken in einem Meer von

Produkten, die in immer kürzeren Intervallen ihren Geist aufgeben.

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Das Ende des Hoffens

—Kann ein Leben ohne Zukunft

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Text: Gilbert Dietrich

Wir kennen die Phasen der Trauer, die solche Patienten durchmachen, deren Krankheit unausweichlich zum Tode führt: Wut, Leugnen, Feilschen, De-pression und schließlich Akzeptanz. In der Phase der Akzeptanz tritt man einen Schritt zurück und überlegt sich, wie man die Zeit, die einem noch bleibt, verbringen möchte und wie man sie mit etwas Würde durchstehen kann. Ich denke darüber inzwischen auch öfter nach. Was ist mit Ihnen?

Die Menschheit, so könnte man meinen, ist in einer ähnlichen Situation wie ein Todkranker: Uns wird zunehmend klar, dass unsere Existenz als Gattung auf die-sem Planeten zu einem Ende kommt. Wir sind sieben Milliarden Menschen und werden noch mindestens zwei Milliarden mehr werden. Die Erde wird zunehmend wärmer, ohne dass wir unseren Kohlendi-oxidausstoß reduzieren können. Die Eis-masse der Arktis schrumpft zusehends. Das Aussterben von Tier- und Pflanzen-arten beschleunigt sich trotz WWF und Greenpeace. Unsere erste Reaktion, als wir mit dem Waldsterben, Tschernobyl und dem Wal-Schlachten konfrontiert wurden, war Wut. Ich denke, dass wir völlig zu Recht wütend waren und dass es sogar das

aufrichtigste Gefühl war, das wir haben konnten. Wir protestierten, gründeten militante Öko-Gruppen oder trugen Krö-ten über die Landstraße. Damit hoben wir die ökologischen Probleme zum ers-ten Mal auf die politische Agenda. Was hat es genutzt? Bis heute gibt es auch Gruppen, welche die sich vor unseren Augen weiterhin abspielende ökologi-sche Katastrophe leugnen. Viel größer aber ist die Gruppe der Leute, die be-gonnen haben zu feilschen: Man könnte das Fortschrittsoptimismus nennen. Ich selbst neigte zu diesem Glauben, dass wir durch technischen Fortschritt, mit Solarzellen und Windkraft, den ökologi-schen Raubbau kompensieren können. Mittlerweile kommen mir Zweifel: Nicht weil es prinzipiell unmöglich wäre, son-dern weil die Schäden so massiv sind, dass jedes politisch vertretbare Gegen-steuern lediglich ein Tropfen auf den hei-ßen Stein ist.

Die letzten Phasen der TrauerIm englischen Oxford hat sich vor eini-gen Jahren eine Bewegung mit dem Namen The Dark Mountain Project for-miert. Ganz bewusst sind sie zu den letzten Trauerphasen Todkranker über-gegangen: zur Depression und letztlich zur Akzeptanz. Die Gruppe besteht aus

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Illustrationen: Carlos García-Sanchodedesign.tumblr.com

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Hier werden Forschungsergebnisse präsentiert, die neue Denkräume eröffnen.Stellen Sie Ihre Arbeit bei uns vor: [email protected]

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V O L L G E L D U N D F U L L R E S E R V E B A N K I N G –

( K ) E I N E A LT E R N AT I V E ? ! —

G e l d re f o r m e n a u f d e m P r ü f s t a n d

ProblemWie lassen sich Finanz- und Wirtschafts-krisen in Zukunft vermeiden?

LösungsansatzDerartige Krisen werden auf die unkon-trollierte Geldschöpfung und Spekulati-on der Banken zurückgeführt. Vertreter von Vollgeld und Full Reserve Banking behaupten, eine rein staatliche Geld-mengenemission könne Boom-Bust-Zyk-len verhindern. Dazu müsse ausschließ-lich die Zentralbank den Geldzufluss kontrollieren.

KritikDen Reformen mangelt es an theoreti-scher Fundierung und die wirtschaftli-chen Auswirkungen sind unzureichend bedacht. Die Realisierung dieser Refor-men könnte ökonomische Probleme und soziale Missstände sogar verschärfen. Stattdessen wären eine strengere Regu-lierung und fiskalpolitische Maßnahmen aussichtsreicher, um Krisen zu verhin-dern.

Text: Martin Sauber, Benedikt Weihmayr

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META BENE—

Wie wenig i s t genug?

Philosophen sind bekannt dafür, dass sie viel und gerne reden und zahlreiche Bände mit komplizierten Gedanken füllen. Robin Thiesmeyer ist Philosoph. Und Künstler. Er bringt seine Gedanken auf weißes Papier, mit einem Pinsel und etwas schwarzer Far-be. „Tusche“ steht auf seiner Website geschrieben. Sonst verliert er kaum Worte über seine Werke. Das muss er auch nicht, denn sie bringen die Dinge auf den Punkt. „So ist es!“, denkt man immer wieder bei dem Betrachten seiner Zeichnungen, denen man nichts weiter hinzufügen kann. Minimalismus, der das Wesentliche auf den Punkt bringt, ist selten geworden. Der Wunsch nach Wachstum, Reputation und Weiterentwicklung zwingt uns ständig dazu, etwas hinzuzufügen, anstatt etwas wegzulassen. Die agora42 überließ Thiesmey-er deswegen das Cover dieser Ausgabe, denn weniger ist nur dann mehr, wenn es genug ist. Unter dem Namen meta bene veröffentlicht Thiesmeyer mehrmals wöchentlich Miniaturen im Netz. Keine Signatur, kein Logo weist auf den Künstler hin. Leere Flä-chen lassen Raum zum Mitdenken. Was fehlt, wird einfach dazu gedacht. Mit wenigen Strichen wird eine Schabe, eine Antilope, eine Schnecke, ein Pinguin, eine Schwalbe, ein Kranich, ein Fisch oder ein Vogel skizziert. Daneben sind in Sprechblasen kurze Kommentare zu lesen. Das ist die Abkehr von der totalen Kommunikation, die einen ständig zu Erklärungen zwingt. „Humor ist der Knopf, der verhindert, dass uns der Kra-gen platzt“, schrieb Joachim Ringelnatz. Robin Thiesmeyer setzt ebendiesen Knopf an die Themen unserer Zeit: Arbeitsfrust, Generationenkonflikte, Konformitätsdruck und Individualitätswünsche, Melancholie und Sinnsuche. Das ist komisch und treffend zu-gleich. Mit dem Kunstprojekt Zurück in die Schwärme brachte Thiesmeyer seine Tusche-zeichnungen auf weiße Plakatwände Berlins. Auf einmal wuselten riesige Schwärme seiner Tiere durch überfüllte Berliner Bahnhöfe und stellten unser individuelles Selbst-bild in Frage. Ein Schwarmtier möchte niemand gern sein – oder doch? Bei näherer Betrachtung entdeckt man in Thiesmeyers Schwärmen Ausreißer, nahe Freunde, Ein-zelkämpfer oder Vorauseilende, die alle im Gewimmel ihren Platz finden. Gibt es über-haupt ein Leben ohne Schwärme? Also: Siehe rechts; siehe links; siehe oben; siehe unten.

Mehr dazu unter: www.metabene.de, auf facebook oder twitter

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Sie haben das Ruder in die Hand genommen und wollen mit Ihrem Unternehmen oder zivilgesellschaft-lichen Projekt ökonomisches und gesellschaftliches Neuland betreten.

Stellen Sie Ihr Unternehmen/Projekt bei uns vor: [email protected]

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