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1 Al-Gazali und seine Zeit 1 Der Islam macht von sich reden und der Westen ist fasziniert, nicht zuletzt von dessen Selbstbewusst- sein und Dynamik. Ob das grosse Interesse der westlichen Welt am Islam auch Ausdruck von Sinnsuche, Toleranz- bedürfnis oder Ängsten ist, vielleicht auch der abseh- baren demographischen Entwicklung geschuldet ist, sei dahingestellt. Für mich ist dieses Interesse Anlass, mich etwas sorgfältiger mit dem Islam zu beschäftigen, allein schon, um mir ein eigenes Bild von den Dingen machen zu können, sind doch einschlägige Betrachtungen und Meinungsäusserungen oft arg interessensgeleitet und ideologiebefrachtet. Weshalb interessiere ich mich nun gerade für Abu Hamid Muhammad al-Gazali, einen islamischen Theologen aus dem 11./12. Jahrhundert ? Weil al-Ghazali der bedeutendste, wirkungsmäch- 1 Vortrag im Paul-Drude-Institut, Berlin, am 11.5.2010 Autor: Harald Böttger, e-mail: [email protected]

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Al-Gazali und seine Zeit1

Der Islam macht von sich reden und der Westen ist fasziniert, nicht zuletzt von dessen Selbstbewusst- sein und Dynamik. Ob das grosse Interesse der westlichen Welt am Islam auch Ausdruck von Sinnsuche, Toleranz- bedürfnis oder Ängsten ist, vielleicht auch der abseh- baren demographischen Entwicklung geschuldet ist, sei dahingestellt. Für mich ist dieses Interesse Anlass, mich etwas sorgfältiger mit dem Islam zu beschäftigen, allein schon, um mir ein eigenes Bild von den Dingen machen zu können, sind doch einschlägige Betrachtungen und Meinungsäusserungen oft arg interessensgeleitet und ideologiebefrachtet. Weshalb interessiere ich mich nun gerade für Abu Hamid Muhammad al-Gazali, einen islamischen Theologen aus dem 11./12. Jahrhundert ? Weil al-Ghazali der bedeutendste, wirkungsmäch- 1 Vortrag im Paul-Drude-Institut, Berlin, am 11.5.2010

Autor: Harald Böttger, e-mail: [email protected]

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tigste islamische Gelehrte des Mittelalters ist, der die islamische Geistes- und Wissenschaftsgeschich- te, die islamische Gesellschaft ganz wesentlich mitgeprägt hat, bis heute. So ist die orthodoxe Richtung des heutigen Reform- Islam, dessen Ziel das Wiedererstarken des Islam durch Wiederbelebung des religiösen Denkes ist, wesentlich Ideen al-Ghazalis verpflichtet. Angemerkt sei, dass der heutige Neokreationismus sich auch mit auf al-Ghazali beruft, z.B. bei der Be- weisführung ( William Lane Craig, amerikanischer Philosoph) für einen zeitlichen Anfang der Welt. Mein Vortrag über „Al-Ghazali und seine Zeit“ besteht aus zwei Teilen: 1.Al-Ghazalis Denken und Werk 2.Geistige und politische Situation zur Zeit al-Gazalis

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1.Al-Ghazalis Denken und Werk

Al-Ghazali war überzeugt von der buchstäblichen Gültigkeit des Koran und lehnte es ab,die koranische Offenbarung durch Denken zu problematisieren, be- fürchtete er doch, dass der Gelehrten Erörterung den frommen Moslem in seinem Glauben verunsichern könnte. In seiner berühmten Schrift „Widerlegung der Philo- sophen“ („Tahafut al-falasifah“) versucht er,mit Hilfe der Methoden der Philosophen nachzuweisen, dass in den Koran betreffenden Fragestellungen, die Ver- nunft, die Philosophie, ein untaugliches Mittel zum Finden der Wahrheit sei, kann sie doch bestimmte Fragen nicht beantworten und führt sie in manchen Fällen gar zu direkten Irrtümern.

In seinem Spätwerk , „Der Erretter aus dem Irrtum“, seiner Autobiographie, beschreibt al-Ghazali,wie er nach sorgfältigem Studium von Philosophie und mit rationaler Argumentation arbeitender Theologie, schliesslich zu der Überzeugung kam, dass zweifels-freie metaphysische Erkenntnis nicht durch Sinnes- erfahrung und Vernunft gewonnen werden kann ,

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sondern allein durch intuitive, mystische Erkenntnis, durch Gotteserfahrung, göttliche Erleuchtung.

Der Weg al-Ghazalis, weg vom Rationalen hin zum Mystischen, Sprirituellen beförderte, vielleicht gar be- wirkte den Niedergang von Philosophie und Wissen- schaft im Islam, von dem sich der Islam bis heute nicht wieder erholt hat.

Worauf gründete sich al-Ghazalis grosser Einfluss?

Al-Ghazali war von 1091 bis 1095 Professor der Theologie an der berühmten Nizamijah Medrese in Bagdad und „erwarb sich in dieser Stellung als höchstrangiger Lehrer der islamischen Gemein-schaft in Bagdad grösstes Ansehen und war auch als politischer Berater gefragt“ (Wikipedia).

Er war der führende Vertreter der Ascharia-Schule, der orthodoxen Richtung der rationalen islami-schen Theologie (Kalam).

Seine Schriften zeugen von gründlicher Kenntnis in griechischer und islamischer Philosophie, islami-schem Recht, Logik, islamischer Mystik.

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Er verfasste über 400 Schriften, davon sind noch ca. 70 erhalten.

In „Islamic Philosophy Online“ sind über 80 Disserta- tionen über al-Ghazali aufgelistet.

Unter „amazon.com“ kann man über 2000 Bücher von/über al-Ghazali finden.

Nach dem „Kirchenlexikon“ war al-Ghazali der grösste Denker des Islam.

Al-Ghazali und die Wissenschaft im Islam

Geschichte der Wissenschaft im Islam nach Abdus Salam (Physiker, Nobelpreisträger):

„Von 750 bis 1100 war die muslimische Umma (Weltgemeinschaft) auf dem Gebiet der Wissen-schaft in der Welt absolut führend. Von 1100 bis 1350 teilten wir diese Führungsrolle mit dem aufstrebenden Westen.

Seit dem 15.Jahrhundert befindet sich unsere Wis-senschaft in einem steten Niedergang.

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Heute ist die Wissenschaft am schwächsten in den islamischen Ländern.“

Und nun,exemplarisch,Stimmen zweier Physiker zu al-Ghazalis verderblichem Einfluss auf die Wissen- schaft im Islam:

Steven Weinberg (Nobelpreisträger) in „The Times“ (2007): „…Auf Grund des Einflusses religiöser Führer wie al-Ghazali hat die islamische Gesellschaft auf dem Gebiet der Wissenschaft nach dem 12. Jahrhundert nichts Bedeutendes mehr hervorgebracht…“ „…Im 12.Jahrhundert wandte sich der Islam gegen die Wissenschaft. Die einflussreichste Figur, der Philosoph al-Ghazali,bestritt die Existenz von Natur- gesetzen, würden diese doch Gott die Hände bin- den…“.

Pervez Hoodbhoy ( pakistanischer Kernphysiker ) in seinem Buch „Islam and Science“ (1991) ( vgl. auch Hoodbhoys Plenarvortrag auf der Physiker- tagung,Regensburg,2007 ( nachlesbar im Internet )): „… Al-Ghazali stellte Offenbarung über Vernunft,Vor- sehung über freien Willen.Er bestritt das Kausalitäts- prinzip und lehrte, dass man nicht wissen bzw. nicht vorhersagen könne,was sich ereignen wird. Nur Gott

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allein könne dies. Er verdammte die Mathematik als gegen den Islam gerichtet, als Gift für den Geist, das den Glauben schwächt.“

Meinungsäusserungen von der Art Weinbergs und Hoodbhoys bleiben von islamischer Seite nicht un- widersprochen . So lautet eine von Ahmad Shafaat ( Mathematiker, Montreal ) an Hoodbhoy geäusserte Kritik: „Hoodbhoys Perspektive in „Islam and Science“ ist bestimmt durch Verlust des Glaubens und unausge- gorene Rationalität“.

Wissenschaft aus der Perspektive der ascheritischen Theologie, der islamischen Orthodoxie

Nach al-Ascheria (873-935) sind „alle Geschehnisse Taten Gottes, beruhend auf seiner Wahl, seiner Len- kung und Massgabe …“.

Die von al-Ascharia begründete orthodoxe Richtung der rationalen islamischen Theologie wurde von al-Ghazali zur führenden Schulrichtung im sunnitischen

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Islam entwickelt, deren Lehren noch heute Gehör finden.

Nach der Lehre der Ascheriten ist die koranische Offenbarung ,das Wort Gottes, die höchste Form des Wissens. Die fremde ( griechische ) Wissenschaft bietet nur Wissen einer minderwertigereren Form. Alles Wissen , alles Wissbare und damit auch alles wissenschaftliche Wissen ist schon im Koran ange-legt und kann, wenn nötig,durch Verstandesschlüsse erhellt werden. ( Koranische ) Wissenschaft soll den Koran bestätigen, nicht aber Wissen schaffen.(Nicht- koranische ) Wissenschaft ist Sünde, da sie den Unglauben fördert. Es gibt keine Kausalität, da alles Geschehen in Gottes Hand liegt. Gott ist die einzige Ursache. Was uns als Gesetz erscheint, ist nur die Gewohnheit Gottes.

Moslemische Stimmen aus heutiger Zeit zur Wissenschaft im Islam

George Saliba (arabischer Islamwissenschaftler,New York): „Alle islamischen Wissenschaftler waren got-tesfürchtig… Al-Ghazali hat der Wissenschaft nicht geschadet, gibt es doch im Islam keinen Konflikt zwischen Wissenschaft und Religion...“.

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Seyyed Hossein Nasr ( iranischer Islamwissen- schaftler, Washington D.C): „Nur durch Integration einer spirituellen Perspektive kann eine Wissenschaft erzeugt werden,die mit dem Islam vereinbar ist …“.

Mahmoud Zakzouk ( ägyptischer Theologe und Reli- gionsminister): „Die Freiheit des Denkens und der wissenschaft-lichen Forschung wird durch den Islam garantiert, aber nur so lange, wie damit die Heiligkeit des Koran und der Überlieferungen des Propheten nicht ange- tastet wird…“.

Bassam Tibi (syrischer Politikwissenschaftler,Göttin-gen): „Wenn Muslime von Wissenschaft sprechen, dann meinen sie Koran-Exegese und nicht was Europäer unter Wissenschaft verstehen…“ „Da die islamische Theologie die beste ist, die Gott geschaffen hat… besteht bei den Muslimen ein phy- sisches Hindernis, von anderen Kulturen zu lernen, fühlen sie sich doch diesen überlegen…“.

Und jetzt noch eine nicht-moslemische Stimme: Jo-hann Christoph Bürgel (Islamwissenschaftler,Bern): „Das „Aus“ für die griechische Philosophie war … in

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der islamischen Denkstruktur wohl vom Ursprung her angelgt, wurde aber ganz wesentlich gefördert durch al-Ghazali, der zu den einflussreichsten Leh- rern des islamischen Mittelalters zählt, der in seinem Werk „Widerlegung der Philosophen“ der aristote- lischen Philosophie einen tödlichen Stoss versetzt hat…“.

Al-Ghazalis Schrift „Widerlegung der Philos- sophen“ („Tahafut al-falasifah“)

Mit dieser Schrift wollte al-Ghazali zeigen, dass in grundsätzlichen theologischen Fragen Vernunftser- kenntnis versagen, ja gar zu falschen Aussagen füh-ren kann, dass somit der Anspruch der Philosophen, philosophische Erkenntnis sei jeder anderen Form der Erkenntnis überlegen, haltlos ist.

Mit diesem Angriff auf die Glaubwürdigkeit der Philo- sophen hoffte er,deren Einfluss auf die moslemische Gesellschaft schwächen und so die Rolle der ge-fühlsbetonten Religiosität, der spirituellen Dimension der Religion, stärken zu können.

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Er sah in den Philosophen eine Gefahr, dass reine Verstandesbeweise Urteile auf der Grundlage der Scharia ( Gottes Gesetz, Quelle der moslemischen Identität ) erübrigen könnten.

Und er befürchtete, dass der fromme Moslem durch den wissenschaftlichen Diskurs der Philosophen im Glauben und in der Befolgung der Glaubensvor-schriften verunsichert werden könnte.

In seiner Schrift begnügt er sich nicht, zu den strit-tigen Punkten Koranverse zu zitieren, die zeigen, dass die Ansichten der Philosophen im Widerspruch zum Koran stehen.

Sondern er benutzt die Sprache der Philosophen,be-dient sich rationaler logischer (skeptizistischer) Argu- mentation, ist doch seine Schrift vornehmlich an Phi- losophen gerichtet.

Die Gesamtheit der Irrtümer der Philosophen fasst er in 20 Thesen zusammen.

Drei Thesen hält er für so schwerwiegend, dass er demjenigen, der sie vertritt, die Sünde des Unglau- bens zur Last legt, die mit der für Apostasie ( Abfall

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vom Islam ) vorgesehenen Todesstrafe zu sühnen sei.

Die übrigen 17 Thesen hält er für weniger schwer- wiegend, für häretisch.

Zu den drei todeswürdigen Thesen gehört die Lehre von der Ewigkeit und Unerschaffenheit der Welt.

BEWEIS der PHILOSOPHEN für die EWIGKEIT der Welt:

Prämissen: (a) Gott ist von Ewigkeit her Ursache der Welt. (b) Eine Ursache bedingt mit Notwendigkeit eine Wirkung. Die Wirkung kann nicht zeitlich verzögert eintreten. Schluss: Aus (a) und (b) folgt, dass die Welt von Ewigkeit her existiert.

AL-GHAZALI akzeptiert die Prämisse (a), und dass, falls auch die Prämisse ( b) richtig ist, auch der Schluss richtig ist.- Aber er zeigt, dass die Prä-misse (b) falsch ist, wie folgt:

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Wäre die Welt ewig, gäbe es eine aktual (tatsächlich) unendliche Menge von Seelen, da ja die Seelen Ver- storbener unsterblich sind. Da jedoch nur potentiell und nicht aktual unendliche Mengen von Dingen exi- stieren können ( Annahme ), kann die Welt nicht schon ewig existieren,d.h. die Prämisse (b) ist falsch.

AL-GHAZALIS SCHLUSSFOLGERUNG: Der Zusammenhang zwischen Vermögen und Ge-wirktem muss nicht notwendig der der Hervorbrin-gung sein. So erstreckt sich die Macht Gottes seit Ewigkeit auf die Welt, ohne dass deren Hervorbrin-gung erfolgt wäre.Die Erschaffung der Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt war das Resultat des Willens Gottes, im Einklang mit dem Koran.

Al-Ghazalis Vorwurf der Häresie und Apostasie war für die islamische Philosophie verderblich. Die Folge war der Verfall des kritischen philosophischen Den- kens seit dem 12.Jahrhundert im islamischen Osten, und dem 13.Jahrhundert im islamischen Westen (im Westen: 1195 erliess der Almohaden-Sultan al-Man- sur ein Dekret zur Verurteilung der Philosophie und „griechischen Wissenschaften“. Averroes wurde an den Pranger gestellt. Seine Bücher wurden ver-brannt).

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Kurzer Exkurs in die sowjetische Physikge- schichte zur Illustration der Wirkung von al- Ghazalis Attacke gegen die Philosophen

Für mich liegt eine gewisse Parallelität zwischen den Bedingungen für Leben und Tätigkeit eines Intellek- tuellen im (mittelalterlichen) Islam und in der Sowjet- union auf der Hand, handelt es sich doch in beiden Fällen um Leben und Tätigkeit in einem System mit staatstragender Ideologie mit dem Anspruch der Wahrheitsgewissheit, woraus sich spezifische Zwän-ge und Notwendigkeiten ergeben, wie Legitimie-rungszwang für neue Gedanken durch Belege aus den kanonischen Schriften, das Prinzip Wissen für die Eingeweihten und Ritus für das Volk , Rück-zug in die innere Emigration zur Wahrung der Frei-heit des Denkens usw.

Diese Parallelität erhellt sich, wenn wir erneut die Frage der Ewigkeit oder Nichtewigkeit der Welt auf- greifen.

Grundlegendes Dogma des Dialektischen Materialis- mus ist die Einheit der Welt in der Materie, die ewig sei und einen unendlich grossen Raum erfülle.

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Im Jahre 1922 fand jedoch der sowjetische Physiker Alexander Friedmann (1888 –1925) eine Lösung der Einstein-Gleichungen der Allgemeinen Relativitäts- theorie, die ein dynamisches Universum, mit Urknall und Expansion des Weltalls, beschreibt.

Obwohl seit der Beobachtung und Deutung der Rot- verschiebung der Galaxienspektren durch Hubble (1929) die Gültigkeit einer solchen Lösung zur Be- schreibung unseres Universums nahezu gewiss ist, wurde die Friedmannsche Theorie seitens der staatstragenden sowjetischen Philosophen über Jahrzehnte heftig attackiert, steht sie doch im Wider- spruch zum Dogma von der Ewigkeit und Unendlich- keit der Welt. Es mussten fast 40 Jahre vergehen, bis sie in der Sowjetunion uneingeschränkte Aner- kennung fand.

Die gegen die Friedmannsche Theorie erhobenen Vorwürfe lauteten u.a. : Relativismus, Wiederbele-bung der Schöpfungslehre, „physikalischer Idealis- mus aufgrund einer heftigen Infektion mit dem Geist der Mathematik“…

Dies waren Vorwürfe ganz im Geiste Lenins ,der in „Materialismus und Empiriokritizismus“ den Physi-kern unterstellt hatte, sie unterlägen immer öfter der

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Versuchung, theoretisch- mathematische Modelle („imaginäre Systeme“, so Lenin) an Wirklichkeits Statt anzunehmen, und so ein „Schwanken des Den- kens in der Frage der Objektivität der Physik“ und „physikalischen Idealismus“ zu fördern.

Erst nach Stalins Tod (1953) eröffnete sich in der Sowjetunion die Möglichkeit, in aller Öffentlichkeit ein räumlich und massenmässig begrenztes Weltall zu diskutieren unter Erwägung eines zeitlichen Beginns.

Erwähnt sei noch das Schicksal des sowjetischen Physikers Matwej Bronstein, der 1936 eine erste physikalische Begründung der Expansion des Welt- alls im Rahmen von Elementen einer Theorie der Quantengravitation formuliert hatte. Er wurde 1938 verhaftet und kurz darauf exekutiert. Der gegen ihn erhobene Vorwurf lautete: Konterrevolutionäre Pläne und ausserdem habe er sich „der Anwendung der materialistischen Dialektik in den Naturwissenschaf-ten heftig widersetzt“ .

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2. Geistige und politische Situation zur Zeit al-Ghazalis

Geistige Situation

Die geistige Situation wurde durch Auseinanderset-zungen auf folgenden Gebieten bzw. zwischen fol- genden Gruppierungen bestimmt:

PHILOSOPHIE: Das Verhältnis von Vernunft und Glauben bzw. aristotelischer Philosophie und isla- mischem Gesetz war von Anfang ( 9. Jh. ) bis Ende ( 13. Jh. ) der islamischen Philosophie eines der Hauptprobleme des philosophischen Diskurses im Islam.

KALAM ( islamische Scholastik ): Zwischen Mutazili- ten (rationalistische Richtung) und Ascheriten (tradi- tionalistische Richtung ) wurde weiterhin heftig ge- stritten, insbesondere über die Geschaffenheit und damit auch Krtisierbarkeit des Koran (Mutaziliten) oder dessen Ungeschaffenheit bzw. Ewigkeit und damit auch Nichtkritisierbarkeit (Ascheriten). Die Blühtezeit der Mutaziliten lag im 8. und 9.Jh.,die der Ascheriten im 10. und 11.Jh.

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HANBALITEN ( konservative Reaktion gegen den Kalam, sunnitische Rechtsschule): Zwischen Han- baliten und Mutaziliten sowie zwischen Hanbaliten und Ascheriten gab es heftige Auseinandersetzun-gen. Die Hanbaliten bestehen auf der wörtlichen Gül- tigkeit von Koran und Hadithen.

SUFISMUS ( islamische Mystik , mit dem höchsten Ziel eines Aufgehens in Gott ): Durch das Wirken al-Ghazalis gewann der Sufismus beträchtlich an Attraktivität und Verbreitung.

SUNNITEN und SCHIITEN / ISMAILITEN: Diese bei-den Glaubensrichtungen des Islam stritten sich ins- besondere über die Unfehlbarkeit des Imam und über die Rechtmässigkeit des Kalifen: ob der Kalif in Bagdad (Abbasside, Sunnit) oder der Kalif in Kairo (Fatimide, Ismailit) der rechtmässige sei.

Das geistige Klima zur Zeit al-Ghazalis kann wie folgt beschrieben werden: Im 11.Jahrhundert begann die geistige Freiheit im Islam immer stärker beschnit-ten zu werden. Der Rationalismus geriet in die De-fensive. Die Mutaziliten wurden der Häresie, die Phi- losophen der Häresie und Apostasie bezichtigt. Eine Kritik der theologischen Vernunft wurde unmöglich. Glauben, Festhalten an Koran und Sunna wurden

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an die Stelle der Vernunft als Weg zur Wahrheit gesetzt. Die Scharia wurde zur höchsten Wahrheit. Rituale wurden mit Glauben identifiziert. Dogma, Orthodoxie und Intoleranz reglementierten das Geistesleben.

Politische Situatuion

Der Abbassiden-Kalif in Bagdad war nur noch geist- liches Oberhaupt der Moslems.

Die politische Macht lag in der Hand der Bujiden (930-1055) , einer schiitischen persischen Dynastie, und danach in der der Seldschuken (1055-1243), ei- ner sunnitischen türkischen Dynastie.

Die Bujiden förderten besonders Schiiten,als Gegen- gewicht zu dem sunnitischen Kalifen. Die Seldschu-ken bekämpften die ismailitisch-schiitischen Fatimi-den.

Der Seldschuken-Sultan Alp Arslan hatte eigentlich einen Feldzug gegen die Fatimiden geplant, aber byzantinische kriegerische Aktivitäten veranlassten ihn zum Feldzug gegen Byzanz.

Byzanz erlitt bei Manzikert (1071) eine vernichtende

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Niederlage und verlor daraufhin einen grossen Teil Anatoliens an die Seldschuken. Damit begann die Enthellenisierung Kleinasiens.

Malik Schah, Sohn und Nachfolger Alp Arslans,nahm den Plan eines Feldzuges gegen die Fatimiden wie-der auf. Er erweiterte seinen Machtbereich auf Ko-sten der Fatimiden nach Syrien und eroberte auch Edessa und Antiochia.

Mächtiger und hoch gebildeter Wesir unter Alp Ars-lan und Malik Schah war der Perser Nizam al-Mulk (1018-1092), der Förderer von al-Ghazali (1058-1111) und Omar Chajjam (1048-1031), dem grossen persischen Dichter und berühmten Mathematiker und Astronomen.

Nizam al-Mulk (bzw. Malik Schah) berief al-Ghazali im Jahre 1091 zum Professor für Theologie an die von ihm gegründete Nizamijah Medrese in Bagdad und machte ihn auch zum politische Berater des Hofes, insbesondere für die geistige Auseinanderset-zung mit dem ideologischen Gegner, den Ismailiten. Letztere Tätigkeit fand ihren Niederschlag in al-Ghazalis berühmter „Streitschrift gegen die Batiniten (Ismailiten)“.

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Omar Chajjam wurde 1076 von Nizam al-Mulk (bzw. Malik Schah) mit der Errichtung und Leitung eines Observatoriums ( Prestigeobjekt Malik Schahs ) in Isfahan beauftragt, sowie mit der Erstellung eines Sonnenkalenders für astrologische Zwecke. Der von Omar Chajjam erstellte Kalender ist genau-er als der Gregorianische. Er wird noch heute im Iran verwendet.

Im Jahre 1092 wurde Nizam al-Mulk ermordet, von einem Assassinen, einem Mitglied der berüchtigten ismailitischen Sekte der Assassinen, gegründet von dem Perser Hasan i-Sabbah (1034-1124), der die Bergfestung Alamut zum Hauptsitz der Sekte machte und von dort aus seine Meuchelmorde plante und in die Tat umsetzte .

Die Ermordung Nizam al-Mulks war der erste Assas- sinen–Mord, der Beginn einer Mordserie mit dem Ziel, die Macht der Seldschuken zu schwächen und den Einfluss der Ismailiten zu stärken.

Kurze Zeit nach Nizam al-Mulk wurde Malik Schah ermordet. Beginnender Machtverfall der Seldschu -ken war die Folge, und damit letztlich auch der Er-folg des Ersten Kreuzzuges.

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Al-Ghazali verliess Bagdad im Jahre 1095, nicht zu-letzt wohl auch aus Furcht vor der Rache der Isma-iliten, durchlebte eine spirituelle Krise, wandte sich dem Sufismus zu und begab sich auf ein Wanderle- ben als Sufi , in Palästina und Syrien, bevor er schliesslich in seine persische Heimat zurückkehrte.

Omar Chajjam verlor mit der Ermordung Nizam al- Mulks und Malik Schahs die schützende Hand des Hofes und die finanziellen Mittel für den Erhalt sei-nes Observatoriums. Der Nachfolger Malik Schahs war nicht am Erhalt des Observatoriums interes -siert. Und so fiel dies dem Verfall anheim. Omar Chajjam begab sich auf eine Pilgerfahrt nach Mekka, nicht aus Gläubigkeit, sondern weil er in ständiger Furcht lebte, wegen seines Hanges zu Rationalität und unabhängigem Denken von der Orthodoxie der Häresie bezichtigt zu werden . Es war gewissermassen eine Pilgerfahrt zum Zwecke der Tarnung. Späterhin kehrte er in seine persische Heimat zurück.

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Geist der Zeit al-Ghazalis im Spiegel von Texten von und über Omar Chajjam

Omar Chajjams Rückzug in die innere Emigration nach Verlust seines Observatoriums lassen seine folgenden Zeilen erahnen: „Jene, die höchste Bildung und Gelehrsamkeit erreichten, in vollkommener Gesellschaft Kerzenschein Ihresgleichen wurden,

sie konnten bei Tageslicht nicht der Finsternis entfliehen. Ein Märchen erzählten sie und fielen in Schlaf.“

Den Niedergang der Wissenschaften beklagt Omar Chajjam im Vorwort zu seinem berühmt gewordenen Algebra –Buch (1070):

„Wir sind Zeugen gewesen, wie die Männer der Wis-senschaft untergegangen und auf ein winziges Häuf- lein zusammengeschmolzen sind, dessen Zahl so gering ist, wie seine Leiden gross sind…

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Aber die meisten von denen, welche heutzutage für Gelehrte gelten, verbergen die Wahrheit durch Lüge und kommen nicht über die Schranken eines blossen Scheingelehrtentums hinaus…“.

In ständiger Furcht,wie schon gesagt,von der Ortho-doxie der Häresie oder gar Apostasie bezichtigt zu werden, mied Omar Chajjam öffentliche Debatten, lehrte aber Philosophie, insbesondere die Ibn Sinas (Avicennas) ,über viele Jahre als Ein-Mann-Universi- tät,nicht ohne Risiko, wie folgender Bericht,nach ver- schiedenen Quellen aus dem 13. Jahrhundert, zeigt:

„Einer der Gelehrten der Scharia ( AL-GHAZALI !) pflegte täglich vor Sonnenaufgang zu Omar Chajjam zu kommen, um Philosophie bei ihm zu studieren. Derselbe schwärzte ihn aber bei den Leuten an. Als Omar dies erfuhr, liess er alle Paukenschläger und Trompetenbläser kommen, und als der Rechtsge-lehrte wie gewöhnlich zum Unterricht kam, liess er Pauken schlagen und Trompeten blasen, so dass sich eine grosse Volksmenge aus allen Teilen der Stadt ansammelte. Dann sprach er zu den Leuten: „Männer aus Nischapur, hier ist euer Lehrer ! Jeden Tag um diese Stunde kommt er zu mir,um bei mir die Wissenschaften zu studieren . Zu euch aber spricht er in der Art, die ihr kennt.

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Wenn ich wirklich so bin, wie er sagt, weshalb kommt er dann, um von mir zu lernen? Und wenn nicht,weshalb verleumdet er dann seinen Lehrer? ““.

Omar Chajjams Enttäuschung über vermeintliche Freunde, die in Wirklichkeit aber Denunzianten wa-ren, findet ihren Ausdruck in folgendem Gedicht:

„Durch all die Jahre ,die ich durchlebt,

Hab´ eines Bruders Freundschaft ich erstrebt,

Der unsern Freundschaftsbund nicht jählings ende,

Sein Wort nicht bräche, noch von mir sich wende.

Bei wieviel Freunden musst´ ich dann erfahren,

Dass alles eher sie als Brüder waren!

Und ach, wie oft, wie oft ersetzte wieder

Ich solche Brüder dann durch neue Brüder!

…“.

Und schliesslich , Omar Chajjam über die Frömmler seiner Zeit, die ihm das Leben so schwer machten, in einem Rubai ( Mehrzahl: Rubaijat, Vierzeiler ):

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„O Frömmler, einen Wunsch nur mir erfülle,

Spar deinen guten Ruf und schweige stille!

Glaub mir, ich gehe geradeaus, und du siehst

nur schief .

Drum lass mich gehen und kauf dir eine Brille.“

Mehr als tausend Rubaijat sind von Omar Chajjam überliefert. Auf ihnen gründet sich sein Ruhm, bis heute.

Erneuter Exkurs in die jüngere Geschichte

Ende des 20. Jahrhunderts wurden nach Omar Chaj- jam ein Mondkrater und ein Kleinplanet benannt. Auch nach Boris Gerasimovich, in den 1930 er Jah-ren Leiter des Observatoriums Pulkovo ( St. Peters-burg / Leningrad) , der bekanntesten Sternwarte Russlands, wurden Ende des 20. Jahrhunderts ein Mondkrater und ein Kleinplanet benannt.

Während der berüchtigten Stalinschen Säuberun-gen, Mitte der 1930 er Jahre, wurde Gerasimovich der Spionage (zu viele Kontakte zum Ausland !) be-

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zichtigt . Er wurde verurteit (Mitteilung an seine Fa-milie: „10 Jahre ohne Recht auf Briefwechsel“) und exekutiert. Auch die meisten seiner leitenden Mitar- beiter wurde verhaftet und in den Gulag geschickt, den nur wenige von ihnen überlebten.

Nach A.I. Eremeeva (JHV 26, 297 (1995)) wurde Ge- rasimovich von seinem ehemaligen Mitarbeiter und Kontrahenten Viktor Ambarzumjan, in der Sowjet-union später hoch geehrter Astronom, denunziert, u.a. mit folgenden Vorwürfen: „Unterwürfigkeit ge-genüber ausländischen Wissenschaftlern, Aufnahme von „Harvard-Themen“ in das Forschungsprogramm des Observatoriums, Publizieren vorrangig in auslän-dischen Zeitschriften, Herausdrängen junger Astro-nomen (Ambarzumjan !) aus dem Mitarbeiterkreis des Observatoriums“.

Die Dinge sprechen für sich. Die genannte Paralle-lität ist unübersehbar.

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Zusammenfassung und abschliessende

Bemerkungen

Al-Ghazali war mitverantwortlich für den Nieder-

gang von Wissenschaft und Philosophie im Islam

nach dem 12./13. Jh.

Seine Haltung zu Wissenschaft und Philosophie war

geprägt durch seine feste Überzeugung, dass im

Zweifelsfalle, wenn Koran und Wissenschaft bzw.

Philosophie im Widerspruch stehen, der Koran recht

hat.

Nach seiner Überzeugung stiften Wissenschaft und

Philosophie mehr Verwirrung als Verständnis, erre-

gen Zweifel, erschüttern fest eingewurzelte Überzeu-

gungen, schwächen den Glauben.

Er kam schliesslich zu der Überzeugung, dass zwei-

felsfreie Erkenntnis allein durch göttliche Erleuchtung

gewonnen werden kann, und nicht durch Sinneser-

fahrung und Vernunft.

Al-Ghazalis Abwendung vom Rationalen und Hin-

wendung zum Irrationalen, zur gefühlsbetonten Re-

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ligiosität, hatten einen entscheidenden Einfluss auf

die islamische Gemeinschaft insgesamt.

Al-Ghazalis Gedanken sind im Islam auch heute

noch lebendig. So strebt die orthodoxe Richtung des

modernen Reformislam, repräsentiert etwa durch

den bedeutenden persischsprachigen Dichter und

Philosophen Muhammad Iqbal, mit Bezug auf al-

Ghazali, eine Wiederbelebung des religiösen Den-

kens, geleitet durch mystische Gotteserfahrung, an,

mit dem Ziel des Wiedererstarkens der islamischen

Gemeinschaft, und mit der Vision von einer „spiritu-

ellen Demokratie“ als Alternative zur nicht-spirituel-

len westlichen Demokratie , als „höchstes Ziel des

Islam, als Beitrag zum Fortschritt der Menschheit“.

Zum Schluss,ohne Kommentar,ein Zitat (von Hindeja

Farah, Magazin „Zeit-Geschichte“ 1,54 (2010)) zur

Zukunft Europas:

„… Heute beziehen wir uns in Europa auf eine

jüdisch-christliche Tradition… Seine arabischen Wur-

zeln hält Europa noch immer versteckt. Doch…(ein)

Identitätswandel wird eines Tages kommen.Bekannt-

lich –und das wussten die Gelehrten aus Bagdad im

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9. Jahrhundert schon - ist es kurz vor der Dämme-

rung immer am dunkelsten“.

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