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Akute Depression

Fortschritte der PsychotherapieBand 40Akute Depressionvon Prof. Dr. Martin Hautzinger

Herausgeber der Reihe:

Prof. Dr. Dietmar Schulte, Prof. Dr. Kurt Hahlweg,Prof. Dr. Jürgen Margraf, Prof. Dr. Dieter Vaitl

Begründer der Reihe:

Dietmar Schulte, Klaus Grawe, Kurt Hahlweg, Dieter Vaitl

von Martin Hautzinger

Akute Depression

GöttinGen · BeRn · Wien · PARiS · OxfORD · PRAG · tOROntOCAMBRiDGe, MA · AMSteRDAM · KOPenHAGen · StOCKHOLM

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat für die Wiedergabe aller in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen etc.) mit Autoren bzw. Herausgebern große Mühe darauf verwandt, diese Angaben genau entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abzudrucken. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwor-tung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handele.

Prof. Dr. Martin Hautzinger geb. 1950. 1971–1976 Studium der Psychologie in Bochum und Berlin. 1980 Promotion. 1981–1983 Assistent Professor am Department of Psychology der University of Oregon, Eugene, USA. 1984 –1989 Hochschulassistent für Klinische und Diffe-rentielle Psychologie an der Universität Konstanz. 1987 Habilitation. 1990 –1996 Professor für Klinische Psychologie am Psychologischen Institut der Universität Mainz. Seit Oktober 1996 Ordinarius für Psychologie und Leiter der Abteilung Klinische Physiologische Psychologie am Psychologischen Institut der Universität Tübingen.

Satz: Grafik-Design Fischer, WeimarDruck: AZ Druck und Datentechnik, KemptenPrinted in GermanyAuf säurefreiem Papier gedruckt

ISBN 978-3-8017-2144-2

© 2010 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG Göttingen • Bern • Wien • Paris • Oxford • Prag • TorontoCambridge, MA • Amsterdam • Kopenhagen • Stockholm

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Inhaltsverzeichnis

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

1 Beschreibung der Störung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41.1 Definitionskriterien und Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61.2 Differenzialdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81.3 Epidemiologie und Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101.3.1 Prävalenz, Inzidenz und Morbiditätsrisiko . . . . . . . . . . . . . 101.3.2 Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111.4 Verlauf und Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121.5 Komorbidität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161.6 Diagnostische Verfahren und Dokumentations hilfen . . . . . 161.6.1 Interviews und Diagnose-Checklisten . . . . . . . . . . . . . . . . . 171.6.2 Selbst- und Fremdbeurteilungsbögen . . . . . . . . . . . . . . . . . 181.6.3 Problemanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191.6.4 Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

2 Störungswissen und Erklärungsmodelle . . . . . . . . . 232.1 Lebensereignisse und soziale Einflussfaktoren . . . . . . . . . . 232.2 Aspekte der Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252.3 Mangel an positiver Verstärkung und negative

Interaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262.4 Nichtkontrolle und erlernte Hilflosigkeit . . . . . . . . . . . . . . 282.5 Dysfunktionale kognitive Schemata . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302.6 Genetische Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322.7 Gestörte Neurotransmission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332.8 Neuroendokrinologische Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352.9 Schlaf und zirkadiane Rhythmik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362.10 Neuroanatomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372.11 Psychobiologisches Erklärungsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . 38

3 Diagnostische Entscheidungen und Indikationen . . 403.1 Eingangs-, Verlaufs- und Abschlussdiagnostik . . . . . . . . . . 403.2 Behandlungsentscheidungen und Indikation . . . . . . . . . . . . 42

4 Behandlung akuter Depressionen . . . . . . . . . . . . . . . 444.1 Pharmakologische Behandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454.2 Wachtherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474.3 Lichttherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

V

4.4 Elektrokrampftherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484.5 Psychologische Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484.5.1 Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484.5.1.1 Therapeutische Grundelemente und professionelle

Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524.5.1.2 Verhaltensänderung und Kompetenzerweiterung . . . . . . . . 564.5.1.3 Kognitive Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 624.5.1.4 Vorbereitung auf Krisen, Notfallplanung, Erfolg-

sicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 654.5.1.5 Gruppentherapie bei akuter Depression . . . . . . . . . . . . . . . 664.5.1.6 Kognitive Verhaltenstherapie bei akuten Depressionen

im Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 684.5.1.7 Kognitive Verhaltenstherapie mit depressiven

Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 704.5.2 Interpersonelle Psychotherapie (IPT) . . . . . . . . . . . . . . . . . 734.5.3 Prävention depressiver Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . 754.6 Krisenintervention und Umgang mit Suizidalität . . . . . . . . 77

5 Evaluation der Psychotherapie bei akuter Depression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78

5.1 Ergebnisse der Psychotherapieforschung . . . . . . . . . . . . . . 785.2 Grundelemente für wirksames therapeutisches Handeln . . 80

6 Folgerungen, Empfehlungen, offene Fragen . . . . . 81

7 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82

8 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

9 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

Differenzialdiagnose für Affektive Störungen . . . . . . . . . . . 85

Quick – Inventar Depressiver Symptome (QIDS) (Klinikerurteil) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

Zielerreichungsskalierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

Ursachen und Einflussfaktoren einer Depression . . . . . . . . 92

Wochenplan zur Alltagsgestaltung und zum Aufbau angenehmer Tätigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

Tagesprotokoll für negative Gedanken . . . . . . . . . . . . . . . . 94

Karten:

Interview zur Diagnose einer akuten Depression

Indikatoren für akute Suizidalität

VI

Einführung

Eine akute Depression ist gekennzeichnet durch die Beeinträchtigung derStimmung, Gefühle der Niedergeschlagenheit, Ängste, Verlust der Freude,emotionale Leere, Antriebslosigkeit, Interesseverlust und zahlreiche körper-liche Beschwerden. Rechnet man mildere Formen depressiver Beeinträchti -gungen sowie die resignativ-depressive Reaktionen bei anderen psychi schenund körperlichen Erkrankungen mit, dann sind Depressionen vermutlich diehäufigsten und in allen Lebensabschnitten vorkommenden psychischen Be-einträchtigungen.

Viele der genannten Gefühlszustände und Beschwerden kennen jedoch alleMenschen. Sie sind, wenn sie eine bestimmte Dauer und/oder Intensität nichtüberschreiten, normale, gesunde Reaktionen auf die Erfahrungen von z. B.Verlusten, Misserfolgen, Enttäuschungen, Belastungen, Zeiten der Ziellosig-keit, der Einsamkeit oder der Erschöpfung. Wann und wodurch die Grenzezwischen diesen normalen Reaktionen und den als klinisch auffällig betrach-teten Symptomen überschritten wird, gehört unverändert zu den ungelöstenFragen im Zusammenhang mit depressiven Störungen.

In diesem Buch geht es um die akute Depression. Eine akute Depressionkann diagnostisch als einzelne oder wiederholt auftretende „depressive Epi-sode“ (F32, F33), als „Anpassungsstörung“ (F43.2) oder auch als „nichtnäher bezeichnete andere bzw. sonstige affektive Störung“ (F38, F39) diag-nostisch nach ICD-10 verschlüsselt werden (vgl. Kasten).

Akute Depressionen kommen auch im Verlauf sogenannter „bipolar affek-tiver Störungen“ vor. Auf diese besondere Form einer Depression soll je-doch hier nicht eingegangen werden. Diesem Störungsbild ist ein eigenerBand in dieser Buchreihe gewidmet (Meyer & Hautzinger, 2010). Fernerkann eine akute Depression nach mehreren Erkrankungsepisoden oder auchvon Anfang an chronifizieren (z. B. als Dysthymie oder als Vollbild einerDepression über mehr als 2 Jahre anhalten). Akute Depressionen könnenauch auf Behandlungen unzureichend ansprechen. Diese chronisch verlau-fenden bzw. therapierefrakträren Depressionen soll hier auch nicht dasThema sein. Hierzu wird ein eigener Band in dieser Buchreihe erscheinen(Schramm, Brakemeier & Hautzinger, in Vorb.).

Dieser Band zur „akuten Depression“ basiert auf dem früheren Buch mitdem Titel „Depression“ (Hautzinger, 1998). Seitdem hat sich das Feld der„affektiven Störungen“ durch Erkenntnisfortschritte und neue Behandlungs-möglichkeiten weiter aufdifferenziert. Das psychologische und neurobiolo -

1

Depressionensind diehäufigs ten psychischenBeeinträch -tigungen

Grenze zwi-schen normalenReaktionen undklinisch auffälli-gen Symptomengehört zu denungelösten Fragen

Diagnostische Kategorien affektiver Störungen nach ICD-10

gische Verständnis sowie die psychiatrischen und psychologischen Behand-lungsoptionen rechtfertigen nicht nur die Unterscheidung in unipolare bzw.bipolare affektive Störungen, sondern auch in akute, in chronische und inrezidivierende (unipolare) Depressionen. Insbesondere bei der Psychothera-pie im Rahmen von bipolaren affektiven Störungen und bei den rezidivie-renden unipolaren Episoden stehen die Rückfallprophylaxe, die Vermeidungvon Hospitalisierung und der Erhalt eines möglichst hohen sozialen Funk-tionsniveaus im Mittelpunkt. Auch dieser rückfallprophylaktische Fokusrechtfertigt eigenständige Konzepte (z. B. Meyer & Hautzinger, 2004; Risch,Stangier, Heidenreich & Hautzinger, 2010) und damit verbundene Unter-suchungen. Eine weitere Aufdifferenzierung unseres Wissens über affektiveStörungen erlaubt heute auch die „universelle bzw. selektive Prävention“depressiver Entwicklungen bei Kindern und Jugendlichen (Pössel, Horn,Seemann & Hautzinger, 2004).

Der Schwerpunkt dieses Buches liegt auf dem psychologischen Verständnisund der Psychotherapie akuter depressiver Episoden. Damit verbunden istdas Ziel der Symptomreduktion und der Überwindung aktueller depressiverBeeinträchtigungen. Dies wird vom Schweregrad der depressiven Sympto-matik und von der vorhandenen Komorbidität beeinflusst. Da der Schwer-punkt des früheren Buches bereits auf dem Verständnis und der Therapieakuter depressiver Zustände lag und dabei wissenschaftlich gut begründete

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Manische Episode (F30)

Bipolare Störung (F31)• hypomanische Episode• manische Episode

– mit psychotischen Symptomen

– ohne psychotische Symptome

Depressive Episode (F32)• ohne somatische

Symptome• mit somatischen

Symptomen• ohne psychotische

Symptome• mit psychotischen

Symptomen

Rezidivierende Depression (F33)• ohne somatische Symptome• mit somatischen Symptomen• ohne psychotische Symptome• mit psychotischen Symptomen

Anhaltende affektive Störung (F34)• Dysthymia• Zyklothymia

Sonstige affektive Störungen (F38)

Nicht näher bezeichnete affektive Störungen (F39)

Anpassungsstörung (F43.2)

Postpartum Depression (F53.0)

Organische affektive Störung (F06.3)

Konzepte zur Anwendung kamen, liegt mit diesem Buch kein vollständigneues Werk vor. Es werden die bewährten und erfolgreichen, auf wissen-schaftlichen Evidenzen begründeten Erklärungen und Behandlungen über-nommen, doch um aktuelle Entwicklungen und Interventionen ergänzt. Esist so ein Buch entstanden, das Neues und weiterhin Bewährtes, man könnteauch sagen Modernes und Klassisches miteinander verbindet.

Tübingen, August 2009 Martin Hautzinger

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4

1 Beschreibung der Störung

Neben der umgangssprachlichen Anwendung des Begriffs „Depression“auf Verstimmtheitszustände im Bereich normalen Erlebens wird von De-pressionen im Bereich psychischer Störungen auf drei Ebenen gesprochen:(a) auf der symptomatologischen Ebene, wenn es um Einzelsymptome wiez. B. Traurigkeit oder Niedergeschlagenheit geht; (b) auf der syndromalenEbene als ein als zusammenhängend angenommener Merkmalskomplexmit emotionalen, kognitiven, motorischen, motivationalen, physiologischen,endokrinologischen Komponenten; und schließlich (c) als Oberbegriff fürmöglicherweise verschiedene Erkrankungen und dem zugehörigen (hypo-thetischen) Ursachen-, Verlaufs- und Behandlungswissen.

Akute depressive Syndrome sind durch eine Vielzahl heterogener Symptomegekennzeichnet. Charakteristisch ist, dass körperliche und psychische Symp-tome gemeinsam vorkommen. In Tabelle 1 sind die wesentlichen Symptomeeiner Depression nach psychologischen Gesichtspunkten geordnet. Hilfreichist die Unterscheidung in Symptome auf emotionaler, motivationaler, kog -nitiver, vegetativ-somatischer, motorisch-behavioraler und interaktionellerEbene.

Da keines der in der Tabelle aufgeführten Symptome vorkommen muss,keines nur bei depressiven Störungen vorkommt und außerdem Patienten inunterschiedlicher Ausprägung ein unterschiedlich zusammengesetztes Mus-ter von Symptomen haben können, erfordert das Erkennen einer akuten de-pressiven Störung eine sorgfältige Diagnostik.

Leitsymptomesind Nieder -

geschlagenheit,Freudlosigkeitund Antriebs -

losigkeit

Körperliche und psychische

Symptome kommen

gemeinsam vor

Erkennen depressiver

Störungen erfordert eine

sorgfältige Diagnostik

Merke:

Niedergeschlagenheit, traurige Verstimmung, Gefühllosigkeit, Angst, An-triebsminderung, Selbstzweifel, Wertlosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Sinnlo-sigkeit, häufig begleitet von Ängstlichkeit und Unruhe, Energielosigkeit, Ap-petitstörungen, Gewichtsverlust, Libidoverlust, Schlafstörungen, Schmerzen,Konzentrationsprobleme und Suizidideen sind typische Beschwerden undAuffälligkeiten einer akuten Depression.

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1.1 Definitionskriterien und Diagnostik

Akute Depressionen werden heute durch eine gewisse Anzahl gleichzeitigvorhandener Symptome, die über eine gewisse Zeit andauern müssen undnicht durch andere Erkrankungen bzw. Umstände erklärbar sind, definiert(vgl. Kasten). Der Verlauf, die Schwere (leicht, mittelgradig, schwer) unddie besondere Ausprägung der Symptomatik (z. B. somatisch, psychotisch)werden zur Definition von weiteren Untergruppen herangezogen.

Schweregradeder Depression

Akute Depression

1. Depressive Stimmung in einem für den Betroffenen deutlich abnormenAusmaß, die meiste Zeit des Tages, fast jeden Tag, weitgehend unbeein-flusst durch äußere Umstände und mindestens zwei Wochen anhaltend.

Bezogen auf den in (1) kodierten Zeitraum zusätzlich:2. Verlust von Interesse oder Freude an Aktivitäten, die normalerweise

angenehm sind.3. Verminderter Antrieb oder erhöhte Ermüdbarkeit.4. Verlust von Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl.5. Unbegründete Selbstvorwürfe oder ausgeprägte und unangemessene

Schuldgefühle.6. Wiederkehrende Gedanken an den Tod oder Suizid oder suizidales

Verhalten.7. Klagen über oder Anzeichen für vermindertes Denk- oder Konzen-

trationsvermögen wie Unentschlossenheit oder Unschlüssigkeit.8. Änderung der psychomotorischen Aktivität mit Agitiertheit oder Hem-

mung.9. Schlafstörungen jeder Art.

10. Appetitverlust oder gesteigerter Appetit mit entsprechender Gewichts-veränderung.

Beurteilung mit Hilfe der Symptome (1) bis (10) in … Episode:• Leicht: Insgesamt mindestens 4 der Symptome (1) bis (10), darun-

ter mindestens 2 der Symptome (1) bis (3).• Mittelschwer: Insgesamt mindestens 6 der Symptome (1) bis (10),

darunter mindestens 2 der Symptome (1) bis (3).• Schwer: Insgesamt 7 bis 8 der Symptome (1) bis (10), darunter alle

3 Symptome (1), (2) und (3).

Keinerlei Hinweise auf (frühere) Hypomanie und Manie!

Falls eine depressive Episode oder eine rezidivierende depressive Störungvorliegt, bedarf es ergänzend der Beurteilung, ob die diagnostischen Kri-terien für ein „somatisches Syndrom“ erfüllt sind.

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Endogenität

Die veraltete, nicht länger gebrauchte Diagnose einer „endogenen Depres-sion“ wird heute als „Major Depression mit Melancholie“ (DSM-IV) oder„Depressive Episode mit somatischen Symptomen“ (ICD-10) beschrieben.Die folgenden Symptome weisen die höchsten Korrelationen auf und werdenzur Charakterisierung herangezogen: Psychomotorische Veränderungen (inder Regel Hemmung, gelegentlich aber auch Agitation), Schwere depres-sive Symptomatik und Mangel an Reagibilität, depressive (nihilistische)Wahnideen, Schuld- und Selbstvorwürfe, deutlicher Interessenverlust, (ter-minale) Schlafstörungen, Morgentief, Appetitverlust. Ob Verlaufskriterienoder das Ansprechen auf Behandlung weitere differenzierende Merkmaledarstellen, ist umstritten.

Psychotische Symptome

Diese zusätzliche Beschreibung einer depressiven Episode erfordert das Vor-liegen stimmungskongruenter wahnhafter Symptome. Diese haben im Rah-men einer Depression typischerweise den Inhalt von Schuld, Sünde, Ver-armung, Strafe, selten von Verfolgt-werden. Bei Manien herrschen Inhalteder Wichtigkeit, der Einmaligkeit, der Größe, der Unverletzbarkeit, dochauch des Geliebtwerdens vor. Bei stimmungsinkongruenten psychotischenSymptomen bzw. bei zusätzlich formalen Denkstörungen ist die Diagnoseeiner schizoaffektiven oder einer schizophrenen Störung in Erwägung zuziehen.

Endogene Depression ist veraltete Diagnose

PsychotischeSymptome drehen sich umSchuld, Sünde,Verarmung,Strafe

Somatisches Syndrom bei einer akuten Depression (mindestens 4 aus folgenden 8):

1. Deutlicher Verlust von Interesse oder Freude an Aktivitäten, die nor-malerweise angenehm sind.

2. Mangelnde Fähigkeit, emotional auf Ereignisse oder Aktivitäten zureagieren, auf die normalerweise eine emotionale Reaktion erfolgt.

3. Frühmorgendliches Erwachen zwei Stunden oder mehr vor der ge-wohnten Zeit.

4. Morgentief der Depression.5. Objektive Hinweise für ausgeprägte psychomotorische Hemmung oder

Agitiertheit (von anderen bemerkt oder berichtet).6. Deutlicher Appetitverlust.7. Gewichtsverlust (5 % oder mehr im vergangenen Monat).8. Deutlicher Libidoverlust.

8

Winter -depression

PostpartumDepression

Organisch bedingte

Depression

Ergänzende Unterteilungen

Weitere Spezifizierungen depressiver Störungen ergeben sich durch das jah-reszeitlich gebundene Auftreten affektiver Störungen („Winterdepression“bzw. „saisonal abhängige Depression“) und durch das Auftreten einer De-pression in engem zeitlichen Zusammenhang mit der Geburt eines Kindes(„Postpartum Depression“) oder in Verbindung mit der Menstruation („Prä -menstruelle Dysphorische Störung“ – vgl. Schwärzler & Hautzinger, 2002).Ferner werden atypische Depressionen (ängstliche Symptome, Hypersom-nie, Hyperphagie, Gewichtszunahme), leichte, subklinische Depressionen(„Minor Depression“) und eine nicht näher bezeichnete Depression („De-pression NNB“) unterschieden.

Die Unterkategorien der „Altersdepression“ (Erstmanifestation im höherenLebensalter, Dominanz somatischer Symptome), der „larvierten Depres-sion“ (sich hinter somatischen Symptomen verbergende affektive Störung),der „symptomatischen Depression“ (Depression als Begleitung körperli-cher Erkrankungen), der „organischen Depression“ (Depressionen verur-sacht z. B. durch Tumore, Schlaganfall) und der „sekundären Depression“(Trennung von Störungen nach zeitlicher Manifestation bzw. nach Domi-nanz von Symp tomen) werden heute offiziell nicht länger als Subkategorienverwendet, finden jedoch im klinischen Rahmen noch vielfach Verwendung.

1.2 Differenzialdiagnose

Traurigkeit, Selbstzweifel, Resignation, Dysphorie und das Auftreten ein-zelner depressiver Symptome ist nicht gleichbedeutend mit dem Vorliegeneiner Depression. Auf der anderen Seite gibt es zahlreiche Studien, die zei-gen, dass mit körperlichen Erkrankungen, Somatisierungsstörungen, Subs -tanzmissbrauch bzw. -abhängigkeit, endokrinen bzw. immunologischen Stö-rungen, zerebralen Abbauprozessen sowie mit neurologischen ErkrankungenDepressionen einhergehen. Es gibt Schätzungen, dass 15 bis 20 % der Pa-tienten in einer Allgemeinarztpraxis an in der Regel nicht erkannten akutenDepressionen leiden, entsprechend nicht bzw. falsch behandelt werden undso zur Chronifizierung der Störung beigetragen wird.

Merke:

Für eine Differenzialdiagnose einer Depression ist zunächst auszuschließen,dass die deutlich depressive Stimmung durch eine körperliche Erkrankung(wie z. B. Schilddrüsenunterfunktion, bestimmte neuronale Noxen und Fehl-funktionen usw.) oder durch Substanzabhängigkeit bzw. Medikamentenwir-kung bedingt ist.

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Dies bedarf in jedem Fall einer gründlichen ärztlichen, apparativen und labormedizinischen Abklärung. Weiterhin ist die direkte Einwirkung vonMedikamenten, Drogen und Alkohol zu klären, die ein depressives Bildzur Folge haben können. Insbesondere mit fortschreitendem Alter bekom-men selbst verordnete Medikamente (z. B. Antihypertensiva) in diesem Zu-sammenhang diagnostische Bedeutung.

Daher gehört zur Diagnostik einer Depression immer auch eine gründlicheärztliche (kardiovaskuläre, internistische, respiratorische, neurologische, me -ta bolische, endokrine und immunologische) Untersuchung, was Blutbild,Elektrolyte, Leber- und Nierenfunktion, Schilddrüse, EEG, CT, MRT ein-schließt.

Psychopathologisch ist dann das Vorliegen einer bipolaren affektiven Stö-rung bzw. einer Zyklothymie zu bestimmen bzw. auszuschließen. Dies er-fordert die Berücksichtigung der Kriterien nach ICD-10 für eine DepressiveEpisode und eine Manische Episode, eine Hypomanie bzw. eine Zyklothy-mie. Liegt eine dieser Störungen vor, dann hat dies therapeutische Konse-quenzen, da sowohl pharmakologisch als auch psychotherapeutisch in derRegel eine unipolare Depression anders behandelt wird als eine Depressionim Rahmen einer bipolar affektiven Störung (siehe dazu Meyer & Hautzin-ger, 2004 bzw. den geplanten Band zu bipolar-affektiven Störungen in die-ser Buchreihe, Meyer & Hautzinger, 2010).

Die unipolaren akuten Depressionen werden unterteilt in depressive Episo -den, Dysthymien und Anpassungsstörungen (kurze bzw. längere depressiveReaktion). Bei den diagnostischen Kriterien nach ICD-10 wird deutlich, dassdie möglichen Symptome dieser Störungen identisch sind. DiagnostischeUnterschiede ergeben sich durch die Menge zeitgleich auftretender Be-schwerden, die zeitliche Erstreckung dieser Symptome und durch den Zu-sammenhang (innerhalb 6 Monate nach Ereignis) depressiver Symptome miteiner psychosozialen Belastung (bei der Anpassungsstörung). Zur „chroni-schen Depression“ (wozu auch die Dysthymien gehören) wird auf das Buchvon Schramm, Brakemeier und Hautzinger (in Vorb.) und bezüglich der„Anpassungsstörungen“ auf das Buch von Bengel und Hubert (2010) indieser Reihe verwiesen.

Wichtig ist die Abgrenzung der „Trauer“ von einer Depression. Trauerre-aktionen können durchaus Symptome einer Depression aufweisen. Stehendepressive Symptome in engem Zusammenhang mit dem Tod einer nahestehenden, geliebten Person, dann gilt dies als sozial erwartet und normal.Wir sprechen von einer Trauerreaktion bzw. Trauerphase und sehen darinkeine Störung mit Krankheitswert. Erst wenn eine Trauerreaktion über Mo-nate (ab 2 Monate) unverändert anhält, zu suizidalen Krisen oder gar schwe-ren, somatischen bzw. psychotischen Symptomen führt, gilt dies als abnormund behandlungsbedürftig. Das Buch von Znoj (2004) zum Verständnis undHilfe bei „Komplizierter Trauer“ ist hier zu empfehlen.

Bipolare Störung bzw.Zyklothymieausschließen

Akute Depres-sionen werdenunterteilt in: Depressive Episoden, Dysthymien,Anpassungs -störungen

Abgrenzung zu Trauer

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Im Anhang (vgl. S. 85/86) findet sich ein Entscheidungsbaum, der nochmalsdiese Differenzialdiagnosen für alle affektiven Störungen zusammenfasst.Differenzialdiagnostisch wichtig ist insbesondere der Ausschluss einer durchkörperliche Prozesse provozierten bzw. durch Substanzen induzierten akutenDepression. Ferner ist beim Vorliegen wahnhafter Symptome die Abgren-zung von schizophrenen bzw. schizoaffektiven Störungen wichtig.

Akute Depressionen können parallel zu, in Folge von und/oder als Vorläu-fer von allen psychischen Störungen auftreten und sind beim Vorliegen derentsprechenden Kriterien auch zusätzlich zu den anderen Störungen, etwaeiner Zwangsstörung oder einer Alkoholabhängigkeit, zu diagnostizieren(multiple Diagnosen, Komorbidität).

1.3 Epidemiologie und Risikofaktoren

1.3.1 Prävalenz, Inzidenz und Morbiditätsrisiko

Depressionen sind häufige psychische Störungen, die zudem in den letztenJahrzehnten offensichtlich zunehmen, immer jüngere Altersgruppen erfas-sen und bereits eine echte „Volkskrankheit“ darstellen. Nach Schätzungender Weltgesundheitsorganisation werden Depressionen bis zum Jahr 2020die Krankheit sein, die neben den Herz-Kreislauf-Erkrankungen die meis-ten gesunden und unbeeinträchtigten Lebensjahre rauben werden. Es liegenheute eine ganze Reihe repräsentativer epidemiologischer Studien vor, dierecht übereinstimmende Schätzungen der Häufigkeit und der Risikofakto-ren erlauben.

Untersuchungen in Industrienationen, unter Anlegen der Kriterien opera-tionaler Diagnostik (DSM-IV, ICD-10), kommen zu einer Punktprävalenzfür depressive Störungen von 6,3 %. Die Jahresprävalenz derselben Störun-gen liegt bei 11,9 %. Tabelle 2 fasst den aktuellen Kenntnisstand zur Epide -miologie zusammen. Dabei liegt die Nichtbehandlungsquote bei über 60 %(Jacobi et al., 2004).

Zunahme derHäufigkeit in

den letztenJahrzehnten

Tabelle 2: Häufigkeiten akuter Depressionen nach den Bundesgesundheitssurvey

4-Wochen-Punktprävalenz

12-Monats-Prävalenz

Lebenszeit-Prävalenz

Depression (insgesamt) 6,3 % 11,9 % 17,1 %

Frauen 7,8 % 15,4 % 23,3 %

Männer 4,8 % 8,5 % 11,1 %

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Die Inzidenzschätzungen (neue Fälle pro Jahr) für die Diagnose einer de-pressiven Episode liegen bei 1 bis 2 Neuerkrankungen auf 100 Personen.Die Wahrscheinlichkeit, im Laufe des Lebens eine Depression zu erleiden,liegt bei bis zu 11,1 % für Männer und bis zu 23,3 % für Frauen. Mehrereinternationale Studien sowie die Hochrechnungen der WHO (2004) unter-stützen diese Zahlen.

1.3.2 Risikofaktoren

In Bezug auf Risikofaktoren bzw. protektive Faktoren, die Einfluss auf dieErkrankungswahrscheinlichkeit einer akuten Depression haben können, lässtsich Folgendes sagen.

Geschlecht: Frauen weisen in nahezu allen (Quer- und Längsschnitt-)Unter -suchungen ein doppelt so hohes Erkrankungsrisiko für Depressionen wieMänner auf. Neuere Studien, insbesondere unter Berücksichtigung jüngererStichproben und mehrerer Indikatoren (Punktprävalenz und Inzidenz), lassenvermuten, dass das Erkrankungsrisiko für Mädchen und junge Frauen höherist und außerdem im Jugendalter bzw. frühen Erwachsenenalter steiler an-steigt als für Jungen und junge Männer. Frauen weisen zudem eine höhereRückfallneigung für weitere depressive Episoden auf. Diese Geschlechts-unterschiede werden im mittleren und höheren Lebensalter geringer, bleibenjedoch erhalten.

Lebensalter: Depressionen treten in allen Lebensaltern auf. Lag in früherenUntersuchungen der Ersterkrankungsgipfel zwischen dem 30. und 40. Le-bensjahr, so zeigen neuere Studien, dass sich dieser Altersgipfel vorverlagerthat, nämlich zwischen das 18. und 25. Lebensjahr (WHO, 2004). Offensicht-lich gibt es zwischen Geschlecht und Lebensalter insofern einen Zusam-menhang, als das Erkrankungsrisiko bei Frauen im jüngeren Alter höherist, rascher ansteigt, früher einen Gipfel erreicht und so bis ins Alter derGeschlechtsunterschied bezüglich der Depressionsrate erhalten bleibt.

Sozio-ökonomische Faktoren: Unter den sozialen Faktoren sind der Famili-enstand und das Vorhandensein bzw. Fehlen einer vertrauensvollen persön-lichen Beziehung als Risiko- bzw. Protektionsfaktoren bei unipolaren De-pressionen gesichert. Getrennte und geschiedene Personen und solche ohnevertraute Personen erkranken eher. Als wichtige protektive Faktoren erwie-sen sich positive Sozialbeziehungen, aber auch der Wohn- und beruflicheBereich. Verheiratete Personen, Personen mit höherer Bildung und beruf-licher (sicherer) Anstellung sowie ein Wohn- und Lebensraum in eher länd-lich-kleinstädtischer Umgebung hatten in einer amerikanischen Studie dieniedrigsten Depressionsraten.

Stressreiche, traumatische Belastungen: Belastende und traumatisierendeLebensereignisse kommen in der Vorgeschichte einer Person und im Vor-

Morbiditäts-risiko für Depressioneninsgesamt 17 %

Frauen erhöhtes Risiko

Frühes Erwachsenen -alter erhöhtesRisiko

Soziale Benach-teiligung, Allein-leben erhöhendas Risiko

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feld depressiver Episoden gehäuft vor. Dies gilt für personenabhängige(Krankheiten, Misserfolge usw.), aber auch für unabhängige (nicht durchdie Krankheit oder den Patienten selbst herbeigeführte) Ereignisse (z. B.Verlust, Trennung, Misshandlung). Belastende Ereignisfolgen (chronischeBelastungen) in Zeiträumen, in denen keine Erholung von den früheren Be-lastungen eintreten kann, scheinen besonders kritisch zu sein. Stress stehtin engem Zusammenhang mit der Art (Schicht, familiäres Milieu, ländlich,städtisch) und mit dem Grad der Komplexität (Industrialisierung) der Le-benswelt. Eine Studie konnte zeigen, dass sowohl in Nigeria als auch inKanada, die Depressionsraten auf dem Land (10,1 bis 17,7 %) niedriger sind,als in der Großstadt (20,7 bis 32,7 %). In Nordamerika finden sich deutlichhöhere Depressionsraten als in Afrika.

Familiäre Belastung: Bei Depressionen erweist sich die familiäre Belastungmit affektiven Störungen als die einflussreichste Risikovariable. Angehörigeersten Grades von Patienten mit einer manisch-depressiven Erkrankung wei-sen ein Erkrankungsrisiko für Depressionen von 25 %, Angehörige unipo-lar depressiv Erkrankter von 20 % und Angehörige gesunder Kontrollperso-nen von 7 % auf.

1.4 Verlauf und Prognose

Alle Verlaufsstudien kommen zu dem Schluss, dass die Verläufe von depres-siven Syndromen eine große interindividuelle Variabilität aufweisen. An-gesichts dieser großen Variabilität der Krankheitsverläufe und des Fehlenseindeutiger Parameter wird von verschiedenen Fachgesellschaften folgendeEinteilung in Abschnitte einer depressiven Episode (vgl. Abb. 1) vorgeschla-gen: „Remission“ wird definiert als Zustand bzw. kurze Zeitstrecke der (voll-ständigen oder partiellen) Besserung depressiver Symptomatik; „Recovery“(Genesung) ist eine vollständige Remission über einen längere Zeitstrecke(je nach Kriterium nach 2 bis 6 Monaten), dabei ist der Bezug die aktuelledepressive Episode; „Rückfall (Relapse)“ ist das Wiederauftreten von de-pressiven Symptomen während der Remission, bevor Genesung („Reco-very“) erreicht und damit die aktuelle depressive Episode abgeschlossen ist;„Wiedererkrankung (Recurrence)“ ist das Auftreten einer neuen depressiven

Lebens -ereignisse und

Traumatisierungerhöhen Risiko

Familiäre Belastung vergrößert

Erkrankungs -risiko

Große Variabilität

der Krankheits-verläufe

Merke: Risikofaktoren für eine akute Depression

Frühere depressive Phasen, frühere traumatisierende Erfahrungen, weiblichesGeschlecht, jüngeres Erwachsenenalter, familiäre Belastung mit affektivenStörungen, dysharmonische Partnerschaft, Mangel an sozialen Stützsyste-men, untere soziale Schichtzugehörigkeit, belastende Lebensereignisse,chro nische Belastungen, städtische Lebensumwelt, Industrialisierung undModernisierung.