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Schwerpunktbereich 3: Deutsches und Europäisches Arbeits- und Sozialrecht Vorlesungsbegleitendes Scriptum Allgemeine Lehren des Sozialrechts von Prof. Dr. Dr. h.c. Eberhard Eichenhofer, Friedrich-Schiller-Universität Jena Stand: April 2015

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Schwerpunktbereich 3: Deutsches und Europäisches Arbeits- und Sozialrecht

Vorlesungsbegleitendes Scriptum

Allgemeine Lehren des Sozialrechts

von Prof. Dr. Dr. h.c. Eberhard Eichenhofer, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Stand: April 2015

- Gliederung -

Seite

§ 1 Begriff, Aufgaben und Rechtfertigung des Sozialrechts 3

§ 2 Geschichte des Sozialrechts 8

§ 3 Wirtschaftliche Bedeutung des Sozialrechts 16

§ 4 Internationale Dimensionen des Sozialrechts 20

§ 5 Die Stellung des Sozialrechts im Rechtssystem 24

§ 6 Rechtsquellen 31

§ 7 Das Sozialrechtsverhältnis 34

§ 8 Verwaltungsverfahren 36

§ 9 Ausgleichsansprüche der Sozialleistungsträger 40

§ 10 Rechtsschutz im Sozialrecht 43

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Literaturempfehlungen

Zur Einführung:

Merten, Sozialrecht. Sozialpolitik, in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, 2.

Auflage, 1995, S. 961 ff.

Ruland, Sozialrecht in: Schmidt-Assmann, Eberhard, Besonderes Verwaltungsrecht, 12. Auflage, 2003

Schnapp, Sozialversicherungsrecht, in: Achterberg/Püttner, Besonderes Verwaltungsrecht Band II, 2.

Auflage, 2000, S. 809 ff.

Kaiser, Sozialrecht und Sozialgerichtsbarkeit im Überblick, JA 2009, 538 ff.

Baltzer, Einführung in das Sozialrecht, JuS 1982, 247 ff., 566 ff., 651 ff.; 1983, 12 ff., 89 ff., 501 ff.,

581 ff.; 1984, 256 ff., 753 ff.; 1985, 432 ff.

Wollenschläger/Becker, Einführung in das Sozialrecht, JA 1992, 321 f.; JA 1993, 1 ff., 33 ff.

Lehrbücher

Bley/Kreikebohm/Marschner, Sozialrecht, 9. Auflage, 2007

Dörr/Francke, Sozialverwaltungsrecht, 3. Auflage 2012

Eichenhofer, Eberhard, Lehrbuch des Sozialrechts, 9. Auflage, 2015

Gitter/Schmitt, Sozialrecht, 5. Auflage, 2001

Igl/Welti, Sozialrecht: ein Studienbuch, 8. Auflage, 2007

Lampert, Heinz, Lehrbuch der Sozialpolitik, 8. Auflage, 2007

Muckel/Ogorek, Sozialrecht, 4. Auflage 2011

Pieters, Social security: an introduction to the basic principles, 2nd

ed. 2006

Waltermann, Sozialrecht, 11. Auflage, 2014

Kommentar

Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, Loseblattwerk (verfügbar bei beck-online)

Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch (SGB) - Gesamtkommentar, 2012-

Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, Beck’scher Online-Kommentar Sozialrecht, 2015

Eichenhofer/Wenner (Hg.), Kommentar zum Sozialgesetzbuch I, IV, X, Reihe: Wannagat Sozialversi-

cherungsrecht, 2012

Waltermann/Kreikebohm/Spellbrink, Kommentar zum Sozialrecht, 3. Auflage 2013

Kreikebohm, SGB IV, 4.Auflage 2013

Mrozysnki, SGB I, 5. Auflage 2014

v. Wulffen, SGB X, 8. Auflage 2014

Handbuch

von Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, 5. Auflage, 2012

Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 6. Auflage 2011

Schulin (Hrsg.), Handbuch des Sozialversicherungsrechts, 4 Bände, 1994-1997

Fallsammlungen

Felix, Dagmar, Das Sozialrechtsfallbuch, 2012; Das Sozialrechtsfallbuch II, 2014

Eichenhofer, Eberhard/Janda, Constanze, Klausurenkurs im Sozialrecht, 8. Auflage, 2014

Becker, Ulrich/Seewald, Otfried, Fälle zum Sozialrecht, 2004

Gesetzestexte

DTV-Texte: Sozialgesetzbuch Gesamtausgabe, 44. Aufl., 2015 (17,90 €)

Das gesamte Sozialgesetzbuch I bis XII, 19. Aufl., 2015, Walhalla Verlag (19,95 €)

Aichberger: Sozialgesetzbuch (Loseblattsammlung) (Grundwerk: 39 €)

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§ 1 Begriff, Aufgaben und Rechtfertigung des Sozialrechts

a) Was ist Sozialrecht?

aa) Mögliche Missverständnisse:

(1) Sozialrecht ist nicht die rechtliche Ordnung des Sozialen (= Recht)

(2) Sozialrecht ist nicht die soziale Durchdringung des Rechts (= soziales Recht)

(3) Sozialrecht ist nicht „droit social“ = Arbeitsrecht und Recht der sozialen Sicherheit

(letzteres = „Sozialrecht“)

Abb. 1

Aufgabe 1: Nennen Sie Beispiele sozialen Rechts aus den Gebieten des Straf-, Privat-, Prozess-

und öffentlichen Rechts.

Recht

gestaltet die Gesellschaft

Soziales Recht

schützt den Schwachen

Sozialrecht

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bb) Nähere Bestimmung von Sozialrecht

Sozialrecht = Teilgebiet des öffentlichen Rechts

(1) erlegt Staat (= Bund, Länder, Gemeinden) und Solidarverbänden (= Sozialleistungsträger)

Leistungspflichten auf,

(2) Sozialleistungsträger verbürgen für den Einzelnen soziale Sicherheit,

(3) Leistungen untergliedern sich in Geld-, Dienst- und Sachleistungen.

Sozialrecht ist das Teilgebiet des öffentlichen Rechts, in dem der Staat selbst oder durch eigene

öffentlich-rechtliche Solidarverbände zur sozialen Sicherung des Einzelnen Geld-, Dienst- und

Sachleistungen erbringt.

b) Warum bedarf es des Sozialrechts?

Die Voraussetzung allen Sozialrechts lautet: Die arbeitsteilige Marktgesellschaft beruht auf

Tauschverhältnissen. Leben und Überleben setzen die Teilnahme am marktwirtschaftlich organi-

sierten Tauschverkehr voraus. Diese Befähigung besitzt, wer Geld- oder Arbeitsvermögen hat, auf-

grund dessen er Einkommen erzielen kann. Wer diese Fähigkeit aber nicht besitzt, wird - soweit

familienabhängig - von den Familienangehörigen unterhalten. Wer keine Familienangehörigen hat,

wäre schutzlos dem Verderben preisgegeben.

Zahlreiche Menschen haben weder Geldvermögen, noch können sie infolge Krankheit, Alter, Inva-

lidität, Pflegebedürftigkeit, Arbeitslosigkeit, Ausbildung, Umschulung oder Versorgung von min-

derjährigen Kindern Arbeitseinkommen erzielen. Alle diese Personen werden durch Sozialrecht

befähigt, am Tauschverkehr teilzunehmen und/oder ihre Bedürfnisse zu befriedigen.

aa) Zur Rechtfertigung des Sozialrechts lässt sich vorbringen:

(1) Der Staat hat den Einzelnen zu schützen; dazu gehört in einer Marktwirtschaft vor allem die

soziale Sicherheit

(2) Der Staat ist ein Solidarverband; Massenarmut gefährdet das Gemeinwohl

(3) Elend, das nicht staatlich abgewendet wird, verletzt die Menschenwürde

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bb) Gegen Sozialrecht spricht:

(1) Die Finanzierung der Sozialleistungen belastet den Einzelnen und beschneidet somit dessen

Einkommen, Vermögen und Freiheiten

(2) Die Entlastung von Daseinsrisiken fördert Sorglosigkeit und Müßiggang

(3) Ein Staat, der sich des Lebensschicksals der Einzelnen annimmt, droht zur Beute von Sonder-

interessen zu werden

cc) Überwindung dieses Gegensatzes durch folgende Postulate:

(1) Sozialrecht hat nur das elementar Notwendige zu sichern

(2) Sozialrechtliche Vorteile sollten sich mit sozialrechtlichen Nachteilen die Waage halten

(3) Sozialrechtliche Hilfe soll primär Hilfe zur Selbsthilfe sein

(4) Der Sozialstaat hat staatlich ungebundener Sozialpolitik und Sozialarbeit freier Träger Raum

zu lassen (Subsidiarität)

c) Systematik des Sozialrechts

Sozialrecht sieht in konkreten (aa) und abstrakten (bb) Notlagen Leistungen vor. Die Notlagen las-

sen sich zweifach klassifizieren (cc).

aa) Konkrete Not

- Die Einstandspflicht öffentlicher Träger ist die ultima ratio (Subsidiarität)

- Das Ausmaß der Hilfe bemisst sich nach individuellem Bedarf (Individualisierung)

- Ein Rückgriff gegen vorrangig Leistungspflichtige findet regelmäßig statt.

Aufgabe 2: Nennen Sie Beispiele für vorrangige Leistungspflichten Privater zur Abwendung

konkreter Not.

bb) Abstrakte Not

- Schutz bei abstrakter Not ist Grund für die Leistungspflicht des öffentlichen Trägers

- Umfang der Leistung bemisst sich nach typischem Bedarf (Typizität)

- Rückgriff auf vorrangig Leistungspflichtige ist atypische Ausnahme

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cc) Klassifikation der Notlagen

Zwei Unterscheidungen:

(1) Fürsorge, Versorgung, Versicherung

(2) Vorsorge, Entschädigung, Förderung, Hilfe

Unterscheidung 1:

gegenleistungs-

unabhängig abhängig

FÜRSORGE (Privat) Versicherung

(Sozial) VersicherungVERSORGUNG

konkret

abstrakt

Not

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Unterscheidung 2

System des Sozialrechts

Leistungsgrund

Institutionen

Leistungsinhalt

Träger

Vorsorge

Eintritt

sozialen

Risikos

Renten-, Kranken-,

Unfall-, Pflege- und Ar-

beitslosenversicherung

Abstrakte

Geldleistungen

konkrete Dienst- und Sach-

leistungen

Sondervermögen

Entschädigung

Ausgleich

von Opfern

für Allgemeinheit

Kriegsopfer-, Soldaten-,

Verbrechensopfer, Impf-

schaden, unechte Unfall-

versicherung

Abstrakte

Geldleistungen

konkrete Dienst- und Sach-

leistungen

Staat

Förderung

Chancengleichheit

Familienlastenausgleich,

Ausbildungs-, Arbeitsför-

derung

Abstrakte

Geldleistungen

konkrete Dienst- und Sach-

leistungen

Staat

Hilfe

Sicherung des Existenzmi-

nimums

Grundsicherung,

Sozialhilfe, Jugendhilfe,

Unterhaltsvorschuss

Konkrete Leistungen

Kommune

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§ 2 Geschichte des Sozialrechts

Das Sozialrecht ist in seinen Techniken modern. Das ihm zugrunde liegende Anliegen, die Daseins-

grundlagen der unverschuldet Arbeitsunfähigen durch öffentliche Maßnahmen zu sichern, ist dage-

gen alt.

a) Antike und Mittelalter

In Griechenland und Rom wurde aus Spenden und Wohlfahrtssteuern die Lebensmittelversorgung

für Bedürftige organisiert. In Rom gab es schon Kranken- und Sterbekassen, über welche der Staat

Aufsicht führte.

Nach dem Niedergang des römischen Reiches übernahm die Kirche wohlfahrtspflegerische Aufga-

ben: baute Asyle, wo Nichtsesshafte, Kranke, Alte, Waisen, nichteheliche Kinder und deren Mütter

Aufnahme fanden. Hieraus entwickelten sich im Mittelalter die Hospitäler. In der Agrargesellschaft

war der Gutsherr den Untergebenen zu Schutz und Fürsorge verpflichtet. Ende des Mittelalters ent-

standen unter Handwerkern erste Selbsthilfeeinrichtungen („Zunftbüchsen“). Ferner entwickelte

sich unter den Bergleuten die erste Selbsthilfeeinrichtung „Knappschaft“.

b) Von der Armenpflege zur Sozialversicherung

aa) Entstehung der staatlichen Armenpflege

Um 1500 veränderte sich mit dem Aufkommen des Humanismus und der Reformation die Welt

grundlegend. In der Reformation teilte sich die Kirche. In den protestantischen Gegenden wurden

die Klöster aufgelöst. Damit entfiel ein Teil der mittelalterlichen Wohlfahrtspflege. Die Menschen

wurden mobil, verließen ihre Heimat und suchten Arbeit in der Fremde, namentlich in den sich

entwickelnden Städten. Handel, Wissenschaft und die Künste blühten auf. Das auf Kenntnissen der

Wahrscheinlichkeitsberechnung beruhende Versicherungswesen entstand. Die Versicherung wurde

zunächst im Transportgewerbe eingesetzt. Hieraus entwickelte sich später eine Technik der Siche-

rung für sämtliche riskante Betätigungen.

Folgen:

1) An die Stelle der Kirche trat die politische Gemeinde als Wohlfahrtseinrichtung.

2) Die Versicherung als Form der Daseinssicherung war nun theoretisch ausgebildet.

Ende des 18. Jahrhunderts wurden im Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten (ALR,

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1794) die Grundbegriffe des damaligen Wohlfahrtswesens festgehalten und niedergelegt. Sie sahen

Schutzansprüche bei Notfällen vor. Verpflichtet war der Gutsherr (vgl. Art. II 7 § 122 ALR: „Eine

jede Gutsherrschaft ist schuldig, sich ihrer Untertanen in vorkommenden Notfällen wohltätig anzu-

nehmen“; Art. II 7 § 130 ALR: „Sind ansässige Untertanen nach erlittenen harten Unglücksfällen

fremden Beistandes bedürftig, so ist die Herrschaft zur Hilfe vorzüglich verpflichtet“).

Die tragende Begründung einer Verpflichtung zur staatlichen Armenpflege enthält das ALR:

Neunzehnter Titel

Von Armenanstalten, und andern milden Stiftungen

Grundsätze

§. 1. Dem Staate kommt es zu, für die Ernährung und Verpflegung derjenigen Bürger zu sorgen, die sich ihren Unter-

halt nicht selbst verschaffen, und denselben auch von andern Privatpersonen, welche nach besondern Gesetzen dazu

verpflichtet sind, nicht erhalten können.

§. 2. Denjenigen, welchen es nur an Mitteln und Gelegenheit, ihren und der ihrigen Unterhalt selbst zu verdienen,

ermangelt, sollen Arbeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten gemäß sind, angewiesen werden.

§. 3. Diejenigen, die nur aus Trägheit, Liebe zum Müßiggange, oder andern unordentlichen Neigungen, die Mittel,

sich ihren Unterhalt selbst zu verdienen, nicht anwenden wollen, sollen durch Zwang und Strafen zu nützlichen Ar-

beiten unter gehöriger Aufsicht angehalten werden.

bb) Soziale Frage

Die Französische Revolution von 1789 führte zur Bauernbefreiung und zur Einführung der Gewer-

befreiheit. Auf diese Weise wurden die Vorrechte der Zünfte beseitigt. Mit der Aufhebung der her-

gebrachten Bindungen ging auch die Aufhebung der hergebrachten sozialen Verpflichtungen ein-

her. In der unmittelbaren Folge der Revolution kam es zur „sozialen Frage“, die zunächst in der

Verelendung der Arbeiterschaft zum Ausdruck gelangte.

Gründe:

- Das Maschinenzeitalter erlaubte erstmalig die Massenproduktion;

- die Nutzung der Maschinen stand jedermann offen (Gewerbefreiheit);

- die Nutzung der Maschine war kostspielig, ihr Einsatz verlangte sparsamstes Wirtschaften

(Konkurrenzwirtschaft, die damals entstand);

- Arbeitskräfte waren reichlich vorhanden (Bauernbefreiung), Folge: Löhne sanken;

- die hergebrachten Schutzpflichten waren aufgehoben (Abschaffung der Bindungen); Folge:

Aufhebung des Schutzes, d. h. Verarmung (Proletarisierung).

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In der Frühform der Industrialisierung reichte der Lohn gerade hin, um den Arbeitern ein beschei-

denes Leben zu sichern; für die unverschuldet Arbeitsunfähigen bestand hingegen keine hinrei-

chende Hilfe. Das war die soziale Frage. Wie sollte die soziale Frage bewältigt werden? - diese

Frage beherrschte das 19. Jahrhundert. Es gab darauf praktische und theoretische Antworten.

Praktische Antworten waren: Selbsthilfeeinrichtungen der Arbeiter, Gründung kirchlicher und

privater Wohlfahrtseinrichtungen, Sozialprogramme der Arbeitgeber, staatlicher Arbeitsschutz

(Wichtigstes Beispiel: Preußisches Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fab-

riken vom 9. März 1839).

Theoretische Antwort war die soziale Bewegung. Sie war in ihren Lösungsvorschlägen in zahlrei-

che ideologisch unterschiedlich ausgerichtete Bewegungen gespalten:

- Konservatismus: Rückkehr zur ständischen Ordnung, klare Ordnung, klare Schichtung, jeder

hat seinen Platz in der Gesellschaft, auch zureichenden Schutz.

- Liberalismus: Erhöhung der Bildungschancen für jeden; höhere Bildung eröffnet auch der

Arbeiterschaft die Möglichkeiten des individuellen Aufstiegs; Chancengleichheit; Hilfe ist

stets Hilfe zur Selbsthilfe.

- Frühsozialismus: Staatsbetriebe, die Arbeit für jeden vorsehen; Produktionsgenossenschaften

der Arbeiter.

- Marxismus: Revolution, Zerschlagung der bürgerlichen Gesellschaft, Diktatur des Proletari-

ats; Verstaatlichung der Wirtschaft.

- Kirchliche Soziallehre: Einbürgerung des Proletariats, gerechter Lohn, Solidarismus, prakti-

sche Sozialarbeit.

- Verein für Socialpolitik: Anerkennung der Gewerkschaften (Brentano), Einführung der Sozi-

alversicherung (Wagner, Schmoller).

cc) Entstehung der Sozialversicherung in Deutschland

- Arbeiterbewegung entsteht, Gründung des ADAV 1863 (Lassalle), der SAP 1869 (Bebel),

sowie der SPD 1875 („Gothaer Programm“); Gegenspieler zu Bismarcks Politik: sozialre-

formerisch, höchst regierungskritisch

- 1871: Reichsgründung; in den Folgejahren wirtschaftlicher Aufschwung („Gründerjahre“)

- Ende 1870er Jahre wirtschaftliche Depression („Gründerkrise“), Verschärfung der sozialen

Gegensätze

- im Sommer 1878: Attentate auf den deutschen Kaiser Wilhelm I durch Hödel und Nobiling,

(welche beide keine SPD-Mitglieder waren, jedoch gewerkschaftlichen bzw. sozialdemokrati-

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schen Hintergrund hatten)

- Folgen: einerseits Sozialistengesetz, andererseits 1881: Kaiserliche Botschaft

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Erste Kaiserliche Botschaft zur sozialen Frage.

Verhandl. des Reichstags, 5. Legislaturperiode, I. Sess. 1881/82, Bd. 1, 1.

Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von Preußen usw., thun kund und fügen hiermit zu wissen:

Schon im Februar dieses Jahres haben Wir Unsere Überzeugung aussprechen lassen, daß die Heilung der sozialen

Schäden nicht ausschließlich im Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf

dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sein werde. Wir halten es für Unsere Kaiserliche

Pflicht, dem Reichstage diese Aufgabe von neuem ans Herze zu legen, und würden Wir mit um so größerer Befriedi-

gung auf alle Erfolge, mit denen Gott Unsere Regierung sichtlich gesegnet hat, zurückblicken, wenn es Uns gelänge,

dereinst das Bewußtsein mitzunehmen, dem Vaterlande neue und dauernde Bürgschaften seines inneren Friedens und

den Hilfsbedürftigen größere Sicherheit und Ergiebigkeit des Beistandes, auf den sie Anspruch haben, zu hinterlassen.

In Unseren darauf gerichteten Bestrebungen sind Wir der Zustimmung aller verbündeten Regierungen gewiß und ver-

trauen auf die Unterstützung des Reichstags ohne Unterschied der Parteistellungen.

In diesem Sinne wird zunächst der von den verbündeten Regierungen in der vorigen Session vorgelegte Entwurf eines

Gesetzes über die Versicherung der Arbeiter gegen Betriebsunfälle mit Rücksicht auf die im Reichstag stattgehabten

Verhandlungen über denselben einer Umarbeitung unterzogen, um die erneute Berathung desselben vorzubereiten.

Ergänzend wird ihn eine Vorlage zur Seite treten, welche sich eine gleichmäßige Organisation des gewerblichen Kran-

kenkassenwesens zur Aufgabe stellt. Aber auch diejenigen, welche durch Alter oder Invalidität erwerbsunfähig werden,

haben der Gesammtheit gegenüber einen begründeten Anspruch auf ein höheres Maß staatlicher Fürsorge, als ihnen

bisher hat zutheil werden können.

Für diese Fürsorge die rechten Mittel und Wege zu finden, ist eine schwierige, aber auch eine der höchsten Aufgaben

jedes Gemeinwesens, welches auf den sittlichen Fundamenten des christlichen Volkslebens steht. Der engere Anschluß

an die realen Kräfte dieses Volkslebens und das Zusammenfassen der letzteren in der Form korporativer Genossen-

schaften unter staatlichem Schutz und staatlicher Förderung werden, wie Wir hoffen, die Lösung auch von Aufgaben

möglich machen, denen die Staatsgewalt allein in gleichem Umfange nicht gewachsen sein würde. Immerhin aber wird

auf diesem Wege das Ziel nicht ohne die Aufwendung erheblicher Mittel zu erreichen sein.

(Stolleis, Michael, Quellen zur Geschichte, in Treue, Wilhelm (Hrsg.), Quellensammlung zur Kul-

turgeschichte, Band 20)

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b) Von der Sozialversicherung zur sozialen Sicherheit

aa) Aufbau der Sozialversicherung

Auf der Grundlage der Kaiserlichen Botschaft wurden

- 1883 die Krankenversicherung (KV),

- 1884 die Unfallversicherung (UV) und

- 1889 die Rentenversicherung (RV) - in Kraft getreten 1891 -

verabschiedet.

Die KV baute auf den kommunalen oder in Selbsthilfe geschaffenen Hilfskassen auf. Beiträge tru-

gen die Arbeitnehmer zu 2/3 und die Arbeitgeber zu 1/3. Rund 90 % der Ausgaben der KV entfie-

len auf Lohnersatzleistungen, 10 % auf Dienstleistungen (also Behandlungen durch Ärzte).

Die UV war öffentlich-rechtliche Alternative zur damals entstehenden privatrechtlichen Gefähr-

dungshaftung (Reichshaftpflichtgesetz vom 07.07.1871). Träger der UV: Berufsgenossenschaften.

Die RV sah einen Unterhaltszuschuss im Alter (ab 70 Jahre) oder bei Invalidität (vorhandene Res-

terwerbsfähigkeit 1/6) vor. Arbeitnehmer und Arbeitgeber trugen die Beiträge zu gleichen Teilen.

Vor dem 1. Weltkrieg:

- 13.09.1900 Gründung des Hartmann-Bundes als Interessenvertretungsverband der Ärzte-

schaft. 1913 erster Kollektivvertrag zwischen KV und Ärzteverband über Leistungserbrin-

gung löst bis dahin bestehende Praxis der Einzelverträge ab

- 1911: RVO führt Gesetze über die Sozialversicherung der Arbeiter (KV, UV, RV) in einem

Gesetzbuch (letzte Kodifikation des Reiches) zusammen. Einführung der RV für Angestellte

(AVG). Einführung der Witwenversorgung.

- Herausbildung des Fürsorgewesens durch Landesrecht

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bb) Fortentwicklung und Erweiterung der sozialrechtlichen Thematik

Erster Weltkrieg / Weimarer Republik:

- große Bedeutung der Kriegsopferversorgung

- Arbeitslosigkeit grassierte; es wurde deshalb 1918 die Erwerbslosenfürsorge eingeführt. Sie

wurde von den Gemeinden organisiert. Reich und Land beteiligten sich in Höhe von 1/2 bzw.

1/3 an den Aufwendungen. 1927 AVAVG: Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung

lösten Erwerbslosenfürsorge ab.

Fortentwicklungen anderer Sozialversicherungszweige:

- 1925 Wegeunfall in die Unfallversicherung aufgenommen;

- seit 1931 kassenärztliche Versorgung (Kassen und Kassenärztliche Vereinigungen stehen sich

als öffentlich-rechtliche Körperschaften gegenüber) und gemeinsame Selbstverwaltung

- Einführung der Lohnfortzahlung für Angestellte in der Invaliden- und Angestelltenversiche-

rung

- 1924 Umstellung der Finanzierung der RV vom Kapitaldeckungsverfahren (Deutsche Ren-

tenbank) auf das Umlageverfahren

NS-Zeit:

- Rückkehr zum Anwartschaftsdeckungs- bzw. Kapitaldeckungsverfahren (1933 und 1937) zur

Sicherung der dauernden Leistungsfähigkeit

- Ausschluss der Juden aus der Sozialversicherung,

- Abschaffung der Selbstverwaltung; Ersatz durch „Führer-Prinzip“

- Ausbau des Mutterschutzes und Mutterschaftsgeld

- Rentenversicherung für selbständige Handwerker

- Krankenversicherung der Rentner

- Geschiedenenwitwenrente

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cc) Soziale Sicherheit

Ausgehend von den USA (Roosevelt) über Großbritannien (Beveridge-Report 1942) wurde die „so-

ziale Sicherheit“ zur sozialpolitischen Leitidee der Nachkriegszeit. Hauptelemente dieser Idee sind:

- soziale Sicherung ist wesentliche Bedingung der Freiheit („Freiheit von Furcht und Not“);

- Sozialleistungen sollen in sämtlichen Fällen unverschuldeter Arbeitsunfähigkeit vorgesehen

werden;

- der Begriff „Soziale Sicherheit“ schafft Bewusstsein für die konzeptionelle Einheit und die

menschenrechtliche Dimension des Sozialrechts

Hauptelemente der Nachkriegsentwicklung:

- Teilung Deutschlands, Folge: unterschiedliche Systeme sozialer Sicherheit.

Westen gegliedertes System Offene und dynamische Expansion

Osten Einheitssystem Traditionell geschlossene und statische

Ordnung

- 1950er Jahre Wiederaufbau, Ausbau und Entwicklung der Kriegsopferversorgung

- 1957 Rentenreform, Einführung der dynamischen Rente, abermalig Umstellung auf Umlage-

finanzierung

- 1969 Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für alle Arbeitnehmer; Arbeitsförderungsgesetz er-

gänzt Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung um aktive Arbeitsmarktpolitik

- 1974 Kindergeld für alle; BAföG; Beginn der Arbeit am SGB.

- 1990 Wirtschafts- und Sozialunion zwischen Bundesrepublik Deutschland und DDR; deut-

sche Einheit: Zusammenführung der Sozialrechtsordnungen beider deutscher Staaten auf der

Grundlage des westdeutschen Modells

- 1995 Einführung der Pflegeversicherung als SGB XI,

- 2002 Rentenreform, Einführung des zusätzlichen Elements der Eigenvorsorge mit staatlicher

Förderung

- Reform der Arbeitsförderung („Hartz-Gesetze“)

- 2004 Einführung des SGB II (Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe)

- 2005 Einführung des SGB XII (Sozialhilfe für Nichterwerbsfähige)

- 2007-2009 Gesundheitsreform (Gesundheitsfond/Sicherung aller Einwohner)

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§ 3 Wirtschaftliche Bedeutung des Sozialrechts

Sozialrecht organisiert öffentliches Geben für Menschen in – konkreter oder abstrakter – Not. Was

den Leistungsempfängern gegeben wird, muss anderen genommen werden. Sozialrecht organisiert

so die Umverteilung von Einkommen. Darin liegt seine wirtschaftliche Bedeutung. Diese soll

veranschaulicht werden

- an der ökonomischen Ausgestaltung der verschiedenen Leistungszweige (a),

- der Schilderung des Anteils der Sozialleistung (= Sozialbudget) am Bruttosozialprodukt und

dessen Aufgliederung (b) und

- der Bestimmung der gesamtwirtschaftlichen Wirkungen von Sozialleistungen (c).

a) Ökonomie der Sozialleistungszweige

Sozialleistungen können durch Steuern und Beiträge finanziert werden. Leistungen sozialer Vorsor-

ge werden durch Beiträge, Leistungen sozialer Entschädigung, Förderung und Hilfe durch Steuern

finanziert. Steuerfinanzierte Sozialleistungen werden vom Staat, beitragsfinanzierte Sozialleistun-

gen von selbständigen öffentlich-rechtlichen Trägern erbracht.

Steuern und Beiträge:

- sind öffentlich-rechtliche Abgaben, die unabhängig von einer konkreten Gegenleistung er-

bracht werden,

- können als Forderungen einseitig staatlich durchgesetzt werden (Verwaltungsvollstreckung),

- sind Mittel, um den aktuellen Aufwand für Sozialleistungen zu finanzieren; es findet also kei-

ne Kapitaldeckung statt; die Finanzierung erfolgt im Umlageverfahren; es gilt das sogenannte

„Mackenrothsche Gesetz“:

Gerhard Mackenroth

"Nun gilt der einfache und klare Satz, daß aller Sozialaufwand immer aus dem

Volkseinkommen der laufenden Periode gedeckt werden muß. Es gibt gar keine ande-

re Quelle und hat nie eine andere Quelle gegeben, aus der Sozialaufwand fließen

könnte, es gibt keine Ansammlung von Periode zu Periode, kein "Sparen" im privat-

wirtschaftlichen Sinne, es gibt einfach gar nichts anderes als das laufende Volksein-

kommen als Quelle für den Sozialaufwand. Das ist auch nicht eine besondere Tücke

oder Ungunst unserer Zeit, die von der Hand in den Mund lebt, sondern das ist im-

mer so gewesen und kann nie anders sein."

(Aussage von 1952)

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Die wesentlichen Unterschiede von Steuern und Beiträgen:

Beitrag Steuer

Empfänger Sozialversicherungsträger Staat

Verwendung Zweckgebunden Nicht zweckgebunden

Belastungs-

gegenstand

Einkommen Einkommen, Grundvermögen oder

Verkehrsvorgänge

Belastung Konstant einkommens-

proportional

Variabel, mit steigendem Einkommen

zunehmend

(= progressive Besteuerung)

Belastungsgrenzen Beitragsbelastung beginnt bei

Überschreiten der Geringfügig-

keitsgrenze (§ 8 SGB IV) und

endet bei Erreichen einer Ober-

grenze (= Beitragsbemes-

sungsgrenze)

Steuerbelastung ist unbegrenzt, setzt

aber erst ab Überschreiten einer Unter-

grenze ein (vgl. § 32 a EStG)

Aufgabe 3: Welche Argumente sprechen für eine steuerfinanzierte und welche für eine beitragsfi-

nanzierte Alterssicherung?

aa) Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung

durch medizinische Fortschritte und gesündere Lebensführung entstehen höhere Kosten für Alters-

vorsorgesysteme

bb) Generationenvertrag = Basis der Alterssicherung

Prinzip: Die heute wirtschaftlich aktive Generation (Erwerbstätige) kommt für die wirtschaftlich

nicht mehr aktive Generation (Rentner) auf. Dies geschieht in der Erwartung, dass die künftig wirt-

schaftlich aktive Generation (Kinder und Jugendliche von heute) auch die Renten der heute aktiven

Generation erwirtschaftet.

Der Generationenvertrag enthüllt das Modell der interpersonellen und intertemporalen Umvertei-

lung. Interpersonelle Umverteilung bedeutet, dass die heute Erwerbstätigen für die heute nicht mehr

Erwerbstätigen aufkommen. Im Lebenszyklus des Einzelnen betrachtet, liegt eine intertemporale

Umverteilung vor: Der Mensch ist zunächst Nehmender (Kind, Student, Azubi), dann Gebender

(Erwerbstätiger), schließlich wieder Nehmender (Rentner).

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b) Sozialbudget

aa) Die Aufwendungen für die soziale Sicherung in Deutschland (Statistisches Bundesamt)

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c) Gesamtwirtschaftliche Wirkungen des Sozialrechts:

- Korrektur der Marktwirtschaft; Sozialrecht macht Marktwirtschaft sozial, begründet die wirt-

schaftliche Autonomie in Tauschgesellschaften für Personen, die unverschuldet nicht am

Tausch teilnehmen können,

- verstetigt die Nachfrage nach Konsumgütern,

- Beitragsfinanzierung belastet Arbeit („es lohnt sich nicht mehr zu arbeiten“), begünstigt so

Schattenwirtschaft,

- öffentliche Abgaben vermindern verfügbares Einkommen und beeinträchtigen die Ersparnis-

bildung,

- Sozialversicherung entlastet von familiären Unterhaltspflichten und erhöht damit das für die

Befriedigung eigener Bedarfe verfügbare Einkommen,

- üppige Sozialleistungen machen Arbeit wirtschaftlich unattraktiv,

- ein umfassendes Sozialleistungssystem kann kostspielig sein und belastet damit die Unter-

nehmen im internationalen Wettbewerb,

- ein ausgebautes Sozialleistungssystem kann Produktion und Dienstleistungen anregen, den

sozialen Frieden stärken und auch damit die Produktivität steigern und die Arbeitsmotivation

heben

Aufgabe 4: Welche wirtschaftlichen Effekte träten durch eine drastische Reduzierung der Sozial-

leistungen ein?

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§ 4 Internationale Dimensionen des Sozialrechts

Sozialrecht ist ein internationales Phänomen. Es hat drei internationale Dimensionen:

- nationales Sozialrecht wird durch Rechtssätze internationaler Organisationen standardisiert

(a),

- nationales Sozialrecht wird durch Normen internationalen Rechts koordiniert (b) und

- die verschiedenen nationalen Sozialrechtsordnungen sind Gegenstand des internationalen

(Rechts-)Vergleichs (c).

a) International standardisierendes Sozialrecht

Zu unterscheiden sind

- Normen internationalen Entstehungsgrundes mit weltweitem und regional begrenztem Gel-

tungsanspruch (aa) sowie

- Prinzipienerklärungen und Gesetzgebungsaufträge (bb).

aa) Normen mit weltweitem Geltungsanspruch sind die von den Vereinten Nationen (UNO)

oder der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO), engl. International Labo(u)r Organization

(ILO), geschaffenen Rechtssätze. Die ILO wurde 1919 gegründet und hat ihren Sitz in Genf. Sie ist

die führende Weltorganisation zur internationalen Vereinheitlichung des Arbeits- und Sozialrechts.

Sie hat eine „drittelparitätische“ Struktur: In den Organen – Verwaltungsrat und allgemeine Ar-

beitskonferenz – sind Regierungs-, Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter repräsentiert.

Unter den Organisationen mit multinationalem Geltungsanspruch ist neben der EU vor allem der

Europarat zu nennen. Der Europarat (CoE) umfasst die Staaten des Europäischen Wirtschaftsrau-

mes (EWR), d.h. alle EU-Staaten und die EFTA-Staaten Norwegen, Island und Liechtenstein, sowie

inzwischen alle Staaten Mittel- und Osteuropas (u.a. Russland, Georgien, Armenien, Aserbaid-

schan). Die EU besteht aus 27 Staaten, der Europarat hat 47 Mitglieder.

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bb) Prinzipienerklärungen und Gesetzgebungsaufträge

Prinzipienerklärungen geben einem Staat auf, sozialrechtliche Basisinstitutionen zu schaffen (Auf-

trag zur Institutionenbildung). Gesetzgebungsaufträge geben einem Staat auf, die Basisinstitutionen

in einem gewissen Sinne auszugestalten.

Die wichtigsten sozialrechtlichen Prinzipienerklä-

rungen mit weltweitem Geltungsanspruch sind in der

UNO-Menschenrechtserklärung (10.12.1948), im

Internationalen-Pakt über wirtschaftliche, kulturelle

und soziale Rechte (19.12.1966) sowie in der Prä-

ambel der ILO-Verfassung (Declaration of Philadel-

phia, 10.05.1944) enthalten.

Hauptsächliche Gewährleistungen:

- Recht auf soziale Sicherheit (Art. 22 MRK; 9 IPwskR)

- Recht auf Fürsorge (Art. 25 MRK; 11 IPwskR)

- Recht auf Schutz der Familien, Mütter und Kinder (Art. 10 IPwskR)

Prinzipienerklärungen des europäischen Sozialrechts sind namentlich in der Europäischen Sozial-

charta (18.10.1961) enthalten. Diese Charta wurde vom Europarat verabschiedet. Die EU verfügt

seit 1999 über eine für alle Mitgliedstaaten verbindliche Prinzipienerklärung. Sie erhielt erst 1999

mit der Aufnahme in den Vertrag von Amsterdam den Status einer eigenen Rechtsquelle. Des Wei-

teren erkennt nunmehr der Amsterdamer Vertrag in den durch diesen neu gestalteten Art. 136 ff.

EG (jetzt: Art. 151 ff. AEUV) der EU weitreichende Kompetenzen zur Harmonisierung des Sozial-

rechts zu. Hierauf gerichtete Maßnahmen bedürfen jedoch wegen des Prinzips der Subsidiarität ei-

ner besonderen Legitimation. Außerdem ist weiterhin Einstimmigkeit erforderlich (Art. 153 Abs. 2

AEUV).

Die wichtigsten Gewährleistungen nach der Europäischen Sozialcharta sind:

- Recht auf soziale Sicherheit (Art. 12),

- Recht auf Fürsorge (Art. 13),

- Recht auf Inanspruchnahme sozialer Dienste (Art. 14),

- Recht auf Ausbildung (Art. 15),

- Recht der Familien auf sozialen und wirtschaftlichen Schutz (Art. 16).

22

Die Einhaltung dieser Vorschriften wird durch ein Expertenkomitee überprüft.

Gesetzgebungsaufträge erteilt vor allem die ILO. Es sind Übereinkommen (= verbindlich) und

Empfehlungen (= nicht verbindlich) zu unterscheiden. Über beide Rechtsakte befindet die Allge-

meine Arbeitskonferenz. Diese setzt sich aus Vertretern der nationalen Regierungen sowie der nati-

onalen Arbeitgeberverbände und der Gewerkschaften zusammen. Verstöße gegen die Überein-

kommen werden durch ein Expertengremium kontrolliert. Dieses kann von Regierungsvertretern,

Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern angerufen werden.

b) International koordinierendes Sozialrecht

Auftrag und Notwendigkeit Internationalen koordinierenden Sozialrechts folgen aus der Pluralität

nationaler Sozialrechte. Im Hinblick darauf hat jedes Sozialrecht zwei Aufgaben:

- Erstens, den internationalen Geltungsbereich des eigenen Rechts zu bestimmen,

- zweitens, die internationalen Wirkungen nationalen Sozialrechts zu sichern.

Beide Aufgaben werden durch Internationales Sozialrecht verwirklicht. Die erste Aufgabe wird

durch einseitige Kollisionsnormen, die letztgenannte Aufgabe durch Äquivalenzregeln bewältigt.

Internationales Sozialrecht ist regelmäßig in supranationalem oder Völkervertragsrecht enthalten;

ausnahmsweise kann es auch in nationalem Gesetzesrecht enthalten sein (z.B. §§ 30 SGB I, 3 f.

SGB IV, Fremdrentengesetz (FRG)). Die wichtigsten Rechtsquellen des Internationalen Sozial-

rechts sind

- unter EU/EWR-Staaten: VO (EG) 883/2004 vom 29.04.2004 (gilt seit 1. Mai 2010; vormals:

VO (EWG) 1408/71)

- im Verhältnis zu anderen Staaten zwei- und mehrseitige Abkommen über soziale Sicherheit.

Hauptinhalt des internationalen Sozialrechts:

Internationaler Geltungsbereich

- Sozialversicherung: Anknüpfungspunkt Beschäftigungsort,

- Sozialhilfe und sonstige Zweige sozialer Sicherheit: Anknüpfungspunkt Wohnort.

Sicherung der internationalen Wirkungen durch

- Leistungsaushilfe bei Sachleistungen (z.B. Krankenpflege),

- Leistungsexport bei Geldleistungen (z.B. Rentenzahlung auch bei Aufenthalt des Rentners im

Ausland), Export von Vorruhestandsleistungen

23

- Zusammenrechnung von Wohn-, Beschäftigungs- oder Versicherungszeiten für den An-

spruchserwerb (Ob?), bei gleichzeitiger nationaler Zuständigkeit für die Bestimmung der

Leistungshöhe (Wieviel?),

- Zusammenarbeit der Leistungsträger: internationale Amtshilfe, Vollstreckung von Beitrags-

forderungen und Rückforderungen, Recht, sich der eigenen Muttersprache im Amtsverkehr zu

bedienen.

c) Internationaler Vergleich von Sozialrechten

- wissenschaftliche Disziplin, praktischer Nutzen: ermöglicht Überprüfung, ob ein Staat seinen

Verpflichtungen aus internationalem Übereinkommen nachgekommen ist (vertikaler Rechts-

vergleich) und

- ermöglicht internationale Begriffsbildung; diese ist Voraussetzung für Koordination (Qualifi-

kation).

Ziel des Rechtsvergleichs: Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Sozialrechte aufzuzeigen.

Basis einer wissenschaftlich begleiteten und geleiteten Rechts- und Sozialpolitik.

Rechtsfamilien im Sozialrecht? Im Grundsatz bestehen diese ganz ebenso wie im Privatrecht.

1) Kontinentaleuropäischer Rechtskreis: gegliedertes System, starke Bedeutung der Sozialversi-

cherung, einkommensabhängige Leistungen, Schutz der Arbeitnehmer dominiert gegenüber

anderweitigen sozialpolitischen Zielen (Korporatistisches Modell). Auch Systeme der mittel-

und osteuropäischen Staaten nähern sich diesem Modell.

2) Angelsächsisch-skandinavischer Rechtskreis: Einheitssystem, da System aus Sozialhilfe her-

vorgegangen (Abschwächung der Bedürftigkeitsvoraussetzungen), Bedarfsbezogenheit der

Leistungen, Schutz der Wohnbevölkerung; Unterschiede: im angelsächsischen Rechtskreis

zielt Sozialrecht auf eine Mindestsicherung, im skandinavischen Rechtskreis zielt Sozialrecht

dagegen auf eine über die Mindestsicherung hinausgehende gehobene Sicherung.

3) Entwicklungsländer: Dort hat Sozialrecht Privilegienstruktur, erfasst vornehmlich die in Han-

del, Verwaltung und Industrie in Normalarbeitsverhältnissen = unbefristeten, tariflich geregel-

ten Arbeitsverhältnissen Beschäftigten; die Mehrheit der Bevölkerung, die in temporären,

nicht vollkommen kollektivvertraglich normierten Arbeitsverhältnissen Beschäftigten, ist

ausgeschlossen. Regional begrenzte Ansätze der Basissicherung (namentlich Krankensiche-

rung).

24

§ 5 Die Stellung des Sozialrechts im Rechtssystem

Sozialrecht ist mit nahezu allen anderen Rechtsgebieten eng verflochten. Schon die Darstellungen

der internationalen Dimensionen des Sozialrechts zeigten die Querverbindungen des Sozialrechts zu

dem Völkerrecht (= Recht der Internationalen Organisationen) und dem Internationalem Recht (=

Kollisionsrecht). Im Folgenden sollen eingehender die Querverbindungen des Sozialrechts mit an-

deren wichtigen benachbarten Rechtsgebieten aufgezeigt werden. Die Darstellung beschränkt sich

wesentlich auf das deutsche Recht. Sie konzentriert sich auf die Beziehungen von Sozialrecht und

Verfassungsrecht (a), speziell den Grundrechten (b), sonstigen öffentlichen Rechts (c) und Privat-

recht (d).

a) Verfassungsrecht

Für das Verfassungsrecht stellen sich im Wesentlichen drei Fragen:

- In welcher Weise sollen sozialrechtliche Gehalte in die Verfassung aufgenommen werden?

(aa)

- Wie sind die sozialrechtlichen Gesetzgebungszuständigkeiten im Grundgesetz zwischen Bund

und Ländern verteilt? (bb)

- Welche Bedeutung erlangen die Grundrechte für das Sozialrecht? (cc)

aa) drei Möglichkeiten, mit sozialrechtlichen Gehalten verfassungsrechtlich umzugehen:

- Ignorieren (z.B. USA, Schweiz, Kanada, Australien),

- soziale Grundrechte (im Ausland z.B. Dänemark, Schweden, Niederlande, Italien, in Deutsch-

land: Weimarer Reichsverfassung, Landesverfassungen von Bayern, Bremen, Brandenburg,

Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen)

- Sozialstaatsklausel (Art. 20, 28 GG).

Aufgabe 5: Welche Materien sind in den sozialen Grundrechten in einer Staatsverfassung veran-

kert?

25

Das Sozialstaatsprinzip (Art. 20, 28 GG)

- ist an den Gesetzgeber gerichtet, da es ein inhaltlich offenes Prinzip darstellt,

- legitimiert gesetzgeberische Eingriffe zum Zwecke der Sozialgestaltung und

- gewährt dem Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative und einen erheblichen sozialpoliti-

schen Gestaltungsspielraum.

Das Sozialstaatsprinzip soll also Sozialpolitik global legitimieren und praktisch ermöglichen: über

die Inhalte von Sozialpolitik entscheidet der Gesetzgeber jedoch nach Zweckmäßigkeit.

Trotz der weitgehenden inhaltlichen Offenheit des Sozialstaatsprinzips sind ihm einige Grundforde-

rungen zu entnehmen:

Der Staat hat

- das Existenzminimum für jedermann zu sichern,

- Schwache zu schützen,

- soziale Abhängigkeiten zu lindern und

- für mehr Gleichheit zu sorgen.

Die Mittel, die das Sozialstaatsprinzip zu ergreifen erlaubt, sind

- zwingendes Privatrecht,

- Transfer von Geldern,

- Erhebung von Steuern,

- Errichtung von Verwaltungsträgern und Verfahren.

Das Sozialstaatsprinzip steht neben anderen Prinzipien der Verfassung. Deshalb muss Sozialpolitik

mit anderen Verfassungsprinzipien - insbesondere der Rechtsstaatlichkeit, dem Prinzip der Bundes-

staatlichkeit, der Demokratie, den Grundrechten und dem Staatsorganisationsrecht - vereinbar sein.

Die Problematik der sozialen Grundrechte: Sie verpflichten den Staat und legen sozialrechtliche

Aufgaben verbindlich fest. Zugunsten der sozialen Grundrechte spricht:

- Sie handeln von den existentiellen Problemen der Menschen; sie sollten daher in keiner Ver-

fassung fehlen.

- Sie beschreiben das sozialrechtlich bereits längst Erreichte.

- Sie schützen den Einzelnen vor „Sozialabbau“.

- Sie erfüllen - wie alle Grundrechte - die Rolle des Minderheitenschutzes.

26

Gegen soziale Grundrechte wird vorgebracht:

- Sie wecken unerfüllbare Wünsche,

- bewirken nichts und

- sind nicht justitiabel.

bb) Das Sozialrecht in der Kompetenzordnung des Grundgesetzes

Art. 70 Abs. 1 GG begründet eine Vermutung für die Gesetzgebungskompetenz der Länder; Sozial-

recht fällt indessen in den Katalog der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes i.S.v. Art. 74

Abs. 1 GG. Folge: Solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungskompetenz Gebrauch

gemacht hat, sind Landesgesetze unzulässig und nichtig. Im Zuge der Föderalismusreform wurden

den Ländern keine Abweichungsrechte im Sozialrecht eingeräumt.

Sozialrechtserhebliche Materien, die in der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit des Bun-

des liegen und von denen der Bundesgesetzgeber in folgenden Gesetzen Gebrauch gemacht hat,

sind:

- Gerichtliches Verfahren (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG) - SGG, VwGO

- Öffentliche Fürsorge (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG) - SGB XII, SGB VIII

- Kriegsschäden und Wiedergutmachung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 9 GG) - BEG, LAG

- Kriegsopferversorgung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 10 GG) - BVG

- Sozialversicherung, Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12

GG) - SGB I, IV, V, VI, VII, X, XI, SGB II und III

- Ausbildungsbeihilfen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 13 GG) - BAföG

- Krankenhausplanung und Krankenhauspflegesätze (Art. 74 Abs.1 Nr. 19a GG) - KHG, BPflV

Der Bund hat in den genannten Gesetzen die ihm eingeräumte Gesetzgebungszuständigkeit voll

ausgeschöpft. Die Länder haben deshalb nur noch eine begrenzte Zuständigkeit. Sie nehmen diese

wahr

- kraft durch Bundesgesetz eingeräumter Zuständigkeit (vgl. die Ausführungsgesetze der Län-

der zum SGG, zur VwGO, zum Sozialhilferecht und zum SGB VIII),

- durch eigene Landessozialpolitik: Beschränkt auf Entschädigung für Blinde, Darlehen für

Familiengründung, Ausbildungsförderung (Schüler-„BAföG“), berufsständische Versor-

gungswerke für Freiberufler

27

b) Bedeutung der Grundrechte für das Sozialrecht

Für das Sozialleistungsrecht stellen sich drei verfassungsrechtliche Grundfragen:

- Sind Einführung oder Ausweitung von Einrichtungen des Sozialrechts verfassungsgemäß

(aa)?

- Welche materiellen Anforderungen sind an die inhaltliche Ausgestaltung von Sozialleistungs-

systemen zu richten (bb)?

- Welche Grenzen setzt die Verfassung der Einschränkung sozialrechtlicher Rechte (cc)?

aa) Zu Einführung oder Ausweitung von Einrichtungen des Sozialrechts vgl. BVerfGE 10, 354;

75, 108, Problem: Einführung der Versicherungspflicht für selbständige Ärzte oder Künstler verfas-

sungsgemäß? sedes materiae ist Art. 2 Abs. 1 GG (nicht Art. 12, 14 GG).

Aufgabe 6: Warum ist die Einführung oder Ausweitung der Versicherungspflicht statthaft?

Art. 14 GG ist trotz Beitragspflicht durch die Regelung nicht berührt, weil die Begründung von

Zahlungspflichten das Eigentum nicht beeinträchtigt. Kernfrage für Art. 2 Abs. 1 GG: Ist die Einbe-

ziehung Einzelner in sozialrechtliche Systeme verhältnismäßig i.w.S.? Argumente:

- Sicherung der abhängig Beschäftigten durch Sozialversicherung zeigt Geeignetheit

- Existenz der Sozialhilfe zeigt Erforderlichkeit

- Vorsorge liegt im eigenen Interesse des Gesicherten, daher ist Verhältnismäßigkeit i.e.S. ge-

wahrt.

bb) Bei der Ausgestaltung des Sozialrechts stellen sich insbesondere Probleme der Gleichheit,

namentlich im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG, aber auch im Hinblick auf die besonderen Diskrimi-

nierungsverbote der Art. 3 Abs. 2, 3 GG.

Wichtige Entscheidungen in diesem Zusammenhang: BVerfGE 49, 192; 66, 234; 72, 141; BVerfGE

94, 241: gleiche Kindererziehungszeiten für erwerbs- und nichterwerbstätige Erziehende?; speziell

zu Art. 3 Abs. 2 GG: Verfassungsmäßigkeit der unterschiedlichen Rentenalter für Männer und

Frauen (vgl. BVerfGE 74, 163), Ungleichheit im Beitragsrecht durch Doppel-Belastung von Eltern

(vgl. BVerfGE 103, 242-271)

28

Wesentliche Gesichtspunkte:

- Der Gesetzgeber hat einen großen sozialpolitischen Gestaltungsspielraum. Es ist deshalb

nicht zu prüfen, ob die angefochtene Regelung die vernünftigste oder gerechteste Regelung

sei.

- Allerdings darf auch das Sozialrecht nicht willkürlich differenzieren. Es ist deshalb jeweils zu

fragen, ob für eine sozialrechtliche Regelung eine hinreichende Rechtfertigung besteht.

cc) Einschränkung von Sozialleistungsrechten. Zunächst wurden die Einschränkungen von

Sozialleistungsrechten nur an Art. 2 Abs. 1 GG gemessen. Seit BVerfGE 53, 257 folgt das BVerfG

der bereits früher vom BSG (BSGE 9, 127) sowie von Richterin Willtraut Rupp- von Brünneck

(BVerfGE 32, 111) verfochtenen Ansicht, dass die durch Beitragsleistung erworbenen Anrechte in

der Sozialversicherung den Schutz der Eigentumsgarantie (Art. 14 GG) genießen: Art. 14 GG um-

fasse nicht nur den Schutz der Ansprüche, sondern auch der Anwartschaften. Begründung: Art. 14

GG sichere die „Freiheit im vermögensrechtlichen Bereich“. Gelungenes Beispiel: BVerfG NJW

1999, 2493, 2505 (Überführung der „Intelligenz“- und „Stasi“-Renten).

Das „sozialrechtliche Eigentum“ ist jedoch sozial gebunden (Art. 14 Abs. 2 GG). Legitimer Grund

für die Einschränkung von Sozialleistungsrechten ist die Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Sozi-

alversicherung.

dd) Darüber hinaus ist insbesondere Art. 12 Abs. 1 GG relevant für die Frage, inwieweit Ange-

hörige bestimmter Berufsgruppen den Zugang zu den sozialrechtlichen Systemen sozialer Vorsorge

haben. Das BVerfG (BVerfGE 11, 30; 25, 336) hat aus Art. 12 GG einen grundsätzlichen Anspruch

von Ärzten und Dentisten auf Zulassung zur kassenärztlichen Versorgung abgeleitet; BVerfGE 78,

155 hat dagegen die Verweigerung des Zugangs von nichtärztlichen Berufsgruppen – wie Heilprak-

tikern – zur kassenärztlichen Versorgung für verfassungsgemäß angesehen.

c) Sozialrecht und sonstiges öffentliches Recht

Zum übrigen öffentlichen Recht weist das Sozialrecht besondere Querverbindungen auf. Besonders

intensiv sind die Beziehungen zum allgemeinen Verwaltungsrecht (aa), ferner zum Steuerrecht (bb)

sowie schließlich zum Organisationsrecht (cc).

29

aa) Die Nähe zum Allgemeinen Verwaltungsrecht wird begründet, weil Sozialleistungen nach

denselben Grundsätzen, die für Akte der Eingriffsverwaltung gelten, durch Verwaltungsakt gewährt

werden. Deshalb gelten die Maximen des Allgemeinen Verwaltungsrechts auch für das Sozialrecht

- mehr: Sozialrecht leistet wichtige Beiträge für die Ausbildung von Institutionen des Allgemeinen

Verwaltungsrechts - so insbesondere zur Problematik der Rücknahme begünstigender Verwaltungs-

akte (vgl. hierzu das Institut der Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte mit Dauerwirkung,

§ 48 SGB X, dazu unten § 8).

bb) Die Nähe von Sozialrecht und Steuerrecht ergibt sich daraus, dass im Sozialrecht Beiträge

erhoben werden. Beiträge sind Abgaben. Deshalb gelten die allgemeinen Grundsätze des Abgaben-

rechts, die wesentlich im Steuerrecht niedergelegt sind, auch für das Sozialrecht. Außerdem wird

ein – wachsender – Teil des Sozialrechts aus Steuern finanziert (Sozialhilfe, soziale Entschädigung

und Förderung, versicherungsfremde Leistungen der Sozialversicherung, insbesondere der Renten-

und Krankenversicherung).

cc) Die allgemeinen Grundsätze des Organisationsrechts, die öffentliches und privates Recht

(z.B. Vereinsrecht) umfassen, sind für das Sozialrecht bedeutsam, weil dieses in Gestalt der Sozial-

versicherungsträger Selbstverwaltungskörperschaften und in Gestalt der Bundesagentur für Arbeit

eine wichtige Anstalt ausgebildet hat.

d) Sozialrecht und Privatrecht

Die Nähe von Sozialrecht und Privatrecht wird zweifach begründet: zum einen: Sozialrecht bewäl-

tigt Defizite des Privatrechts (aa), zum anderen: Sozialrecht hat Ähnlichkeiten mit privatrechtlichen

Gestaltungen (bb).

aa) Sozialrecht begründet Leistungsansprüche gegen öffentliche Träger, falls eine Leistung ge-

gen Private nicht in Betracht kommt oder nur zufällig ein Bedürfnis befriedigt. Sozialrechtliche

Ansprüche sind daher insoweit auf privatrechtliche Ansprüche bezogen, als diese jene substituieren,

komplettieren oder prolongieren:

Privatrechtliche Ansprüche werden durch Sozialrecht etwa ersetzt, wenn bei deliktischer Schädi-

gung nicht nur privatrechtliche Schadensersatzansprüche gegen Dritte, sondern auch Sozialleis-

tungsansprüche wegen Krankheit, Erwerbsunfähigkeit, Unfall oder soziale Entschädigung begrün-

det sind. Sozialrecht kann ferner privatrechtliche Ansprüche vervollständigen, etwa bei Kindergeld

30

oder Ausbildungsförderung; in beiden Fällen entlasten Sozialleistungsansprüche die Eltern - im

ersten Fall durch Stärkung der Unterhaltsfähigkeit der Eltern, im zweiten durch Beseitigung der

Unterhaltsbedürftigkeit des Kindes.

Sozialrecht kann schließlich bürgerlichrechtliche Ansprüche verlängern. Dies ist insbesondere der

Fall im Verhältnis zu arbeits- und familienrechtlichen Ansprüchen. Die Sozialversicherungsleistun-

gen, die bei Alter, Invalidität, Unfall, Arbeitslosigkeit und Krankheit gewährt werden, sollen das

dem Versicherten entfallende Erwerbseinkommen ersetzen; ähnlich prolongiert Sozialrecht Unter-

haltsleistungen, wenn nach dem Tode des Versicherten oder nach Arbeitsunfällen an Ehegatten oder

Kinder Renten oder Zuschüsse geleistet werden.

bb) Sozialrecht begründet Leistungsansprüche gegen den Staat und schafft damit obligatorische

Ansprüche. Es fragt sich daher, ob und wenn ja in welchem Umfang für diese Ansprüche die Re-

geln des Bürgerlichen Rechts gelten. Ferner sind diese Ansprüche regelmäßig auf Geld oder Sach-

und Dienstleistungen gerichtet, die auf dem Markt gegen Entgelt angeboten werden. Sozialleis-

tungsansprüche stellen deshalb Vermögenswerte dar. Deshalb fragt sich, ob und inwieweit die Re-

geln des bürgerlichen Vermögensrechts entsprechend auf sie zu übertragen sind. Schließlich ist die

Sozialversicherung wichtiger Teil des Sozialrechts. Insoweit fragt sich, welche Gemeinsamkeiten

und Unterschiede zwischen Sozialversicherungs- und Privatversicherungsrecht bestehen.

31

§ 6 Rechtsquellen

Das Sozialrecht beruht auf Normen unterschiedlichen Ranges (a) und Inhalts (b).

a) Rangfolge

Internationale Prinzipienerklärungen (z.B. Art. 22, 25 UNO-Menschenrechtserklärung, Art. 9 ff.

Europäische Sozialcharta) sowie Gesetzgebungsaufträge (z.B. aus ILO-Übereinkommen) haben den

höchsten Rang. Denn sie geben den Staaten, die der jeweiligen Organisation angehören, auf, ihr

Recht entsprechend den in den internationalen Normen festgelegten Maßstäben auszugestalten.

Die Verfassung ist suprema lex jedes Staates. Sie gibt dem Gesetzgeber Zuständigkeiten, Hand-

lungsformen und Handlungsziele vor. Das Gesetz bestimmt wesentlich den Inhalt von Sozialrecht

(vgl. § 31 SGB I - allgemeiner Vorbehalt des Gesetzes gilt im ganzen Sozialrecht - wichtig, weil

oftmals übersehen!). Bei hinlänglicher gesetzlicher Ermächtigung (vgl. Art. 80 GG) können durch

Rechtsverordnungen (= Normen, die die Exekutive setzt) sozialrechtliche Normen geschaffen wer-

den (vgl. z.B. Arbeitserlaubnisverordnung, Berufskrankheitenverordnung, Bundespflegesatzverord-

nung, Sachbezugsverordnung). Der Gesetzgeber kann des Weiteren Verbände zum Erlass von

Normen ermächtigen. Die Norm wird durch Normenvertrag gesetzt. Diese Form des Normerlasses

ist vor allem in der Krankenversicherung verbreitet (vgl. §§ 82 f., 87, 92 SGB V). Schließlich wird

der Inhalt von Sozialrecht durch Satzungen geregelt. Diese werden von Körperschaften oder Anstal-

ten aufgrund gesetzlicher Ermächtigung erlassen (z.B. Satzungen der Bundesagentur für Arbeit über

Internationale Prinzipienaufklärungen

und

Gesetzgebungsaufträge

Normenvertrag

Rechtsverordnung

Satzung

Gesetz

Verfassung

Geltungs-

vorrangKonkretisierung

32

Arbeitsvermittlung durch Private, Förderung der Arbeitsaufnahme oder der ganzjährigen Beschäf-

tigung in der Bauwirtschaft; Satzungen der Kassenärztlichen Vereinigungen über die Fortbildung

der Kassenärzte oder Maßnahmen zur Sanktionierung von Pflichtenverstößen, vgl. § 81 Abs. 4, 5

SGB V).

b) Inhalte des Sozialrechts:

Das materielle deutsche Sozialrecht ist zentral im Sozialgesetzbuch (SGB) geregelt. Dieses ist in

verschiedene Bücher untergliedert, die mit römischen Zahlen (z.B. SGB I, SGB V, SGB X) be-

zeichnet werden. Im SGB I sind die allgemeinen Regeln des Sozialrechts enthalten. Diese sind vor

die Klammer gezogen und damit für alle Sozialleistungszweige verbindlich. Dieser Teil wurde his-

torisch zuerst erlassen (1975). Seither sind weitere Teile des SGB in Kraft getreten, so das SGB IV

(Allgemeine Grundsätze der Sozialversicherung), SGB X (Sozialverwaltungsverfahren), SGB V

(Krankenversicherung), SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe), SGB VI (Rentenversicherung), SGB

XI (Pflegeversicherung) und SGB VII (Unfallversicherung). Die Vorschriften des SGB III (Arbeits-

förderung) traten 1998 in Kraft. Das Rehabilitationsrecht ist als SGB IX zusammengefasst worden

und zum 1. Juli 2001 in Kraft getreten. Im Zuge der Reform der Arbeitsförderung wurde das SGB II

(Grundsicherung für Arbeitssuchende) eingeführt. Auch die Sozialhilfe wurde nun mehr in das SGB

eingegliedert (SGB XII). Diese beiden Teile des Sozialgesetzbuches traten zum 01.01.2005 in

Kraft. Der sachliche Geltungsbereich der verschiedenen Bücher des SGB unterscheidet sich je nach

Regelungsgegenstand (vgl. die folgende Tabelle). Daneben gelten zahlreiche sozialrechtliche Ein-

zelgesetze bzw. einzelne Vorschriften aus ihnen (z.B. RVO, BVG, OEG, IfSG, BKGG, BAföG,

WoGG) als „besondere Teile des SGB“ (§ 68 SGB I) bis zu deren endgültiger Eingliederung in das

SGB.

33

Sachlicher Geltungsbereich einzelner Sozialgesetze

Gesamtes Sozialrecht: SGB I, SGB IX, SGB X

Soziale Vorsorge:

SGB IV

Soziale

Entschädigung

Soziale

Förderung

Soziale

Hilfe

KV: SGB V

KOV: BVG

SED-Unrechtsopfer-

entschädigung:

VwRehaG

Familienlasten:

BKGG,

§§ 62ff. EStG

Sozialhilfe:

SGB XII

SGB II

RV: SGB VI

VOE: OEG + BVG

Arbeitsförderung:

SGB III / SGB II

PflegeV: SGB XI

SoldatenV:

SVG + BVG

Ausbildungsförderung:

BAföG

Jugendhilfe:

SGB VIII

echte UV: SGB VII

unechte UV:

SGB VII

Impfschäden: IfSG

Wohnen:

WoGG

Rehabilitation:

SGB IX

34

§ 7 Das Sozialrechtsverhältnis

a) Überblick über die gesetzlichen Sozialrechtsverhältnisse

In §§ 3 - 10, 18 - 29 SGB I werden als „soziale Rechte“ (§ 2 SGB I) Rechte auf Vorsorge, Entschä-

digung, Förderung und Hilfe statuiert. Sie sind relative Rechte und begründen Ansprüche des Ein-

zelnen gegen öffentliche Leistungsträger.

Vorsorge: §§ 4, 21 - 23 SGB I

Förderung: §§ 3, 6 f., 10, 18, 19 b, 25 f., 29 SGB I

Entschädigung: §§ 5, 24 SGB I

Hilfe: §§ 8 f., 19a, 27 f. SGB I

Arten der Leistungen: In ihren Rechtsfolgen (= Inhalt des Geschuldeten) unterscheiden sich die

sozialen Rechte in Ansprüche auf Geld-, Dienst- und Sachleistungen (§ 11 SGB I).

Aufgabe 7: Nennen Sie Beispiele für die drei Leistungsgattungen.

Regelmäßig sind die Gläubiger von Sozialleistungsansprüchen natürliche Personen: Schuldner die-

ser Leistungsansprüche sind juristische Personen des öffentlichen Rechts. Das Gesetz bezeichnet

den Schuldner von Sozialleistungsansprüchen als „Leistungsträger“. § 12 SGB I bestimmt Kör-

perschaften, Anstalten und Behörden als Leistungsträger. Im Recht der sozialen Vorsorge sind Kör-

perschaften Leistungsträger, im Recht der Arbeitsförderung und des Familienlastenausgleichs ist

(entgegen des missverständlichen § 367 SGB III) eine Anstalt – die Bundesagentur für Arbeit –

Leistungsträgerin und im Recht der sozialen Entschädigung und in Teilbereichen der sozialen För-

derung und der sozialen Hilfen sind Leistungsträger Behörden (Versorgungsamt, Jugendamt,

Wohngeld-amt, Ausbildungsförderungsamt).

b) Das Sozialleistungsverhältnis als Schuldverhältnis

aa) Leistungsträger schulden dem Einzelnen und der Allgemeinheit Information (§§ 13 - 15 SGB

I) und zwar:

- „Aufklärung“ der Öffentlichkeit (§ 13 SGB I),

- „Beratung“ des Einzelnen durch den zuständigen Leistungsträger (§ 14 SGB I)

- „Auskunft“ bestimmter Leistungsträger bei ungeklärter Zuständigkeit (§ 15 SGB I)

Sanktionen bei Verletzung der Unterrichtungspflicht: Herstellungsanspruch. Der Träger hat bei

35

Verstößen gegen die Unterrichtungspflicht den Sozialleistungsberechtigten so zu stellen, wie er bei

ordnungsgemäßer Beratung gestanden hätte. Ein Verschulden ist nicht erforderlich. Der Anspruch

ist auf Naturalrestitution gerichtet.

bb) Entstehung und Durchsetzung des Anspruchs

- Unterscheide Pflicht- und Ermessensleistungen (§§ 38 f. SGB I)

- Anspruchsentstehung (§ 40 SGB I)

- Empfangszuständigkeit für Anträge (§ 16 SGB I)

- Fälligkeit (§ 41 SGB I)

- Vorschuss- und Vorleistungspflicht (§§ 42 f. SGB I)

- Verzinsung und Verjährung (§§ 44 f. SGB I)

cc) Verfügungen über den Sozialleistungsanspruch

- Handlungsfähigkeit (§ 36 SGB I)

- Unwirksamkeit (§§ 32, 46 Abs. 2 SGB I)

- Untergang: Verzicht (§ 46 SGB I)

- Personenwechsel: Überleitung oder Übertragung (§§ 50, 53 SGB I)

- Belastung zugunsten Dritter: Verpfändung und Pfändung (§§ 53 f. SGB I)

- Saldierung mit Gegenforderung: Aufrechnung und Verrechnung (§§ 51 f. SGB I)

(= Erfüllungssurrogat)

dd) Erfüllung (§§ 47 ff. SGB I): Änderung der Empfangszuständigkeit zugunsten der gegenüber

Sozialleistungsberechtigten unterhaltsberechtigten Dritten (Kind, Ehegatte)

ee) Sonderrechtsnachfolge von Ansprüchen von Todes wegen (§§ 56 ff. SGB I)

c) Mitwirkungsobliegenheiten

aa) Mitwirkungshandlungen (§§ 60 - 64 SGB I): Tatsachenangabe, persönliches Erscheinen, me-

dizinische Untersuchung, Heilbehandlung, berufliche Qualifizierung

bb) Grenzen (§ 65 SGB I): Unverhältnismäßigkeit, Unzumutbarkeit, Nichterforderlichkeit der

Handlung

cc) Sanktion für Obliegenheitsverletzung: Leistungsausschluss (§§ 66 f. SGB I)

36

§ 8 Verwaltungsverfahren

a) Beteiligte

Das sozialrechtliche Verwaltungsverfahren ist im SGB X geregelt (vgl. auch § 2 Abs. 2 Nr. 4

VwVfG, aber § 37 SGB I). Subjekte sind eine Verwaltungsbehörde und ein Beteiligter. Ziel des

Verwaltungsverfahrens sind der Erlass eines Verwaltungsakts oder der Abschluss eines öffentlich-

rechtlichen Vertrages (§ 8 SGB X). Beteiligtenfähig (= parteifähig) sind natürliche oder juristische

Personen, Vereinigungen, soweit ihnen ein Recht zustehen kann, sowie Behörden (§ 10 SGB X);

handlungsfähig (= prozessfähig) sind natürliche Personen, soweit sie bürgerlichrechtlich geschäfts-

fähig oder nach öffentlichrechtlichen Vorschriften als handlungsfähig anerkannt (vgl. insbesondere

§ 36 SGB I) sind, juristische Personen und Vereinigungen, soweit ihnen ein Recht zustehen kann,

sowie Behörden durch ihre Vertreter (§ 11 SGB X). Die Einleitung des Verfahrens hängt vom An-

trag ab. Der Antrag ist eine öffentlich-rechtliche Willenserklärung. Er legt den Gegenstand des Ver-

fahrens fest.

b) Grundsätze des Verwaltungsverfahrens

- Nichtförmlichkeit, Einfachheit, Zweckmäßigkeit (§ 9 SGB X)

- Hinsichtlich der Sachverhaltsaufklärung gilt der Untersuchungsgrundsatz (§ 20 SGB X);

Beweismittel: Auskunft, Zeugen, Sachverständige, Urkunden, Augenschein (§ 21 SGB X);

die Beweislast trägt jede Seite für die ihr günstigen Tatsachen

- Hinsichtlich der Verfahrenseinleitung gelten das Legalitäts- und das Offizialprinzip (§ 18

SGB X).

- Das Verfahren unterliegt dem Grundsatz der „begrenzten Beteiligtenöffentlichkeit“: Das

Verfahren ist nicht jedermann zugänglich, wohl aber ist hinreichende Transparenz im Ver-

hältnis zwischen Behörde und Beteiligten zu gewährleisten. Mittel zur Sicherung der begrenz-

ten Beteiligtenöffentlichkeit: Anhörungsrecht (§ 24 SGB X), Recht auf Akteneinsicht (§ 25

SGB X) und Begründungszwang (§ 35 SGB X).

- Kostenfreiheit für das gesamte Verwaltungsverfahren einschließlich notwendiger Amtshil-

femaßnahmen Dritter (§ 64 SGB X).

37

c) Handlungsformen

Das Gesetz unterscheidet zwei Handlungsformen: den praktisch wichtigen Verwaltungsakt (§§ 31

ff. SGB X) und den praktisch eher seltenen öffentlich-rechtlichen Vertrag (§§ 53 ff. SGB X).

aa) Verwaltungsakt

Der Verwaltungsakt (VA) hat materiell-, verfahrens- und prozessrechtliche Bedeutungen. Materi-

ellrechtlich stellt der VA die Rechtslage klar, konkretisiert und individualisiert das materielle

Recht; er ist damit ein Akt materieller Rechtsanwendung. Verfahrensrechtlich bildet der VA den

Abschluss des Verwaltungsverfahrens und schafft die Grundlagen für die Vollstreckung. Der Be-

scheid ist vollstreckbar, nachdem er bestandskräftig geworden ist.

Prozessrechtlich legt der VA den Streitgegenstand fest.

Definition des VA (§ 31 SGB X), bestehend aus fünf Elementen: Hoheitliche Maßnahme, Behörde,

Regelung, Außenwirkung, Einzelfall.

(1) Hoheitliche Maßnahme: Verwaltungsträger setzt eine einseitige Rechtsfolge, gestützt

auf ein nur ihn berechtigendes Sonderrecht (Subjektstheorie).

(2) Behörde: Vollzugsorgan eines Verwaltungsträgers (Legaldefinition in

§ 1 Abs. 2 SGB X).

(3) Regelung: Unmittelbare Begründung oder Gestaltung eines Rechtsver-

hältnisses zwischen Verwaltungsträger und dem Beteiligten.

(4) Außenwirkung: Maßnahme verwirklicht sich nicht im Verwaltungsinternum,

sondern entfaltet gegenüber dem Beteiligten Wirkung.

(5) Einzelfall: Maßnahme regelt ein konkretes Ereignis (statt - wie die

Rechtsnorm - eine Vielzahl von Ereignissen), sei es gegenüber

einer Person (individuell), sei es für eine Vielzahl von Perso-

nen (generell - „Allgemeinverfügung“, § 31 S. 2 SGB X).

Nebenbestimmungen zu VA (§ 32 SGB X), Arten: Befristung, Bedingung, Widerrufsvorbehalt,

Auflage, Auflagenvorbehalt; zulässig: bei gebundenem VA kraft gesetzlicher Gestattung, bei Er-

messensentscheidungen nach pflichtgemäßem Ermessen.

Anforderungen an den Erlass eines VA:

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- Grundsätzlich formfrei (§ 33 Abs. 2 S. 1 SGB X), Ausnahme: Schriftform ist gesetzlich vor-

geschrieben,

- VA muss Regelung (Adressat(en)), Sachverhalt und Rechtsfolge) klarstellen (Bestimmtheit,

§ 33 Abs. 1 SGB X),

- VA bedarf, wenn schriftlich ergangen, der Begründung (§ 35 SGB X),

Wirkung tritt erst mit Bekanntgabe gegenüber dem Adressaten ein (§ 39 SGB X).

Fehlerhafter VA:

- Offensichtliche Fehler (Schreib- und Druckfehler) sind zu berichtigen (§ 38 SGB X). VA ist

wirksam.

- ist nichtig nach § 40 Abs. 1 SGB X, wenn ein besonders schwerwiegender Fehler vorliegt, der

offensichtlich ist (Evidenztheorie), oder nach § 40 Abs. 2 SGB X bei Vorliegen eines Grun-

des.

- ist rechtswidrig und aufhebbar, wenn VA nicht nichtig ist und eine Heilung des sonstigen

Fehlers nach § 41 SGB X nicht möglich ist.

Der bekannt gegebene und nicht nichtige, also damit wirksame VA erwächst - trotz Rechtmäßigkeit

oder Rechtswidrigkeit - nach Ablauf der Rechtsbehelfs- (Widerspruchs-) oder Rechtsmittelfrist in

formelle und materielle Bestandskraft.

bb) Öffentlich-rechtlicher Vertrag, §§ 53 ff. SGB X

Zu unterscheiden sind koordinationsrechtliche und subordinationsrechtliche Verträge. Der koordi-

nationsrechtliche Vertrag kommt unter Gleichgeordneten zustande (z.B. Arbeitsgemeinschaften,

Auftrag, Regelungen zwischen Krankenversicherung und Kassenärztlicher Vereinigung). Die koor-

dinationsrechtlichen Verträge sind grundsätzlich zulässig, es sei denn, sie sind spezialgesetzlich

ausgeschlossen. Beim subordinationsrechtlichen Vertrag (§ 53 Abs. 1 S. 2 SGB X) stehen die

Vertragspartner hinsichtlich des Vertragsgegenstandes in einem Über-Unterordnungs-Verhältnis.

Subordinationsrechtliche Verträge sind bei Ermessensleistungen zulässig, indessen nicht bei

Pflichtleistungen. Der öffentlich-rechtliche Vertrag ist entweder wirksam oder nichtig - tertium non

datur.

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d) Aufhebung bestandskräftiger Verwaltungsakte

Aufhebung bestandskräftiger

Verwaltungsakte

anfänglich

rechtswidrig

anfänglich

rechtmäßig

anfänglich rechtmäßig

nachträglich rechtswidrig

nicht begünstigend

§ 44 SGB X

begünstigend

§ 45 SGB X

nicht begünstigend

§ 46 SGB X

begünstigend

§ 47 SGB X

- zuwenig

Leistungen

- zu viel

Betrag

Rücknahme

ex tunc,

also Nach-/

Rückzahlung

sonstige

Entscheidung

Rücknahme

ex nunc

ohne

Dauerwirkung

Rücknahme

ex nunc,

falls

Vertrauen

nicht

schutzwürdig

mit

Dauerwirkung

Rücknahme

- ex nunc,

falls Vertrauen

nicht schutz-

würdig und

Rücknahmefrist

(2 Jahre) nicht

verstrichen;

Rücknahme

- ex tunc

bei Unredlich-

keit des

Empfängers

Widerruf

ex nunc,

falls nicht

Anspruch

auf

Fortwirkung

beruht

Widerruf

- ex nunc,

nur bei Vorbehalt

oder Nichter-

füllung einer

Auflage (Abs. 1);

- Widerruf auch

ex tunc von

Geld- oder

Sachleistung

bei Zweck-

verfehlung

(Abs. 2)

Aufhebung

ex nunc,

soweit für

Berechtigten

günstiger oder

Berechtigter Pflicht

verletzt hat

§ 48 SGB X

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§ 9 Ausgleichsansprüche der Sozialleistungsträger

a) Problem

Die Frage nach Ausgleichsansprüchen der Sozialleistungsträger stellt sich in drei unterschiedlichen

Zusammenhängen:

- Der Empfänger erlangt eine Sozialleistung, die ihm nicht gebührt (= ohne legitimierenden

Grund).

- Der Empfänger erlangt eine Sozialleistung, die ihm zwar gebührt, aber von einem Leistungs-

träger erbracht wurde, der sie nicht zu erbringen hatte, weil ein anderer Leistungsträger sie er-

bringen musste.

- Der Empfänger erlangt eine Sozialleistung zur Befriedigung eines Interesses, das ein Privater

zu befriedigen hat.

Aufgabe 8: Nennen Sie Beispiele für jede der genannten Gestaltungen.

b) Lösungsmöglichkeiten

Vgl. Grafik Ausgleichsverhältnisse (S. 43)

aa) Unproblematisch sind die Ausgleichsverhältnisse im Zwei-Personenverhältnis: Der Emp-

fänger schuldet dem Träger das Erlangte, es sei denn, die Rückforderung wäre aus Gründen des

Vertrauensschutzes ausgeschlossen (= öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch des Trägers gegen

den Empfänger).

bb) Bei Ansprüchen im Drei-Personenverhältnis wird eine Ausgleichslage notwendig, um den

Vorrang der Leistungspflicht des letztlich Leistungspflichtigen gegenüber dem Vorleistenden zu

sichern. Es sind zwei Ausgleichstechniken zu unterscheiden: Kompensation und Parteiwechsel.

Die Kompensation ist im Verhältnis mehrerer Sozialleistungsträger zueinander angeordnet, der Par-

teiwechsel im Verhältnis von Sozialleistungsträgern und Privaten. Kompensation bedeutet: Die

Vorleistung gilt als Erfüllung des Anspruchs gegenüber dem Berechtigten; dieser Anspruch wird

durch die Vorleistung getilgt; der Vorleistende erlangt gegenüber dem letztlich Leistungspflichtigen

einen Anspruch auf Ersatz der getätigten (§ 102 SGB X) oder der vom letztlich Leistungspflichti-

gen ersparten Aufwendungen (§§ 103 - 105 SGB X).

Parteiwechsel bedeutet: Die Vorleistung tilgt nicht die Forderung des Berechtigten gegen den

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letztlich Leistungspflichtigen; vielmehr erlangt der Vorleistende wegen der Vorleistung aufgrund

Verwaltungsakts (Überleitung, § 93 SGB XII) oder kraft Gesetzes (cessio legis, vgl. z.B. §§ 115 f.

SGB X, 94 SGB XII, 81 a BVG, 7 UnterhVG, 37 BAföG) den Anspruch des Berechtigten gegen

den letztlich Leistungspflichtigen. Es findet somit ein Gläubigerwechsel statt.

Unterschied:

Bei der Kompensation erlischt der Anspruch gegen den letztlich Leistungspflichtigen. Der Vorleis-

tende erhält einen separaten Ausgleichsanspruch. Beim Parteiwechsel geht der Anspruch dagegen

vom Berechtigten auf den Vorleistenden über und dient selbst dem Ausgleich.

c) Erstattungsrecht

Im Rahmen des „Erstattungsrechts“ sind zu unterscheiden der Ersatzanspruch nach § 102 SGB X

und die Erstattungsansprüche der §§ 103-105 SGB X. Ein Ersatzanspruch (§ 102 SGB X) ist an-

geordnet, falls der Vorleistende bewusst als Fremder geleistet hat; ein Erstattungsanspruch wird

dagegen statuiert, falls der Vorleistende einer vermeintlich eigenen Leistungspflicht genügte. Der

Unterschied zwischen beiden Ansprüchen zeigt sich vor allem in der Rechtsfolge: Ersatzansprüche

sind auf Ersatz der vom Vorleistenden getätigten Aufwendungen gerichtet, Erstattungsansprüche

dagegen auf Abschöpfung der vom letztlich Leistungspflichtigen ersparten Aufwendungen.

bb) Die Rangfolge unter den Ersatz- und Erstattungsansprüchen (relevant für den Ausgleich bei

4 und mehr Personen) (vgl. auch § 106 SGB X): Vorrang hat der Ersatzanspruch (§ 102 SGB X)

gegenüber dem Erstattungsanspruch. Innerhalb der Erstattungsansprüche (§§ 103 - 105 SGB X) hat

den ersten Rang der Erstattungsanspruch unter institutionell gleichrangigen Trägern (§ 103 SGB X),

gefolgt vom Erstattungsanspruch unter institutionell verschiedenrangigen Trägern (§ 104 SGB X),

gefolgt vom Erstattungsanspruch zwischen unzuständigem und zuständigem Träger (§ 105 SGB X)

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2-Personenverhältnis

Rückforderung

(= Leistungskondiktion)

3-Personenverhältnis 4(4+n)-Personenverhältnis

§ 106 SGB X

Ohne Vertrauensschutz

§ 112 SGB X

Mit Vertrauensschutz

§§ 26 SGB IV,

50, 45 SGB X

Kompensation

§ 107 SGB X

Parteiwechsel Rückforderung

§ 50 SGB X

Kompensation

§§ 102-105 SGB X

Ersatz

(= § 670 BGB)

§ 102 SGB X

Erstattung

(= Rückgriffs-

kondiktion)

§§ 103-105 SGB X

cessio legis

§§ 115-119 SGB X

Ausgleichsverhältnisse

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§ 10 Rechtsschutz im Sozialrecht

a) Überblick

aa) Erfordernis des Rechtsschutzes

Da Sozialleistungsträger auf allen Gebieten des Sozialrechts öffentliche Gewalt ausüben und nach

Art. 19 Abs. 4 GG bei Rechtsverletzungen durch Akte öffentlicher Gewalt für jedermann der

Rechtsweg zu eröffnen ist, bedarf es auch im Sozialrecht eines ausgebauten Systems des gerichtli-

chen Rechtsschutzes.

bb) Kein einheitlicher Rechtsweg

Für den Rechtsschutz im Sozialrecht besteht nicht ein spezieller Rechtsweg; vielmehr bestehen un-

terschiedliche Rechtswege. Soweit Rechtsschutz gegen rechtlich eigenständige Sozialleistungsträ-

ger (Sozialversicherungsträger, Bundesagentur für Arbeit) oder das Land als Versorgungsträger

begehrt wird, ist der Rechtsweg zu den Sozialgerichten eröffnet (§ 51 SGG; Enumerationsgrund-

satz und aufdrängende Sonderzuweisung, Abs. 1 Nr. 10). Die Sozialgerichtsbarkeit ist ferner zu-

ständig für das Vertragsarztrecht (§ 51 Abs. 2 SGG). Seit dem 1.1.2005 sind die Sozialgerichte auch

zuständig für einen Großteil des bisherigen Sozialhilferechts, da nach § 51 I Nr. 4a SGG die Ge-

richtsbarkeit in Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitssuchende von den Verwaltungsge-

richten auf die Sozialgerichte übergeht.

Soweit Rechtsschutz gegen Verwaltungsträger begehrt wird, die neben sozialrechtlichen auch wei-

tere nicht-sozialrechtliche Zuständigkeiten haben (insbesondere Städte, Landkreise oder Universitä-

ten), ist der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten eröffnet (§ 40 Abs. 1 VwGO, Generalklausel

und abdrängende Sonderzuweisung, § 51 SGG). Die nachfolgende Darstellung bezieht sich auf bei-

de Verwaltungsgerichtszweige.

cc) Besetzung der Gerichte und Gerichtsverfahren

Die Verwaltungsgerichte sind mit drei Berufsrichtern und zwei ehrenamtlichen Richtern (§ 5 Abs. 3

VwGO), die Sozialgerichte mit einem Berufsrichter und zwei ehrenamtlichen Richtern besetzt (§ 12

I SGG). Ehrenamtlichte Richter in der Verwaltungsgerichtsbarkeit sollen das 25. Lebensjahr voll-

endet haben (§ 20 VwGO), während ehrenamtliche Richter in der Sozialgerichtsbarkeit je nach In-

stanz mindestens 25, 30 oder 35 Jahre alt sein müssen (§§ 16 Abs. 1, 35 Abs. 1, 47 SGG). In der

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Verwaltungs- wie der Sozialgerichtsbarkeit bestehen drei Rechtszüge. In der Verwaltungsgerichts-

barkeit bestehen Verwaltungsgerichte, Oberverwaltungsgerichte („Verwaltungsgerichtshöfe“) und

das Bundesverwaltungsgericht. In der Sozialgerichtsbarkeit bestehen Sozialgerichte, Landessozial-

gerichte und das Bundessozialgericht. Die Thüringer Sozialgerichte befinden sich in Altenburg,

Gotha, Nordhausen und Meiningen. Das Landessozialgericht hat seinen Sitz in Erfurt, das Bundes-

sozialgericht in Kassel.

b) Grundsätze der Rechtsschutzgewährung

aa) Vorverfahren

Vor jedem Rechtsschutzbegehren, das sich gegen einen Verwaltungsakt wendet oder auf Erlass

eines Verwaltungsaktes gerichtet ist, muss ein Vorverfahren durchgeführt werden (§§ 68 VwGO,

78 SGG). Das Vorverfahren muss binnen Monatsfrist nach Ablehnung oder Antragstellung durch

Einreichung des Widerspruchs anhängig gemacht werden (§§ 69 f. VwGO, 83 f. SGG). Der Trä-

ger hat die Recht- und Zweckmäßigkeit der beanstandeten Maßnahme zu überprüfen (§ 68 VwGO,

§ 78 SGG). Hält er die Maßnahme für rechts- oder zweckwidrig, so kann er dem Widerspruch ab-

helfen (Abhilfebescheid, § 72 VwGO und § 85 Abs. 1 SGG). Hilft der Träger dagegen nicht ab, ist

der Widerspruch durch Widerspruchsbescheid zurückzuweisen (Widerspruchsbescheid, § 73

VwGO, § 85 Abs. 2 SGG).

bb) Klageverfahren

Der Betroffene kann binnen Monatsfrist gegen den ergangenen oder abgelehnten Verwaltungsakt in

Gestalt des Widerspruchsbescheides vor dem zuständigen Gericht (SG oder VG) Klage erheben (§

74 VwGO, § 87 SGG). VwGO und SGG kennen folgende Klagearten: Anfechtungs-, Verpflich-

tungs-, Leistungs- und Feststellungsklage. Nach dem SGG ergeben sich folgende Anwendungsbe-

reiche:

Anfechtungsklage, § 54 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. SGG: Im Sozialrecht – Recht der leistenden Verwal-

tung – ist die Anfechtungsklage von geringerer Bedeutung als im Recht der eingreifenden Verwal-

tung. Wichtigste Anwendungsfälle: Feststellung der Versicherungspflicht, Erhebung von Sozialver-

sicherungsbeiträgen und Rückforderung von Sozialleistungen.

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Verpflichtungsklage, § 54 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. SGG: Im Sozialrecht wichtig für Ermessensleistun-

gen. Das Gericht kann auf die Verpflichtungsklage hin den Verwaltungsträger zur Leistung ver-

pflichten oder ihn anhalten, das Begehren des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des

Gerichts zu bescheiden.

Leistungsklage: Sie steht im Mittelpunkt des Rechtsschutzes gegen Akte der Sozialverwaltung. Sie

ist Mittel zur Durchsetzung von Pflichtleistungen. Regelmäßig wird sie als kombinierte Anfech-

tungs- und Leistungsklage erhoben (unechte Leistungsklage, § 54 Abs. 4 SGG); lediglich Erstat-

tungsansprüche unter Sozialleistungsträgern sind mit der echten Leistungsklage (§ 54 Abs. 5 SGG)

durchzusetzen.

Feststellungsklage, § 55 SGG: Sie dient u.a. der Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens

eines Rechtsverhältnisses (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG) oder der Nichtigkeit eines Verwaltungsakts

(§ 55 Abs. 1 Nr. 4 SGG).

cc) Verfahrensgrundsätze

Für Verwaltungsgerichtsbarkeit und Sozialgerichtsbarkeit gelten übereinstimmend:

- der Ermittlungsgrundsatz, §§ 86 VwGO, 103 SGG (statt des Beibringungsgrundsatzes),

- der Grundsatz der materiellen Wahrheit (statt des Grundsatzes der formellen Wahrheit),

- die Grundsätze der Unmittelbarkeit (§§ 96 VwGO, 117 SGG), Mündlichkeit (§§ 101

VwGO, 124 SGG) und Beschleunigung (§§ 97 Abs. 1 VwGO, 106 Abs. 2 SGG).

Nur für das sozialgerichtliche Verfahren gilt der Grundsatz der Klägerfreundlichkeit. Dessen

Ausprägungen sind: Die örtliche Zuständigkeit des Sozialgerichts richtet sich nach dem Wohnsitz

des Klägers (§ 57 SGG), es besteht kein Vertretungszwang (§ 73 Abs. 1 SGG), Prozessvertretung

durch Verbände (z.B. Gewerkschaften) ist zulässig. Es besteht keine Pflicht zur Stellung eines be-

stimmten Antrages (§ 92 SGG, anders § 82 VwGO), jedoch muss bis zum Schluss der mündlichen

Verhandlung klar sein, welches Ziel der Kläger mit der Klage verfolgt. Bei der Einführung des So-

zialgerichtsgesetzes im Jahr 1954 ging man von dem Gedanken aus, dass die Rechtssuchenden

überwiegend wirtschaftlich schwächere Menschen sind. Daraus entwickelte sich der Grundsatz,

dass das sozialgerichtliche Verfahren für den Kläger kostenfrei ist (§§ 183 f. SGG). In den letzten

Jahren wurde dieser Grundsatz als nicht mehr zeitgemäß kritisiert. Das Land Baden-Württemberg

legte einen Gesetzesentwurf vor (vgl. BR-Drucks 73/01), der eine pauschale Gebühr für die unter-

liegende Partei statuiert. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung hingegen hält am Grundsatz der

Kostenfreiheit für Versicherte fest.

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dd) Beendigung des Verfahrens

Das Verfahren kann entweder durch Parteiakt (z.B. Vergleich, Klagerücknahme, Erledigungserklä-

rung) oder durch Urteil beendet werden. Das Urteil kann mit Rechtsmitteln (Berufung und Revisi-

on) angefochten werden. Die Berufung gegen Urteile der Sozialgerichte ist grundsätzlich statthaft,

bedarf jedoch u.U. der Zulassung (§§ 143 ff. SGG). Gegen Urteile des Verwaltungsgerichtes ist die

Berufung nur statthaft, wenn sie vom Oberverwaltungsgericht zugelassen wird (§ 124 VwGO). Die

Revision ist zulässig, wenn sie durch das Ausgangsgericht oder auf Beschwerde gegen die Nichtzu-

lassung durch das Revisionsgericht zugelassen wurde.