Ajax - Der Synthetische Mensch
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Ajax : Der synthetische Mensch
Essay
Review zu Rosa Mayreder: Die Kritik der Weiblichkei t aus dem Englischen frei übersetzt von Mitzi Obermayer – mit einer Antwort von Rosa Ma yreder, Neues Frauenleben 16. Jg.,
Nr. 1/2, 1914
»Bist Du ein synthetischer Mann?«
Mit dieser Frage überfiel mich neulich abends mein Freund Johnson; der ist in Schalk
und gab keine Auskunft, als ich ihn verständnislos anstarrte und sagte:
»Synthetischer Mann? Was zum Teufel ist denn das?«
Aber dieses Wort wollte mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich ging damit zu allen meinen
männlichen und weiblichen Freunden, doch konnte ich nirgends eine Aufklärung
erhalten.
»Unsinn« brummten sie. – Verständlicheres konnte ich aus den Männern nicht
herausbringen.
In meiner Verzweiflung wandte ich mich an die Frauen. »Sag' mir,« fragte ich die in
meinen Augen schönste Frau der Erde, »bist Du ein synthetisches Weib?« – Und zum
erstenmal, seitdem, ich sie kannte, enttäuschte sie mich. Sie schlang ihre Arme um
meinen Hals und küßte mich tüchtig auf den Mund.
»Das ist eine Synthese,« sagte sie.
Aber war das wirklich synthetisch? Ich wollte schon an die beliebteste
Romanschriftstellerin schreiben. Ich begann Lombroso, Weininger, Ellen Key, alle
biologischen und biogenetischen Autoritäten zu lesen und kam doch nicht weiter. Die
Bibel sprach unerbittlich – »liebe, ehre und gehorche«, – Mohammed und Luther waren
rein »männliche« Männer, von denen sich die Herren, wenn sie unter sich sind, allerhand
recht eigentümliche Geschichten erzählen.
Alle »richtigen« Frauen, an die ich mich wendete, dachten, ich wolle sie zum besten
haben; alle »klugen« Frauen machten ein törichtes Gesicht; alle »weiblichen« Frauen
lächelten wie auf der Bühne, um ihre schönen Zähne zu zeigen.
Und doch inszenieren die Frauen Hungerstreiks um dieser oder jener Idee willen, die in
dem Mysterium des Ewig-Weiblichen nicht besonders angedeutet erscheint. Etwas
Fundamentales, Evolutionäres, Epochales muß sich irgendwo und irgendwie vollziehen;
woher sonst diese Hingebung, dieser fanatische Mut, welche die Regierung und das
britische Gesetz, man kann sagen, fast lahmgelegt haben?
Die Hölle ist aus unserer Gedankenwelt verschwunden – fast zugleich mit den Engeln,
aber Mann und Weib bleiben immer so ziemlich dieselben, wie in den ältesten Zeiten;
denn in mancher Hinsicht war Hammurabi in grauer Vorzeit synthetischer als der jetzige
Kanzler und noch viel mehr als der Zar oder der deutsche Kaiser. Aber die Frauen – hier
muß ich gestehen, half mir Nietzsche.
»Die Erziehung der Frauen aus gutem Hause,« schreibt er, »ist ungeheuerlich. Die
ganze Welt ist darin einig, sie in eroticis so unwissend als möglich aufwachsen zu
lassen.« Und dieser kleine Satz gab mir viel zu denken.
Der Mann hat recht, sagte ich mir – der Mann hat wirklich eine feine Nase. Alle Frauen
werden zur Jungfräulichkeit erzogen, die das Ideal des Geschlechtes ist. Bei solchen
Menschen kann es keine Synthese geben, da Jungfräulichkeit notwendigerweise
Unwissenheit in sich schließt und Unwissenheit die Verneinung der Vernunft ist. Und ist
dieses Idol, welches auf die Vorstellung von der Jungfrau Maria gegründet ist und von
den Kirchen bis zum heutigen Tag streng verfochten und festgehalten wird, nicht das
Widerspiel des Fortschritts? Solange die Frauen dazu angeleitet werden, die
Eheschließung als die allerbedeutsamste Handlung in ihrem Leben zu betrachten,
solange alle Frauen zur Jungfräulichkeit in geistiger und körperlicher Beziehung erzogen
werden, bis irgend ein Mann sie durch den Ehering davon befreit, solange müssen sie
sicherlich Sklavinnen des Geschlechtes, daher des Mannes bleiben. Niemals war mir
das so deutlich zu Bewußtsein gekommen und doch ist es auffallend richtig. Das war
wenigstens einmal eine endgültig feststehende Tatache. Das Weib wird durch Norm und
Erziehung ein Gegenstand der Beute – unserer Beute. Nicht wissen heißt nicht sein.
Dem Manne alles Wissen, alle Initiative, die Persönlichkeit des egozentrischen und
schöpferischen Typus zuerkennen und dem Weibe alles Wissen, Initiative und Freiheit
der Persönlichkeit vorenthalten, heißt dem Manne alle Rechte verleihen und das Weib
mit der Knechtschaft der Geschlechtlichkeit für die Rassenzwecke der Mutterschaft
belasten. Ich zum Beispiel habe allerlei theoretisch gelernt und weiß praktisch nichts;
aber es steht mir frei, kennen zu lernen und zu versuchen, was ich will. Wenn es mir
beliebt, darf ich mir auch eine Blöße geben. Meine Schwester hingegen darf das nicht.
Ihre Eltern wären empört, wenn sie sie etwa beim Lesen von Strindbergs »Verheiratet«
oder von »Frau Warrens Gewerbe« ertappten. Wir necken sie, wenn wir finden, daß sie
zu gescheit spricht oder eine »überlegene Miene« annimmt. Das ist tatsächlich
vollkommen wahr. Ein Geschlecht, das in körperlicher und geistiger Hinsicht unwissend
ist, hat kein intellektuelles Recht, zu ermahnen oder zu befehlen. Jungfräulichkeit: Das
ist's. – Das ist der Inbegriff des Weibes. Wir, die wir wissen, arbeiten und kämpfen, wir
sind seine Beschützer, seine Herren und Meister. In den östlichen Ländern bedeutet die
Jungfräulichkeit nichts, aber die Orientalen haben auch Harems, während wir Seelen
haben, und die Seele, die das Christentum dem Weibe gab, ist das Geschlecht.
Dieser Gedankengang schien mir die Sache zu erledigen. Es gibt gar keine
Geschlechterfrage in diesem Sinne. Ich fühlte mich jetzt so erleichtert, daß ich zum Spaß
einer kleinen Freundin telegraphierte – ich will sie Goldlöckchen nennen –, die den
größten Teil ihrer Zeit auf dem Lande – beim Golfspiel – verbringt.
»Bist Du ein synthetisches Mädchen?« drahtete ich; und als ich abends aus dem Hause
gehen wollte, um zu speisen, wurde mir auch schon die Antwort überreicht:
»Gewiß. Aber ich fürchte, Du bist ein akratischer Mann. – Goldlöckchen.«
Ein sonderbares Telegramm. – Guten Appetit, dachte ich mir. Die kennt sich aus: Ein
eingestandenermaßen synthetisches Mädchen nannte mich »akratisch« – offenbar
irgend ein schreckliches Wort aus dem Griechischen, das mir keiner im Gaiety-Club,
wohin ich mich dann begab, erklären konnte. Daß ich aristokratisch war, fühlte ich, –
aber akratisch? Nein, auf diese Weise ließ ich mich nicht abspeisen. Ich drahtete zurück:
»Definiere synthetisches Mädchen. – Dein ganz Akratischer.«
Worauf ich folgende Antwort erhielt:
»Synthetisch heißt hermaphroditisch – ein Wesen mit sowohl männlichen als weiblichen
Eigenschaften, der zukünftige Typus der emanzipierten Frau. – Dein Goldlöckchen.«
Ich verbrachte den Vormittag in großer Erregung im britischen Museum; beim Weggehen
kam mir ein Gedanke:
»Zugegeben. – Ich bin akratisch, aber ich liebe Dich. – Willst mich heiraten?« Hier
Goldlöckchens Antwort:
»Meine Persönlichkeit ist synthetisch, daher der Sexualität des teleologischen Mannes
nicht mitteilbar. – Goldlöckchen.«
Ich war starr. – Goldlöckchen Mein kleines Goldlöckchen Das Mädchen, das einen
Golfball wohlgezählte 180 Meter weit schlägt, das Mädchen, dessen Haut weicher ist, als
das weiße Stiefmütterchen – mit dem ich so oft Tango und was sonst noch alles getanzt,
das ich im Garten hinter den Hortensien sogar zärtlich geküßt hatte O du abscheulicher
pankhurstischer Terrorismus Das war zuviel. – Ich bin ein schwacher Mann.
Ich überlegte hin und her und gab schließlich folgende Depesche auf:
»Synthese verdammt – Ich will Dich. – Kann ich zu Eltern kommen?«
Antwort:
»Mutter hungerstrikend, – Vater bei akratischem Golf. Bist ein Esel, Jacki – Komm nur
um 4 Uhr 20 Minuten. 17 Küsse. Goldlöckchen.«
Wenn »die holde Siebzehnjährige« 17 Küsse drahtet, dann macht sich ein Mann sogar
noch im Jahre 1913 auf den Weg. – Ich wenigstens tat es. – Unterwegs kaufte ich mir
das Buch von Rosa Mayreder,* einer deutschen Frau, und als ich es aufs Geratewohl
aufschlug, wie man es mit einem ernsten Werk auf einer vierstündigen Reise zu tun
pflegt, las ich folgende Stelle:
»Für hochgestimmte Seelen ist nichts unerträglicher, als die Vorstellung der
Gebundenheit durch das Geschlecht. Ausgeschlossen zu sein durch das Geschlecht von
irgend einer Möglichkeit der Entfaltung, von irgend einer Möglichkeit des Erkennens, die
im Bereiche des menschlichen Wesens liegt, kann in solchen Seelen nur Haß gegen das
Geschlecht zeugen. Daher ist das gefestigte und unerschütterliche Auf-sich-selbst-
Beruhen, das mit Initiative und Willenskraft einhergeht, bei einer Frau noch höher zu
schätzen als bei einem Manne; denn bei einer Frau beweist es ein Ueberschreiten der
Grenzen, die durch die teleologische Geschlechtsbeschaffenheit dem gewöhnlichen
weiblichen Individuum gesetzt sind. Denn der große Vorsprung, den die Natur dem
Manne eingeräumt hat, besteht darin, daß schon in seiner teleologischen
Geschlechtsbeschaffenheit die Disposition zu Eigenschaften liegt, welche die
Entwicklung der freien Persönlichkeit begünstigen; indeß beim Weibe erst die
teleologische Beschaffenheit überwunden sein muß, wenn diese Eigenschaften sich
entfalten sollen ... Im höchsten Sinne frei – und mehr als es der »ganze Mann« je sein
kann – wird der sein, der die synthetische Kraft besitzt, durch Assimilation eine höhere
und umfassendere Weseneinheit aus sich zu machen.
»Diese Kraft«, welche dem akratischen Manne fehlt, ist nichts anderes, als die Fähigkeit
der Hingebung. … Und nur synthetische Wesen können die Schöpfer dieser Lebensform
sein.
Die Repräsentanten eines höheren Menschentumes werden jene sein, mit deren
psychophysischer Konstitution die Möglichkeit gegeben ist, die Schranken der Sexualität
zu überschreiten und eine Steigerung und Erhöhung des innrlichen Verhältnisses
zwischen den Geschlechtern herbeizuführen – die Menschen der Gemeinsamkeit, die
synthetischen.
Die Enteignung der Enteigner, wie bei Karl Marx Da war es nun, das synthetische
Wesen, die Harmonie der Geschlechtsäquivalente, der Typus der Zukunft, den ich
gesucht hatte, alles vereint in einem wahrhaft wundervoll gesunden Buche, das der
Egomanie Stirners, dem Kraftmenschen Nietzsches, dem Geschlechtsmenschen
Strindbergs den Abschied gibt, eine Philosophie der Frauenbewegung, ruhig,
gedankenreich und selbständig – kurz die einzige anregende und inhaltvolle Erörterung
des Problems, die ich je gelesen hatte. In zwei Stunden erfuhr ich alles über den
akratischen Mann und sein Seitenstück, die sklavische Geliebte nach kirchlicher
Überlieferung, das unterwürfige, teleologische Weib, das von Gott im Alten Testament
mit den Worten verdammt wurde:
»Ich will Dir viele Schmerzen schaffen, wenn Du schwanger wirst; Du sollst mit
Schmerzen Kinder gebären und Dein Wille soll Deinem Manne unterworfen sein und er
soll Dein. Herr sein.«
Seltsam Die Grausamkeit und Rachgier dieser Worte war mir niemals aufgefallen; Ich
möchte wissen, wie viele von uns sich eine Vorstellung machen von den geistigen und
körperlichen Qualen, die dem Weibe durch dieses Gebot, diesen moralischen Wahnwitz
auferlegt wurden, der sich auf die märchenhafte Annahme von der ersten Sünde des
Weibes stützt? Noch in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, als man die ersten
Versuche machte, bei schweren Geburten Anästhätica anzuwenden, erhob die englische
Kirche Einsprache dagegen – und sie erhebt sie jetzt noch – als gegen eine Aufhebung
oder Erleichterung einer göttlichen Strafe. Und ich las weiter und vernahm, was diese
erstaunliche Frau über die Jungfräulichkeit sagt, über diese Fessel, welche das weibliche
Geschlecht mit eiserner Hand in Abhängigkeit niederhält, indem sie aus den Seelen
Körper macht, als wären diese das Wesentliche seines ganzen Seins. Und ich las weiter
und weiter. Rosa Mayreder bringt es fertig, sogar über den Krieg manches Neue zu
sagen und sie bleibt immer sanft und weiblich und verrät wenig Sympathie mit den
erotisch frigiden englischen streitbaren Frauen.
Sie behauptet, daß die Dame ihre Oberhoheit sehr teuer erkauft; denn sie ist genötigt,
»sich hinter eine reaktionäre Tradition« zu verschanzen. Als Vertreterin derselben mußte
sie in eine schiefe Lage gegenüber allem Natürlichen geraten, »denn in der Welt der
Dame« ist das Natürliche das Ungehörige, Ihr gekünsteltes Wesen ist mit
Gedankenfreiheit und daher auch mit Persönlichkeit nicht vereinbar. – Rosa Mayreder
sagt, der Begriff der Dame sei schon im Verfallen und das Resultat dieses
Auflösungsprozesses einer historischen Figur müsse bald sichtbar werden. Hier
begegnen wir einem Problem der modernen Zivilisation. Wir brauchen ein neues Ideal
der Weiblichkeit, einen Typus, der »das beste der schwindenden Form festhält und sich
organisch« aus dieser Form entwickelt, um das zu werden, was die Dame nie war und
nie werden konnte: eine freie Persönlichkeit.
Ich ließ das Buch sinken. Da war ich im Begriffe, zu Goldlöckchen zu reisen,, zu meinem
leichtfertigen, begehrenswerten, süßen Goldlöckchen, und doch ganz vertieft in die
Offenbarung über das synthetische Weib. Ich versuchte, mich dagegen aufzulehnen:
»Die Bedeutung der Frau ist der Mann«, sagte ich mir. Mehr als das. Der Mann gibt ihr
nicht nur ihre Vernunft, sondern auch ihre Form. Zielt nicht das ganze Bemühen der Frau
darauf ab, mit dem Aufgebote aller Kenntnisse und Erfahrungen, ihr angeborenes
geschlechtliches Selbst zur Geltung zu bringen? Die Lehre des Weibes ist das Weib, die
schöpferische Wiederholung des empfangenen Typus. Die Konvention zu durchbrechen,
ist beim Manne Tugend, beim Weibe gilt es als Verderbtheit. Der Brennpunkt im Wesen
der Frau ist die ihr innewohnende vergeistigte Sexualität, die ihren Zweck, ihr Genie und
ihre Bedeutung ausmacht. Daher das strenge Gesetz der Keuschheit, das das weibliche
Geschlecht regiert; das Gesetz der Bescheidenheit, das sie hindert, ihre Individualität im
rauhen Kampfe des Lebens zu betätigen und zu entwickeln: das Gattungsgesetz, von
welchem sie, wie in einer Gänseherde, getrieben wird, sei es in Fragen der Kleidung, der
Meinung, der Haltung oder der Moral.
Ich dachte an die weiblichen Marionetten der britischen »Familien«-Literatur, die nach
den Regeln der Konvention zurechtgestutzt und ausgestopft sind.
»Wir werden erst wissen, wie die Frauen sind, wenn wir ihnen nicht mehr vorschreiben,
wie sie sein sollen,« sagt Rosa Mayreder. Es heißt gewöhnlich, Schönheit sei die
»Mission des Weibes« und Mutterschaft sein Beruf. Aber diese Begriffe widersprechen
einander. Der anerkanntermaßen dem Manne zu Liebe betriebene Schönheitskult steht
in direktem Widerspruch zu jener körperlichen und geistigen Verfassung, welche dem
Mutterschaftskult dienlich ist. Überdies ist die Mutterschaft in physischer Beziehung der
Schönheit feindlich. Wenn nun die Mutterschaft der erhabene Beruf der Frau ist, folgert
Rosa Mayreder, dann kann die Schönheit nicht der Hauptfaktor in der Bewertung der
Weiblichkeif sein, der sie zweifellos ist. Die Mutterschaft ist also nicht der Hauptberuf der
Frau. Es handelt sich demnach nur um eine Höflichkeitsphrase. Angesichts der zur Zeit
bestehenden, von Männern gemachten Gesetze und der von ihnen geübten Herrschaft
kann es keinem Zweifel unterliegen, daß Schönheit des Weibes für den Mann das
Allerwesentlichste ist; und das wissen die Frauen trotz ihrer guten Erziehung alle. Um zur
freien Persönlichkeit zu gelangen, oder auch nur um für ihren sogenannten »natürlichen
Beruf« erfolgreich erzogen zu werden, müssen die Frauen den Kanon der schönen
Weiblichkeit als das auffassen, was er in der Tat ist, nämlich »kein ethisches Ideal,
sondern ein sexuelles, und keineswegs so edlen Ursprunges, wie es scheinen mag«.
Hier haben wir eine Philosophie und ein Programm zugleich; eine Philosophie, die,
konsequent durchgeführt – und wir dürfen voraussetzen, daß das synthetische Weib
logisch sein wird – die Vernichtung des ganzen christlichen Ideals und der Tradition der
Weiblichkeit bedeutet.
Es ist der Geschlechtskampf – ein Kampf, der vielleicht mehr innerhalb der Grenzen des
weiblichen Geschlechtes selbst sich vollzieht, als gegen den Mann gerichtet ist, welch
Letzterer sich leichter Veränderungen unterwirft und auch solchen anpaßt. Es ist die
Anerkennung des orientalischen Keuschheitsprinzipes: Gleichstellung in Bezug auf
sexuelle Freiheit.
Wenn ich diesem Problem gegenüber den gewöhnlichen, männlichen Standpunkt
einnehme, gestehe ich, daß ich Anzeichen finde, die auf diese Richtung verweisen.
Unsere Empfangsräume sind Versammlungsorte für Diskussionen über Eugenismus,
Soziologie und Sozialismus, über Probleme wie der Handel mit den weißen Sklaven, die
Kinderernährung, die Frauenfrage, die Ehescheidungsreform; sogenannte »Diners« sind
wirklich aufregend, da hört man aus dem Munde der hübschesten Frauen
beachtenswerte Äußerungen über Dinge, deren Kenntnis wir ihnen gar nicht zugetraut
hätten. Unsere jungen Mädchen wollen meistens den Eindruck erwecken, als wären sie
schon »jenseits von Liebe«.
Gespräche über geschlechtliche Dinge sind die moderne gesellschaftliche Kurzweil; man
könnte glauben, es handle sich um ein neues Kosmetikum, so erfreut scheinen die
Frauen über ihre »Entdeckung« zu sein, so erstaunt über die elementarsten Wahrheiten
des Lebens. Aber gerade da liegt das Paradoxon, das mich stutzig macht.
Auf der einen Seite sehen wir das Bild der kämpfenden Weiblichkeit, auf der andern die
Welt, in der man sich unterhält – den Mann als Geschlechtsmenschen und das
unterworfene Weib – und der Kontrast scheint von Tag zu Tag größer und fühlbarer zu
werden. Da gibt es ein paar Frauen, welche die Welt durch eine bisher noch nicht
dagewesene Entfaltung von Mut und körperlicher Ausdauer verblüffen, und doch wurden
noch niemals solche Unsummen für die Frauen verschwendet, wurde niemals von den
Frauen mehr Zeit und Geld auf Kleidung vergeudet, niemals war die Mode, ihre
Gebieterin, so launenhaft und allgewaltig, wie jetzt. Wenn die Frauen wirklich in einer
ernsten Bewegung begriffen sind, welche die freie Persönlichkeit erstrebt – das heißt
Freiheit von geschlechtlicher Abhängigkeit, – was hat dann unser gegenwärtiges London
zu bedeuten, mit all seiner Sexualität, der frivolen Vergnügungsjagd, den Variétés, der
auffallenden Kleidung, den Theatern, die fast alle nur Unterhaltung leichtester Sorte
bieten, mit der von weiblichen Inseraten strotzenden Presse, mit den Schaufenstern, die
Wäsche und Mieder ausstellen? – eine Aufstapelung aller Produkte weiblicher
Phantasie, die darauf ausgehen, das Weib dem Manne im vorteilhaftesten Lichte
erscheinen zu lassen – denn ein anderer Grund für all dies ist nicht denkbar.
Und doch ist es Tatsache, daß sich trotz der noch aufrecht erhaltenen Tradition die
Stellung der Frau bereits verändert hat. Mit der Theorie ist es vorbei. Die Frau ist heute
im öffentlichen Leben eine ökonomische Kraft. Sie spielt im Existenzkampf bereits eine
tätige Rolle, Schulter an Schulter mit dem Manne, ohne jede Heimlichtuerei oder falsche
Scham. Kurz, das weibliche Geschlecht ist aus sich herausgegangen.
Das Übel liegt nur darin, daß dies allzu rasch geschehen ist. Der Staat, die äußeren
Zustände, die Konvention, die herrschenden Ansichten, der Mann, ja das Weib selbst
sind noch nicht hinlänglich vorbereitet. Ich denke hier nicht an das Weib als Politikerin,
sondern an das weibliche Geschlecht im Allgemeinen, das, äußerlich noch in den alten
Fesseln der Sitte liegend, das soziale Gleichgewicht gestört hat. Das rein weibliche Weib
hat in naiver Weise das theoretische Weib überflügelt; denn es hat schon von dem Besitz
ergriffen, was seine streitbare Schwester noch in eine Formel zu krystallisieren sucht –
und gerade das ist es, was unser Bedenken gegen letztere erregt. Jene Überflügelung ist
in einem solchen Maße erfolgt, daß man ruhig sagen kann, die Befreiung der Frau ist,
wenn auch nicht in der Theorie, so doch in der Praxis bereits erreicht.
Nichts hindert die moderne Frau, ihre Persönlichkeit zu entfalten, ihre Neigungen und
Fähigkeiten, die sie für Künste und Wissenschaften oder in irgend einer nützlichen oder
ökonomischen Richtung haben mag, zu entwickeln. Auch schöpferisch kann sie sich
ungehemmt betätigen. Wenn sie alle ihre Wünsche auf sich selbst beschränkt, braucht
sie keinen Gatten zu wählen; in diesem Falle beraubt sie sich nur der Mutterschaft – es
sei denn, daß unser ganzes Verhalten gegenüber der Illegitimität sich ebenso wie die
bisher allgemeine Forderung der Jungfräulichkeit ändert, wenn es einmal klar wird, daß
die Ehe als Institution keine soziale Begründung mehr hat.
Denn der ganze Begriff der christlichen Ehe beruht auf der Keuschheit des ledigen
Weibes. Der Vater will seine eigenen Kinder kennen und besitzen. Das einstmalige
Rittertum war der Beschützer der Keuschheit und unsere Vorstellung von der
Männlichkeit dankt ihm seine Entstehung. Man nehme dem Manne diese Idee – die
Folge ist Ausschweifung, und es bleibt als einziges Gesetz der Mutterschaft nichts als
die Liebe übrig. Aber da die Liebe Gesetz weder ist, noch je werden kann, muß ein
solcher Zustand unvermeidlich die heutige Geschlechtsordnung auflösen.
In einer Zeit, welche an Idealen immer ärmer wird, ist das kein hoffnungsvoller Ausblick –
mir wenigstens scheint es so, der ich den Stand der Ehelosigkeit in einer zivilisierten
Gemeinschaft weder als Lösung des Stimmrechts- noch des Unabhängigkeitsproblems
der Frau betrachten kann.
Zugleich wiederhole ich hier, daß wir Männer nicht wenig von unserer Tradition verloren
haben, – wir sind nicht mehr die Hüter der Frauen, die wir einst waren – und je mehr die
Zivilisation in den Städten fortschreitet, desto sicherer werden wir noch mehr von unserer
Tradition einbüßen. Nichts heroisches, nicht einmal viel männliches – im alten Sinne des
Wortes – läßt sich in den modernen ökonomischen Zuständen finden, die immer mehr
und mehr das Materielle und Selbstsüchtige großziehen. Die Romantik hat ihren
Schimmer im Ruß und Schweiß unserer dumpfen Städte eingebüßt. Seltsam genug, daß
die Romantik, die uns noch bleibt, auf dem Gebiete der Wissenschaft liegt.
Die Menschen, die fliegen, haben Romantik, die Menschen, die in den Laboratorien
arbeiten, haben Romantik. Aber im modernen Krieg liegt wenig Romantik, wenig davon
ist im Salon zu finden. Knaben und Mädchen, sie verlassen alle die Schulen, als wären
sie Automaten; sie denken alle gleich, handeln alle gleich und führen alle dieselben
Tagesphrasen im Munde.
Wer soll den Platz des »Gentleman«, des Erben des christlichen Ritters, einnehmen? Im
Leben des Volkes bedeutete er etwas Vortreffliches – vor allem war er der Beschützer
der Dame. Und wer wird an die Stelle der Letzteren treten?
Das synthetische Weib, antwortet Rosa Mayreder, – das Weib mit den höheren
Eigenschaften des Mannes. Um zu diesem Typus zu gelangen, muß es sich in erster
Linie von den Konventionen befreien, die es gegenwärtig niederhalten und seine geistige
Entwickung und Individualität nicht aufkommen lassen: das Weib muß frei sein, ebenso
frei wie der Mann. Aber es kann über das Sklaventum des Geschlechtes nicht
hinauswachsen, ehe es die ihm von dem Manne gezogenen Grenzen übersteigt, die
Schranken der Jungfräulichkeit, die es zur Passivität verdammen. Wenn die Frau einmal
frei ist, ist ihre Evolution unausbleiblich. Sie wird endlich fähig werden, darüber zu
entscheiden, was der wirkliche Beruf der Frau ist und sich demgemäß entwickeln. Aber
nicht im Kampf gegen den Mann: das Ideal ist nur durch den Mann und mit ihm
erreichbar. Er selbst wird nachfolgen und sich wie die Frau zum synthetischen Typus der
Menschheit entwickeln. Das Geschlecht wird dann nicht mehr ein Tyrann sein, es wird
sich zum Ideal und die Geschlechtlichkeit zum Sakrament erheben.
Ich war bewegt, als ich das Buch der deutschen Frau aus der Hand legte. Sie hatte mir
das gegeben, was ich gesucht hatte: eine synthetische Philosophie der
Frauenbewegung, die zweifellos einer der großen Marksteine der Zivilisation ist. Mir
persönlich ist das synthetische Ideal nicht sympathisch; überdies ist die tatsächliche
Schranke gegen die Freiheit der Frau die Frau selbst. Das Geschlecht ist und muß die
stärkste Kraft im Leben sein, denn das Leben ist ausschließlich von ihm abhängig. Die
am meisten synthetisch zivilisierte Gemeinschaft in der Welt ist vielleicht ein
Bienenstock; hier aber ist die Drohne oder das Männchen ein Müssiggänger, also ganz
und gar nicht synthetisch.
Ich halte es für unvernünftig und auch unästhetisch, wenn sich die synthetische Frau
über die Schönheit als Wertfaktor ihres Geschlechtes ereifert. Ohne Schönheitsideal
wäre die Menschheit wenig über das Tier erhaben. Wir würden statt vorwärts rückwärts
schreiten, wollten wir die von dem weiblichen Geschlechte ausgehende Schönheit, den
Born jeder künstlerischen Schöpfung, herabsetzen. Die Wertschätzung der Schönheit ist
ein Geschenk der Natur, ein Kult, und unterscheidet sich dadurch von dem Instinkt.
Nichts könnte der wahren Freiheit der Frau gefährlicher werden, als
Geschlechtsverkümmerung bei vergeistigter Schönheit. Der Mann braucht die Freude,
sowie er die Sonne braucht. Wenn das Ideal der synthetischen Frau ein Weib ist, das
trotz aller Unabhängigkeit, Intellektualität und Geistigkeit dem Auge des Mannes nicht
lieblich erscheint, so wird ein solches Weib sicher nicht das Ideal des Mannes sein. Und
sobald es aufhört, des Mannes Ideal zu sein, wessen Ideal wird es dann darstellen?
Es wird Kamerad, Gehilfe, Mitarbeiter sein, ja, aber keine Geliebte. Die Schönheit ist es,
die zur Liebe begeistert. Wenn es bei einer Frau der synthetischen Art für unterwürfig,
dumm oder knechtisch gehalten werden wird, daß sie schön und körperlich
begehrenswert ist, was für einen Anreiz wird es dann noch zum Leben geben? Daran
denkt auch Rosa Mayreder wahrscheinlich, wenn sie die Frau daran mahnt, daß das zu
erstrebende Ideal ein Ideal der »Sexualität« ist. Und weil sie sich diese fundamentale
Bedingung der Natur vor Augen half, darum ist ihr Buch von echtem, philosophischem,
aufbauendem Wert. Nichtsdestoweniger glaube ich in dem synthetischen Wesen einen
Mangel an Animalismus und daher an Vitalität wahrzunehmen, der zur Verweichlichung
führt. Mir gefällt der Hund, der tüchtig springt; ich liebe die Vitalität des Mannes. Kann
eine reine Vernunftrasse eine edle sein? Sind nicht alle heroischen Taten, alle großen
schöpferischen Leistungen im Leben von der animalischen Nervenkraft, die wir Vitalität
nennen, vollbracht worden? Würde sich ein synthetisches Weib auf die stürmische See
hinauswagen, wie es Grace Darling getan hat? Wäre der Mensch, der nie verdammt
wurde, der Erlösung wert? Gewöhnlich sind es die vitalen Menschen, die man verdammt.
Und gerade diese Vitalität steht so oft höher als die Vernunft, wie das Herz oft über dem
Verstande steht
Derzeit geben wahrscheinlich die meisten Männer zu, daß das Größte auf der Welt die
kleinen Kinder sind; dann kommen gleich die Frauen; das »sogenannte« herrschende
Geschlecht erst an dritter Stelle. Wir überwinden die Luft – aber die Überwindung des
Geschlechtes ist bis jetzt nur eine weibliche Theorie, die Theorie des synthetischen
Ideals. Wird es soweit kommen? Ich bin begierig. Ja, ich bin – ehrlich gestanden – sehr
begierig: Als nämlich der Zug in Pontrefac einlief, war der Bahnhof ein rauchender
Trümmerhaufen; wie mir der Portier sagte, hatten ihn die Suffragetten niedergebrannt –
aber auf einer großen Milchkanne saß mein Goldlöckchen, das Bild holdester
Jungfräulichkeit, und wartete auf mich, und wir küßten uns nach Herzenslust.
* * * * *
* Zur Kritik der Weiblichkeit Von Rosa Mayreder. (Heinemann).
Nachwort
Von Rosa Mayreder, Wien.
Die geschätzte Leitung des Blattes ist so freundlich, mir ein Nachwort zu gestatten.
Gewöhnlich ist der Autor eines Buches dem Rezensenten gegenüber zum Schweigen
genötigt; wenn er alle Mißverständnisse und Unverständnisse berichtigen wollte, denen
er begegnet, würde er sich eine unmögliche Aufgabe stellen, schon aus dem Grunde,
weil die Subjektivität des Denkens so stark ist, daß sie die Objektivität der Auffassung
gegenüber einer fremden Gedankenwelt in den meisten Fällen vereitelt.
Wenn aber ein Mißverständnis mit gesetzmäßiger Regelmäßigkeit auftritt, so muß der
Autor sich endlich fragen, ob er es durch Unklarheit der Darstellung nicht selbst
verschuldet hat. Das ist der Fall mit dem synthetischen Typus, den ich in meinem Buche
dem akratischen Typus gegenübergestellt habe. Fast ausnahmslos wurde dieser Typus
als ein Zukunftsideal aufgefaßt, das ich aus den Wünschen und Bedürfnissen der
Frauenbewegung herauskonstruiert hätte. Und da nun derselbe Irrtum, den ich so oft in
deutschen Besprechungen fand, mir auch aus England entgegentritt, möchte ich doch
den Versuch einer Richtigstellung machen und in Kürze systematisch zusammenfassen,
was vielleicht durch die essayistische Form der Darstellung in meinem Buche zu wenig
deutlich geblieben ist.
Die Grundtendenz des Buches richtet sich vor allem gegen die ungerechtfertigte
Generalisation, die durch den Sammelnamen »das Weib« und »der Mann« jede subtilere
Individualisierung vereitelt. Wer das Geschlechterproblem behandeln will, muß also
vorerst die Möglichkeit bereiten, feinere Unterschiede im Wesen der weiblichen und
männlichen Individuen zu bezeichnen – das heißt, er muß, da die Sprache für solche
Unterschiede keine gebräuchlichen Bezeichnungen bietet, sich eine eigene Terminologie
schaffen. Ich habe unter dem Begriff der »teleologischen Geschlechtsnatur« jene
Eigenschaften zusammengefaßt, die das Individuum zur Erfüllung seiner
Gattungsaufgabe braucht, also beim Manne die Eigenschaften, die zur Eroberung oder
Überwältigung des Weibes tauglich machen, die Aktivität, und beim Weibe die Passivität,
die die Unterwerfung unter die männliche Aggressive und die Aufgaben der Mutterschaft
in physischer Hinsicht begünstigt. Da diese Aufgaben aber nur das Gebiet der
einfachsten und elementarsten Lebensvorgänge zwischen den Geschlechtern umfassen,
bedeutet die teleologische Geschlechtsnatur auch die primitive, die undifferenzierte Art
des Menschentums. Je höher das menschliche Leben sich entwickelt, je komplizierter
die Lebensbedingungen werden, desto mehr Bedeutung gewinnen in der Psyche des
Einzelnen jene Eigenschaften, die über das primitive Geschlechtsverhältnis hinaus zur
Behauptung der Persönlichkeit gehören. Ich habe zu zeigen versucht, daß nur auf den
untersten Stufen der menschlichen Entwicklung die. beiden Geschlechter homogene
Gruppen bilden, daß aber in einer differenzierten Gesellschaft die Unterscheidung unter
Ausbildung der Einzelnen nach der primitiven Geschlechtsteleologie nicht mehr möglich
ist Die individuelle Differenzierung überwiegt dann die generelle bei weitem und nicht nur
die geänderten Lebenszustände bedingen bei Mann und Weib ein Hinausschreiten über
die primitive Geschlechtsnatur, sondern auch jene innere Gemeinsamkeit und jenes
gegenseitige Verständnis, wie es die Liebe als Grundlage des Geschlechtsverhältnisses
fordert.
Diese Anpassung nimmt allerdings nur bei einer gewissen Anzahl von Individuen Gestalt
an, indeß die Übrigen – vielleicht die Mehrzahl – mit ihrer psychosexuellen Konstitution
den primitiven Geschlechtscharakter nicht überschreiten. Diese, bei denen die ganze
Persönlichkeit noch durch den primitiven Geschlechtscharakter bestimmt wird, habe ich
»akratisch« genannt (akratisch = ungemischt); die anderen, die in ihrer Persönlichkeit
eine Vereinigung rezeptiver und produktiver, passiver und aktiver, also im geistigen
Sinne männlicher und weiblicher Eigenschaften zeigen, habe ich als »synthetisch«
bezeichnet. Es wird auch dem flüchtigen Beobachter einleuchten, daß der sogenannte
»ganze Mann« und das sogenannte »echte Weib« keineswegs so sehr in der Mehrzahl
sind, daß man die von diesem Typus Abweichenden bloß als belanglose Ausnahmen
betrachten dürfte; ja man kann wohl behaupten, daß die menschliche Sittengeschichte,
daraufhin angesehen, ihre Signatur eben durch den zunehmenden Kampf zwischen dem
akratischen und dem synthetischen Geschlechtertypus erhält. Kein Zukunftsmensch also
ist der synthetische – wohl aber ein Typus, der erst um seine Anerkennung gegenüber
dem akratischen – gegenüber dem »ganzen Mann« und dem »echten Weib« – zu ringen
hat.
Es gehört zur sittlichen Anlage des Menschen, daß er Vorbilder über sich setzt, denen er
sich in seiner persönlichen Entwicklung wie in seinem Verhalten zur sozialen
Gemeinschaft unterordnet oder doch unterordnen möchte. Die suggestive Gewalt
solcher Vorbilder ist oft so groß, daß dem Einzelnen der Abstand zwischen seiner
wahren Beschaffenheit und dem sittlichen Kanon gar nicht zum Bewußtsein kommt. Als
solches Vorbild, als Kanon, regiert immer noch der akratische Typus, der ganze Mann
und das echte Weib; er ist die Richtungslinie, das Ideal, das von Kindheit an dem
Einzelnen vorgehalten wird, obwohl die äußeren Lebensumstände seine Verwirklichung
längst nicht mehr zulassen. Was also in meinem Buche Zukunftsmusik ist, bezieht sich
nur auf die Anerkennung des synthetischen Menschen als Vorbild, als Richtungslinie. In
Wirklichkeit existiert der synthetische Mensch wohl schon seit manchem Jahrtausend; ja
vielleicht hat schon die alte Eva, als sie so männlich entschlossen nach dem Apfel griff,
der die Geschicke ihres Geschlechtes bestimmen sollte, einen synthetischen Zug
verraten.
* * * * *
* Diese, der »Englisch Review« entnommene Plauderei bezieht sich auf das bekannte
Werk »Die Kritik der Weiblichkeit« von Rosa Mayreder, das kürzlich in englischer
Übersetzung erschienen ist und in England fast noch größeres Interesse als in
Deutschland, ja eine wahre Sensation erregt hat. Wir glauben, daß die vorliegende hiefür
sehr charakterische Beleuchtung auch für unsere Leser von Interesse sein dürfte und
sind besonders erfreut, daß Rosa Mayreder die Gelegenheit wahrgenommen hat, in
einem Nachwort eine verbreitete falsche Auffassung ihres Gedankenganges
richtigzustellen.