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JÜR GEN AH RENS, ge bo ren in Bre men, stu dier te Ger ma nis­tik, Mu sik wis sen schaft und Fo to de sign. Da nach ar bei te te er vie le Jah re als Tex ter und Kon zep tio ner in den in ter na tio na­len Wer be agen tu ren Grey, Heye und DDB, be vor er sich 1985 selbst stän dig mach te und par al lel das (Bü cher­)Schrei ben be­gann. Sei ne jour na lis ti schen Ar ti kel er schei nen u. a. in der Süd deut schen Zei tung. Jür gen Ah rens lebt mit sei ner Frau in Mün chen.

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Jürgen Ahrens

Wie deutsch ist das denn?!

Die populärsten Irrtümer über Deutschland und die Deutschen

WILHELM HEY NE VER LAG MÜNCHEN

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Verlagsgruppe Random House FSC® N001967Das für dieses Buch verwendete

FSC®­zertifizierte Papier Holmen Book Cream liefert Holmen Paper, Hallstavik, Schweden.

Ori gi nal aus ga be 10/2013

© 2013 by Wil helm Hey ne Ver lag, Mün chen,in der Ver lags grup pe Ran dom House GmbH

Re dak ti on: Tho mas Bert ramUm schlag ge stal tung: Büro Über land, Mün chen

Satz: Buch­Werk statt GmbH, Bad Aib lingDruck und Bin dung: GGP Me dia GmbH, Pöß neck

Prin ted in Germ any 2013ISBN 978­3­453­60241­0

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Für Ger trud

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Dies hier sind le dig lich Ver su che, mei ne na tür li chen Fä hig kei ten zu er pro ben, mit nich ten aber die er worb nen; und wer mich bei ei nem auf Un wis sen heit be ru hen den Feh ler er tappt, ver mag mir nichts an zu ha ben, denn wie könn te ich an dern ge gen über für die Stich hal tig keit mei ner Ge dan ken ein stehn, der ich, da mit ih nen kei nes wegs zu frie den, nicht ein mal mir selbst ge gen über da für ein ste he? Wer auf ge lehr tes Wis sen aus ist, möge da an geln, wo es sich fin det – es gibt nichts, was ich we ni ger woll te.

Mi chel de Mont aigne

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Die Deut schen glau ben nicht an das, was sie se hen, son dern an den Fahr plan.

Erich Käst ner

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In halt

Vor be mer kungWer sind wir, und wenn nein, was dann? 13

Abend landDas Licht kommt wo an dersher 17

ADACÜber holt wird links 23

Au to bahnErs te Aus fahrt Rom 26

BierEin Prost auf Nink asi 30

Bun des re pu blikIn 21 Staa ten um die Welt 35

Cur ry wurstIn di en liegt in Char lot ten burg 38

Da ckelHot Dog à la mode 44

Deut sche Ei cheBu chen sollt ihr su chen 48

Deut sche Na menMein Gott, Mi chel! 53

Deut sche SpracheFrank reich trifft Ana to li en 57

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Deut sche Weih nachtSü ßer die Pal men nie rau schen 63

Deut sches VolkDie pol ni schen Pief e 69

Deutsch landEin Jahr tau send mär chen 80

Deutsch land liedFrüh mor gens in Kroa ti en 87

Fil ter kaf eeDer Erz bi schof war’s 96

Fri ka del lenVöl ker ver bin den de Flei sches lust 101

Früh stück seiWei che Tat sa chen aus Ex eter 105

Gar ten zwergKüss die Hand, gnä’ Wich tel 108

Goe theHin ten, weit in der Tür kei 113

Golf las seEurop ean Open 120

Grimms Mär chenDorn rös chen schläft sich durch 125

Die Grü nenBorn in Cali for nia 130

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Kar tof elnDie Schö nen vom Ti ti ca ca see 137

Lin den stra ßeWith a litt le help from Mr. War ren 142

Marsch mu sikEin füh rung aus dem Se rail 146

Müll tren nungVive la pou belle! 151

Ok to ber festO’zapft is! Dar auf ei nen Ret si na 156

Preu ßen tumDis zi plin à la fran ça ise 162

Pünkt lich keitOhaio go zaim asu 169

Sau er krautEin Ge dicht aus Fern ost 174

Schre ber gar tenQuer beet durch Eu ro pa 179

SkatSpie lend ge lun ge ne In te gra ti on 185

Spätz leEu ro päi sche No cken-Wel le 190

Stamm tischDie Gentle men bit ten zum Talk 193

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Teu to nenBar ba ri sche Ver wechs lung 198

Toast Ha waiiAl oha, Mon sieur 202

Ver ei neGreek con nect ion 206

Weiß wurstAber bit te mit Ka vi ar 212

Zep pe li neEin Schwarz-Bau hat die Nase vorn 217

Dank sa gun gen 223

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Vor be mer kungWer sind wir, und wenn nein, was dann?

Sehr deutsch ist es an schei nend, eine sol che Fra ge über haupt zu stel len. Denn was Na bel schau und Iden ti täts su che be trifft, sind wir als Na ti on of en sicht lich un schlag bar: Sucht man das Wort paar »ty pisch deutsch« (mit sämt li chen De kli na ti ons­endun gen) im In ter net, so er hält man mehr als 1,13 Mil lio­nen* Tref er – ein sa mer Welt re kord. Weit ab ge schla gen fol gen die Fran zo sen mit 207 200 Tref ern für »typi quem ent fran çais/e/s«, und aus ge rech net die Welt macht USA bringt es nur auf ei nen küm mer li chen drit ten Platz: 168 000 Mal »typi cally Ame­ri can«, das ist an ge sichts von 316 Mil lio nen stol zen US­Bür­gern ver blüf end we nig.

Was aber treibt uns dazu, mit sol cher In brunst dem »Ty pi­schen« un se res Volks cha rak ters oder un se rer Kul tur nach zu­spü ren? Ist es die uns nach ge sag te Gründ lich keit, die auch im ei ge nen Selbst ver ständ nis kei ne wei ßen Fle cken des Nicht wis­sens dul det? Oder ver rät diese un er müd li che Selbst be spie ge­lung ein fach die in ne re Un si cher heit ei ner Na ti on, die sich als sol che noch im mer nicht ganz ge fun den hat?

Wie auch im mer, die deut sche Iden ti tät scheint ein ver track­tes The ma zu sein. Je der Ver such, sie ein zu krei sen und fest zu­na geln, er in nert an den be rühm ten Ver gleich mit Wand und Wa ckel pud ding. Schon die satt sam be kann ten Kli schees, die an­de re uns an dich ten oder wir uns sel ber auf le ben, er ge ben ein reich lich dif u ses Bild: Welt schmerz, Ro man tik, Groß spu rig­keit, Ord nungs lie be, Gründ lich keit, Fleiß, Ver eins meie rei, Er­fin der geist – und mit Si cher heit las sen sich zu je der Ei gen schaft ge nü gend Deut sche fin den, die das ge naue Ge gen teil ver kör­pern. Selbst die ver meint lich ex klu siv deut sche Mo de tor heit, im Som mer San da len mit So cken zu tra gen, soll es nach neu es­ten Er kennt nis sen schon bei den al ten Rö mern ge ge ben ha ben.

* Mo ment auf nah me vom Mai 2013.

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Das Wo chen ma ga zin Stern* nann te das Wirt schafts wun der der Jah re 2010/11 »ir gend wie sehr deutsch«. Wie, was, ir gend­wie? Beim Ver ständ nis hel fen könn te eine Stu die der Nürn ber­ger Ge sell schaft für Kon sum for schung (GfK), für die im Jahr 2006 rund 12 000 Bür ger in Deutsch land, Frank reich, Groß­bri tan ni en, Ita li en, den Nie der lan den, Öster reich, Po len, Russ­land, Tschec hien und der Tür kei be fragt wur den. Wich tigs te Er kennt nis se: Im eu ro päi schen Aus land hält man die Deut­schen vor al lem für gut or ga ni siert, ak ku rat und leicht pe dan­tisch.

Klar, kei ne Fra ge, das ist der Stof, aus dem Wirt schafts wun­der sind. Aber dass uns Pe dan te rie un ter stellt wird, wenn auch nur leich te, ent behrt nicht ei ner ge wis sen Iro nie – ha ben wir doch aus ge rech net die sen Be grif aus Frank reich im por tiert!

In ter es sant ist auch, dass die Deut schen über sich selbst of­fen bar stren ger ur tei len als ihre Nach barn: Auf die Fra ge »Was ist deutsch?« ant wor ten rund sie ben Pro zent der Bun des bür ger, die Deut schen sei en pes si mis tisch und jam mer ten viel. Diese Auf as sung teilt man in an de ren Län dern Eu ro pas so gut wie gar nicht.

Leicht nach wei sen lässt sich, dass es in Deutsch land die meis­ten Bau märk te gibt; das spricht für Fleiß und Tüch tig keit – al­ler dings ist die »Do­it­your self«­Wel le in den Fünf zi ger jah ren des vo ri gen Jahr hun derts in Eng land ent stan den und erst spä­ter zu uns her über ge schwappt. Be legt ist auch das kom pli zier­tes te Steu er recht der Welt, was aber wie der um kei ne wei te ren Rück schlüs se er laubt: Bei der Ge samt zahl an Ge set zen und Vor schrift en sind wir ge ra de zu Wai sen kna ben im Ver gleich zum eu ro päi schen Spit zen rei ter Ita li en.

Man sieht: Kli schees und Ste reo ty pen tau gen we nig bis gar nichts zur De fi ni ti on des »ty pisch Deut schen«. Aber brau chen wir das über haupt – eine deut sche Iden ti tät, wo mög lich gar eine »deut sche See le«? Ist es nicht viel span nen der, in spi rie­ren der und letzt lich be frie di gen der, in ei nem Land zu le ben,

* Stern 26/2011.

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das sei ne Vi ta li tät ge ra de aus sei nem Fa cet ten reich tum und sei­nen im mer wie der über ra schen den Sei ten ge winnt? Und fal len volks un ab hän gi ge po li ti sche Er run gen schaft en wie De mo kra­tie, So zi al staat, Pres se­ und Mei nungs frei heit nicht mehr ins Ge wicht als ein Na tio nal cha rak ter, den man auf dem glo ba­len Jahr markt der Ei tel­ oder Be find lich kei ten spa zie ren tra­gen kann?

Will man den schwarz­rot­gol de nen Wa ckel pud ding also par tout an die Wand na geln, dann könn te des Rät sels Lö sung lau ten: Ty pisch deutsch ist, dass wir gar nicht »ty pisch« sind, son dern et was von al lem an uns ha ben. So ge se hen, ver kör­pert der Deut sche im Grun de den Ide al typ des Welt bür gers – vor aus ge setzt, er merkt es end lich. In ter es san ter wei se sind wir Deut schen üb ri gens die Ers ten, die in ih rer ur ei ge nen Spra­che ein Wort für den grie chi schen Be grif »Kos mo po lit« ge­prägt ha ben.

In Ober bay ern gibt es ein Dorf mit dem sin ni gen Na men »Kreuz stra ße«. Tat säch lich tref en dort sie ben Land stra ßen aus al len Him mels rich tun gen auf ein an der, was für eine 113­See­len­Ort schaft nicht ge ra de we nig ist. Ähn li ches gilt sinn ge mäß auch für Deutsch land: Un ser Land be legt nach Ein woh nern zwar nur Platz 14 der Welt rang lis te und steckt flä chen mä ßig eher im Ta bel len kel ler, aber für Eu ro pa bil det es die wich tigs­te »Stra ßen kreu zung«, eine Dreh schei be der Völ ker, Spra chen und Kul tu ren. Schließ lich ha ben wir sage und schrei be neun un mit tel ba re Grenz nach barn – das ist ein ma lig auf dem Kon­ti nent und wird welt weit nur noch von den Gi gan ten Chi na, Russ land und Bra si li en über trof en.

Diese be mer kens wer te »Um zin ge lung« spie gelt sich in so ziem lich al lem wi der, was un se re Kul tur, un se re Sprache und un se re sons ti gen Er run gen schaft en aus macht. Wahr schein lich hat sie auch un se re Krea ti vi tät be flü gelt: Im mer hin ver dankt die Welt den Deut schen eine Rei he bahn bre chen der Er fin dun­gen und Ent de ckun gen – wie die Dru cker pres se, den Druck­knopf, den Ver bren nungs mo tor, die Schall plat te, die Rönt gen­

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strah len, das Echo lot, den Ra ke ten an trieb, das Fern se hen, den Dü bel, den Com pu ter, das Fax ge rät, den MP3­Player, das Ke­geln und das Schun keln. An de rer seits wur den vie le ver meint­lich deut sche Er fin dun gen in Wahr heit an ders wo ge macht, und vie le ver meint li che Fa cet ten un se res Volks cha rak ters tra gen bei nä he rem Hin se hen aus ge spro chen mul ti kul tu rel le Züge. Ge ra­de die schein bar ty pisch sten Din ge – etwa das Sau er kraut, der Gar ten zwerg, das Ver eins we sen oder die Au to bahn – stam men gar nicht aus Deutsch land, son dern sind frü her oder spä ter als Im port gü ter zu uns ge langt. An de re, wie das Bier, Grimms Mär chen oder die »deut sche« Ei che, tei len wir von je her mit an de ren Na tio nen.

Auf den fol gen den Sei ten wer den wir die Nase tief in die na­tio na le Re qui si ten kam mer ste cken, der Her kunft der Fund stü­cke auf den Grund ge hen und zahl rei che über ra schen de Fak­ten zu ta ge för dern, die gän gi ge Deutsch land­Kli schees als das ent lar ven, was sie sind: Kli schees eben – teils un ge nau, teils pau scha lie rend und teils völ lig an den Haa ren her bei ge zo gen. Sei en Sie also ge spannt auf eine Rei he von Aha­Ef ek ten. Viel­leicht be sche ren sie Ih nen ein ganz neu es Deutsch land bild – et was lo cke rer, et was glo ba ler und auf je den Fall dif e ren zier­ter als bis her.

So könn te am Schluss die ses Bu ches – trotz oder ge ra de we­gen die ser Er kennt nis se – eine Fra ge ste hen, die der ame ri ka­nisch­iri sche Schrift stel ler Frank McCourt ei gent lich auf die USA ge münzt hat: »Ist das nicht ein wun der vol les Land?«

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Abend landDas Licht kommt wo an dersher

Kein schö ner Land in die ser Zeit als hier das uns re weit und breit …

Es gibt, zu min dest in der äl te ren Ge ne ra ti on, wohl nur we ni ge Deut sche, de nen die obi gen Wor te nicht das Herz er wär men und die nicht die Me lo die dazu sum men kön nen. Ne ben bei be­merkt, stammt der Lied text von ei nem Mann mit Mi gra ti ons­hin ter grund, An ton Wil helm von Zucc al ma glio (1803 – 1899). Aber se hen wir über die sen klei nen Web feh ler mal hin weg – ir gend wie trifft die viel ge sun ge ne Zei le doch eine kol lek ti ve Ge müts la ge. Klingt das kon kur renz los schö ne Land aus Zuc­calmaglios Volks wei se nicht auch wun der bar ro man tisch in dem ur deut schen Wort »Abend land« an? Hat die ses Wort nicht zu gleich ei nen an hei meln den Un ter ton von Fei er abend, wäh rend sein Ge gen stück »Mor gen land« eher un an ge neh me Ge dan ken an We cker klin geln, Früh schicht und Ter min stress wach ruft? Und rührt das At tri but »abend län disch« (wahl wei se auch »christ lich­abend län disch«) nicht an Hei mat ge füh le, die ein stei fes Kunst wort wie »Leit kul tur« nicht ein mal im An satz auf om men lässt?

Von da her wun dert es nicht, wenn bei de Be grifs va ri an ten zum Lieb lings vo ka bu lar man cher kon ser va ti ver Po li ti ker ge hö­ren – als ge fühls be ton te Pen dants zu den wür de vol le ren »west­li chen Wer ten« und zur »deut schen Leit kul tur«. Un ter Kon rad Ade nau ers Kanz ler schaft in den Fünf zi ger jah ren des vo ri gen Jahr hun derts ver stieg man sich gar dazu, die NATO­Mit glied­schaft der jun gen Bun des re pu blik (Sei te an Sei te mit der Tür­kei!) ins abend län di sche Wert ge fü ge ein zu rei hen. Tem pi pas­sati. Aber ab ge se hen da von, dass sol che Scha blo nen in ei ner glo bali sier ten Welt zu neh mend an ge staubt wir ken – was ist ei­gent lich das Abend land? Und was macht das Abend län di sche an ihm aus?

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Boh ren de Fra gen. Also stopp, Hei mat film auf An fang. His to­risch ge se hen, kann das Ge gen stück ei nen knap pen Vor sprung für sich ver bu chen: Mar tin Lu ther – dem das Deut sche üb­ri gens vie le neu er fun de ne Vo ka beln ver dankt – ver wen de te den Be grif »Mor gen land« erst mals in sei ner 1522 er schie ne­nen Bi bel über set zung als Syn onym für die Welt des Mitt le ren Os tens, also der Ge bie te öst lich von Pa läs ti na. Da mit wur de das Wort zum fast sprich wört li chen At tri but der drei Kö ni ge, die wir aus der Weih nachts ge schich te ken nen. Das Ge gen stück »Abend län der« (im Plu ral) als Be zeich nung für die Na tio nen der west li chen Welt fin det sich erst sie ben Jah re spä ter bei dem deut schen Theo lo gen Kas par He dio.

Na tür lich ha ben we der Lu ther noch He dio die Ab gren zung zwi schen Ost und West er fun den – die gab es schon in der An­ti ke, wie sich an den la tei ni schen Be zeich nun gen »Ori ent« und »Ok zi dent« für die auf­ und un ter ge hen de Son ne ab le sen lässt. An Sinn und Be rech ti gung ei ner sol chen künst li chen Bar rie re darf man al ler dings – zu min dest aus heu ti ger Sicht – mit Fug und Recht zwei feln, ver bin det sich da mit doch häu fig der un­aus ge spro che ne Hin ter ge dan ke, das Abend land sei dem Mor­gen land geis tig­mo ra lisch oder zi vi li sa to risch über le gen. Über­se hen wird da bei gern, dass na he zu al les, was nach un se rem Ver ständ nis die west li che und so mit auch die deut sche Zi vi li­sa ti on aus macht, ur sprüng lich aus dem Ori ent stammt, also aus dem Mor gen land im wei tes ten Sin ne. Zu fäl lig, aber pas send er­wei se ist »Ori ent« ein di rek ter Ver wand ter des Be grifs »Ori gi­nal«, und der be deu tet ge nau das: ur sprüng lich.

Das Chris ten tum etwa, das mit dem Abend land schein bar so un lös bar ver knüpft ist, geht be kann ter ma ßen auf ei nen Is rae li zu rück – mit hin ei nen Asia ten (der als be ken nen der Jude üb­ri gens nie die Ab sicht hat te, eine neue Glau bens rich tung zu be­grün den). Zur Staats re li gi on avan cier te die ka tho li sche Leh re erst mals im Jahr 391 un ter dem ost rö mi schen Kai ser Theo dosius in Kon stan ti no pel, also auf dem Ge biet der heu ti gen Tür kei. Und aus ge rech net eine der zen tra len Ge stal ten des Ka tho li zis mus, Ma ria, fin det sich spä ter aus führ lich im Ko ran wie der.

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Auch die Kennt nis der »al ten Grie chen« wur de uns von Mor­gen län dern ver mit telt: Fast die ge sam te Wis sen schaft der hel­le nis ti schen An ti ke, die ja eben falls ei nen Groß teil un se rer Kul tur aus macht, wäre spur los im Dun kel der Ge schich te ver­schwun den, hät ten nicht Ara ber die al ten Schrift en im Mit tel­al ter für die Nach welt kon ser viert. Dass Hip po kra tes, Pla ton, Ari sto te les, Ar chi me des und vie le an de re zu Säu len der hu­ma nis ti schen Bil dung wer den konn ten, ver dan ken wir al lein ei ner Rie ge flei ßi ger Über set zer und Schrei ber am »Haus der Weis heit« in Bag dad. Diese ein fluss rei che Aka de mie, ge grün­det im Jahr 825 von dem Ka li fen Al­Ma’mun, war zu ih rer Zeit die Dreh schei be für das ge sam mel te Wis sen der da mals be­kann ten Welt. Zu des sen Nie der schrift ver wen de te man üb ri­gens schon da mals Pa pier, das in Eu ro pa noch völ lig un be kannt war – doch dazu spä ter.

Über haupt war das »Abend land« nach dem Nie der gang des Rö mi schen Im pe ri ums zu nächst ver gleichs wei se arm dran – oder wie es der bri ti sche His to ri ker Ian Mor ris la ko nisch aus­drückt: »West eu ro pa war lan ge ein lang wei li ger Platz an der Pe ri phe rie, wo nicht viel pas sier te.«* Das trifft zu min dest auf ein paar Jahr hun der te zu, auch wenn dann mit der Völ ker­wan de rung eben jene Durch mi schung ein setz te, die den spä­te ren kul tu rel len Reich tum Eu ro pas und Deutsch lands mit­be grün de te. Doch wäh rend sich aus die sem Amal gam erst lang sam so et was wie eine eu ro päi sche Kul tur her aus bil de­te, war die ara bi sche Welt be reits buch stäb lich ein Mek ka der Wis sen schaft en, er leb te Chi na un ter dem Tang­Kai ser Xuan­zong eine ein zig ar ti ge kul tu rel le Blü te und be fand sich In di­ens klas si sche Li te ra tur auf ih rem Hö he punkt. Eu ro pa in des zehr te noch im mer weit ge hend von dem Erbe, das die ver­bli che ne rö mi sche An ti ke ihm hin ter las sen hat te – und nicht zu letzt von den frucht ba ren Im pul sen aus dem so ge nann ten Mor gen land. Dass des sen Ein fluss sphä re zeit wei se bis in die fran zö si sche Cha ren te und spä ter bis kurz vor Wien reich te,

* Zit. aus: Neue Zür cher Zei tung vom 30.04.2011.

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kann man für un se re abend län di sche Kul tur also durch aus als po si tiv ver bu chen.

Auch eine Rei he tech ni scher Er run gen schaft en, auf die sich die ver meint li che Vor rang stel lung des »Wes tens« grün det, hat ih ren tat säch li chen Ur sprung in asia ti schen Län dern. Chi na als Pla gia tor? Da müs sen wir uns rück bli ckend wohl auch an die ei ge ne Nase fas sen, denn über Jahr hun der te war es eher um ge­kehrt: Was Chi ne sen er fan den, mach ten an de re nach, wie etwa den Kom pass, oder stah len es schlicht und ein fach – so das be­reits an ge spro che ne Ge heim nis der Pa pier her stel lung, das in Chi na schon vor fast zwei tau send Jah ren be kannt war. Es wur­de chi ne si schen Pa pier fa bri kan ten (ver mut lich im 8. Jahr hun­dert von Ara bern) ge walt sam ab ge presst, und so ent stan den ab 794 in Bag dad die ers ten Pa pier müh len dies seits des Fer­nen Os tens. 1144 er rich te ten die Mau ren in Spa ni en die ers­te ver gleich ba re An la ge Eu ro pas, und erst 1390 wur de auch in Deutsch land – kor rek ter ge sagt, in Mit tel fran ken – erst mals Pa pier her ge stellt.

Eben so ist der Buch druck ent ge gen ei nem ver brei te ten Miss­ver ständ nis kei ne deut sche Er fin dung: Er war in Chi na seit dem frü hen 11. Jahr hun dert be kannt, und schon 1234 druck te man in Ko rea erst mals mit be weg li chen Let tern. Was Jo han­nes Gu ten berg zwei hun dert Jah re spä ter er fand, war nicht der Buch druck, son dern ein Hand gieß in stru ment zur Her stel lung be weg li cher Let tern in gro ßer Zahl. Und er kom bi nier te be ste­hen de Er fin dun gen zu ei nem neu en Druck ver fah ren, das erst­mals die mas sen haft e Pro duk ti on von Bü chern er mög lich te.

Ein wei te res Ge heim nis, das in Chi na lan ge streng ge hü tet wur de, war das des Por zel lans. Erst 1707 ge lang es dem thü­rin gi schen Al che mis ten Jo hann Fried rich Bött ger in Dres den, hin ter den Trick zu kom men und ein Ge fäß aus Por zel lan her­zu stel len.

Di rekt aus der ara bi schen Welt wie der um stam men op ti sche Er run gen schaft en wie die Lupe oder die »Cam era obsc ura«, ohne die wir heu te we der Fo to gra fie noch Film und Fern se hen ken nen wür den. Der Ma the ma ti ker, Op ti ker und Astro nom

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Page 21: Ahrens deutsch CS55.indd 1 17.07.2013 08:51:49...tes Thema zu sein. Jeder Versuch, sie einzu kreisen und festzu nageln, erinnert an den berühmten Vergleich mit Wand und Wa l kec pud

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Abu Ali al­Ha san ibn al­Hait ham aus Bas ra im heu ti gen Irak (leich ter zu mer ken un ter sei nem Kurz na men Alh azen) ent­deck te das Prin zip, nach dem alle Lin sen funk tio nie ren, schon um die vor letz te Jahr tau send wen de.

Was wäre au ßer dem die heu ti ge – nicht nur deut sche und eu ro päi sche, son dern welt wei te – Pop mu sik ohne das Mor­gen land? Gar nichts. Zu min dest klän ge sie ganz an ders, denn zwei ih rer wich tigs ten In stru men te, die Gi tar re und das Be­cken, stam men ur sprüng lich aus Asien.

Der mit Ab stand wich tigs te ori en ta li sche Im port ist je doch un ser Zah len­ und Re chen sys tem, des sen Wur zeln in In di en lie gen und das in Eu ro pa erst zwi schen dem 11. und 15. Jahr­hun dert ein ge führt wur de. Zu vor be rei te te es gro ße Schwie­rig kei ten, sehr viel wei ter zu zäh len als bis tau send, denn die größ te rö mi sche Zif er ist be kannt lich das M (als Ab kür zung für »mil le«). Zwar wur den im an ti ken Rom für die Ver viel fa­chung der Zahl 1000 noch an de re, et was kom pak te re Zei chen ver wen det, aber in der mit tel al ter li chen und bis heu te gül ti gen Dar stel lung gibt es sie nicht mehr. Das heißt, rö mi sche Zah­len, die über 1000 hin aus ge hen, wer den ab dem fünft en Tau­sen der un über sicht lich, und spä tes tens bei Mil lio nen an ga ben hat man es mit ei nem wah ren Gar ten zaun von Buch sta ben zu tun. Für die Zahl 1.234.567 zum Bei spiel fin det sich in Wiki­pedia die Schreib wei se MCCXXXIV· M DLXVII. Viel Spaß beim Ent zif ern.

Man er kennt schnell, dass eine der ar ti ge An ein an der rei­hung nicht wei ter führt – und rech nen kann man auf diese Wei se schon gar nicht. Rech nen, so wie wir es ken nen, ist erst durch eine der ge ni als ten Er fin dun gen der Mensch heit mög­lich ge wor den: die Null (im San skrit be zeich net als sun ya, »das Nichts«). Sie bil det die Grund la ge nicht nur des De zi mal sys­tems, son dern auch al ler heu ti gen Bits und Bytes. Ohne Null wä ren die mo der ne Ma the ma tik und Phy sik nicht denk bar, hät te ein Deut scher na mens Kon rad Zuse nicht den Com pu­ter er fin den kön nen, gäbe es kein Handy, kein Smart phone, kein In ter net und kein iPad.

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Page 22: Ahrens deutsch CS55.indd 1 17.07.2013 08:51:49...tes Thema zu sein. Jeder Versuch, sie einzu kreisen und festzu nageln, erinnert an den berühmten Vergleich mit Wand und Wa l kec pud

UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Jürgen Ahrens

Wie deutsch ist das denn?Die populärsten Irrtümer über Deutschland und die Deutschen

ORIGINALAUSGABE

Taschenbuch, Broschur, 224 Seiten, 11,8 x 18,7 cmISBN: 978-3-453-60241-0

Heyne

Erscheinungstermin: September 2013

Wer sind wir, und wenn nein, was dann? Deutsche lieben Sauerkraut, Bier, haben die Autobahn erfunden und sind pünktlich. Achja? Nichts davon ist typisch deutsch! Sauerkraut stammt aus China, Bier aus dem Iran,die Autobahn hat ein Italiener erfunden und Japaner sind pünktlicher. Ein Buch, das aufvergnügliche Weise unsere »multikulturellen« Wurzeln bloßlegt und unser Deutschlandbild ganzschön ins Wanken bringt.