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Schwerpunktbereich 3: Deutsches und Europäisches Arbeits- und Sozialrecht Vorlesungsbegleitendes Scriptum Das System des Sozialrechts von Prof. Dr. Dr. h.c. Eberhard Eichenhofer, Friedrich-Schiller-Universität Jena Stand: September 2014

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Schwerpunktbereich 3: Deutsches und Europäisches Arbeits- und Sozialrecht

Vorlesungsbegleitendes

Scriptum

Das System des Sozialrechts

von Prof. Dr. Dr. h.c. Eberhard Eichenhofer,

Friedrich-Schiller-Universität Jena

Stand: September 2014

- Gliederung -

Seite

§ 1 Vorsorgeverhältnis 3

§ 2 Mitgliedschaft in Vorsorgeträgern 5

§ 3 Die verschiedenen Formen der Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenensicherung 9

§ 4 Rentenversicherung 15

§ 5 Versorgungsausgleich 24

§ 6 Krankenversicherung 27

§ 7 Pflegeversicherung 33

§ 8 Unfallversicherung 36

§ 9 Soziale Entschädigung 45

§ 10 Unechte Unfallversicherung 49

§ 11 Arbeitsförderung 51

§ 12 Ausbildungsförderung 58

§ 13 Familienleistungen 60

§ 14 Wohngeld 64

§ 15 Recht der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen 66

§ 16 Sozialhilfe 69

§ 17 Jugendhilfe 74

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Literaturempfehlungen Zur Einführung: - Baltzer, Einführung in das Sozialrecht, JuS 1982, 247 ff., 566 ff., 651 ff.; 1983, 12 ff., 89 ff., 501

ff., 581 ff.; 1984, 256 ff., 753 ff.; 1985, 432 ff. - Becker/Kingreen/Rixen, Grundlagen des Sozialrechts, in: Ehlers/Fehling/Pünder (Hrsg.), Beson-

deres Verwaltungsrecht Bd. 3, 2013, § 75 (S. 853-897). - Kaiser, Sozialrecht und Sozialgerichtsbarkeit im Überblick, JA 2009, 538 ff. - Merten, Sozialrecht. Sozialpolitik, in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts,

2. Auflage, 1995, S. 961 ff. - Ruland, Sozialrecht in: Schmidt-Assmann, Besonderes Verwaltungsrecht, 12. Auflage, 2003 - Schnapp, Sozialversicherungsrecht, in: Achterberg/Püttner, Besonderes Verwaltungsrecht Band

II, 2. Auflage, 2000, S. 809 ff. - Wollenschläger/Becker, Einführung in das Sozialrecht, JA 1992, 321 f.; JA 1993, 1 ff., 33 ff. Lehrbücher - Bley/Kreikebohm/Marschner, Sozialrecht, 9. Auflage, 2007 - Dörr/Francke, Sozialverwaltungsrecht, 3. Auflage 2012 - Eichenhofer, Lehrbuch des Sozialrechts, 8. Auflage, 2012 - Gitter/Schmitt, Sozialrecht, 5. Auflage, 2001 - Igl/Welti, Sozialrecht: ein Studienbuch, 8. Auflage, 2007 - Lampert, Lehrbuch der Sozialpolitik, 8. Auflage, 2007 - Muckel/Ogorek, Sozialrecht, 4. Auflage 2011 - Pieters, Social security: an introduction to the basic principles, 2nd ed. 2006 - Waltermann, Raimund, Sozialrecht, 11. Auflage, 2014 (im Erscheinen) Kommentar - Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, Loseblattwerk - Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch (SGB) - Gesamtkommentar, Loseblattwerk, 2014 - Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, Beck’scher Online-Kommentar Sozialrecht, 34. Ed. 2014 - Eichenhofer/Wenner (Hg.), Kommentar zum Sozialgesetzbuch I, IV, X, Reihe: Wannagat Sozi-

alversicherungsrecht, 2012 - Kreikebohm, Kommentar zum Sozialrecht, 3. Auflage 2013 - Kreikebohm, SGB IV, 2. Auflage 2014 (im Erscheinen) - Mrozysnki, SGB I, 5. Auflage 2014 - v. Wulffen, SGB X, 8. Auflage 2014 Handbuch - von Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, 5. Auflage, 2012 - Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 6. Auflage 2011 - Schulin (Hrsg.), Handbuch des Sozialversicherungsrechts, 4 Bände, 1994-1997 Fallsammlungen - Eichenhofer/Janda, Klausurenkurs im Sozialrecht, 8. Auflage, 2014 - Felix, Das Sozialrechtsfallbuch, 2012; Das Sozialrechtsfallbuch II, 2014 - Becker/Seewald, Fälle zum Sozialrecht, 2004 Gesetzestexte DTV-Texte: Sozialgesetzbuch (Gesamtausgabe: Bücher I-XII, 43. Aufl., 2014, 16,90 €) Das gesamte Sozialgesetzbuch I bis XII, 18. Aufl., 2014, Walhalla Verlag (19,95 €) Aichberger: Sozialgesetzbuch (Loseblattsammlung) (Grundwerk, 34,00 €)

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§ 1 Vorsorgeverhältnis

a) Gegenstand, Arten und Inhalte des Vorsorgeverhältnisses

aa) Gegenstand

Das Vorsorgeverhältnis ist ein höchst komplexes, auf Dauer angelegtes, Pflichten und Rechte um-

fassendes Rechtsverhältnis, das auf Vermeidung (Prävention) oder Gestaltung des Vorsorgefalles

gerichtet ist. Es begründet Beitragspflichten zu einem Träger sozialer Vorsorge, gewährt Mitglied-

schaftsrechte im Träger sozialer Vorsorge und begründet Leistungsansprüche bei Eintritt des Ver-

sorgungsfalles. Soziale Vorsorgeverhältnisse bestehen auf den Gebieten der Sozialversicherung (=

RV, KV, PflegeV, UV und Arbeitslosenversicherung).

bb) Arten von Vorsorgeverhältnissen

Es sind die der Eigenvorsorge und die der Fremdvorsorge dienenden Verhältnisse zu unterscheiden.

Eigenvorsorge liegt vor, wenn der Gesicherte beitragspflichtig ist. Fremdvorsorge liegt vor, wenn

Gesicherter und Beitragspflichtiger personenverschieden sind. Die Unfallversicherung beruht auf

dem Prinzip der Fremdvorsorge, die Renten-, Kranken-, Pflegeversicherung sowie die Arbeitslosen-

versicherung beruhen dagegen auf dem Prinzip der Eigenvorsorge.

cc) Begründung und Beendigung von Vorsorgeverhältnissen

Vorsorgeverhältnisse werden durch Gesetz, Satzung oder Beitritt (Ausübung eines öffentlich-

rechtlichen Gestaltungsrechts) begründet. Regelmäßig wird das Vorsorgeverhältnis durch Gesetz,

nur ausnahmsweise durch Satzung (z.B. § 3 SGB VII) begründet.

Das Vorsorgeverhältnis endet mit der Beendigung der abstrakten Gefährdungslage (namentlich

Aufgabe einer versicherungspflichtigen Beschäftigung), durch Zweckerreichung (Erreichen der Al-

tersgrenze) oder den Tod des Vorsorgeberechtigten.

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Einbeziehung in Vorsorgeverhältnisse und Freistellung von Vorsorgeverhältnissen

Vorsorgeverhältnis

entsteht entsteht nicht

Kraft Norm Versicherungspflicht Versicherungsfreiheit

Kraft Entscheidung des Be-troffenen

Versicherungsberechtigung Versicherungsbefreiung

Versicherungspflicht: Sie wird regelmäßig durch das Gesetz, ausnahmsweise durch Satzung be-

gründet.

Versicherungsfreiheit: Freistellung von der Versicherungspflicht für Personen, die aufgrund ihres

Status anderweitig gesichert sind (z.B. Beamte, Studenten), keinen Vorsorgebedarf haben (z.B. ge-

ringfügig Beschäftigte, § 8 SGB IV, in der Krankenversicherung, § 7 SGB V) oder nicht als sozial

schutzbedürftig angesehen werden (z.B. § 4 Abs. 3 SGB VII - freiberuflich tätige Selbständige).

Versicherungsbefreiung: Freistellung einer Person von der Versicherungspflicht, weil im Einzel-

fall eine gleichwertige Vorsorge besteht.

Versicherungsberechtigung: Unterschieden in zwei Arten - Berechtigung hinsichtlich des „Ob“ (=

Pflichtversicherung auf Antrag) oder Berechtigung hinsichtlich des „Ob“ und des „Wie viel“ (frei-

willige Versicherung).

b) Pflichtversicherung

Eine Pflichtversicherung besteht für

- Arbeitnehmer,

- sozial schutzbedürftige Selbständige und

- Behinderte, zu therapeutischen Zwecken Beschäftigte, Studenten (beschränkt auf KV) und Ar-

beitslose.

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§ 2 Mitgliedschaft in Vorsorgeträgern

Das Mitgliedschaftsverhältnis in Vorsorgeträgern begründet Beitragspflichten, Mitwirkungsrechte

in der Selbstverwaltung und Leistungsansprüche bei Eintritt des Vorsorgefalles. Während letztere in

den diesem Abschnitt nachfolgenden Abschnitten der Darstellung behandelt werden sollen (vgl.

§§ 13 ff.), werden im Folgenden die Voraussetzungen der Beitragspflicht (a, b) sowie die Mitwir-

kungsrechte in der Sozialversicherung (c) skizziert.

a) Die Beitragspflicht im allgemeinen

Die Beitragspflicht zu den verschiedenen Trägern sozialer Vorsorge sichert, dass die Träger die

Leistungen sozialer Vorsorge an die Berechtigten erbringen können. Die Beitragspflicht hat ihre

Rechtsgrundlage in §§ 20 ff. SGB IV für die Erhebung von Beiträgen zu allen Trägern sozialer Vor-

sorge sowie in §§ 157 ff. SGB VI für die RV, §§ 220 ff. SGB V für die KV, §§ 54 ff. SGB XI für

die PflegeV, §§ 150 ff. SGB VII für die UV und §§ 340 ff. SGB III für die Arbeitslosenversiche-

rung.

aa) Finanzierung der Leistungen sozialer Vorsorge

Beiträge sind mit großem Abstand die wichtigste Grundlage für die Finanzierung der Sozialleis-

tungsträger. Zwar bestimmt § 20 SGB IV, dass die Ausgaben der Sozialversicherung durch Beiträ-

ge, staatliche Zuschüsse und sonstige Einnahmen aufgebracht werden. Staatliche Zuschüsse werden

jedoch nur an die RV zum Ausgleich der ihr auferlegten Fremdlasten erbracht (§§ 213 f. SGB VI).

Sie werden für die Rentenversicherung aus dem Bundeshaushalt geleistet. Der Ertrag stammt aus

allgemeinen Steuermitteln.

Aufgabe 1: Geben Sie Beispiele für die der RV auferlegten Fremdlasten.

„Sonstige Einnahmen“ (§ 20 SGB IV) sind im Wesentlichen Erträge aus dem Vermögen der Vor-

sorgeträger. Diese Einkünfte sind jedoch im Vergleich zu den Beiträgen gering.

Für die Finanzierung der Leistungen sozialer Vorsorge gilt der Grundsatz der Globaläquivalenz:

Die Gesamtausgaben der Sozialversicherung müssen durch Einnahmen gedeckt sein; den Trägern

sozialer Vorsorge ist also die Verschuldung nicht gestattet.

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bb) Bestimmungsgröße des Beitrags

Der Bezugspunkt für die Höhe des Beitrages ist unterschiedlich bestimmt, je nachdem, ob ein Vor-

sorgezweig der Eigen- oder der Fremdvorsorge dient. Bezugspunkt der Beitragsbestimmung bei

Eigenvorsorge ist das Bruttoeinkommen des zu Sichernden, Grundlage der Beitragsbestimmung

bei Fremdvorsorge sind außerdem der Finanzbedarf und die Gefährlichkeit des Unternehmens

(§ 153 SGB VII)

cc) Beitragsschuldverhältnis

Die Beitragspflicht begründet ein Beitragsschuldverhältnis zwischen Abgabenpflichtigem und Trä-

ger. Der Anspruch auf Beitragszahlung entsteht kraft Gesetzes. Das Beitragsschuldverhältnis be-

stimmt Fälligkeit, Säumniszuschlag und Verjährung.

b) Der Gesamtsozialversicherungsbeitrag

Die Beiträge zur RV, KV, PflegeV und BA der versicherungspflichtigen Arbeitnehmer werden vom

Arbeitgeber als „Gesamtsozialversicherungsbeitrag“ (§ 28d SGB IV) durch die Krankenkassen als

Beitragseinzugsstellen erhoben. Diese führen den Ertrag der Beiträge an die RV und BA ab.

aa) Gegenstand der Beitragspflicht ist das Bruttoarbeitsentgelt (§§ 28d-28n, 28r SGB IV, 226

SGB V, 341 f. SGB III, 161 f. SGB VI).

Der Prozentsatz, mit dem das Einkommen belastet wird, heißt Beitragssatz. Der Beitragssatz zur

BA, zur KV und zur Pflegekasse wird gesetzlich (§§ 341 Abs. 2 SGB III, 241 SGB V, 55 SGB XI),

zur RV durch Rechtsverordnung (§ 160 SGB VI) und zur UV durch Satzung festgelegt (§§ 150 ff.

SGB VII). Das Bruttoarbeitsentgelt wird nur bis zu einer Obergrenze mit Beiträgen belegt (Ober-

grenze = Beitragsbemessungsgrenze). Die Beitragsbemessungsgrenzen für KV und RV sind unter-

schiedlich festgelegt. Durch die Beitragsbemessungsgrenze wird erreicht, dass sich auch das Leis-

tungsniveau auf die Sicherung des elementar Notwendigen beschränkt.

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bb) Lohnabzugsverfahren

Während Selbständige, Studenten und freiwillig Versicherte ihre Beiträge an den entsprechenden

Vorsorgeträger selbst abzuführen haben, hat bei pflichtversicherten Arbeitnehmern der Arbeitgeber

die Beiträge vom Lohn des versicherungspflichtigen Arbeitnehmers einzubehalten und an die Ein-

zugsstelle abzuführen (der Beitragseinzug erfolgt im „Lohnabzugsverfahren“ (§§ 28d ff. SGB IV)).

Dies bedeutet im Einzelnen:

- der Arbeitgeber zieht vom Arbeitseinkommen die Arbeitnehmerbeiträge ab,

- leitet diese mit den Arbeitgeberanteilen an die Einzugsstelle weiter,

- hat der Arbeitgeber den Abzug versäumt, ist der Abzug nur binnen einer Frist von 3 Monaten

statthaft.

cc) Leistungsrechtliche Folgen fehlerhafter oder unterbliebener Beitragszahlung

Der Versicherungsschutz für den gesicherten Arbeitnehmer hängt nicht von der Korrektheit der Bei-

tragszahlung ab. Wurde der Arbeitnehmeranteil vom Lohn einbehalten, besteht für den versicherten

Arbeitnehmer selbst dann Versicherungsschutz in der RV, wenn der Arbeitgeber den Beitrag nicht

abgeführt hat (§ 203 Abs. 2 SGB VI). Für Geldleistungen der KV (§ 47 SGB V) und nach dem SGB

III (§ 149 SGB III) ist das bezogene Arbeitsentgelt Ausgangspunkt für die Bestimmung der Leis-

tung.

c) Selbstverwaltung (§§ 29 ff. SGB IV)

Die Sozialversicherungsträger (RV: Deutsche Rentenversicherung Bund, Deutsche Rentenversiche-

rung Knappschaft – Bahn – See und Regionalträger; UV: BG, Unfallkassen; KV und PflegeV:

AOK, IKK, BKK, Ersatzkassen) sind als Körperschaften des öffentlichen Rechts organisiert. Die

Bundesagentur für Arbeit (BA) hat - entgegen § 367 SGB III („Mitgliedern“) - eine anstaltliche

Struktur. Für die Sozialversicherungsträger gilt Selbstverwaltung. Dies bedeutet, die Versicherten

selbst haben über die Leitung, den Haushalt und die Regeln des Vorsorgeträgers zu bestimmen. Die

Selbstverwaltung in der Sozialversicherung beruht auf dem Prinzip der vollen Parität von Versi-

chertenvertretern und Arbeitgebervertretern (vgl. § 44 SGB IV). Auch in der BA herrscht grundsätz-

lich Selbstverwaltung (§§ 371 ff. SGB III). Diese ist allerdings insoweit eingeschränkt, als dass sich

die Selbstverwaltungsorgane drittelparitätisch aus Versichertenvertretern, Arbeitgebervertretern und

Regierungsvertretern zusammensetzen (§ 371 Abs. 5 SGB III), welche auf Vorschlag von Koalitio-

nen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber sowie der betroffenen öffentlichen Körperschaften berufen

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werden (§ 379 SGB III).

aa) Befugnisse der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung

- Wahl der Geschäftsführung

- Wahl der Versichertenältesten

- Beschlussfassung über den Haushalt des Vorsorgeträgers und

- Erlass der Satzungen.

Die Selbstverwaltungsrechte werden ausgeübt von der Vertreterversammlung des Vorsorgeträgers.

bb) Sozialwahlen

Die Vertreterversammlung geht aus Wahlen hervor. Es gelten die Grundsätze der geheimen Wahl

und der Gruppenwahl (§§ 45 f. SGB IV). Wahlberechtigt sind alle versicherungspflichtigen Arbeit-

nehmer und die Arbeitgeber, die versicherungspflichtige Arbeitnehmer beschäftigen (§ 50 SGB IV).

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§ 3 Die verschiedenen Formen der Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebe-

nensicherung

a) Spezifische und unspezifische Sicherungen

Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenensicherung kann durch spezifische wie unspezifische For-

men gewährleistet werden. Verfügt jemand über Vermögen, so kann er damit seinen Lebensunter-

halt auch bei Alter, Invalidität oder nach dem Tod eines ihm Unterhaltspflichtigen aus dem Ertrag

des Vermögens bestreiten. Desgleichen kann der Lebensunterhalt bei Alter, Invalidität oder Hinter-

bliebenenschaft durch Sozialhilfe gesichert werden. Beide sind unspezifische Formen der Alters,

Invaliditäts- und Hinterbliebenensicherung, weil sie zwar für den genannten Zweck taugen, sich

indessen nicht auf die Erreichung dieses Zweckes beschränken. Vermögen ist unspezifische Siche-

rung durch Privatrecht, Sozialhilfe ist die unspezifische Sicherung durch öffentliches Recht.

Von den unspezifischen sind die spezifischen Formen der Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebe-

nensicherung zu unterscheiden. Sie sind darauf angelegt, Sicherungen bei Alter, Invalidität und Hin-

terbliebenenschaft hervorzubringen und beschränken sich auf diesen Zweck. Diese Sicherungen

können systematisch dem öffentlichen oder dem Privatrecht zugeordnet sein.

Träger öffentlich privat

Form unspezifisch spezifisch spezifisch unspezifisch

Sicherung Sozialhilfe Öffentliche Vor-

sorge

Private Vorsorge Vermögen

b) Überblick über die spezifischen Sicherungen

Die spezifischen Sicherungen für die Risiken Alter, Invalidität und Hinterbliebenenschaft lassen

sich hinsichtlich ihrer Trägerschaft (aa), der gesicherten Personenkreise (bb) und der Sicherungszie-

le (cc) unterscheiden.

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aa) Trägerschaft

Hinsichtlich der Trägerschaft sind die öffentlich-rechtlichen von den privatrechtlichen Vorsorgeein-

richtungen zu unterscheiden. Zur öffentlich-rechtlichen Vorsorge gehören: die Rentenversicherung,

die Beamtenversorgung und die berufsständische Versorgung. Der privatrechtlichen Vorsorge gehö-

ren die betriebliche Altersversorgung und die Lebensversicherungen an.

Öffentliche Träger Private Träger

Rentenversicherung Betriebliche Altersversorgung

Beamtenversorgung Lebensversicherung

Berufsständische Versorgung

bb) Gesicherter Personenkreis (siehe Abb. 3)

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Sicherungsformen für einzelne Personengruppen

Träger Öffentliche Vorsorge Private Vorsorge

Personenkreis Erwerbsgrund Stets statusabhängig Statusabhängig Statusunabhängig

Arbeitnehmer Privatwirtschaft Gesetzl. Rentenversicherung Betriebliche Altersversor-

gung

Arbeitnehmer Öffentl. Dienst Gesetzl. Rentenversicherung Zusatzversorgung öD

Beamte Beamtenversorgung

Selbständige Gewerbl. Wirtschaft Gesetzl. Rentenversicherung Lebensversicherung

Selbständige Künstlerischer Sektor Künstlersozialversicherung

Selbständige Landwirtschaft Alterssicherung d. Landwirte

Selbständige Freie Berufe Berufsständische Versorgung

Nichterwerbstätige (Prämienzahlung)

Abb. 3

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cc) Sicherungsziele

Die verschiedenen Einrichtungen unterscheiden sich im Sicherungsziel. Manche vermitteln eine

Regelsicherung (dazu bestimmt, den Grundbedarf zu befriedigen), andere eine Zusatzsicherung

(dazu bestimmt, die Regelsicherung aufzufüllen). Die Höhe der Sicherung kann vom Einkommen

des zu Sichernden oder vom Umfang der gezahlten Prämien abhängig sein.

Regelsicherung Zusatzsicherung

Einkommensabhängig

- Gesetzliche

Rentenversicherung

- Beamtenversorgung

- Sondersysteme

- Selbständige Sicherung

(außer Alterssicherung für

Landwirte)

- Betriebsrente

(Gesamtversorgung)

- Alterssicherung für

Landwirte

Prämienabhängig

- Lebensversicherung - Betriebsrente (Prozent- oder

Festbetragszusage)

- Lebensversicherung

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c) Überblick über die einzelnen Sicherungen

aa) Die Rentenversicherung dient primär der Sicherung von Arbeitnehmern

(zu ihrem Inhalt vgl. § 4).

bb) Die Beamtenversorgung steht Beamten, Richtern, Soldaten, Abgeordneten und Ministern

zu. Sie ist Teil der Alimentation des Beamten (Art. 33 Abs. 5 GG). Der Beamte hat - im Gegensatz

zum Arbeitnehmer - für die Alterssicherung keinen finanziellen Beitrag zu leisten (allerdings wird

ein Bruchteil der Bezüge (0,2 %) von dem Vorsorge gewährenden Dienstherrn von der Vergütung

einbehalten und angelegt).

Die Leistungen werden von dem Dienstherrn (Gemeinde, Land, Bund, sonstige öffentlich-rechtliche

Körperschaft oder Anstalt) erbracht. Die Leistungen werden nicht nur bei Alter und Hinterbliebe-

nenschaft, sondern bei jeder Form der Invalidität erbracht, namentlich bei dienstbedingter Invalidität

(= Arbeitsunfall und Berufskrankheiten). Das Ruhegehalt hängt von den Dienstbezügen und den

Dienstjahren ab. Das höchstmögliche Ruhegehalt beläuft sich auf 71,75 % der Dienstbezüge aus

dem Amt, das der Beamte vor Eintritt des Versorgungsfalls mindestens zwei Jahre innehatte. Nach

einer Dienstzeit von 5 Jahren erlangt der Beamte eine Mindestsicherung in Höhe von 35 % der

Dienstbezüge. Der hinterbliebene Ehegatte erhält 55 %, jeder Vollwaise 20 % und jeder Halbwaise

12 % des Ruhegehalts des Beamten. Scheidet jemand aus dem Beamtenverhältnis aus, wird er vom

Dienstherrn in der RV nachversichert.

cc) Die soziale Sicherung der Selbständigen ist vielgestaltig. Manche sind Pflichtmitglieder der

RV (vgl. § 2 SGB VI oder § 1 KSVG). Des Weiteren kann ein Teil der Selbständigen, die nicht ver-

sicherungspflichtig sind, auf Antrag Pflichtmitglied der RV werden (§ 4 Abs. 2 SGB VI). Ferner

bestehen Sondersysteme für Landwirte (ALG) – die zum 1.1.2013 in die „Sozialversicherung für

Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau“ überführt wurde – und freiberuflich Tätige (z.B. Ärzte,

Anwälte, Notare). Die Alterssicherung der Landwirte ist eine Zusatzsicherung. Sie baut darauf auf,

dass die Grundbedürfnisse des Landwirts (Wohnen und Ernährung) durch den Hofübergabevertrag

gesichert sind und die Rente nur den zusätzlichen Geldbedarf zu befriedigen hat. Die berufsständi-

schen Versorgungswerke beruhen auf dem Gedanken der beruflichen Solidarität: Die Alters-, Inva-

liditäts- und Hinterbliebenensicherung der freiberuflich tätigen Selbständigen wird durch einen So-

lidarverband der Berufskollegen getragen.

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dd) Die betriebliche Altersversorgung beruht auf freiwilligen Zusagen des Arbeitgebers oder

auf einzel- oder tarifvertraglichen Verpflichtungen. Die betriebliche Altersversorgung kann in Höhe

eines bestimmten Betrages, eines bestimmten Prozentsatzes des Einkommens oder in Höhe eines

Gesamtversorgungsniveaus definiert sein. Die Leistungen können durch den Arbeitgeber selbst, eine

von ihm unabhängige Unterstützungskasse oder eine private Versicherung erbracht werden. Der

Empfänger eines Betriebsrentenversprechens wird durch das Gesetz über die BetrAVG gegen Ver-

fallbarkeit der Anwartschaft, Auszehrung des Anspruchs, das Risiko der Insolvenz des Arbeitgebers

und vor Kaufkraftverlust geschützt.

ee) Die Lebensversicherung (§§ 150 - 171 VVG) ist das klassische Instrument der Vorsorge

durch Privatrecht. Sie beruht auf privatrechtlichem Vertrag. Zu unterscheiden sind Versicherungen

auf den Erlebens- und den Todesfall, Risikoversicherungen und Kapitallebensversicherungen. Hin-

sichtlich des Inhaltes der Leistung kann ein bestimmter Geldbetrag bei Eintritt des Versicherungs-

falles oder eine periodisch wiederkehrende Rente bis zum Tod des Berechtigten (Leibrente) ge-

schuldet sein.

ff) Durch die seit 2002 bestehende im AVermG niedergelegte Regelung fördert der Staat durch

Zulagen oder Steuervorteile die ergänzende betriebliche und private Altersvorsorge. Erstere wird

vom Arbeitgeber bei einem von ihm unabhängigen privaten Vorsorgeträger begründet; letztere wird

durch Vertrag für ein den gesetzlichen Anforderungen genügendes (zertifiziertes) Vorsorge-

„Produkt“ mit der Bank oder Versicherung (Finanzdienstler) begründet.

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§ 4 Rentenversicherung

a) Träger und Sicherungsziel

aa) Die RV wird seit dem 1.1.1992 im SGB VI geregelt. Diese Vorschriften sind an die Stelle

der vormals in unterschiedlichen Gesetzen zur Regelung der RV der Arbeiter (§§ 1227 ff. RVO

a.F.), Angestellten (§§ 1 ff. AVG a.F.) und der Bergleute (RKG) getreten.

bb) Obgleich die RV nunmehr auf einer Rechtsgrundlage beruhte, bestand kein einheitlicher

Träger der RV. Vielmehr unterschied man Träger für die RV der Arbeiter, der Angestellten, der

knappschaftlichen RV für Bergleute, Seeleute und für die RV Arbeitnehmer der Deutschen Bahn

AG.

Mit der Organisationsreform zum 1. Oktober 2005 fusionierten mehrere Träger mit dem Ziel der

Effizienzsteigerung. Auf Bundesebene gab es zwei Zusammenschlüsse: Zum einen verschmolzen

der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger und die Bundesversicherungsanstalt für Ange-

stellte zur Deutschen Rentenversicherung Bund, zum anderen Bundesknappschaft, Bahnversiche-

rungsanstalt und Seekasse zur Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See. Gleichzeitig

fusionierten einige Landesversicherungsanstalten zu deutlich größeren Regionalträgern. Statt bisher

26 Rentenversicherungsträgern gibt es nur noch 16. Weitere Fusionen auf regionaler Ebene sind

angedacht.

Alle Rentner und nahezu alle Beitragszahler bleiben jeweils bei dem Träger, der bisher für sie das

Konto geführt oder die Rente ausgezahlt hat. Nur ein sehr kleiner Teil der Versicherten wird im

Rahmen eines so genannten Ausgleichsverfahrens in einem Zeitraum von 15 Jahren einem anderen

Versicherungsträger zugeordnet.

cc) Die RV war zunächst darauf angelegt, dem Beschäftigten nach 45-jähriger Beschäftigung

(knappschaftliche RV: 30-jähriger Beschäftigung) eine Rente in Höhe von 68 % des durchschnittli-

chen während der Versicherungszeit erzielten Netto-Arbeitseinkommens zu gewähren. Hierbei wird

das Arbeitseinkommen durch die Rentenformel so bewertet, als ob es im Jahr des Rentenbezuges

bezogen wäre. Basis sind 40 - 45 % des Bruttoeinkommens. Denn der Rentner ist von der Ver-

pflichtung zur Zahlung von Beiträgen an den Rentenversicherungsträger und an die Bundesanstalt

für Arbeit freigestellt. Außerdem wird die Rente nicht zum Nominalwert, sondern zu dem deutlich

unter dem Nominalwert liegenden Ertragsanteil besteuert.

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Durch die Rentenreform 2000/2001 wurde dieser Anteil auf 64% bis zum Jahre 2009 abgesenkt.

Weiter werden mit der Einführung einer Nachhaltigkeitsfaktors die zukünftigen Rentenanpassungen

das Verhältnis der Beschäftigten zu den Leistungsempfängern berücksichtigen. Langfristig darf das

Sicherungsniveau der Rente nicht unter 43% sinken.

Diese so entstehenden Sicherungslücken können durch Leistungen der betrieblichen Altersvorsorge

sowie private Zusatzversicherungen geschlossen werden.

Aufgabe 2: Beschreiben Sie Anlässe, Gründe und Formen für Zusatzsicherungen.

b) Risiken

Die RV gewährt Leistungen bei verminderter Erwerbsfähigkeit (aa), Alter (bb) und Hinterbliebe-

nenschaft (cc).

aa) verminderte Erwerbsfähigkeit

Ist der Versicherte nur eingeschränkt oder gar nicht mehr erwerbsfähig, so wird sein Einkommen

durch die Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit gesichert. Diese Rente ersetzt die bis zum

31.12.2000 bestehenden Renten wegen Erwerbs- und wegen Berufsunfähigkeit. Das alte Recht

bleibt auf Versicherte anwendbar, die ihre Rente bereits am 31.12.2000 bezogen.

Teilweise erwerbsgemindert ist, wer aus gesundheitlichen Gründen (Krankheit, Behinderung) nur

noch in der Lage ist, zwar mindestens drei, aber weniger als sechs Stunden täglich unter den übli-

chen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig zu sein. Voll erwerbsgemindert ist,

wer gesundheitsbedingt nur noch weniger als drei Stunden täglich erwerbstätig sein kann. Die Rente

wegen voller Erwerbsminderung wird in Höhe einer Altersrente gezahlt, teilweise Erwerbsgemin-

derte erhalten die Hälfte einer Altersrente. Rente wegen Erwerbsminderung kann beanspruchen, wer

das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, erwerbsgemindert ist, in den letzten 5 Jahren vor Ein-

tritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeitragszeiten zurückgelegt hat und vor Eintritt der Er-

werbsminderung die allgemeine Wartezeit von 5 Versicherungsjahren (§ 50 SGB VI) zurückgelegt

hat (§ 43 I SGB VI).

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Die bis zum 31.12.2000 bestehende Rente wegen Berufsunfähigkeit vermittelte dem Versicherten

einen Berufsschutz. Dies bedeutet, dem Versicherten, der eine gehobene Tätigkeit ausgeübt hat,

wurde ein krankheitsbedingter sozialer Abstieg nur eingeschränkt zugemutet. Vermochte der Versi-

cherte wegen seiner Erkrankung nur eine gegenüber seiner bisherigen Tätigkeit deutlich geringere

Tätigkeit auszuüben, so stand ihm ein Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit zu. Dieser Be-

rufsschutz ist mit der Rentenreform zum 1. Januar 2001 aber nicht übergangslos entfallen. Vielmehr

haben Versicherte, die bei Inkrafttreten der Reform das 40. Lebensjahr vollendet hatten, die also vor

dem 2. Januar 1961 geboren wurden, weiterhin einen Anspruch auf Rente wegen teilweiser Er-

werbsminderung bei Berufsunfähigkeit. Sie erhalten eine halbe Erwerbsminderungsrente, wenn sie

berufsunfähig sind, d.h. in ihrem oder einem zumutbaren anderen Beruf nur noch weniger als sechs

Stunden täglich arbeiten können (§ 240 SGB VI).

bb) Alter

Der Versicherungsfall des Alters ist gegenwärtig hochgradig differenziert geregelt (vgl. §§ 35 - 40

SGB VI).

Die Regelaltersrente wird nach Vollendung des 67. Lebensjahres bei Erfüllung der allgemeinen

Wartezeit gewährt (§ 35 SGB VI). Die Altersrente für langjährig Versicherte wird nach einer War-

tezeit von 35 Jahren ab Vollendung des 63. Lebensjahres gewährt (§ 36 SGB VI). Für Schwerbe-

hinderte wird nach einer Wartezeit von 35 Jahren die Altersrente ab Vollendung des 62. Lebensjah-

res gewährt (§ 37 SGB VI). Desgleichen sieht § 40 SGB VI eine Altersrente für langjährig unter

Tage beschäftigte Bergleute ab Vollendung des 62. Lebensjahres vor. Seit dem Jahre 2012 wird bis

2029 das gesetzliche Rentenalter schrittweise auf das 67. Lebensjahr erhöht.

cc) Hinterbliebenenschaft

Im Falle des Todes steht dem überlebenden Ehegatten eine Witwen- oder Witwerrente zu (§ 46

SGB VI). Für geschiedene Ehegatten besteht unter den Voraussetzungen des § 47 SGB VI ein An-

spruch auf Erziehungsrente. Für Kinder des Versicherten werden unter den Voraussetzungen des

§ 48 SGB VI Waisenrenten gewährt.

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c) Leistungen

Den Versicherten steht bei Erwerbsminderung, Alter und bei Hinterbliebenenschaft ein Anspruch

auf Rente zu. Rentner sind ferner kraft Gesetzes Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung

oder ihnen steht ein Recht auf Beitritt zur gesetzlichen Krankenversicherung zu. An erwerbsgemin-

derte Versicherte, die das Rentenalter noch nicht erreicht haben, können als Ermessensleistungen

statt Renten Leistungen zur Rehabilitation (gerichtet auf Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit)

bewilligt werden - vgl. §§ 9 ff., 15 f. SGB VI.

d) Grundbegriffe der Rentenberechnung:

Für die Ermittlung des Rentenanspruchs ist zunächst zu prüfen, ob der Versicherte die Wartezeit

erfüllt hat (aa). Zu diesem Zweck sowie für die Ermittlung der Rentenhöhe sind die rentenrechtli-

chen Zeiten zu bestimmen (bb). Schließlich ist für die Ermittlung der Rentenhöhe und für die An-

passung von Rentenleistungen der Wert der einzelnen Rentenanwartschaft zu ermitteln (cc).

aa) Die Wartezeit entscheidet über die Entstehung des Anspruchs. Wer die Wartezeit erfüllt hat,

vermag einen Rentenanspruch zu erwerben; wer die Wartezeit nicht erfüllt hat, dem steht ein Ren-

tenanspruch nicht zu.

Für die einzelnen Rentenarten gelten unterschiedliche Wartezeiten (vgl. § 50 SGB VI). Für die

kurzbemessenen Wartezeiten zählen grundsätzlich nur Beitragszeiten (§ 51 SGB VI). Beitragszeiten

sind Pflichtbeitragszeiten und Zeiten, für die freiwillige Beiträge bezahlt werden (§ 55 SGB VI). Bei

den Kindererziehungszeiten (§ 56 SGB VI) handelt es sich ebenfalls um Pflichtbeitragszeiten (vgl.

§§ 3 Nr. 1, 177 Abs. 1 SGB VI). Auf die Wartezeit von 35 Jahren werden sämtliche rentenrechtli-

chen Zeiten angerechnet. Wartezeiten können auch durch den Versorgungsausgleich (§ 52 SGB VI)

erworben werden. Versicherte, die die allgemeine Wartezeit von 5 Jahren aus nicht zurechenbaren

Gründen nicht erfüllt haben, werden behandelt, als wenn sie die Wartezeit erfüllt hätten (§ 53 SGB

VI).

bb) Rentenrechtliche Zeiten: Die rentenrechtlichen Zeiten sind wichtig, um die Rentenhöhe zu

ermitteln (vgl. cc).

19

Für die Ermittlung der rentenrechtlichen Zeiten sind zu unterscheiden: die Beitragszeiten (§ 55

SGB VI), die Anrechnungszeiten (§ 58 SGB VI), die Zurechnungszeit (§ 59 SGB VI) und die

Berücksichtigungszeiten (§ 57 SGB VI). Die Ersatzzeiten nach §§ 250 f. SGB VI spielen nur noch

eine untergeordnete Rolle.

Die Beitragszeiten bezeichnen Zeiträume, für die nach Bundesrecht Pflicht- oder freiwillige Beiträ-

ge entrichtet worden sind. Durch die Behandlung der Kindererziehungszeiten als Pflichtbeitragszei-

ten werden Nachteile in der Alterssicherung von Eltern ausgeglichen, die sich auf dem Gebiet der

Bundesrepublik Deutschland der Kindererziehung widmen. Die Anrechnungszeiten sind Zeiten, in

denen der Versicherte aus unverschuldeten Gründen (Krankheit, Schwangerschaft, Mutterschaft,

Arbeitslosigkeit, Schulbesuch) eine Berufstätigkeit nicht ausüben konnte.

Die Zurechnungszeit soll Versicherten und Hinterbliebenen eine Rente in ausreichender Höhe si-

chern, wenn der Versicherte schon in frühen Jahren erwerbsgemindert geworden bzw. verstorben

ist.

cc) Die Rentenberechnung bestimmt sich nach folgenden Grundsätzen (§ 63 SGB VI):

Der Monatsbetrag der Rente ergibt sich aus der Multiplikation der „persönlichen Entgeltpunkte“

mit dem „Rentenartfaktor“ und dem „aktuellen Rentenwert“ (§ 64 SGB VI; vgl. Tabelle). Je

nach Regelungsziel ergeben sich für die einzelnen Faktoren unterschiedliche Anknüpfungspunkte.

Die persönlichen Entgeltpunkte (EP): § 66 SGB VI

Die „persönlichen Entgeltpunkte“ reflektieren das rentenversicherungsrechtlich erhebliche Lebens-

einkommen des Versicherten. Im Gegensatz zu den anderen Faktoren, richtet sich die Höhe der

„persönlichen Entgeltpunkte“ nach den individuellen Verhältnissen des Versicherten. Ausschlagge-

bend sind die versicherten Entgelte und Einkommen, sowie das Renteneintrittsalter. Zur Ermittlung

der „persönlichen Entgeltpunkte“ ist die „Summe aller Entgeltpunkte“ mit dem „Zugangsfaktor“

zu vervielfältigen (§ 66 Abs. 1 SGB VI). Die „Summe der Entgeltpunkte“ ergibt sich aus der Addi-

tion von

- Beitragszeiten (§ 70 SGB VI),

- beitragsfreien Zeiten (§§ 71-74 SGB VI),

- Zuschlägen für beitragsgeminderte Zeiten (§ 71 Abs. 2 SGB VI),

- Zuschlägen oder Abschlägen aus einem durchgeführten Versorgungsausgleich (§§ 76 SGB VI)

- Zuschlägen aus der Zahlung von Beiträgen bei vorzeitiger Inanspruchnahme einer Rente wegen

20

Alters (§§ 76a, 187a SGB VI)

- Zuschlägen für Arbeitsentgelt aus geringfügiger Beschäftigung (§ 76 b SGB VI) und

- Arbeitsentgelt aus nicht gemäß einer Vereinbarung über flexible Arbeitszeitregelungen verwen-

deten Wertguthaben.

Die Anzahl der für die einzelnen Zeiten zu Grunde zu legenden EP ergibt sich aus den jeweiligen

Einzelregelungen. Hinsichtlich der Beitragszeiten wird die Anzahl der EP mittels der Division der

Beitragsbemessungsgrundlage (bei Pflichtversicherten regelmäßig das Arbeitsentgelt, §§ 161 f.

SGB VI) durch das Durchschnittsentgelt für dasselbe Jahr bestimmt (§ 70 Abs. 1 SGB VI). Ein

durchschnittlich verdienender Versicherungspflichtiger erlangt damit einen EP je Kalenderjahr (vgl.

auch § 63 Abs. 2 SGB VI). Beläuft sich das Einkommen auf 120 % des Durchschnittseinkommens,

so werden dem Versicherten für das entsprechende Jahr 1,2 EP gutgeschrieben.

Die Anzahl der EP für beitragsfreie Zeiten richtet sich danach, in wieweit ihnen Beitragszeiten

gegenüberstehen (= Beitragsdichte entscheidend, vgl. §§ 71 ff. SGB VI). Es gilt das Prinzip der

Gesamtleistungsbewertung, wonach die Gesamtsumme der EP für Beitragszeiten und Berücksich-

tigungszeiten durch die Zahl der belegungsfähigen Kalendermonate (§ 72 Abs. 2 SGB VI) zu teilen

ist (§ 71 Abs. 1 SGB VI). Die beitragsfreien Zeiten werden also mit einem individuellen Durch-

schnittswert an EP eingerechnet.

Der Zugangsfaktor bewirkt die Berücksichtigung des Renteneintrittsalters. Bei Altersrentenbeginn

mit Vollendung des 65. Lebensjahres beträgt der Zugangsfaktor 1. Wird die Rente vorzeitig angetre-

ten, so ist der Zugangsfaktor für jeden Kalendermonat, den der Rentenberechtigte eher die Rente in

Anspruch nimmt, um 0,3 % zu verringern. Bei verspätetem Rentenantritt ist der Zugangsfaktor je

Kalendermonat um 0,5 % zu erhöhen (§ 77 SGB VI). Beim Regelfall des Rentenantritts mit 65 Jah-

ren (Zugangsfaktors von 1) stimmt damit die „Summe der Entgeltpunkte“ mit den „persönlichen

Entgeltpunkten“ überein.

Der Rentenartfaktor: § 67 SGB VI

Der „Rentenartfaktor“ ermöglicht, dass sich die Bedeutung der Sicherungsziele der Renten auch in

der Höhe der Rentenauszahlung ausdrückt. Im Fall von Renten mit voller Lohnersatzfunktion (z. B.

Altersrenten, Renten wegen voller Erwerbsminderung) beträgt der „Rentenartfaktor“ 1; bei Renten

mit Lohnzuschussfunktion ist der Faktor niedriger (z. B. 0,5 bei der Rente wegen teilweiser Er-

werbsminderung).

21

Der aktuelle Rentenwert: § 68 SGB VI

Durch den „aktuellen Rentenwert“ wird die anhand der persönlichen EP ausgedrückte relative Rente

in einen monatlich zahlbaren Euro-Betrag umgewandelt. Der aktuelle Rentenwert ist für alle Versi-

cherten gleich und wird jährlich zum 1. Juli unter Berücksichtigung des Durchschnittsentgelts und

der Belastungsveränderung bei Arbeitsentgelten und Renten angepasst (Nettoanpassung, §§ 68, 65,

63 Abs. 7 SGB VI). Der aktuelle Rentenwert (1.7.2014) beläuft sich auf 28,61 EUR. Bis zur Her-

stellung einheitlicher Einkommensverhältnisse im Beitrittsgebiet und im alten Bundesgebiet ist in

den neuen Bundesländern von speziellen Werten auszugehen (§§ 254b ff. SGB VI). So beträgt der

aktuelle Rentenwert (Ost) ab 1.7.2014 26,39 EUR.

22

Grundsätze der Rentenberechnung:

Rentenformel persönliche Entgeltpunkte (EP) x Rentenartfaktor x aktueller Rentenwert = Monatsrente

§ 64 SGB VI: § 66 SGB VI § 67 SGB VI § 68 SGB VI

Berechnung: (= Summe der EP x Zugangsfaktor)

§ 66 SGB VI § 77 SGB VI

Ziel:

Berücksichtigung

der Höhe der versicherten

Arbeitsentgelte und

-einkommen

Berücksichtigung

von vorzeitiger Inan-

spruchnahme, sowie

des Verzichts

auf Renten

Berücksichtigung

des Zieles der Si-

cherung durch die

Rente

1. Umrechnung der in den EP

ausgedrückten Rentenhöhe in

einen absoluten Euro-Betrag

2. Dynamisierung der Renten

(vgl. auch § 65 SGB VI)

Grundsatz: § 63 I, III SGB VI § 63 V SGB VI § 63 IV SGB VI § 63 VII SGB VI

§ 63 II SGB VI

Tabelle: Grundsätze der Rentenberechnung

Beispiel: Alters-Monatsrente für ein Jahr Beitragszeit, Wartezeit wird als erfüllt unterstellt, Werte von 2014

Einkommen: 3000,- Euro/Monat, Beitragsbemessungsgrenze: 71.400,- Euro (nicht erreicht), vorl. Durchschnittsentgelt: 34.857,- Euro

Berechnung: 3000 € x 12 Monate

34.857 €

x 1 x 1 x 28,61 Euro = 29,55 Euro

(gerundet)

23

e) Die „Riester-Rente“

Durch das Gesetz zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung und zur Förderung eines kapi-

talgedeckten Altersvorsorgevermögens (Altersvermögensgesetz - AVmG) vom 26.06.2001 (BGBl. I

S. 1310) ergaben sich einige grundlegende Neuerungen:

So wird der Aufbau einer zusätzlichen - privaten oder betrieblichen - Altersversorgung ab 2002

staatlich gefördert. Neben das umlagefinanzierte System der gesetzlichen Rentenversicherung wird

also der Aufbau einer „zusätzlichen Altersvorsorge“ als zweite Säule des gesetzlichen Rentensys-

tems gestellt. Hintergrund ist die Befürchtung, dass das Rentenniveau aufgrund der demographi-

schen Entwicklung zukünftig weiter absinken und so eine private Zusatzvorsorge für die meisten

Menschen unausweichlich werden wird. Allerdings besteht kein Zwang, zusätzlich privat vorzusor-

gen. Vielmehr erhalten in der RV Versicherte, wenn sie einen bestimmten Teil ihres Einkommens in

eine zusätzliche Altersvorsorge investieren, eine staatliche Förderung (diese beträgt 2002: 38 Euro,

2004: 76 Euro, 2006: 114 Euro und seit 2008: 154 Euro). Zusätzlich können die Aufwendungen für

die Altersversorgung über einen Sonderausgabenabzug von der Steuer abgesetzt werden (§§ 10 a,

79 – 99 EStG). Gefördert werden aber nicht alle privaten Vorsorgeverträge, sondern nur vom Bun-

desaufsichtsamt für das Versicherungswesen zertifizierte Anlageformen (vgl. das Gesetz über die

Zertifizierung von Altersvorsorgeverträgen – AltZertG).

f) Weitere Sicherungsformen

Weiterhin wird dem Arbeitnehmer ab 2002 ein individueller Anspruch auf betriebliche Altersver-

sorgung eingeräumt (§ 1 a des Gesetzes zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung). Jeder

Arbeitnehmer hat ein Recht auf Entgeltumwandlung (§ 1 II Nr. 3 BetrAVG). Er kann also einen Teil

seines Einkommens dazu einsetzen, eine betriebliche Altersversorgung aufzubauen. Grundsätzlich

bleiben die umgewandelten Einkommensanteile Arbeitsentgelt i.S.v. § 14 Abs. 1 SGB IV, sind also

der Beitragspflicht unterstellt. Lediglich in einer bis zum 31.12.2008 währenden Übergangszeit sind

sie - bis zu 4 v.H. der Beitragsbemessungsgrenze (West) der RV - beitragsfrei (§ 115 SGB IV a. F.).

Auch diese Form der Zusatzversorgung wird staatlich gefördert.

Die seit dem 1.1.2003 bestehende bedarfsorientierte Grundsicherung für Rentner und dauerhaft voll

Erwerbsgeminderte wurde zum 1.1.2005 in das SGB XII integriert. Anspruchsberechtigt sind diese

Personen, wenn ihre Einkünfte nicht ausreichen, um den Lebensunterhalt zu bestreiten (vgl. §§ 41

ff. SGB XII). Die Grundsicherung tritt also an die Stelle der Sozialhilfe, die aus Scham oftmals

nicht in Anspruch genommen wird. Zuständig für die Erbringung der Leistungen sind die Kommu-

nen (§ 3 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 SGB XII).

24

§ 5 Versorgungsausgleich

Seit dem 1.7.1977 besteht der Versorgungsausgleich. Er lässt bei Ehescheidung den Ehegatten, der

während der Ehezeit entweder nicht erwerbstätig war oder ein geringeres Einkommen als der andere

Ehegatte verdient hat, an den vom erwerbstätigen oder besser verdienenden Ehegatten während der

Ehe erworbenen Anrechten teilhaben. Zum 1. September 2009 wurde das Recht des Versorgungs-

ausgleichs umfassend und von Grund auf neu geregelt.

a) Grundsatz

Der Versorgungsausgleich ist kraft Gesetzes bei Ehescheidung, Ehenichtigkeit und Eheaufhebung

durchzuführen. In ihn sind alle während der Ehezeit durch Arbeit oder Vermögensdisposition er-

worbenen Anrechte auf Rente bei Alter und Invalidität einzubeziehen. Die Ehezeit beginnt mit dem

Monat der Eheschließung und endet mit dem Monat, der dem Monat vorausgeht, in welchem der

Antrag auf Auflösung gerichtlich geltend gemacht wird. Auch Zeiten des Getrenntlebens zählen

also als Ehezeiten. Auszugleichen sind alle im In- oder Ausland bestehenden Anrechte, insbesonde-

re aus der gesetzlichen Rentenversicherung, aus anderen Regelsicherungssystemen wie der Beam-

tenversorgung oder der berufsständischen Versorgung, aus der betrieblichen Altersversorgung oder

aus der privaten Alters- und Invaliditätsvorsorge (§ 1587 BGB, § 2 VersAusglG). Der Versorgungs-

ausgleich kann durch notariell beurkundeten Vertrag bei Eheschließung oder im Verlauf der Ehe

ausgeschlossen oder abweichend von den gesetzlichen Bestimmungen geregelt werden (§§ 6 – 8

VersAusglG). Er ist ferner in Härtefällen kraft Gesetzes ausgeschlossen (§ 27 VersAusglG). Liegen

diese Einschränkungen nicht vor, so ist derjenige Ehegatte dem anderen zum Versorgungsausgleich

verpflichtet, dessen in der Ehe erworbenen Vorsorgerechte den höheren Wert erreichen. Der Um-

fang des Ausgleichs beläuft sich auf die Hälfte dieses Ausgleichswertes (§ 1 VersAusglG).

b) Bewertung der Anrechte

Die Durchführung des Versorgungsausgleichs erfordert die Bewertung aller in den Versorgungsaus-

gleich einbezogenen Anrechte. Die Bewertung ist aus verschiedenen Gründen schwierig. In den

Versorgungsausgleich sind unterschiedliche Gattungen von Anrechten einzubeziehen, insbesondere

Rechte aus der RV, der Beamtenversorgung, der berufsständischen betrieblichen Alterversorgung

sowie der privaten Lebensversicherung. Zwischen diesen Sicherungsformen bestehen vielfältige

Unterschiede. Einige Anrechte können verfallen, andere dagegen nicht. Einige Anrechte sehen Leis-

25

tungsansprüche vor, die an Schwankungen der Kaufkraft und der Einkommensentwicklung der ak-

tiv Beschäftigten anzupassen sind, andere dagegen nicht. Bei einigen ist eine kontinuierliche, bei

anderen eine diskontinuierliche Entwicklung des Vorsorgewertes vorgesehen. Nicht alle diese Prob-

leme sind durch das Gesetz befriedigend geregelt. Da die Anrechte aus der RV die sozialpolitisch

bedeutendsten Anrechte sind, werden alle Anrechte, die nicht der RV unterliegen, so bewertet, als

beruhten sie auf Beiträgen zur RV. Diese Umwertung findet jedoch nur statt, soweit die Anrechte

unverfallbar sind. Sind die Anrechte verfallbar, kommt eine Gesamtbilanzierung nicht in Frage.

c) Durchführung des Versorgungsausgleichs

Der Versorgungsausgleich beläuft sich auf die Hälfte der Wertdifferenz der von den Eheleuten

während der Ehe erworbenen Vorsorgerechte. Dieser Ausgleich soll vorrangig durch Vereinbarung

und erst, wenn eine solche Vereinbarung nicht besteht, durch interne und externe Teilung vorge-

nommen werden (§§ 10 ff., 14 ff. VersAusglG). Interne Teilung bedeutet, die Begründung eines

Teilhaberechts des ausgleichsberechtigten Ehegatten beim Versorgungsträger des ausgleichspflich-

tigen. Bei der externen Teilung erfolgt eine Übertragung eines Rentenrechts des ausgleichspflichti-

gen auf einen anderen Versorgungsträger als demjenigen, bei dem das auszugleichende Anrecht

besteht (§ 14 Abs. 1 VersAusglG). Die interne Teilung hat die Vereinfachung der Versorgungsan-

rechte zur Folge.

Grundsätzlich ist die interne Teilung durchzuführen. Nur in Ausnahmefällen ist auf die externe Tei-

lung zurückzugreifen (§ 9 Abs. 2, 3 VersAusglG).

d) Folgen des Versorgungsausgleichs

Für den Ausgleichspflichtigen führt der Versorgungsausgleich zur Verminderung der Anwartschaft.

Für den Ausgleichsberechtigten führt der Ausgleich zu einer Begründung oder Erhöhung von An-

wartschaften.

e) Verfahren

Der Versorgungsausgleich ist durch das Familiengericht festzulegen, welches auch über Schei-

dungsgrund und Scheidungsfolgen befindet. Alle Fragen, die mit der Scheidung zusammenhängen,

sollen einheitlich in einem Beschluss entschieden werden (es kommt zum Entscheidungsverbund,

§ 137 FamFG). Für das Verfahren zur Durchführung des Versorgungsausgleichs gelten die Grund-

26

sätze der Amtsermittlung und der materiellen Wahrheit (vgl. §§, 26, 27 II, 217 ff. FamFG). Der

Richter hat alle wesentlichen Daten von den Versorgungsträgern anzufordern. Diese sind zur Aus-

kunftserteilung verpflichtet. Die Vorsorgeträger sind am Scheidungsverfahren zu beteiligen.

27

§ 6 Krankenversicherung

a) Überblick

aa) In Deutschland wird der Schutz bei Krankheit durch die soziale Krankenversicherung (KV),

die Beihilfe und die Private Krankenversicherung (PKV) gewährleistet. Die KV beruht auf dem

Sachleistungsprinzip, die PKV auf dem Kostenerstattungsprinzip. KV und PKV übertragen die

Aufgabe der Sicherung einem selbständigen Träger, die Beihilfe wird dagegen durch den Dienst-

herrn erbracht. In der KV sind abhängig Beschäftigte gesichert, soweit sie nicht ein weit überdurch-

schnittliches Einkommen beziehen. In der PKV sind Selbständige und weit überdurchschnittlich

verdienende Arbeitnehmer versichert. Die Beihilfe sichert die Beamten.

bb) Im Internationalen Vergleich gibt es drei Wege der sozialrechtlichen Krankensicherung:

- Nationaler Gesundheitsdienst (z.B. in Großbritannien, Italien, Schweden),

- Krankenversicherung nach dem Kostenerstattungsprinzip (z.B. Frankreich) und

- Krankenversicherung nach dem Sachleistungsprinzip (z.B. Deutschland).

In den nationalen Gesundheitsdiensten kann jeder Einwohner ohne Gegenleistung die Leistungen

des nationalen Gesundheitsdienstes (Krankenhäuser, Ärzte) in Anspruch nehmen. Bei der Kranken-

versicherung mit Kostenerstattung beschafft sich der Erkrankte die Leistungen der Ärzte oder Kran-

kenhäuser auf dem Markt; die Krankenversicherung erstattet die gesamten oder einen Teil der Kos-

ten. Bei der Krankenversicherung nach dem Sachleistungsprinzip erhalten die Versicherten (nicht

alle Einwohner) einen Anspruch auf Behandlung ohne Gegenleistung und Übernahme der Kosten.

cc) Die KV kennt den Versicherungsfall der Krankheit. Dieser ist allerdings zweigliedrig. Neben

einen regelwidrigen Körper- oder Geisteszustand müssen Behandlungsbedürftigkeit und/oder Ar-

beitsunfähigkeit treten. Im Falle der Behandlungsbedürftigkeit erhält der Versicherte sämtliche

Dienst- und Sachleistungen, die für die Krankenbehandlung notwendig sind. Im Falle der Arbeitsun-

fähigkeit erhält der beschäftigte Versicherte Einkommensersatz durch die Krankenversicherung.

Die KV ist im SGB V geregelt. Die versicherten Personen sind in §§ 5 ff. SGB V aufgeführt. In die

KV sind auch Familienangehörige von Berufstätigen - Familienversicherung (§ 10 SGB V) - ein-

bezogen.

28

b) Der Versicherungsfall der Behandlungsbedürftigkeit

aa) Voraussetzungen des Anspruchs

Der Versicherte kann für die in § 11 SGB V genannten Zwecke (zur Krankheitsverhütung sowie zur

Empfängnisverhütung, bei Sterilisation und bei Schwangerschaftsabbruch, zur Früherkennung von

Krankheiten und zur Behandlung von Krankheiten) Leistungen der KV in Anspruch nehmen. Der

Inhalt der Leistungen für die einzelnen Leistungszwecke wird in den §§ 20 ff. SGB V näher defi-

niert. Am wichtigsten ist der Anspruch auf Krankenbehandlung (§§ 27 ff. SGB V). Voraussetzung

ist eine Krankheit im Sinne der §§ 27 ff. SGB V = ein regelwidriger Zustand des Körpers, des

Geistes oder der Seele, der ärztlicher Behandlung bedarf und/oder Arbeitsunfähigkeit zur Folge

hat.

Keine „Krankheit“ sind daher:

- Anomalien des äußeren Erscheinungsbildes (Stupsnase, Segelohren), da kein regelwidriger Zu-

stand (zu messen am Normal- nicht Idealbild des Menschen)

- Legasthenie (Lese-Rechtschreib-Schwäche) oder Sprachfehler, da zwar behandlungsbedürftig

und -fähig, aber nicht ärztlicher Behandlung bedürfend.

bb) Inhalt des Anspruchs auf Krankenbehandlung

Der Anspruch auf Krankenbehandlung ist in § 27 SGB V vorgesehen. Er ist gerichtet auf ärztliche

und zahnärztliche Behandlung, häusliche Krankenpflege, Krankenhausbehandlung, Arzneimittel-

sowie Heil- und Hilfsmittelversorgung und Leistungen der medizinischen Rehabilitation.

cc) Ausgestaltung der Leistungserbringung

Erläutert am Beispiel der Erbringung ärztlicher Dienste: Die Krankenversicherungen gelten die

Leistungen der Ärzte globaliter ab. Die Ärzte werden durch die Kassenärztliche Vereinigung

(KÄV = eine öffentlich-rechtliche Organisation aller zur Behandlung von Kassenpatienten befugten

Ärzte) am Ertrag beteiligt. Jeder approbierte Arzt hat Anspruch auf Zulassung zur KÄV (BVerfGE

11, 30). Eine Begrenzung des Zugangs ist nur wegen regionaler Überversorgung zulässig. Die

KÄVen sind regional untergliedert; haben sich jedoch auf Bundesebene zusammengeschlossen. Die

Bundesvereinigung handelt mit den Verbänden der Krankenkassen den Bundesmanteltarif

Arzt/Zahnarzt aus. Hier sind die Prinzipien der Leistungsgewährung, etwa das Prinzip der Höchst-

persönlichkeit, der Wirtschaftlichkeit oder der Haftung für Behandlungsfehler statuiert.

Die Strukturen der Leistungserbringung sind in beiliegendem Schema dargestellt:

29

Landesverbandder

Krankenkassen

Kranken-versicherung

Versicherter

KassenärztlicheVereinigung

Arzt

Abschluß der Gesamtverträge(§ 83 I 1 SGB V)

Zahlungsanspruch bezüglichder Gesamtvergütung

(§ 85 I SGB V)

Pflicht zur Sicherstellungkassenärztlicher Versorgung

(§ 75 I SGB V)

Gesamtverträge(§ 83 I S. 1 SGB V)

= Mitgliedschaft

Behandlungsverhältnis

Re

ch

t zu

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ah

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de

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§ 9

5 III S

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V)

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(§ 8

5 IV

1

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Vertragsarztrecht

privatrechtlich

öffentlichrechtlich

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An

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(§ 2

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.m. §

19

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(§§

22

3 I, 2

49

I, 2

50

SG

B V

)

30

Ähnlich sind die Strukturen bei der Krankenhausbehandlung. Die Landesverbände der Kranken-

kassen und die Verbände der Ersatzkassen schließen mit der Landeskrankenhausgesellschaft oder

mit den Vereinigungen der Krankenhausträger im Land Rahmenverträge ab (§ 112 SGB V), wel-

che die Art und den Umfang der Krankenhausbehandlung an die Anforderungen des SGB V

anpassen sollen. Diese Verträge werden durch Vereinbarungen nach § 115 SGB V, bei denen die

Kassenärztliche Vereinigung zusätzlich einzubeziehen ist, ergänzt. Die Rahmenverträge sind je-

weils für die Krankenkassen und die zugelassenen Krankenhäuser unmittelbar verbindlich (§§ 112

Abs. 2 S. 2, 115 Abs. 2 S. 2 SGB V). An der Versorgung nehmen nur die zugelassenen Kranken-

häuser teil (§ 108 SGB V). Das sind diejenigen Krankenhäuser, die entweder mit dem Landesver-

band der Krankenkassen einen Versorgungsvertrag abgeschlossen haben (§§ 108 Nr. 3, 109 Abs. 1

S. 1 SGB V) oder deren Versorgungsvertrag gesetzlich fingiert wird (§§ 108 Nr. 1, 2, 109 Abs. 1 S.

2 SGB V). Ein Anspruch der Krankenhausträger auf Abschluss eines Versorgungsvertrages besteht

nicht (§ 109 Abs. 2 S. 1 SGB V). Der Versorgungsvertrag bedarf der Genehmigung der zuständigen

Landesbehörde (§ 109 Abs. 3 S. 2 SGB V). Das Krankenhaus ist im Rahmen des sich aus dem Ver-

sorgungsvertrag ergebenden Versorgungsauftrages zur Krankenhausbehandlung verpflichtet (§ 109

Abs. 4 S. 2 SGB V). Andererseits erlangt der Krankenhausträger das Recht auf eine Vergütung,

welche nach einer mit der Krankenkasse abzuschließenden Pflegesatzvereinbarung zu bestimmen

ist (vgl. § 109 Abs. 4 S. 3 SGB V). Leistungen der psychiatrischen, psychosomatischen und psycho-

therapeutischen Kliniken und Krankenhäuser werden nach Tagessätzen vergütet. Alle anderen

Krankenhäuser erhalten eine krankheits- und behandlungsbezogene Vergütung, die so genannte

Fallpauschale (DRG = diagnosis related groups).

Im Rahmen der Krankenhausversorgung ergibt sich damit folgende Darstellung:

31

Landesverband derKrankenkassen

und

Verbände derErsatzkassen

Kranken-

versicherung

Versicherter

Krankenhausgesellschaft(oder Vereinigung der

Krankenhausträger)

zugelassenesKrankenhaus

(Zulassung:

kraft Versorgungsvertrag:

§§ 108 Nr. 3, 109 IV 1109 I 1 SGB V)

kraft Gesetz:§§ 108 Nr. 1,2,

109 I 2 SGB V,

Abschluß der Rahmenverträge(§ 112 SGB V)

= Mitgliedschaft

Behandlungsverhältnis

- Recht/Pflicht zur Teilnahme an der Krankenhaus-

behandlung, § 109 IV S. 2 SGB V

- Anspruch auf Vergütung nach der Pflegesatzvereinbarung

Die Krankenhausversorgung

privat-rechtlich

öff

en

tlic

h-r

ech

tlic

h

öffentlich-rechtlich

Anspru

ch a

uf

Behandlu

ng

im K

rankenhaus

(§§ 2

7 I

1,

2 N

r. 5

, 39 I

2

i.V

.m.

§ 1

9 S

GB

V)

Versorgungsvertrag (§ 109 SGB V),

Genehmigung (§ 109 III S. 2 SGB V)

Verbindlichkeit der

Rahmenverträge(§ 112 II 2 SGB V)

Verbindlichkeitder Rahmenverträge(§ 112 II 2 SGB V)

Beitra

gspflic

ht

(§§ 2

23 I

, 249 I

, 250 S

GB

V)

Pflegesatzvereinbarung, § 109 IV S. 3 SGB V

32

c) Versicherungsfall Arbeitsunfähigkeit

aa) Problem: Selbständige und abhängig Beschäftigte bestreiten ihre Erwerbseinkommen durch

Erwerbstätigkeit. Wenn ein Selbständiger nicht arbeiten kann, vermag er keine Einkünfte zu erzie-

len. Dies gilt grundsätzlich auch für Arbeitnehmer (§ 326 Abs. 1 S. 1 BGB).

Selbständige haben sich für den Einkommensausfall, der auf Krankheit beruht, privatrechtlich abzu-

sichern. Die Privatversicherungen stellen ihnen eine Krankentagegeldversicherung zur Verfü-

gung. Für Arbeitnehmer ist der Einkommensausfall bei Krankheit durch Regelungen über die Ent-

geltfortzahlung nach dem EFZG vorgesehen. Danach besteht bei Erkrankung ein Anspruch auf Ent-

geltfortzahlung in Höhe von 100 % des Entgelts von sechs Wochen. Tarifverträge können über die

Entgeltfortzahlungsfristen hinausgehen.

bb) Die Sozialversicherung gewährt in Form des Krankengeldes (§§ 44 ff. SGB V) ebenfalls

eine Einkommenssicherung. Sie beläuft sich auf 70 % des Durchschnittseinkommens des Versicher-

ten (§ 47 Abs. 1 SGB V). Die Laufzeit beträgt 78 Wochen (§ 48 SGB V). Im Anschluss daran kann

Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit in Anspruch genommen werden. Der Anspruch auf

Krankengeld ruht, solange ein Versicherter Entgeltfortzahlung (§ 3 EFZG) beanspruchen kann und

erhält (§ 49 SGB V). Kann ein Versicherter Entgeltfortzahlung beanspruchen, erhält er sie jedoch

nicht, steht dem Versicherten ein Anspruch auf Krankengeldzahlung zu. Die Krankenkasse erwirbt

gemäß § 115 SGB X den bestehenden, jedoch nicht befriedigten Anspruch im Wege der cessio le-

gis.

33

§ 7 Pflegeversicherung

a) Gesichertes Risiko ist die Pflegebedürftigkeit = Unvermögen der Selbstbetreuung, Selbst-

vornahme der Verrichtungen des täglichen Lebens (Hygiene, Hauswirtschaft, Bewegung etc.; vgl.

§ 14 SGB XI). Pflegebedürftigkeit kann alters- oder krankheitsbedingt sein. Der Schutz besteht für

alle Versicherten (vgl. unten c), er kann auch schon für Kleinkinder bestehen. Sein größtes Anwen-

dungsfeld ist die Pflege älterer Menschen. Der Schutz bei Pflegebedürftigkeit war bis zur Einfüh-

rung der Pflegeversicherung 1994 unzulänglich geregelt. Ein hinreichender Schutz bestand bislang

nur für die Opfer von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten sowie die Versorgungsberechtigten.

Ein Schutz durch die Krankenversicherung oder die Rentenversicherung bestand nicht, weil Pflege-

bedürftigkeit weder Krankheit ist, noch die Rentenversicherung jenseits der Rehabilitation (vgl.

unten § 25) Dienst- und Sachleistungen erbringt. Viele, ja die meisten Pflegebedürftigen waren des-

halb auf Sozialhilfe angewiesen.

b) Die im SGB XI geregelte Pflegeversicherung beruht auf den Konstruktionsprinzipien der

Sozialversicherung. Verworfene Alternativen sind:

- Pflegeversicherung nach sozialhilferechtlichen Grundsätzen,

- eine allen Bewohnern zugängliche, aus Steuern finanzierte Pflegeleistung,

- eine Pflicht privatversicherungsrechtlicher Vorsorge für das Risiko der Pflegebedürftigkeit, je-

denfalls für die in der gesetzlichen Krankenversicherung Versicherten.

Aufgabe 3: Welche Gründe bewogen den Gesetzgeber, die Pflegeversicherung unter dem Dach der

gesetzlichen Krankenversicherung einzurichten und welche Gründe lassen sich zugunsten der vom

Gesetzgeber verworfenen Alternativen vorbringen?

c) Versicherter Personenkreis: Der sozialen Pflegeversicherung unterliegen die in der gesetzli-

chen Krankenversicherung Pflicht- oder freiwillig Versicherten sowie deren nichtversicherungs-

pflichtige Ehegatten und unterhaltsberechtigte Kinder (§§ 20 ff. SGB XI). Der Gesetzgeber ist dem

Vorschlag, in die Versicherungspflicht auch Selbständige und Beamte einzubeziehen, nicht gefolgt;

wohl aber unterliegen diese einem Versicherungsobligatorium: sie sind also verpflichtet, gegen das

Risiko der Pflegebedürftigkeit Vorsorge zu treffen, wenn und soweit sie auch gegen Krankheit ver-

sichert sind (§ 23 SGB XI).

34

d) Leistungen werden bei ambulanter und stationärer Pflege erbracht. Es werden primär Pflege-

leistungen gewährt, die von den mit den Pflegekassen im Versorgungsvertrag stehenden Pflege-

diensten (ambulante Pflege) oder Pflegeheimen (stationäre Pflege) erbracht werden. Allerdings ist

die Leistung dem Umfang nach begrenzt. Der Umfang der gewährten Leistung hängt vom Grad der

Pflegebedürftigkeit des Versicherten ab. Das Gesetz unterscheidet drei Pflegestufen: Pflegebedürf-

tigkeit, Schwerpflegebedürftigkeit und Schwerstpflegebedürftigkeit (§ 15 SGB XI). Wird die Pflege

von einer vom Pflegebedürftigen selbst beschafften Pflegeperson (z.B. Familienangehörigen,

Freunden, Nachbarn; § 19 SGB XI) unentgeltlich erbracht, gewährt die Pflegekasse der Pflegekraft

ein Pflegegeld (§ 37 SGB XI). Dessen Höhe hängt davon ab, in welchem Umfang der Pflegebedürf-

tige der Pflege bedarf und die Pflege erhält. Die unentgeltlich tätigen Pflegepersonen sind in der

gesetzlichen Rentenversicherung versichert. Die Beiträge trägt die Pflegekasse. Außerdem besteht

Schutz in der gesetzlichen Unfallversicherung (§ 44 SGB XI). Die hierfür entstehenden Aufwen-

dungen sind von den Gemeinden und Gemeindeverbänden zu tragen (§§ 2 Abs. 1 Nr. 17, 106 Abs.

2, 104 f., 129 Abs. 1 Nr. 7, 185 Abs. 2 SGB VII, 19, 14, 44 Abs. 3 SGB XI).

e) Pflegeleistungen werden durch Beiträge finanziert. Sie sind in Höhe von 2,05 % des versiche-

rungspflichtigen Einkommens der Versicherten bis zur Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzli-

chen Krankenversicherung zu entrichten (§ 55 SGB XI). Für versicherungspflichtige Arbeitnehmer

trägt der Arbeitgeber die Hälfte des Beitragsanteils (§ 58 SGB XI). Die damit verbundene Mehrbe-

lastung des Arbeitgebers soll durch Streichung eines Feiertages kompensiert werden. Ob der Ar-

beitgeber zu Beitragszahlungen herangezogen werden kann, ist verfassungsrechtlich in Zweifel ge-

zogen worden.

35

§ 8 Unfallversicherung

a) Überblick

Das Recht der sozialen Vorsorge gewährt Leistungen bei Unfällen, die mit der Ausübung einer

unselbständigen Erwerbstätigkeit im Zusammenhang stehen, unabhängig von der Wirksamkeit des

der Beschäftigung zugrundeliegenden Vertragsverhältnisses. Es war bis zum 31.12.1996 in §§ 537

ff. RVO, und ist seit dem 1.1.1997 im SGB VII geregelt. Neben der Sicherung der abhängig Be-

schäftigten werden Leistungen nach den Grundsätzen des Unfallversicherungsrechts gewährt, wenn

jemand im Rahmen einer im Interesse der Allgemeinheit liegenden Handlung einen Unfall erlei-

det (vgl. z.B. § 2 Abs. 1 Nrn. 8 - 13 SGB VII). Dies wird im Gegensatz zur Absicherung der Arbeit-

nehmer und ihnen Gleichstehender, die als sog. echte Unfallversicherung bezeichnet, unechte

Unfallversicherung genannt und ist systematisch dem Recht der sozialen Entschädigung zuzurech-

nen (dazu vgl. § 9, § 10).

Daneben bestehen andere Möglichkeiten des Schutzes bei Unfall. Tritt ein Unfall außerhalb der

durch Leistungen der echten und unechten Unfallversicherung (UV) gesicherten Sphäre ein, kann

der Verunglückte Leistungen von der gesetzlichen Kranken- oder Rentenversicherung beanspru-

chen, falls er in diesen Zweigen versichert ist. Tritt der Unfall ohne Drittverschulden ein, sichern

Kranken- und Rentenversicherung Krankenbehandlung und Einkommensausgleich. Die Einkom-

menssicherung reicht jedoch nicht für die Sicherung des Lebensstandards des Verletzten, nament-

lich wenn das Unfallopfer jung ist. In diesem Falle kann das Risiko eines unfallbedingten Einkom-

mensverlustes durch Privatversicherung gelindert werden. Die Prämien können als Vorsorgeauf-

wendungen steuermindernd geltend gemacht werden (vgl. § 9 bzw. 10 Abs. 1 Nr. 2 EStG). Hat der

Geschädigte einen privatrechtlichen Schadensersatzanspruch (z.B. § 823 Abs. 1, § 823 Abs. 2

i.V.m. einem Schutzgesetz oder § 826 BGB) gegen einen die Schädigung auslösenden Dritten, be-

stimmt § 116 SGB X eine cessio legis der dem Geschädigten zustehenden privatrechtlichen Ersatz-

ansprüche in Höhe der von den Sozialleistungsträgern geschuldeten kongruenten Leistungen auf die

leistungspflichtigen Sozialleistungsträger.

Das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung konkretisiert das Prinzip der Fremdvorsorge. Un-

fallversicherungsträger sind regelmäßig die Berufsgenossenschaften (§ 114 Abs. 1 Nrn. 1, 2 SGB

VII), die sich aus Beiträgen der Unternehmer (§ 150 SGB VII) finanzieren. Die Beitragshöhe be-

misst sich nach dem Finanzbedarf, den Arbeitsentgelten und der Gefahrenklasse des Betriebes

37

(§ 153 SGB VII). Die Berufsgenossenschaften haben Unfälle zu verhüten und Unfallfolgen ein-

schließlich der Einkommens- und Unterhaltsverluste auszugleichen.

Die Leistungen sind zugeschnitten auf Arbeitnehmer. Ihnen soll durch die UV ein reguläres und

stetiges Einkommen gesichert werden. Zu dieser Technik gibt es Alternativen. Eine wird insbeson-

dere im Beamtenversorgungsrecht beschritten. Auch der Beamte ist gegen das Risiko des Unfalls

bei Ausübung seiner Diensttätigkeit (= Dienstunfall) gesichert. Im Unterschied zur UV wird das

Unfallopfer jedoch durch den Dienstherrn entschädigt (vgl. §§ 30 ff. BeamtVG).

Für Nichtversicherte eröffnen die §§ 178 - 191 VVG die Möglichkeit privatrechtlicher Unfallver-

sicherung.

b) Personenkreis

Der in die UV einbezogene Personenkreis wird in §§ 2 ff. SGB VII bestimmt. Die UV ist nicht auf

Arbeitnehmer beschränkt. Selbständige stehen unter dem Schutz der UV kraft Gesetzes (Landwir-

te, Hausgewerbetreibende, Küstenschiffer und Küstenfischer - § 2 Abs. 1 Nrn. 5, 6, 7 SGB VII) oder

wenn dies die Satzung des Unfallversicherungsträgers bestimmt (für Unternehmer und Familienan-

gehörige - § 3 SGB VII). Darüber hinaus steht Selbständigen, die nicht kraft Gesetzes oder Satzung

der Unfallversicherung angehören, das Recht zum freiwilligen Beitritt zur gesetzlichen UV zu (§ 6

SGB VII).

Insbesondere sind kraft Gesetzes pflichtversichert Lernende (§ 2 Abs. 1 Nr. 2 SGB VII) und Perso-

nen, die vorübergehend nicht beschäftigt sind, aber eine Beschäftigung anstreben (so die Perso-

nen, die einer Meldepflicht i.S.d. SGB II oder III unterliegen - § 2 Abs. 1 Nr.14 SGB VII). Aufgrund

ihrer Schutzbedürftigkeit sind weitere Personen in den Kreis der Versicherten einbezogen, so Kin-

der während des Besuchs von Tageseinrichtungen, Schüler während des Schulbesuchs und Stu-

denten (vgl. § 2 Abs. 1 Nrn. 8a, 8b, 8c SGB VII) und Personen, die bei Tätigkeiten zu Schaden

kommen, die im Interesse der Allgemeinheit verrichtet werden (vgl. § 2 Abs. 1 Nrn. 9 – 13; siehe

unten zur unechten UV - § 10). Ebenso als schutzwürdig erachtet und in die UV einbezogen wurden

Rehabilitanden, Personen, die i.R.d. Selbsthilfe beim Wohnungsbau tätig werden, Pflegeperso-

nen (§ 2 Abs. 1 Nrn. 15 – 17 SGB VII) und Personen, die Bundesfreiwilligendienst ableisten (§ 2 I

a SGB VII).

38

Greift keine der Alternativen des § 2 Abs. 1 SGB VII, kann Versicherungsschutz nach dem Auf-

fangtatbestand des § 2 Abs. 2 SGB VII bestehen, wenn der Geschädigte wie ein nach Abs. 1 Versi-

cherter tätig geworden ist.

§ 12 SGB VII bestimmt schließlich, dass auch die Leibesfrucht einem Versicherten gleichstehen

kann, wenn sie durch einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit der Mutter geschädigt worden

ist. Dies stellt einen eigenen Versicherungsfall der Leibesfrucht dar.

c) Sicherungsfälle

Die UV gewährt Leistungen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten (vgl. §§ 7 ff. SGB VII).

Unter „Unfall“ ist ein körperlich schädigendes Verhalten zu verstehen. Ein Arbeitsunfall ist ein

Unfall, den der Arbeitnehmer in Ausübung einer versicherten Tätigkeit erleidet (§ 8 Abs. 1 SGB

VII). Versicherte Tätigkeit ist auch die Zurücklegung des unmittelbaren Weges „nach und von dem

Ort der Tätigkeit“ (= Wegeunfall; vgl. § 8 Abs. 2 Nrn. 1 - 4 SGB VII). Ebenso sind Unfälle versi-

chert, die sich im Zusammenhang mit der Verwahrung, Beförderung oder Instandhaltung von Ar-

beitsgeräten ereignen (= Arbeitsgeräteunfälle; vgl. § 8 Abs. 2 Nr. 5 SGB VII). Eine Berufskrank-

heit liegt vor, wenn ein Versicherter einen regelwidrigen Körperzustand infolge der Ausübung einer

unter Versicherungsschutz stehenden Arbeitnehmertätigkeit erleidet (vg. § 9 SGB VII).

Zwischen der versicherten Tätigkeit, der Verletzung und dem Körperschaden muss jeweils Kausali-

tät - zwischen Tätigkeit und Verletzung „haftungsbegründende“ und zwischen Verletzung und

Schaden „haftungsausfüllende“ Kausalität - bestehen. Für die Beurteilung der Kausalität gilt im

Sozialrecht - im Unterschied zum Straf- und Zivilrecht, wo Äquivalenz- oder Adäquanztheorie gel-

ten - die „Theorie der wesentlichen Bedingung“. Danach lösen nur solche Bedingungen die Ent-

schädigungspflicht des Unfallversicherungsträgers aus, die für die Entstehung der Verletzung oder

des Schadens wesentlich sind. Wichtigste Anwendungsfälle dieser Kausalitätslehre sind die Bewäl-

tigung von Arbeitsunfällen, die unter Einfluss von Alkohol eingetreten sind, die unfallbedingte Ver-

schlimmerung eines Leidens und schließlich unfallbedingte Todesfälle, wenn der Tod auch ohne

den Unfall nicht wesentlich später eingetreten wäre.

Die Theorie der wesentlichen Bedingung ist umstritten. Ihre Bedeutung liegt nicht entscheidend

darin, dass sie einen unmittelbar anwendbaren Maßstab für die Lösung der praktischen Probleme

liefert. Sie bedarf vielmehr der Konkretisierung. Andererseits beschreibt sie global die Richtung, in

39

welcher die Problemlösung zu suchen ist. Die Entscheidungen, die mit der Theorie der wesentlichen

Bedingung begründet werden, können auch mit den im allgemeinen Haftungsrecht anerkannten Zu-

rechnungskriterien, etwa dem Gedanken der Übernahme des eigenen Risikos, des Vorteilsaus-

gleichs, der überholenden Kausalität oder der Lehre vom Rechtswidrigkeitszusammenhang erklärt

werden.

Der Wegeunfall ist zu entschädigen, wenn auf dem unmittelbaren Weg zwischen Wohnung und

Arbeitsstätte ein Unfall eingetreten ist (§ 8 Abs. 2 Nrn. 1 - 4 SGB VII). Der Weg muss um des be-

trieblichen Zweckes willen zurückgelegt worden sein. Wege, die ausschließlich im privaten Interes-

se zurückgelegt wurden, stehen nicht unter Unfallversicherungsschutz. Der Arbeitnehmer ist in der

Wahl seines Weges sowie seines Verkehrsmittels frei - auch wenn für die verschiedenen Wege und

Verkehrsmittel unterschiedliche Unfallrisiken bestehen. Dient der Weg auch privaten Zwecken, ist

nur Unfallversicherungsschutz gegeben, wenn der Umweg dazu dient, ein eigenes Kind bei einer

Kinderbetreuungseinrichtung unterzubringen oder um die Verpflichtungen aus einer Fahrgemein-

schaft zu erfüllen (§ 8 Abs. 2 Nr. 2 SGB VII). Besorgt der Versicherte auf dem Wege von oder zur

Arbeitsstätte private Angelegenheiten, steht die private Verrichtung nicht unter Unfallversiche-

rungsschutz. Nach deren Beendigung lebt der Unfallversicherungsschutz für die Zurücklegung des

Weges wieder auf, wenn und soweit die private Verrichtung den Arbeitsweg lediglich unterbricht.

Eine Unterbrechung liegt vor, wenn die private Verrichtung nicht länger als zwei Stunden dauert.

Aufgabe 4: Besteht Unfallversicherungsschutz auf dem Weg von der Betriebsstätte bei alkoholbe-

dingter relativer Fahruntüchtigkeit (vgl.: BSG NZA 1985, 37 ff.) bzw. im Falle einer den Straßen-

verkehr vorsätzlich gefährdenden Fahrweise (vgl. BSG SGb 2002, 745 ff.)?

Eine Berufskrankheit begründet Unfallversicherungsschutz, falls die Krankheit in einer eigenen

Liste als Berufskrankheit anerkannt ist. Gegenwärtig gilt die Berufskrankheitenverordnung (BKV)

vom 31.10.1997. Eine Krankheit kann aber auch als Berufskrankheit anerkannt werden, wenn sie

nicht in diese Liste aufgenommen worden ist, falls „neue Erkenntnisse“ bestehen, die eine Aufnah-

me der Krankheit als Berufskrankheit rechtfertigen (§ 9 Abs. 2 SGB VII).

40

d) Leistungen

In der UV sind drei Leistungsgattungen zu unterscheiden: Wiederherstellung der Gesundheit,

Ausgleich bleibender Schäden und Ausgleich todesbedingten Unterhaltsverlustes.

Die Wiederherstellung der Gesundheit hat Vorrang vor dem Ausgleich der bleibenden Schäden.

„Rehabilitation vor Rente“ (§ 26 Abs. 3 SGB VII, vgl. auch § 8 Abs. 2 S. 1 SGB IX). Dieser

Grundsatz entspricht einem allgemeinen Prinzip des Schadensrechts: Naturalrestitution geht vor

Schadensausgleich durch Geldleistung (vgl. §§ 249, 251 BGB).

aa) Wiederherstellung der Gesundheit

Ist ein Versicherter Opfer eines Unfalls, hat er Anspruch auf Heilbehandlung (§§ 27 ff. SGB VII).

Gemäß § 11 Abs. 5 SGB V geht der unfallversicherungsrechtliche Anspruch einem krankenversi-

cherungsrechtlichen Anspruch vor. Trägt die Krankenkasse die Behandlungskosten, hat der Unfall-

versicherungsträger der Krankenkasse die entstehenden Kosten zu ersetzen (§ 105 SGB X). Im

Streitfall können unter den Voraussetzungen des § 43 SGB I vorläufige Leistungen der gesetzlichen

Krankenversicherung erwirkt werden. Außerdem hat der Verunglückte Ansprüche auf medizinische

Leistungen zur Rehabilitation sowie auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben: Wiedereinglie-

derung in den bisherigen Beruf oder Umschulungsmaßnahmen (vgl. § 35 SGB VII). Während der

Zeit der Behandlung erhält der Verunglückte nach Ablauf der Entgeltfortzahlungsfrist Verletzten-

geld, wenn die Behandlung durch den Unfallversicherungsträger durchgeführt wird (§§ 45 ff. SGB

VII). Nimmt der Verunglückte an Maßnahmen der Rehabilitation teil, so steht ihm ein Übergangs-

geld zu (§§ 49 ff. SGB VII). Das Verletztengeld beträgt 80 % des Durchschnittseinkommens des

Versicherten, das Übergangsgeld beläuft sich auf Beträge zwischen 68 % und 75 % des Verletzten-

geldes.

bb) Ausgleich bleibender Schäden

Zum Ausgleich bleibender Schäden ist eine Verletztenrente zu zahlen. Sie wird nach den Grunds-

ätzen der abstrakten Schadensberechnung bemessen, d.h. die Minderung der Erwerbsfähigkeit,

die in Graden der Erwerbsminderung – MdE – ausgedrückt wird, wird unabhängig von konkreten

Lohneinbußen bestimmt. Grundlage des Ausgleichs ist der vom Verunglückten vor Eintritt des Ar-

beitsunfalls bezogene Jahresarbeitsverdienst. Ein Anspruch auf Zahlung einer Verletztenrente

41

besteht, sofern eine MdE um mindestens 20 % besteht und diese über die 26. Woche nach dem Ar-

beitsunfall hinaus andauert. Die Verletztenrente beträgt bei einer Erwerbsminderung von 100 % 2/3

des Jahresarbeitsverdienstes (§ 56 Abs. 3 SGB VII); bei geringeren Graden der Erwerbsminderung

ist eine Teilrente entsprechend dem jeweiligen Erwerbsminderungsgrad zu zahlen. Die Verletzten-

rente kann auf Zeit oder auf Dauer gewährt werden. Eine Übergangsrente (Rente auf Zeit) (§ 62

SGB VII) wird gewährt, wenn die Entwicklung des Schadens nicht absehbar ist. Steht die dauerhaf-

te Schädigung fest, wird Dauerrente geleistet (vgl. §§ 56 ff. SGB VII). Auf Antrag des Verun-

glückten kann eine Übergangs- oder Dauerrente bis zu einem Erwerbsminderungsgrad von weniger

als 40 % durch Kapitalzahlung abgefunden werden (§§ 75 ff. SGB VII). Bei Dauerrenten mit höhe-

rer Erwerbsminderung ist eine Abfindung nur möglich, wenn nicht zu erwarten ist, dass die Minde-

rung der Erwerbsfähigkeit wesentlich sinkt (§ 78 SGB VII).

cc) Leistungen bei Unfalltod

Hat der Arbeitsunfall zum Tod des Versicherten geführt, so sind die durch Tod entstandenen Auf-

wendungen (Sterbegeld und Überführungskosten) vom Unfallversicherungsträger zu tragen (§§ 63

f. SGB VII). Ferner haben Ehegatten, minderjährige Kinder sowie die in Ausbildung befindlichen

volljährigen Kinder, ausnahmsweise die geschiedenen Ehegatten, Eltern oder auch Enkel und Ge-

schwister einen Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung (§§ 65 ff. SGB VII). Die Witwen/ Wit-

werrente (§ 65 Abs. 2 SGB VII) beträgt für die ersten drei Monate 2/3 des Jahreseinkommens, nach

Ablauf des dritten Monates 30 % des Jahreseinkommens des Verunglückten (sog. Kleine Witwen/

Witwerrente) und erhöht sich auf 40 % (§ 65 Abs. 2 Nr. 3, sog. Große Witwen/Witwerrente) abhän-

gig davon, ob der Ehegatte zumutbar auf eine eigene Erwerbstätigkeit verwiesen werden kann oder

nicht. Die Zumutbarkeit einer Verweisung hängt vom Lebensalter, der Erwerbsfähigkeit oder den

Erziehungspflichten des Hinterbliebenen ab (§ 65 Abs. 2 SGB VII). Eigenes Erwerbseinkommen

wird auf die Rente angerechnet (§ 65 Abs. 3, 4 SGB VII). Der Anspruch auf Witwen/ Witwerrente

besteht bis zum Tod oder bis zur Wiederverheiratung des Hinterbliebenen. Seit 1.1.2002 besteht der

Anspruch auf die sog. Kleine Witwenrente längstens für 24 Kalendermonate nach Ablauf des Mo-

nats, in dem der Ehegatte verstorben ist. Bei Halbwaisen errechnet sich die Waisenrente aus 20 %,

bei Vollwaisen aus 30 % des Jahresarbeitsverdienstes des Verunglückten (§ 68 SGB VII). Die Rente

wird bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres (§ 67 Abs. 3 Nr. 1 SGB VII) und bei Kindern in Aus-

bildung bis zu deren Abschluss, jedoch nicht über das 27. Lebensjahr hinaus bezahlt (§ 67 Abs. 3

Nr. 2 SGB VII). Ehegatten- und Waisenrenten aus einem Unfall dürfen den Höchstsatz von 80 %

des Jahresarbeitsverdienstes nicht überschreiten (§ 70 SGB VII).

42

Aufwendungen der GUV in Mrd EUR

2003 2004 2005 2006 2007 2010 2011 2012

Prävention 0,73 0,73

Entschädigungsleistungen 7,61 7,56 8,27 8,26 8,17 8,86 8,92 9,00

darunter: Rehabilitation 2,58 2,55 2,77 2,82 2,81 3,33 3,44 3,50

Finanzielle Kompensation 5,03 5,01 5,49 5,44 5,36 5,53 5,48 5,50

Verwaltung und Verfahren 1,12 1,09

Quelle: www.dguv.de

Rentenbestand

Renten an 2000 2005 2010 2011 2012

Versicherte 847.884 806.707 758.374 747.685 737.860

Witwer/Witwen 123.530 115.977 109.023 107.698 105.514

Waisen 20.292 18.236 13.837 12.894 12.364

Sonstige Berechtigte 127 87 34 31 33

Quelle: www.dguv.de

e) Verhältnis der UV zur Haftpflicht von Arbeitgeber und Arbeitskollegen sowie Regress der

Berufsgenossenschaft

Ein Arbeitsunfall kann zugleich ein Haftpflichtfall sein, soweit er Folge eines vom Unternehmer

oder von Arbeitskollegen zu verantwortenden Delikts- oder Gefährdungshaftungstatbestandes ist.

Dann fragt sich: Wie ist das wechselseitige Verhältnis von gesetzlicher Unfallversicherung und

Haftpflichtrecht zu bestimmen? Könnte der Verunglückte Leistungen der UV sowie Leistungen

nach der Delikts- und Gefährdungshaftung beanspruchen, würde er doppelt entschädigt. Umgekehrt

wäre der Unternehmer doppelt belastet: Denn einmal hätte er die Beiträge zur gesetzlichen UV auf-

zubringen, andererseits müsste er dem verunglückten Arbeitnehmer Schadensersatz leisten. Um dies

zu vermeiden, sehen die § 104 ff. SGB VII vor, dass Leistungen der gesetzlichen UV die Haftpflicht

von Unternehmern und Arbeitskollegen verdrängen, wenn und soweit diese nicht den Unfall vor-

sätzlich herbeigeführt haben.

43

aa) Haftungsfreistellung des Unternehmers

Die Haftungsfreistellung des Unternehmers (§ 104 SGB VII) gegenüber dem Arbeitnehmer bei un-

vorsätzlich herbeigeführten Arbeitsunfällen rechtfertigt sich aus zwei Gedanken:

- Der Unternehmer hat die Leistungen der Unfallversicherung durch eigene Beiträge finanziert

und

- das öffentlich-rechtliche System der Entschädigung vermeidet Streitigkeiten zwischen Arbeit-

nehmer und Arbeitgeber über die Entstehung des Arbeitsunfalls.

Die Verdrängung des Haftpflichtrechts durch das Unfallversicherungsrecht ist rechtlich nicht un-

bedenklich, weil Haftpflichtrecht im Gegensatz zum Unfallversicherungsrecht auch einen Aus-

gleich für immaterielle Schäden vorsieht (vgl. § 253 Abs. 2 BGB).

Aufgabe 5: Ist der gesetzliche Ausschluss von Schmerzensgeldansprüchen des Arbeitnehmers ge-

genüber dem Unternehmer bei einem von diesem fahrlässig herbeigeführten Arbeitsunfall verfas-

sungsrechtlich hinnehmbar (vgl. BVerfGE 34, 118)?

bb) Haftungsfreistellung des Arbeitskollegen

Für die Haftungsfreistellung des Arbeitskollegen (§ 105 SGB VII) sprechen zwei Gesichtspunkte:

- Der Gedanke des Betriebsfriedens

und

- der allgemeine Gedanke der Haftungsbeschränkung des Arbeitnehmers bei Wahrnehmung

arbeitsrechtlicher Verpflichtungen.

cc) Regress gegen die Freigestellten

Trotz Freistellung von Unternehmer und Arbeitskollegen von privatrechtlicher Haftung gegenüber

dem Verletzten haben die Freigestellten gegenüber der Berufsgenossenschaft für eigene Versäum-

nisse einzustehen, soweit diese zumindest grob fahrlässig sind (§§ 110 ff. SGB VII). Danach steht

der Berufsgenossenschaft als Trägerin der UV ein originärer Anspruch auf Schadensersatz gegen

die von privatrechtlicher Haftung freigestellten Unternehmer und Arbeitskollegen zu. Diese Haftung

erklärt sich daraus, dass der Unternehmer oder Arbeitskollege die gegenüber der Berufsgenossen-

schaft bestehende Pflicht zur Vermeidung von Unfällen grob fahrlässig verletzt hat. Diese Überle-

gung geböte es, den Ersatzanspruch als Sanktionierung für die Verletzung sozialversicherungsrecht-

licher Pflichten zu begreifen und demgemäß auch die Sozialgerichte für die zuständigen Gerichte

44

anzusehen. Die ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sieht jedoch eine zivilrechtliche

Haftung vor; der Ersatzanspruch in der Einstandspflicht ist demgemäß vor den ordentlichen Ge-

richten geltend zu machen.

Der Sozialversicherungsträger kann nach billigem Ermessen auf den Anspruch verzichten, insbe-

sondere wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse des Schädigers dies gebieten (§ 110 Abs. 2 SGB

VII).

45

§ 9 Soziale Entschädigung

a) Soziale Entschädigung

§§ 5, 24 SGB I setzten das Recht der sozialen Entschädigung voraus. Dieses dient der Abgeltung

von Personenschäden, die sich als Sonderopfer für die staatliche Gemeinschaft darstellen. Es um-

fasst im Wesentlichen Maßnahmen zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit und/oder

auf angemessene wirtschaftliche Versorgung. Der Begriff „soziale Entschädigung“ ist neu; er ent-

spricht dem, was (mit Ausnahme der „Beamtenversorgung“) früher „Versorgung“ genannt wurde.

Die Kriegsopferversorgung reicht bis in das 17. Jahrhundert zurück. Im Übrigen gründet der Gedan-

ke der sozialen Entschädigung im Prinzip der Aufopferung. Dieses war in § 75 EinlALR nieder-

gelegt, wonach „der Staat denjenigen, welcher seine besonderen Rechte und Vorteile dem Wohl des

gemeinen Wesens aufzuopfern genötigt wird, zu entschädigen gehalten“ ist.

Das derzeit geltende System sozialer Entschädigung beruht auf zwei rechtlichen Institutionen,

zum einen der Entschädigung nach versorgungsrechtlichen, zum anderen der Entschädigung nach

unfallversicherungsrechtlichen Grundsätzen. Dies erklärt sich daraus, dass dem Gebiet der sozia-

len Entschädigung nicht nur die Entschädigung für Kriegsopfer, Soldaten, Verbrechensopfer und

Impfgeschädigte zuzurechnen ist, sondern auch die „unechte Unfallversicherung“ (vgl. § 10). Dem-

entsprechend gibt es mehrere Gesetze, die Tatbestände und Rechtsfolgen sozialer Entschädigung

regeln. Das wichtigste Gesetz ist das Bundesversorgungsgesetz (BVG), das die Kriegsopferversor-

gung regelt. Die soziale Entschädigung für Verbrechensopfer, die Opfer von Impfschäden sowie die

Entschädigung von Wehr- und Zivildienstbeschädigten orientiert sich weitgehend am BVG. Die

Entschädigung von Unfallopfern durch die verschiedenen Tatbestände der unechten Unfallversiche-

rung richtet sich dagegen nach den Vorschriften des Unfallversicherungsrechts (§§ 26 ff. SGB VII).

Träger der Entschädigung ist jedoch stets ein Träger öffentlicher Gewalt, nämlich Gemeindeunfall-

versicherungsverbände, das Land oder der Bund.

b) Die wichtigsten Entschädigungstatbestände

aa) Kriegsopferversorgung

Leistungen auf Kriegsopferversorgung erhält gemäß § 1 BVG, wer durch „eine militärische oder

militärähnliche Dienstverrichtung oder durch einen Unfall während der Ausübung der militärischen

46

oder des militärähnlichen Dienstes oder durch die diesem Dienst eigentümlichen Verhältnisse eine

gesundheitliche Schädigung erlitten hat“. Diesen Tatbeständen stehen Ereignisse gleich, die auf

unmittelbare Kriegseinwirkung (vgl. § 5 BVG) zurückgehen, in der Kriegsgefangenschaft, einer

Internierung außerhalb Deutschlands wegen deutscher Staatsangehörigkeit oder einer offensichtlich

unrechtmäßigen Strafhaft oder sonstigen Zwangsmaßnahme erlitten wurden (vgl. § 1 Abs. 2 BVG).

Zwischen den in § 1 BVG genannten Ereignissen und der Schädigung muss Ursächlichkeit beste-

hen. Ein ursächlicher Sachzusammenhang besteht, wenn die zur Entschädigungspflicht führenden

Ereignisse wesentliche Bedingung für die Personenschädigung waren. Für den Nachweis der Ur-

sächlichkeit reicht Wahrscheinlichkeit aus. Bei Ungewissheit über den medizinischen Verlauf einer

Krankheit kann auch ohne Nachweis der Ursächlichkeit mit Zustimmung des Bundesministeriums

für Arbeit Entschädigung gewährt werden, wenn der Nachweis mangels gesicherten medizinischen

Wissens nicht erbracht werden kann (vgl. § 1 Abs. 3 BVG). Entschädigungsberechtigt ist grundsätz-

lich nur der unmittelbar Geschädigte. Als unmittelbare Schädigung gilt jedoch auch der Schock-

schaden.

bb) Opferentschädigung

Entschädigung für Verbrechensopfer wird gewährt, wenn jemand unmittelbar Opfer eines tätlichen

oder gegen die Person gerichteten Angriffs geworden ist (§ 1 OEG). Der Begriff des „tätlichen An-

griffs“ ist aus den §§ 113, 121 StGB in das OEG übernommen worden „Tätlicher Angriff“ ist jede

unmittelbar gegen Lebensgüter des Opfers gerichtete und die Schädigung des Opfers bezweckende

vorsätzliche rechtswidrige Tat; auf das Verschulden kommt es nicht an.

Aufgabe 6: Liegt eine Entschädigungspflicht in folgenden Fällen vor?

Jemand erleidet durch die Nachricht von der vorsätzlichen rechtswidrigen Tötung des eigenen Kin-

des einen Schock, der zur dauerhaften Beeinträchtigung der Gesundheit führt (vgl. BSGE 49, 98).

Der Eigentümer eines Hauses verlässt aus Furcht vor einem Einbruch auf gefährlichem Weg das

Haus; dabei kommt er zu Schaden (vgl. BSGE 56, 234). Bei einem Volksfest wirft ein Mann ein

Mädchen in die Höhe, dieses verliert das Gleichgewicht und verletzt sich deshalb (vgl. BSGE 59,

46). Ein Kind wird Opfer eines Sexualdelikts ohne Opferbewusstsein (vgl. BSGE 77, 7).

Der Anspruch auf Entschädigung ist nach § 2 OEG ausgeschlossen, falls der Geschädigte die Schä-

digung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des An-

spruchstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren. Ob Mitverantwor-

tung des Geschädigten besteht, beurteilt sich nach der Theorie der wesentlichen Bedingung.

47

Aufgabe 7: Liegt Mitverantwortung des Opfers in folgenden Fällen vor?

Eine Frau erschießt ihren „Freund“, weil er ihr untreu geworden ist; hat das Opfer die eigene Tö-

tung mitverursacht (vgl. BSGE 49, 104)? Ein Wachmann wird in Ausübung seines Berufes von Räu-

bern angeschossen; hat er seine Schädigung mitverursacht, weil er als Wachmann ein höheres Be-

rufsrisiko trägt (vgl. BSGE 52, 281)? Das Opfer hat eine Schlägerei angezettelt, hierbei wurde es

verletzt (vgl. BSGE 50, 95).

In den Fällen der Opferentschädigung hat das Opfer regelmäßig einen konkurrierenden delikti-

schen Anspruch gegen den Täter. Im Verhältnis zu diesem bestimmt § 5 OEG, dass auf den Kos-

tenträger der Opferentschädigung (vgl. § 4 OEG) der deliktische Schadensersatzanspruch gegen den

Täter in Höhe der Entschädigungsleistung gemäß § 81 a BVG übergeht.

cc) Impfschäden

Entschädigung bei Impfschäden (Begriffsbestimmung s. § 2 Nr. 11 IfSG) wird geleistet, wenn die

Impfung gesetzlich vorgeschrieben, aufgrund eines Gesetzes angeordnet, von einer zuständigen Be-

hörde empfohlen oder gemäß internationalen Gesundheitsvorschriften ausgeführt worden ist und

hieraus eine über die normale Impfreaktion hinausgehende Personenschädigung eingetreten ist

(§§ 60 f. IfSG; vormals geregelt in §§ 51 f. BSeuchG).

dd) Wehr- und Zivildienstbeschädigung

Bei der Wehr- (§ 80 SVG) oder Zivildienstbeschädigung (§ 47 ZDG) wird Entschädigung gleich-

falls nach versorgungsrechtlichen Grundsätzen gewährt (Zivildienst zur Zeit ausgesetzt nach § 1 a

ZDG). Die Entschädigungspflicht des Staates besteht, falls i.S.d. Theorie der wesentlichen Bedin-

gung zwischen dem geleisteten Dienst und der erlittenen Schädigung ein innerer Zusammenhang

besteht. Im Gegensatz zum Zivildienst unterfällt der Bundesfreiwilligendienst der echten Unfallver-

sicherung (§ 2 Abs. 1a SGB VII).

c) Leistungen

Besteht Entschädigungspflicht, hat der Beschädigte zwei Gattungen von Leistungsansprüchen: Ein-

mal einen Anspruch auf Heilbehandlung nebst Rehabilitation (§§ 10 ff. BVG); zum anderen einen

Anspruch auf Ausgleich seiner wirtschaftlichen Einbußen (§§ 29 ff. BVG sowie Sonderbereich

der Kriegsopferfürsorge §§ 25 ff. BVG).

48

aa) Heilbehandlung

Der Anspruch auf Heilbehandlung ist darauf gerichtet, die körperliche Integrität des Geschädigten

wiederherzustellen. Die geschuldeten Leistungen werden regelmäßig durch die Krankenversiche-

rung erbracht (vgl. §§ 18 c ff. BVG). Der Träger der Krankenversicherung erhält hierfür Erstattung

seiner Aufwendungen durch die Versorgungsverwaltung (§§ 19 ff. BVG). Vermag der Geschädigte

wegen seiner Erkrankung nicht zu arbeiten oder erleidet er deshalb einen Einkommensausfall, so

steht ihm das Versorgungskrankengeld (§ 16 BVG) in Höhe von 80 % des schädigungsbedingt

entgangenen Regellohns (§ 16 a BVG) zu. Daneben können den Geschädigten Leistungen zur Teil-

habe am Arbeitsleben bewilligt werden (§ 26 BVG).

bb) Ausgleich der wirtschaftlichen Einbußen

Zum Zwecke des Ausgleichs wirtschaftlicher Nachteile bestehen drei Gattungen von Ansprüchen:

Die Grundrente, der Berufsschadensausgleich und die Ausgleichsrente.

- Die Grundrente hat zwei Funktionen: Ausgleich des immateriellen Schadens und Pauschal-

abgeltung des schädigungsbedingt gesteigerten Zusatzbedarfs. Sie hängt ab von dem Grade

der Erwerbsminderung (vgl. § 30 BVG). Sie beruht auf dem Prinzip der abstrakten Scha-

densberechnung.

- Der Berufsschadensausgleich dient dem Ausgleich desjenigen Schadens, der dem Geschä-

digten im beruflichen Fortkommen entstanden ist (vgl. § 30 Abs. 3 BVG).

- Die Ausgleichsrente wird gezahlt, wenn der Geschädigte schädigungsbedingt nachweisbare

Einkommensausfälle hat (konkrete Schadensberechnung).

Neben diesen, dem Ausgleich des Fortkommens- und des Erwerbsschadens dienenden Leistungen

bestehen außerdem noch zugunsten der nach dem BVG Leistungsberechtigten Ansprüche auf Leis-

tungen der Kriegsopferfürsorge. Sie werden bei Bedürftigkeit erbracht (vgl. §§ 25 ff. BVG).

49

§ 10 Unechte Unfallversicherung

a) Überblick

Die unechte Unfallversicherung ist Erscheinungsform der sozialen Entschädigung. Die Rechtsfolgen

beurteilen sich jedoch nach den Vorschriften des Unfallversicherungsrechts. Die unechte Unfallver-

sicherung wird wie jede soziale Entschädigung von der öffentlichen Hand getragen. Ihre Tatbestän-

de sind kasuistisch gefasst. Die unechte Unfallversicherung löst Unfallrisiken aus der ausschließlich

privaten Verantwortung, falls diese sich bei Tätigkeiten verwirklichen, die im öffentlichen Interes-

se liegen. Die wichtigsten Tatbestände der unechten Unfallversicherung sind Unfälle, die

- in privater Wohlfahrtspflege Tätige (§ 2 Abs. 1 Nr. 9 SGB VII),

- Lebensretter, Pannenhelfer, Festnehmende gem. § 127 StPO (§ 2 Abs. 1 Nrn. 11, 12, 13 a, c

SGB VII),

- Blut- oder Organspender (§ 2 Nr. 13 b SGB VIII),

- ehrenamtliche Mitglieder in Selbstverwaltungsgremien öffentlicher Körperschaften (§ 2 Abs.

1 Nr. 10 SGB VII) sowie

- die vor Gericht auftretenden Zeugen und Sachverständigen (§ 2 Abs. 1 Nr. 11b SGB VII)

oder

- Kinder in Kindergärten, Schüler in Schulen und Hochschüler in Hochschulen (§ 2 Abs. 1 Nr.

8 SGB VII) oder

- Personen, die in Eigenarbeit öffentlich geförderten Wohnraum errichten (§ 2 Abs. 1 Nr. 16

SGB VII

erleiden.

b) Probleme der unechten Unfallversicherung - erläutert an der Unfallversicherung für Schüler

Nach § 2 Abs. 1 Nr. 8 b SGB VII wird Unfallversicherungsschutz für Schüler gewährt, wenn und

soweit sich der Unfall im organisatorischen Zusammenhang mit der Schule ereignet. Hingegen be-

steht kein Unfallversicherungsschutz, soweit der Unfall der privaten Sphäre des Schülers zuzuord-

nen ist. Hier stellen sich schwierige Abgrenzungsprobleme (vgl. Aufgabe 8). Der Unfallversiche-

rungsschutz besteht auch für Schüler von Privatschulen, wenn und soweit die Privatschulen allge-

meinbildenden Charakter haben. Kein Unfallversicherungsschutz besteht jedoch für Unfälle, die

während der Hausaufgabenbetreuung oder auf dem Wege zwischen Wohnung und der Stätte der

Hausaufgabenbetreuung eingetreten sind.

50

Aufgabe 8: Besteht Unfallversicherungsschutz, falls ein Unfall eintritt, wenn

- ein Schüler Hausaufgaben in einem Raum erledigt, den die Schule bereitgestellt hat (vgl.

BSGE 56, 129),

- ein Lehrer von den Schülern verlangt, für den Biologieunterricht Tümpelwasser und Heu zu

besorgen (vgl. BSGE 51, 257),

- Schüler am Nachmittag auf Geheiß der Lehrerin Schulbücher austauschen (vgl. BSGE 57,

260),

- sich ein Schüler entgegen einer ausdrücklichen Weisung der Schulleitung vom Schulgelände

entfernt, um Lebensmittel in einem Ladengeschäft einzukaufen (vgl. BSGE 55, 139),

- der verletzte Schüler in der Wohnung des Freundes sein Mittagessen einnimmt und Haus-

aufgaben erledigt und auf dem Weg von dort nach Hause einen Unfall erleidet (vgl. BSGE

52, 38)?

c) Sonderproblem: Verhältnis der sozialen Entschädigung von Nothelfern (§ 2 Abs. 1 Nr. 13

SGB VII) und Ansprüchen aus GoA

Wer gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 13 a SGB VII als Nothelfer unter Unfallversicherungsschutz steht - etwa

sich selbst als Kraftfahrer aufopfert, um einen schwereren Schaden abzuwenden (vgl. BSGE 54,

190; 44, 22) - erfüllt durch sein Verhalten zugleich die Voraussetzungen der Geschäftsführung ohne

Auftrag (GoA). Kraft GoA hat der Nothelfer gegenüber dem Geretteten einen Anspruch auf Ersatz

der erlittenen Eigenschäden (§§ 683, 670 BGB). Soweit der Eigenschaden ein Personenschaden ist,

steht dem Nothelfer darüber hinaus ein konkurrierender Anspruch gegen den Träger der unechten

Unfallversicherung zu (§ 2 Abs. 1 Nr. 13 a SGB VII). In welchem Verhältnis stehen beide Ansprü-

che zueinander? Es gibt drei Möglichkeiten: Entweder Kumulation der Ansprüche oder cessio legis

des privatrechtlichen Anspruchs auf den Träger der sozialen Entschädigung oder Vorrang der sozi-

alrechtlichen Einstandspflicht und Verdrängung des privatrechtlichen Anspruchs.

Aufgabe 9: Lesen Sie dazu BGHZ 33, 251; RGZ 167, 85 einerseits und BGHZ 92, 270 andererseits.

51

§ 11 Arbeitsförderung

Der wichtigste Zweig sozialer Förderung ist die Arbeitsförderung. Sie findet ihre Rechtsgrundlage

im Sozialgesetzbuch II und III (SGB II und III). Das Recht der Arbeitsförderung wurde umfassend

reformiert. Die gesetzlichen Grundlagen der Reform sind die vier Gesetze für moderne Dienstleis-

tungen am Arbeitsmarkt, die auf Empfehlungen der Kommission „Moderne Dienstleistungen am

Arbeitsmarkt“ (sog. Hartz – Kommission) zurückgehen. Während das Erste und Zweite Gesetz für

moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt bereits zum 01.01.2003 in Kraft traten, wurden „Hartz

III“ und „Hartz IV“ beginnend Anfang 2004 umgesetzt.

Im Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt wurde die Ausgliederung der

Regelungen über die Grundsicherung erwerbsfähiger Arbeitsloser (Arbeitslosengeld II) vorgesehen.

Diese Bestimmungen sind nunmehr mit Wirkung zum 01.01.2005 im neu geschaffenen SGB II ge-

regelt.

1. Organisation und Finanzierung

Trägerin der Arbeitsförderung war bis zum Jahre 2004 die Bundesanstalt für Arbeit, die sich in re-

gionale Behörden (Arbeitsämter/Landesarbeitsämter) untergliederte. Durch das Dritte Gesetz für

moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt wurde die Bundesanstalt für Arbeit neu strukturiert und

in Bundesagentur für Arbeit (BA) umbenannt (§§ 367 ff. SGB III). Die Arbeitsämter (neu: Agentu-

ren für Arbeit) wurden nun als sog. Job-Center eingerichtet, die Arbeitsvermittlung als Serviceleis-

tung anbieten. Die vormaligen Landesarbeitsämter bilden nun sog. Kompetenz-Center zur Koordi-

nierung von arbeitsmarktpolitischen Initiativen und zur Entwicklung neuer Beschäftigungsmöglich-

keiten. Diese Trennung von Verwaltungs- von Vermittlungsaufgaben zielte auf Steigerung der Effi-

zienz der Verwaltung und Vermittlung.

Die BA nimmt ihre Aufgaben in Selbstverwaltung wahr (§§ 371 ff. SGB III). Die Tätigkeit der BA

wird durch private Arbeitsvermittler sowie gewerbliche Arbeitnehmerüberlasser, Träger von

Erstausbildungs-, Umschulungs-, Arbeitsbeschaffungs- und Eingliederungsmaßnahmen ergänzt.

Die Leistungen der Arbeitsförderung werden nach § 340 SGB III überwiegend durch Beiträge der

versicherungspflichtig Beschäftigten, der Arbeitgeber und Dritter (§§ 341 ff. SGB III), ferner durch

Umlagen (§§ 354 ff. SGB III), durch Mittel des Bundes (§§ 363 ff. SGB III) und sonstige Einnah-

52

men finanziert. Der Bund trägt die Kosten der nach § 368 Abs. 2 SGB III der BA übertragenen Auf-

gaben (§ 363 Abs. 1 SGB III).

Auch die Grundsicherung der erwerbsfähigen Arbeitslosen, das Arbeitslosengeld II, wird zukünftig

aus dem Steueraufkommen des Bundes finanziert werden (vgl. § 46 SGB II).

2. Leistungen

� Aktive Arbeitsförderung: Arbeitsvermittlung, Arbeits-, Bildungs- und Berufsförderung (a.)

� Entgeltersatz: Geldleistungen bei Voll- wie Teilarbeitslosigkeit (b.)

� Weitere Aufgaben: Statistik, Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Berichterstattung, Arbeits-

marktbeobachtung und -kontrolle (c.)

a) Aktive Arbeitsförderung

aa) Arbeitsvermittlung (§§ 35 ff. SGB III) und Berufs-/ Arbeitsmarktberatung (§§ 29-34 SGB III)

Arbeitsvermittlung „umfasst alle Tätigkeiten, die darauf gerichtet sind, [...] Arbeitsuchende mit

Arbeitgebern zur Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses zusammenzuführen“; § 35 Abs. 1

S. 2 SGB III.

Durch das Job-AQTIV-Gesetz (seit dem 01.01.2002 in Kraft) wurden u. a. die Regelungen zur Be-

ratung und Vermittlung mit dem Ziel der Steigerung der Effizienz der Vermittlung erweitert. Gem.

§ 37 Abs. 2,3 SGB III hat die Agentur für Arbeit zusammen mit dem Arbeits- oder Ausbildungssu-

chenden eine Eingliederungsvereinbarung zu treffen, die die aus dem zuvor erfolgten Profiling (=

umfassende Ermittlung des Bewerberprofils) abzuleitende Vermittlungsstrategie festlegt. Zur Unter-

stützung der Arbeitsvermittlung kann die Agentur für Arbeit auch Dritte beauftragen (§ 45 Abs. 3

SGB III) oder Arbeitslosen einen Vermittlungsgutschein geben, durch den die Arbeitsagentur ver-

pflichtet wird, den Anspruch des privaten Arbeitsvermittlers auf die Vermittlungsvergütung zu er-

füllen (§ 45 Abs. 4, 7 SGB III). Gemäß § 45 Abs. 5 SGB III ist die Entscheidung diesbezüglich von

der Eignung und den persönlichen Verhältnissen des Förderungsberechtigten abhängig.

Mit Geltung ab 01.07.2003 wurde durch das Erste Gesetz für moderne Dienstleistungen am Ar-

beitsmarkt die Einführung von Personal-Service Agenturen (PSA) bestimmt (§ 37 c SGB III a.F.).

Seit dem 1. Januar 2006 entfiel diese Verpflichtung und es steht den Agenturen frei, dieses Instru-

ment zu nutzen oder nicht. Die Aufgaben der PSA sind Arbeitnehmerüberlassung zur Vermittlung

von Arbeitslosen sowie Weiterbildung und Qualifizierung ihrer Beschäftigten in verleihfreien Zei-

53

ten. Jede Arbeitsagentur kann ein Zeitarbeitsunternehmen mit dem Betrieb einer Personal-Service-

Agentur beauftragen.

Die Anstellung in der PSA vermittelt Arbeitslosen einen Arbeitsvertrag, die Garantie der fairen Ent-

lohnung sowie Schutz der Sozialversicherung. Außerdem soll die Arbeitsvermittlung schon mög-

lichst frühzeitig einsetzen. Daher sind Erwerbstätige, deren Beschäftigungsverhältnis endet, nun

verpflichtet, sich unverzüglich bei der Arbeitsagentur als arbeitsuchend zu melden (§ 37 b SGB III

a.F.).

Bis 1994 hatte die BA ein Arbeitsvermittlungsmonopol. Grundsätzlich konnte kein Privater ge-

werbsmäßig die Aufgabe der Arbeitsvermittlung betreiben (§ 4 AFG). Ausnahmen von diesem

Vermittlungsmonopol bestanden nur für einzelne Berufe und Personen (§ 23 AFG). Seit dem

01.04.1994 ist in Deutschland private Arbeitsvermittlung grundsätzlich zulässig; bislang bedurfte

sie allerdings einer staatlichen Erlaubnis, § 291 SGB III a. F. Seit dem 27.03.2002 ist die gesamte

private Arbeits- und Ausbildungsvermittlung nicht mehr erlaubnispflichtig. Es bestehen jedoch wei-

terhin Schutzvorschriften hinsichtlich der Auslandsvermittlung (§ 292 SGB III), der Anforderungen

an Vermittlungsverträge (§§ 296, 297 SGB III) der Vergütung von Ausbildungsvermittlung (§ 296 a

SGB III) und der Behandlung von Daten (§ 298 SGB III). Besonders hervorzuheben ist, dass auch

von den Arbeitssuchenden eine Vermittlungsvergütung verlangt werden darf.

Die BA ist zur Berufs- und Arbeitsmarktberatung verpflichtet, § 29 SGB III. Berufsberatung

dient der Berufsfindung sowie der Beratung über Entwicklungsmöglichkeiten in einer gefundenen

beruflichen Tätigkeit (§ 30 SGB III). Arbeitsmarktberatung dient der Unterstützung des Arbeitge-

bers bei der Besetzung offener Stellen (§ 34 SGB III). Für die Arbeitgeber besteht keine Melde-

pflicht für offene Stellen. Die Arbeitsagentur soll die Beratung der Arbeitgeber zur Gewinnung of-

fener Stellen nutzen und zum selben Zweck von sich aus die Verbindung zu den Arbeitgebern su-

chen (§ 34 Abs. 2 SGB III).

bb) Allgemeine Unterstützungs- und Förderungsleistungen

Die BA hat eine „aktive Arbeitsmarktpolitik“ zu gestalten. Diese wird wesentlich durch Bildungs-

und Berufsförderung sowie durch Arbeitsbeschaffung vorgenommen. Diese Leistungen sollen der

Verbesserung der Beschäftigungsbedingungen dienen. Pflichtleistungen sind dagegen die in § 3

Abs. 3 SGB III ausdrücklich aufgeführten Maßnahmen, alle anderen sind Ermessensleistungen.

54

(1) Leistungen zur Unterstützung der Beratung und Vermittlung (§§ 44, 45 SGB III – Übernahme

von Bewerbungs- und Reisekosten)

(2) Förderung der Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit, die Arbeitslosigkeit beendet oder ver-

meidet, durch die Zahlung eines Gründungszuschusses (§§ 93, 94 SGB III)

Dieser ersetzt das bisherige Überbrückungsgeld (§ 57 SGB III a.F.) und den Existenzgründerzu-

schuss (sog. „Ich- oder Familien AG“, § 421 l SGB III a.F.).

Die Förderung richtet sich an Arbeitslose, die eine selbständige Tätigkeit aufnehmen. Diese erhalten

einen monatlichen Zuschuss in Höhe des zuletzt bezogenen Arbeitslosengeldes zuzüglich 300 EUR.

Die Förderdauer beträgt maximal 15 Monate.

(3) Eingliederungszuschüsse (§§ 88 ff. SGB III)

Diese Zuschüsse zum Arbeitsentgelt werden an den Arbeitgeber gezahlt. Sie betragen im Regelfall

bis zu 50 % des Arbeitsentgelts bei einer Förderdauer von 12 Monaten (§ 89 SGB III). Der Einglie-

derungszuschuss dient dem Ausgleich von Minderleistungen bei Einstellung eines Arbeitsuchen-

den.

(4) Leistungen an Träger, die Maßnahmen der Arbeitsförderung selbst durchführen oder durch

Dritte durchführen lassen (§§ 74 ff. SGB III).

cc) Förderung der Berufsausbildung (§§ 51-80 SGB III) und der beruflichen Weiterbildung

(§§ 81-87 SGB III)

Die Berufsausbildungsbeihilfe dient der Bildungsförderung (§ 56 SGB III). Sie wird an diejenigen

gewährt, die noch keine Berufsausbildung abgeschlossen haben. Die Leistungen der Berufsförde-

rung dienen der Umschulung und Fortbildung (§§ 81 ff. SGB III). Mit dem Ersten Gesetz über mo-

derne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt wurden Vereinfachungen der Weiterbildungsförderung

geschaffen. Seit dem 01.01.2003 können Arbeitnehmer einen Bildungsgutschein erhalten, um frei

unter zugelassenen Bildungsmaßnahmen und Trägern wählen zu können (§ 81 Abs. 4 SGB III).

dd) Förderung der beruflichen Eingliederung Behinderter (§§ 112-129 SGB III)

b) Geldleistungen bei Arbeitslosigkeit

Schließlich erbringt die BA Geldleistungen bei Arbeitslosigkeit. Es sind Leistungen bei Teilarbeits-

losigkeit (§ 162 SGB III) (aa) sowie bei Vollarbeitslosigkeit zu unterscheiden. Bei Vollarbeitslosig-

keit kommen im Wesentlichen zwei Leistungsgattungen in Betracht: Arbeitslosengeld (bb) und die

Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II (cc).

55

aa) Leistungen bei Teilarbeitslosigkeit

Die wichtigste Leistung bei Teilarbeitslosigkeit ist das Kurzarbeitergeld (§§ 95-111 SGB III). Für

diese Leistungen gilt das Lohnausfallprinzip. Mit dem Dritten Gesetz für moderne Dienstleistungen

am Arbeitsmarkt wurden die Instrumente zur Abfederung von Personalabbauprozessen bei betrieb-

lichen Restrukturierungen (Sozialplanmaßnahmen und Struktur-Kurzarbeitergeld) fortentwickelt

und systematisch als Transferleistungen zusammengefasst (§§ 110, 134 SGB III).

bb) Arbeitslosengeld

Anspruch auf Arbeitslosengeld hat (gem. § 137 SGB III):

� wer arbeitslos ist (1),

� die Anwartschaftszeit erfüllt (2) und

� sich bei der Arbeitsagentur arbeitslos gemeldet und Arbeitslosengeld beantragt hat (3).

(1) Arbeitslos ist (gem. § 138 Abs. 1 SGB III):

� wer als Arbeitnehmer vorübergehend nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht (Beschäf-

tigungslosigkeit) und

� sich bemüht, die eigene Beschäftigungslosigkeit zu beenden (Eigenbemühung),

� den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung steht (Verfügbarkeit).

Die Ausübung einer geringfügigen Beschäftigung steht der Arbeitslosigkeit nicht entgegen; aller-

dings wird das Einkommen aus geringfügiger Beschäftigung auf die Leistungen angerechnet (§ 155

Abs. 1 iVm § 138 Abs. 3 SGB III). Auch eine ehrenamtliche Betätigung schließt Arbeitslosigkeit

nicht aus, wenn dadurch die berufliche Eingliederung des Arbeitslosen nicht beeinträchtigt wird,

§ 138 Abs. 2 SGB III.

Im Rahmen der Eigenbemühungen sind alle Möglichkeiten zur beruflichen Eingliederung zu nutzen

(§ 138 Abs. 4 SGB III):

• die Wahrnehmung der Verpflichtungen aus der Eingliederungsvereinbarung,

• die Mitwirkung bei der Vermittlung durch Dritte und

• die Inanspruchnahme der Selbstinformationseinrichtungen der Agentur für Arbeit.

Verfügbar ist (gem. § 138 Abs. 5 SGB III), wer arbeitsfähig und entsprechend seiner Arbeitsfähig-

keit arbeitsbereit ist.

Arbeitsbereit und arbeitsfähig ist der Arbeitslose auch dann, wenn er bereit und in der Lage ist, zu-

mutbare Beschäftigungen aufzunehmen und auszuüben (§ 138 Abs. 5 SGB III). Einem Arbeitslosen

56

sind alle seiner Arbeitsfähigkeit entsprechenden Beschäftigungen zumutbar, soweit allgemeine oder

personenbezogene Gründe nicht entgegenstehen (§ 140 SGB III).

Durch das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt wurden die Zumutbarkeits-

regelungen weiter gefasst. Stellen gelten nunmehr auch dann als zumutbar, wenn sie nicht der Qua-

lifikation des Arbeitssuchenden entsprechen. Insbesondere von Ledigen ohne Kinder kann mehr

Mobilität verlangt werden.

(2) Die Anwartschaftszeit für den Anspruch auf Arbeitslosengeld erfüllt, wer innerhalb einer Rah-

menfrist von 2 Jahren zumindest 12 Monate versicherungspflichtig beschäftigt war oder die vom

Gesetz für gleichwertig erachteten Tätigkeiten erbracht hat (§§ 142 f. SGB III).

(3) Seit dem 01.07.2003 besteht die Verpflichtung der frühzeitigen Meldung zur Arbeitssuche. Ar-

beitsagentur und Arbeitnehmer sollen bereits die Zeitspanne zwischen Kündigung und Eintritt der

Arbeitslosigkeit für die Vermittlung nutzen. Bei verspäteter Meldung wird das Arbeitslosengeld bis

zu 30 Tage gesperrt (vgl. § 38 SGB III).

(4) Anspruchsdauer (§§ 147 SGB III) und Höhe des Arbeitslosengeldes (§§ 149 ff. SGB III)

Die Laufzeit des Anspruchs hängt von der Dauer der vor Eintritt der Vollarbeitslosigkeit zurückge-

legten Versicherungszeit oder der dieser gleichgestellten Tatbestände sowie dem Alter ab. Sie be-

trägt mindestens 6 Monate (vgl. im einzelnen § 147 Abs. 2 SGB III).

Das Arbeitslosengeld wird auf der Grundlage des Nettoarbeitsentgelts berechnet (vgl. § 149 SGB

III). Deshalb beeinflusst der Lohnsteuersatz und somit die Wahl der Steuerklasse das Bemessungs-

entgelt und damit die Höhe des Arbeitslosengeldes. Das Arbeitslosengeld beläuft sich auf 60 % des

Bemessungsentgelts, falls der Arbeitslose kein Kind unterhalten muss, ansonsten auf 67 % des Be-

messungsentgelts (= erhöhter Leistungssatz). Der Anspruch auf Arbeitslosengeld ist auf Zeit ausge-

schlossen, wenn die Voraussetzungen für eine Sperrzeitverhängung vorliegen (§ 159 SGB III). Die

Sperrzeitenregelungen wurden durch das erste Gesetz über moderne Dienstleistungen am Arbeits-

markt geändert. Die Beweislast für die Tatsachen, die Sperrzeiten auslösen können, trägt der Ar-

beitslose. Arbeitslosengeld ist ferner ausgeschlossen, falls die Arbeitslosigkeit durch Arbeits-

kampfmaßnahmen hervorgerufen worden ist (§ 160 SGB III). Dies ist besonders problematisch in

den Fällen der mittelbaren Kampfbetroffenheit.

57

cc) Grundsicherung für Arbeitssuchende (Arbeitslosengeld II/Sozialgeld)

Durch das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt ist die Bündelung von Ar-

beitslosenhilfe und Sozialhilfe eingeführt worden. Die Grundsicherung für Arbeitssuchende (Ar-

beitslosengeld II/ Sozialgeld) ist im SGB II geregelt. Anspruchsberechtigt sind alle erwerbsfähigen

Hilfebedürftigen zwischen 15 und 65 Jahren (§ 7 SGB II). Die Bedürftigkeitsprüfung orientiert sich

für Vermögen an der bisherigen Arbeitslosenhilfe, für Einkommen am geltenden Sozialhilferecht.

Die Leistungen sollen dem Niveau der Sozialhilfe entsprechen. Träger der Grundsicherung ist die

Bundesagentur für Arbeit, die Finanzierung erfolgt durch den Bund. Erwerbsfähige Hilfebedürftige

werden verstärkt bei der Eingliederung in Arbeit unterstützt. Dazu soll die Zuordnung eines persön-

lichen Fallmanagers bei den örtlichen JobCentern dienen, mit dem eine Eingliederungsvereinbarung

geschlossen wird (vgl. § 15 SGB II). Lehnt ein Langzeitarbeitsloser eine ihm angebotene Stelle ab

oder zeigt er keine Bemühungen zum Finden einer Stelle, zieht dies Kürzungen beim Arbeitslosen-

geld II nach sich. Jugendlichen unter 25 Jahren kann das Arbeitslosengeld II vorübergehend bis auf

die Gewährung von Unterkunft und Heizung komplett gestrichen werden (§ 31a Abs. 2 SGB II).

dd) Soziale Sicherung Arbeitsloser

Wenn ein Arbeitsloser Anspruch auf Arbeitslosengeld I oder II/Sozialgeld hat, so stehen ihm nicht

nur Leistungen auf Geldzahlung, sondern darüber hinaus auch Rechte innerhalb der Sozialversiche-

rung zu. So ist der Arbeitslose insbesondere gegen das Risiko der Krankheit, gegen die mit seiner

Stellung als Empfänger von Leistungen verbundenen Unfallrisiken sowie in der gesetzlichen Ren-

tenversicherung versichert (vgl. §§ 5 Abs. 1 Nrn. 2, 2a SGB V, 2 Abs. 1 Nr. 14 SGB VII, 3 Abs. 1

S. 1 Nr. 3, 3a SGB VI).

c) Statistik, Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Berichterstattung, Arbeitsmarktbeobachtung

und -kontrolle

Um die BA zur sachgerechten Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu befähigen, hat sie die Pflicht zur

Erforschung von Arbeitsmarkt und von Berufsbildern (§ 282 SGB III). Des Weiteren nimmt die BA

Aufgaben der Statistik und Berichterstattung wahr (§§ 281, 282a, 283 SGB III).

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§ 12 Ausbildungsförderung

a) Ziele und Grundsätze

Ausbildungsförderung wird nach dem SGB III oder dem BAföG betrieben. Soweit die Ausbildung

der Berufsausbildung dient, gilt das SGB III. Soweit die Ausbildung der Vorbereitung für einen

akademischen Beruf dient, gilt das BAföG. Schon in Art. 146 Abs. 3 WRV war bestimmt, dass der

Staat zugunsten des Schul- und Hochschulbesuches der Kinder aus einkommensschwachen Fami-

lien Förderungsmöglichkeiten schaffen solle, um einen Beitrag zur Chancengleichheit zwischen den

sozialen Schichten zu leisten und einkommensbedingte Bildungsbarrieren zu überwinden. Erste

Ansätze zur Verwirklichung dieses Zieles wurden 1957 durch die Einrichtung der Studienförderung

nach dem Honnefer-Modell ergriffen. 1971 ist das BAföG verabschiedet worden, nachdem 1969

Art. 74 Nr. 13 GG dem Bund die Gesetzgebungskompetenz gab.

Grundelemente der BAföG-Sicherung sind:

� es besteht ein Rechtsanspruch auf Ausbildungsförderung,

� Ausbildungsförderung wird nur bei Bedürftigkeit des Auszubildenden gewährt,

� die Leistung besteht aus einer Mischung von Darlehen und Zuschuss und

� der Empfänger ist gehalten, ausbildungsadäquate Leistungsnachweise zu erbringen.

b) Einzelregelungen

Das BAföG ist gegenüber anderen Formen der Ausbildungsunterstützung nachrangig (§ 1 BAföG).

Insbesondere tritt es hinter den Anspruch auf Ausbildungsunterhalt (§§ 1601, 1610 Abs. 2 BGB)

zurück. Danach ist der Auszubildende grundsätzlich auf den Unterhaltsanspruch gegen seine Eltern

verwiesen. Nur wenn diese ein Einkommen beziehen, welches unter einem gesetzlich festgelegten

Grenzwert liegt und deshalb die unterhaltsrechtliche Leistungsfähigkeit der Eltern zur Finanzierung

eines Studiums für die Kinder nicht gegeben ist, besteht ein Rechtsanspruch auf Ausbildungsförde-

rung. Die Leistungen sind so bemessen, dass die unterhaltsrechtliche Bedürftigkeit des Empfängers

während der Dauer der Ausbildung beseitigt wird. Gesetzlich festgelegt sind die Bedarfssätze (§§ 12

ff. BAföG) und die Einkommensgrenzen (§§ 21 ff. BAföG). Eine familienunabhängige Förderung

besteht nur ausnahmsweise (§ 11 Abs. 3 BAföG). Auszubildende, die gegen ihre Eltern einen An-

spruch auf Unterhaltsleistung haben, können jedoch statt des Unterhalts Leistungen nach dem BA-

föG beanspruchen, wenn ihre Eltern den Unterhalt nicht zahlen (vgl. §§ 36 f. BAföG). In diesem

Fall geht der Unterhaltsanspruch auf den Träger der Ausbildungsförderung über, den dieser dann im

Regressweg geltend machen kann (§ 37 BAföG).

59

Neben der fehlenden Leistungsfähigkeit der Eltern sind weitere Voraussetzungen für die Entste-

hung eines Anspruchs nötig: Der Antragsteller darf grundsätzlich das 30. Lebensjahr nicht über-

schritten haben (§ 10 BAföG, Ausnahmsweise 35 bei postgradualen Studiengängen nach § 7 Abs.

1a BAföG) und muss als geeignet gelten (§ 9 BAföG). Die Eignung ist regelmäßig dann zu bejahen,

wenn der Auszubildende die den jeweiligen Ausbildungs- und Prüfungsordnungen entsprechenden

Studienfortschritte erkennen lässt. Hierfür ist es erforderlich, dass der Auszubildende die in § 48

BAföG genannten Nachweise erbringt. Schließlich muss er Deutscher oder ihm gleichgestellter

EU/EWR-Bürger oder Asylberechtigter sein (§ 8 BAföG).

Die Leistungen werden grundsätzlich zur Hälfte als Zuschuss (§ 17 Abs. 1 BAföG), zur anderen

Hälfte als Darlehen gewährt. (§ 17 Abs. 2 BAföG). Das Darlehen ist nicht zu verzinsen. Die Rück-

zahlung beginnt gem. § 18 Abs. 3 S. 3 BAföG erst fünf Jahre nach dem Ende der Förderungs-

höchstdauer. Möglich ist eine Freistellung von der Verpflichtung zur Rückzahlung, soweit das Ein-

kommen des ehemaligen Förderungsempfängers die in § 18a BAföG aufgeführten Grenzen nicht

übersteigt. Ein Teilerlass des Darlehens wird gewährt, wenn der Auszubildende die Abschlussprü-

fung bis zum 31.12.2012 bestanden hat und zu den besten 30 % aller Prüfungsabsolventen dessel-

ben Kalenderjahres gehört, § 18b Abs. 2 BAföG. Wenn der Auszubildende seine Ausbildung 4 Mo-

nate bzw. 2 Monate vor Ende der Förderungshöchstdauer erfolgreich beendet, so werden ihm pau-

schal 2560 € bzw. 1025 € erlassen, § 18b Abs. 3 BAföG (vgl. aber für den Fall, dass in dem betref-

fenden Studiengang die gesetzlich festgelegte Mindeststudienzeit weniger als vier Monate vor dem

Ende der Förderungshöchstdauer endet: BVerfG v. 21.06.2011 – 1 BvR 2035/07 = SGb 2011, 513).

60

§ 13 Familienleistungen

In § 6 SGB I ist der Familienleistungsausgleich als eigener sozialrechtlicher Leistungszweig ange-

sprochen. Systematisch betrachtet ist das Recht des Familienleistungsausgleichs Teil des Rechts der

sozialen Förderung. Denn er schafft Entfaltungschancen für Familien ganz ebenso wie die Arbeits-

und Bildungsförderung Entfaltungschancen für Arbeitslose oder angehende Erwerbstätige schafft.

a) Steuerrechtlicher und sozialrechtlicher Familienleistungsausgleich

Nach verbreiteter Meinung beruht der Familienleistungsausgleich auf zwei Institutionen, dem Steu-

errecht und dem Sozialrecht. Das Steuerrecht berücksichtigt den Umstand, dass ein Steuerpflichtiger

Kinder zu unterhalten hat, bei der Bestimmung des zu versteuernden Einkommens. Jeder Steuer-

pflichtige, der ein Kind unterhält, kann Kinderfreibeträge geltend machen. Sie mindern seine Steu-

erschuld und ermäßigen damit seine Steuer. Da der Steuersatz in der Einkommensteuer progressiv

gestaltet ist - d.h. mit steigendem Einkommen steigt auch der Steuersatz an - entlastet der Kinder-

freibetrag den Steuerpflichtigen umso mehr, je höher sein Einkommen ist. Das Sozialrecht sieht

dagegen vor, dass grundsätzlich für jedes Kind der Familienaufwand durch Leistungen aus öffentli-

chen Mitteln in gleicher Höhe gemindert werden soll. Der Umfang der öffentlichen Unterstützung

hängt nur von der Kinderzahl, nicht vom Einkommen der Familie ab.

Aus diesen gegenläufigen Prinzipien wird gefolgert, es bestehe ein grundsätzlicher Zielkonflikt zwi-

schen dem „steuerrechtlichen“ und dem sozialrechtlichen Familienleistungsausgleich. Der sozial-

rechtliche Familienleistungsausgleich sei egalitär, der „steuerrechtliche“ begünstige dagegen die

Reichen und benachteilige die Armen.

Aufgabe 10: Diskutieren Sie diese Ansicht.

b) Ausgestaltung des Kindergeldes

Das Kindergeldrecht findet seit dem 1. Januar 1996 in den §§ 31 f., 62 - 78 EStG seine rechtliche

Grundlage. Das BKGG ist nur noch sehr eingeschränkt für Personen anwendbar, die in Deutschland

nicht unbeschränkt einkommensteuerpflichtig sind.

61

Das Kindergeldrecht beruht auf den Grundsätzen des Universalitäts-, Wohnsitz-, Unterhalts-, Fami-

lien- und Einmaligkeitsprinzips: Nach dem Universalitätsprinzip ist jeder Mensch, der die Eltern-

stellung innehat, leistungsberechtigt, unabhängig von der ausgeübten Erwerbstätigkeit und der Höhe

seines Einkommens.

Das Wohnsitzprinzip steckt den internationalen Geltungsbereich des deutschen Kindergeldrechts

ab: Kindergeld wird i.d.R. nur gezahlt, sofern der Unterhaltleistende und das unterhaltbeziehende

Kind ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort in Deutschland haben.

Aus dem Unterhaltsprinzip ergibt sich, dass leistungsberechtigt derjenige sein soll, der tatsächlich

das Kind unterhält. Damit können auch Stief- und Großeltern Kindergeld erhalten, wenn und soweit

sich die leiblichen Eltern nicht um das Kind kümmern.

Die Höhe des Kindergelds hängt von der Familiengröße ab (Familienprinzip). Es steigt absolut wie

auch relativ bei größerer Kinderzahl. Das Kindergeld ist der Familie als ganzes und nicht dem je-

weiligen Kind zugeordnet. Für ein Kind wird nur einmal Kindergeld oder eine ähnliche Leistung

erbracht (Einmaligkeitsprinzip).

Kindergeld wird bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres des Kindes uneingeschränkt geleistet.

Darüber hinaus wird es bis zu Vollendung des 25. Lebensjahres gezahlt, wenn sich das Kind in wei-

terführender Ausbildung befindet, oder bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres, wenn es ohne Ar-

beitsplatz oder ohne Ausbildung ist.

Seit dem Jahr 2012 wird für jeden Monat Kindergeld nach folgenden Sätzen gezahlt:

� für das 1. und 2. Kind auf jeweils 184 €

� für das 3. Kind auf 190 €

� für jedes weitere Kind auf jeweils 215 €.

Kindergeld und Kinderfreibetrag/Freibetrag für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbil-

dungsbedarf stehen im Verhältnis der Alternativität. Zunächst wird monatlich das Kindergeld als

Steuervergütung gezahlt. Nach Ablauf des Kalenderjahres wird im Rahmen der Einkommensteuer-

veranlagung von Amts wegen geprüft, ob die Zahlung des Kindergeldes oder die Gewährung der

Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG für den Steuerpflichtigen günstiger ist (sog. Günstigerprüfung).

Ist der Steuervorteil durch die Gewährung des Kindergeldes größer, dann behält der Steuerpflichtige

62

das Kindergeld und die Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG werden nicht gewährt. Ist die Gewäh-

rung der Freibeträge für den Steuerpflichtigen günstiger, werden diese abgezogen und das gezahlte

Kindergeld durch Hinzurechnung zur festzusetzenden Einkommensteuer angerechnet, § 31 EStG.

c) Elterngeld

Das Elterngeld ersetzt seit dem 01.01.2007 das bisherige Erziehungsgeld. Das Elterngeld bietet ei-

nen Lohnersatz und soll die Erziehung des Kindes in der ersten Lebensphase erleichtern. Es ist im

Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG) geregelt. Es soll den Einkommensverlust ausglei-

chen, welcher dem Elternteil durch die Inanspruchnahme der Elternzeit entsteht. Die Höhe der Leis-

tung entspricht dem Arbeitslosengeld (§ 2 BEEG). Der Mindestbetrag beträgt 300 EUR monatlich,

der Höchstbetrag 1.800 EUR monatlich. Die Bezugsdauer beträgt 12 Monate ab der Geburt des

Kindes; sie erhöht sich auf maximal 14 Monate, falls die Leistung für zwei Monate auch von dem

anderen Elternteil in Anspruch genommen wird (§ 4 BEEG). Möglich ist auch eine Halbierung des

Zahlbetrages bei Verdoppelung der Bezugsdauer. Einkommen des Elterngeldempfängers wird bis

auf monatlich 300 EUR angerechnet; ebenso das Mutterschaftsgeld.

Das Elterngeld steht im Zusammenhang mit den Regelungen über die Elternzeit. Arbeitnehmerin-

nen und Arbeitnehmer, die ihr leibliches oder in Adoptivpflege genommenes Kind selbst betreuen

und erziehen, haben einen Anspruch auf Elternzeit grundsätzlich bis zur Vollendung des dritten

Lebensjahres des Kindes. Die Elternzeit kann von jedem Elternteil allein oder von beiden gemein-

sam genommen werden; Erwerbstätigkeit, die je Elternteil 30 Stunden wöchentliche Arbeitszeit

nicht übersteigt, ist zulässig, § 15 Abs. 3, 4 BEEG. Während der Elternzeit besteht ein Anspruch auf

Teilzeitarbeit unter den Voraussetzungen des § 15 Abs. 6, 7 BEEG und Kündigungsschutz, § 18

BEEG.

d) Betreuungsgeld

Ab dem 15. Lebensmonat besteht für die Eltern die Möglichkeit, Betreuungsgeld in Anspruch zu

nehmen, §§ 4a ff. BEEG. Dieses betrug zunächst 100 Euro im Monat, seit 1. August 2014 150 Euro.

Das Betreuungsgeld kann bis zu 22 Monate je Kind bezogen werden. Voraussetzung ist allerdings,

dass die Eltern auf die Inanspruchnahme einer öffentlichen Kinderbetreuungseinrichtung (auf die

seit 1. August 2013 ein Rechtsanspruch besteht, § 24 Abs. 2 SGB VIII) verzichten.

63

e) Unterhaltsvorschuss

Eine weitere Familienleistung ist der Unterhaltsvorschuss. Geregelt ist er im Unterhaltsvorschussge-

setz (UnterhVG). Er wird den Kindern von Alleinerziehenden dann gewährt, wenn der Elternteil,

bei dem das Kind nicht lebt, seiner Unterhaltspflicht nicht nachkommt oder wenn dieser Elternteil

verstorben ist, § 1 UnterhVG. Der Unterhaltsanspruch des Kindes gegen den Unterhaltsverpflichte-

ten geht kraft Gesetzes auf den zuständigen Sozialleistungsträger über, § 7 UnterhVG.

64

§ 14 Wohngeld

§ 7 SGB I bestimmt: „Wer für eine angemessene Wohnung Aufwendungen erbringen muss, die ihm

nicht zugemutet werden können, hat ein Recht auf Zuschuss zur Miete oder zu vergleichbaren Auf-

wendungen.“ § 26 SGB I ergänzt diese Regelung dahingehend, dass Wohngeld „als Zuschuss zur

Miete oder als Zuschuss zu den Aufwendungen für den eigengenutzten Wohnraum in Anspruch

genommen werden kann“.

Damit regelt das SGB nur einen Teilausschnitt der staatlichen Wohnungspolitik. Diese sucht die

angemessene Versorgung der gesamten Bevölkerung mit Wohnraum zu sichern. Zur Erreichung

dieses Zieles gibt es die folgenden Regelungsbereiche:

� die staatliche Regelung der Wohnraumversorgung durch Ausgestaltung des Miet- und Woh-

nungsrechts (a),

� die Objektförderung (sozialer Wohnungsbau) (b) und

� die Subjektförderung (Wohngeld) (c).

a) Beeinflussung der Wohnraumversorgung durch das Mietrecht

Die wichtigsten Elemente sind der soziale Kündigungsschutz (§§ 573 f. BGB), die Vorschriften

über die Gestaltung der Miethöhe (§§ 557 ff. BGB; geregelt bis zum 31.08.2001 im Miethöhege-

setz) und der Räumungsschutz (§§ 721, 765 a ZPO).

b) Objektförderung

Objektförderung (= sozialer Wohnungsbau) bedeutet die öffentliche Erstellung und Vergabe von

Wohnraum sowie die öffentliche Förderung privaten Wohnungsbaus durch Vergabe von Zuschüs-

sen, zinsgünstigen Darlehen oder Steuervorteilen. Die Objektförderung sowie die Vergabe von Zu-

schüssen und Darlehen sind im Wohnraumförderungsgesetz (Sartorius I, Nr. 355) nebst Begleitge-

setzgebung geregelt.

65

c) Subjektförderung

Die Subjektförderung (= Wohngeld) bezweckt, einkommensschwachen Bevölkerungsschichten den

Erwerb einer Wohnung zu Marktbedingungen zu ermöglichen, die aus eigener Kraft hierzu nicht

imstande wären.

Das Wohngeld ist ein Zuschuss, keine rückzahlbare Leistung. Anspruchsberechtigt ist jeder, der

eine Wohnung nutzt, unabhängig davon, ob er Mieter oder Eigentümer ist, § 3 WoGG. Ist er Mieter,

wird das Wohngeld als Mietzuschuss, ist er Eigentümer, wird es als Lastenzuschuss gewährt.

Voraussetzung ist die eigene Nutzung der Wohnung. Wird die Wohnung durch mehrere Personen

genutzt, ist der „Haushaltsvorstand“ antragsberechtigt (§ 3 Abs. 3 WoGG). Keinen Anspruch auf

Wohngeld hat, wer aufgrund anderer öffentlich-rechtlicher Regelungen eine Mietbeihilfe erhält

(z.B. der durch BAföG geförderte Student gem. § 13 Abs. 2 BAföG, oder der Wehrdienstleistende

gem. § 7 a USG). Die Höhe des Wohngelds hängt gemäß § 4 WoGG von der Familiengröße (§§ 5

bis 8 WoGG), von der zu berücksichtigenden Miete (§§ 9 bis 12 WoGG) und dem Gesamteinkom-

men (§§ 13 bis 18 WoGG) ab. Je größer die Familie und je höher die Belastung durch die zu zah-

lende Miete, desto höher ist das zu zahlende Wohngeld. Denn Wohngeld soll nur die Beschaffung

„angemessenen Wohnraums“ (§ 7 SGB I) ermöglichen. Die Leistungshöhe hängt vom Einkommen

des Empfängers ab (vgl. zur Einkommensermittlung §§ 13 bis 18 WoGG). Die Höhe des Wohn-

gelds für die einzelne Familie ist in den Anlagen des WoGG spezifiziert. Bei der Einkommenser-

mittlung darf die nichteheliche Lebensgemeinschaft nicht besser gestellt werden als die Ehe. Gemäß

§ 24 Abs. 1 WoGG bestimmt das Landesrecht die zuständigen Stellen, die Wohngeld bewilligen. Es

sind in der Regel die kreisfreien Städte oder Landkreise. Die Leistungen nach dem WoGG werden

zur Hälfte vom Bund getragen (§ 32 WoGG). Gegen ablehnende Entscheidungen ist nach Wider-

spruch die Klage beim VG statthaft.

66

§ 15 Recht der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen

a) Grundlagen

Seit dem 1. Juli 2001 ist das Recht der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen in einem

einzigen Gesetz, dem SGB IX, zusammenhängend normiert. Leitmotive dieses Gesetzes sind

Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft, vgl. § 10 SGB I,

§ 1 SGB IX.

Der 1. Teil des SGB IX enthält (allgemeine) Regelungen für behinderte und von Behinderung be-

drohte Menschen. Im 2. Teil ist das Schwerbehindertenrecht (Besondere Regelungen zur Teilhabe

schwerbehinderter Menschen) normiert.

Das SGB IX enthält eine neue Definition von Behinderung. Nach § 2 Abs. 1 SGB IX sind Men-

schen behindert, „wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit [...]

von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der

Gesellschaft beeinträchtigt ist.“

Es gelten die Grundsätze des Vorrangs der Prävention von Behinderung einschließlich chroni-

scher Krankheit, § 3 SGB IX und des Vorrangs von Leistungen zur Teilhabe vor Rentenleistun-

gen, § 8 SGB IX.

Neu eingeführt wurde ein Verbandsklagerecht. Verbände, die nach ihrer Satzung behinderte Men-

schen auf Bundes- oder Landesebene vertreten, haben gem. § 63 SGB IX ein Klagerecht, wenn be-

hinderte Menschen in ihren Rechten aus dem SGB IX verletzt wurden und diese mit der Klage jener

einverstanden sind.

In § 9 SGB IX ist normiert, dass die Leistungsberechtigten bei der Entscheidung über Teilhabeleis-

tungen Mitspracherechte besitzen (sog. Wunsch- und Wahlrechte).

67

b) Beratung und Organisation der Leistungserbringung

aa) Gemeinsame Servicestellen

Die Rehabilitationsträger haben die Errichtung gemeinsamer örtlicher Servicestellen sicherzustellen.

Diese haben behinderten und von Behinderung bedrohten Menschen bzw. ihren Vertrauensperso-

nen/ Personensorgeberechtigten Beratung und Unterstützung anzubieten. Die einzelnen Leistungen

sind in § 22 SGB IX aufgeführt.

bb) Zuständigkeitsklärung

Um zu vermeiden, dass Unklarheiten über die Zuständigkeit eines Leistungsträgers zu Lasten des

Leistungsberechtigten gehen, besteht ein Verfahren zur Zuständigkeitserklärung mit rigiden Fristen,

Einzelheiten siehe § 14 SGB IX. Unter bestimmten Voraussetzungen kann der Berechtigte sich die

Leistung nach erfolglosem Verstreichen der Fristen des § 14 SGB IX selbst beschaffen und erwirbt

einen Kostenerstattungsanspruch gegen den Träger, § 15 SGB IX.

68

c) Leistungen

Die Leistungen zur Teilhabe sind in 4 Gruppen unterteilt:

aa) Leistungen zur medizinische Rehabilitation (§§ 26 ff. SGB IX),

bb) Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (§§ 33 ff. SGB IX),

cc) Unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen (§§ 44 ff. SGB IX) und

dd) Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (§§ 55 ff. SGB IX).

d) Schwerbehindertenrecht.

Besondere Regelungen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen sind in den §§ 68 ff. SGB IX

(früher: Schwerbehindertengesetz) normiert. Schwerbehindert im Sinne des SGB IX sind Men-

schen, deren Grad der Behinderung (GdB) wenigstens 50 beträgt und die ihren Wohnsitz/ gewöhnli-

chen Aufenthalt oder ihren Arbeitsplatz in Deutschland haben, § 2 Abs. 2 SGB IX.

Die Arbeitgeber haben ab einer bestimmten Betriebsgröße die Pflicht, Schwerbehinderte zu beschäf-

tigen (§§ 71 ff. SGB IX). Kommen sie dieser Pflicht nicht nach, schulden sie eine Ausgleichsabgabe

(§§ 77 SGB IX), aus deren Ertrag Beschäftigungsmöglichkeiten für Schwerbehinderte finanziert

werden. Schwerbehinderte genießen Kündigungsschutz (§§ 85 ff. SGB IX). Sie haben ein Recht auf

eine eigene betriebsverfassungsrechtliche Vertretung (§§ 93 ff. SGB IX) und einen Sonderstatus bei

der Arbeitsvermittlung (§§ 81 ff. SGB IX).

Soweit die besonderen Regelungen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen am Arbeitsleben

nicht freiwillig von den Arbeitgebern erfüllt werden, werden sie vom Integrationsamt und der Bun-

desagentur für Arbeit durchgeführt (§ 101 SGB IX).

Integrationsprojekte (§§ 132 ff. SGB IX) und Werkstätten für Behinderte (§§ 136 ff. SGB IX) sind

zu fördern. Schwerbehinderte haben einen Anspruch auf unentgeltliche Beförderung durch den öf-

fentlichen Personenverkehr (§§ 145 ff. SGB IX).

2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012

arbeitslose Schwerbehinderte 197.000 178.310 165.990 168.096 175.356 180.307 176.040

Arbeitslosenquote in % 17,7 15,8 14,7 14,6 14,8 14,8 14,1 Quelle: Bundesagentur für Arbeit – Arbeitsmarkt 2012

69

§ 16 Sozialhilfe

Mit Geltung ab 01.01.2005 ist die Sozialhilfe im SGB XII geregelt. 2003 beschloss der Gesetzgeber

im Zuge der Reformen der Arbeitsförderung die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhil-

fe. Arbeitsfähige Bedürftige werden künftig nur noch von den Regelungen der Arbeitsförderung

(bedürftigkeitsabhängiges Arbeitslosengeld II geregelt in SGB II) erfasst. Das in SGB XII geregelte

Sozialhilferecht zielt auf nichtarbeitsfähige Bedürftige (Sozialgeld).

§ 9 SGB I bestimmt die Aufgabe der Sozialhilfe: „Wer nicht in der Lage ist, aus eigenen Kräften

seinen Lebensunterhalt zu bestreiten oder in besonderen Lebenslagen sich selbst zu helfen, und

auch von anderer Seite keine ausreichende Hilfe erhält, hat ein Recht auf persönliche und wirt-

schaftliche Hilfe, die seinem besonderen Bedarf entspricht, ihn zur Selbsthilfe befähigt, die Teil-

nahme am Leben in der Gemeinschaft ermöglicht und die Führung eines menschenwürdigen Lebens

sichert“. Diese Bestimmung wird in § 28 SGB I spezifiziert. Hieraus folgt, dass die Sozialhilfe

grundsätzlich zwei Leistungsgattungen kennt: Die Hilfe zum Lebensunterhalt (§ 8 Nr. 1 SGB XII)

und die Hilfe in „besonderen“ Lebenslagen (vgl. § 8 Nrn. 2-7 SGB XII). Sozialhilfe ist ein umfas-

sendes Netz unter dem sozialen Netz. Sie trägt, wenn die anderen Netze nicht oder nicht mehr tra-

gen (subsidiäres Basissystem). Diese Aufgabenbestimmung prägt die Grundsätze des Sozialhilfe-

rechts (a), seine Organisation (b), Leistungen (c) und Finanzierung (d).

a) Grundsätze

Die Sozialhilfe ist im SGB XII geregelt. Das Gesetz stützt sich auf die Kompetenznorm des Art. 74

Nr. 7 GG. Die tragenden Grundsätze der Sozialhilfe sind in den §§ 1 – 7, 9, 16 ff. SGB XII formu-

liert.

- Ziel der Hilfegewährung ist die Ermöglichung eines menschenwürdigen Lebens (§ 1 Abs.

1 S. 1 SGB XII). Dieser Grundsatz bedeutet mehr als die Sicherung des Existenzminimums,

nämlich Teilhabe am kulturellen Leben der Gesellschaft, schließt es aber andererseits aus,

als Maßstab allein auf die herrschenden Lebensgewohnheiten der Bevölkerung zurückzugrei-

fen (vgl. BVerwGE 80, 349).

- Die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft gehört zur Zielsetzung des SGB XII (vgl.

§§ 53 Abs. 3; 54 Abs. 1 SGB XII S. 1 i. V. m. § 55 SGB IX; 67, 71 Abs. S. 2 SGB XII).

- Die Sozialhilfe ist Hilfe zur Selbsthilfe (§ 1 S. 2 SGB XII).

70

- Die Sozialhilfe ist nachrangig (§ 2 SGB XII). Dieser Nachrang äußert sich in drei Hinsich-

ten: gegenüber dem Empfänger selbst, sodann gegenüber leistungspflichtigen Privaten sowie

schließlich gegenüber anderen Sozialleistungsträgern.

- Die Hilfe hat sich nach den Umständen des Einzelfalles zu richten (Individualisierung; § 9

SGB XII). Daraus folgt, dass die Sozialhilfe nicht standardisiert werden kann. Es gilt viel-

mehr das Bedarfsdeckungsprinzip: die Hilfe hat sich den individuellen Möglichkeiten und

Bedürfnissen weitestgehend anzupassen. Die Hilfe ist mit den Wünschen des Empfängers

abzustimmen, soweit sie angemessen sind (§ 9 Abs. 2 SGB XII).

- Es besteht ein Rechtsanspruch auf Sozialhilfe, soweit das Gesetz einzelne Tatbestände als

Pflichtleistungen ausgestaltet (§ 17 SGB XII) (vgl. grundlegend BVerwGE 1, 159 Anspruch

auf Sozialhilfe - Gebot aus der Menschenwürde). Über Form und Maß der Hilfe entscheidet

grundsätzlich der Sozialhilfeträger nach eigenem Ermessen (§ 17 Abs. 2 SGB XII). Es gilt

das Legalitätsprinzip.

- Das Eintreten der Träger der Sozialhilfe ist nicht von einem Antrag abhängig (§ 18 SGB

XII).

- Es gilt das Gebot der Familiengerechtigkeit der Hilfe (§ 16 SGB XI).

b) Organisation

Die Sozialhilfe wird von örtlichen und überörtlichen Trägern erbracht (§ 3 SGB XII). Örtliche

Träger sind die kreisfreien Städte und die Landkreise (§ 3 Abs. 2 S. 1 SGB XII). Wer überörtli-

cher Träger ist, bestimmt das Landesrecht (§ 3 Abs. 3 SGB XII: vgl. § 2 ThürAG SGB XII). Über

die Aufgabenverteilung entscheiden die §§ 97 ff. SGB XII. Danach sind grundsätzlich die örtlichen

Träger zuständig (§ 97 SGB XII), es sei denn, einzelne Materien (vgl. § 97 Abs. 3 SGB XII) wurden

dem überörtlichen Träger übertragen. Die Aufgabe der Sozialhilfe wird oftmals durch die Arbeit

freier Träger ergänzt. § 5 SGB XII regelt das Verhältnis von Sozialhilfeträgern und freien Trägern.

Es gelten die Prinzipien der Zusammenarbeit und der Subsidiarität (§ 5 Abs. 2, 4 SGB XII). Zur

Verbesserung der Zusammenarbeit von Agenturen für Arbeit und Trägern der Sozialhilfe soll

eine Zusammenarbeit dieser Träger stattfinden, § 4 Abs. 1 SGB XII.

c) Leistungen

Sozialhilfeleistungen sind zu erbringen, falls ein Sozialhilfeträger von einer Notlage erfährt (§ 18

SGB XII). Bei Bekanntwerden der Notlage hat der Sozialhilfeträger die Beeinträchtigung als Ge-

samtfall zu erfassen (= alle vom Gesetz vorgesehenen Leistungen zu erbringen). Die Leistungsge-

71

währung geschieht durch Verwaltungsakt; bei Rechtsstreitigkeiten über die Gewährung der Sozial-

hilfe ist der Rechtsweg zu den Sozialgerichten eröffnet, § 51 Abs. 1 Nr. 6a SGG.

Es sind zwei Gattungen von Leistungen zu unterscheiden: Hilfe zum Lebensunterhalt und Hilfe in

„besonderen“ Lebenslagen. Die Hilfe zum Lebensunterhalt sichert die Lebensführung, die Hilfe in

besonderen Lebenslagen hat Sicherungen für besondere Bedarfslagen zu gewährleisten. Bei der Hil-

fe zum Lebensunterhalt ist ein voller Einsatz von Einkommen und Vermögen vorzunehmen, bei der

Hilfe in „besonderen“ Lebenslagen sind Einkommen und Vermögen in abgeschwächter Form her-

anzuziehen. Leistungen sind sowohl Geld- als auch Sachleistungen.

aa) § 19 SGB XII gibt einen Rechtsanspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt für den Bedürfti-

gen. Der Anspruchs ist auf die Deckung des notwendigen Lebensunterhalts gerichtet (§ 27 SGB

XII). Es ist zu unterscheiden, ob die Hilfe laufend oder einmalig sowie innerhalb oder außerhalb

von Einrichtungen gewährt wird (§§ 28, 31, 35 SGB XII). Bei laufender Hilfe zum Lebensunterhalt

außerhalb von Einrichtungen ist zu unterscheiden zwischen Regel-, Mehr- und Zusatzbedarf. Re-

gelbedarf ist der Bedarf zur Deckung des üblichen Lebensbedarfes (§ 28 SGB XII). Der Regelbe-

darf wird durch die Regelsätze bestimmt (§ 28 Abs. 1 S. 1, Abs. 2-5 SGB XII). Sie werden auf der

Grundlage einer vom Bund erlassenen Rechtsverordnung von den Ländern festgesetzt. Bei der Fest-

setzung sind die tatsächlichen Lebensgewohnheiten und örtliche Unterschiede zu berücksichtigen.

Für die Festsetzung des Regelsatzes gilt das Lohnabstandsprinzip (= Sozialhilfe darf nicht höher

sein als der geringste Lohn). Mehrbedarf resultiert aus besonderen Lebensumständen (§ 30 SGB

XII) - z.B. Alter, Erwerbsunfähigkeit, Schwangerschaft, Erziehung. Zusatzbedarf stellt erhöhte

Aufwendungen für einzelne Formen der Lebensbedarfsdeckung dar (§ 28 Abs. 1 S. 2 SGB XII;

Musterbeispiel: höhere Wohnungsmiete). Einmalige Leistungen (Beihilfen) werden vor allem zur

Befriedigung des Bedarfs an Hausrat oder Kleidung gewährt.

bb) Die Hilfe in „besonderen“ Lebenslagen soll einen besonderen, außerhalb des allgemeinen

Lebensunterhalts liegenden Bedarf erfassen (§§ 41 ff. SGB XII). Daneben sieht die Generalklausel

des § 73 SGB XII vor, dass auch in atypischen Fällen Hilfe in besonderen Lebenslagen gewährt

werden kann. Die wichtigsten Fallgruppen sind die Hilfen zur Gesundheit (§§ 47 ff. SGB XII), die

Eingliederungshilfe für behinderte Menschen (§§ 53 ff. SGB XII) und die Hilfe zur Pflege (§§ 61 ff.

SGB XII). Weitere Tatbestände sind die Blindenhilfe (§ 72 SGB XII), Hilfe zur Führung des Haus-

halts (§ 70 SGB XII), Hilfen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten (§§ 67 f. SGB

XII) sowie Hilfen für alte Menschen (§ 71 SGB XII).

72

d) Finanzierung

aa) Sozialhilfe ist grundsätzlich kostenfrei. Kostenersatz wird jedoch in Ausnahmefällen gefor-

dert (vgl. §§ 102 ff. SGB XII).

bb) Der überwiegende Teil der Sozialhilfe wird von den örtlichen Trägern finanziert. Sie bezie-

hen ihre Gesamteinnahmen aus dem kommunalen Finanzausgleich, dem Gemeindeanteil an der

Einkommensteuer, den Realsteuern (Grund- und Gewerbesteuer), Gebühren und Beiträgen. Ein ge-

ringer Anteil, aus dem im Wesentlichen die Aufwendungen für die Ausgaben der überörtlichen Trä-

ger finanziert werden, wird von den Ländern getragen. Der Bund trägt die Sozialhilfe für Deutsche

im Ausland und für die Sozialversicherungsbeiträge der in Behindertenwerkstätten Untergebrachten.

Quelle: www.destatis.de

cc) Der Hilfeempfänger ist grundsätzlich gehalten, eigenes Einkommen, Vermögen und Ar-

beitskraft einzusetzen. Maßgeblich für die Bedürftigkeit sind Einkommen und Vermögen des An-

tragstellers und dessen Familie bzw. gleichgestellter Personen, wie der Partner einer eheähnlichen

Gemeinschaft (Bedarfsgemeinschaft). § 20 SGB XII erweitert die Anrechnungspflicht von Ein-

kommen und Vermögen bei Partnern auch aus nichtehelichen Lebensgemeinschaften. Die Vor-

schrift verbürgt die Gleichbehandlung mit Ehegatten. Zur Einkommensberücksichtigung vgl. §§ 82

ff. SGB XII, zur Berücksichtigung von Vermögen vgl. §§ 90 f. SGB XII. Einkommen ist unbe-

grenzt einzusetzen mit Ausnahme eines geringen Restes. Vermögen ist ebenfalls grundsätzlich ein-

73

zusetzen. Ausnahmen gelten für das Schonvermögen. Bei der Bestimmung der Bedürftigkeit sind

auch Unterhaltsansprüche zu berücksichtigen. Hat der Sozialhilfeträger eine Leistung erbracht und

damit einen Bedarf gedeckt, für den ein anderer Zahlungspflichtiger aufzukommen hätte, folgt aus

dem Prinzip der Subsidiarität der Sozialhilfe, dass der vorleistende Sozialhilfeträger bei dem Leis-

tungspflichtigen Rückgriff nehmen kann (vgl. differenzierend nach der Person des Leistungspflich-

tigen §§ 93 ff. SGB XII bzw. § 104 SGB X, §§ 115 f. SGB X).

Quelle: www.destatis.de

74

§ 17 Jugendhilfe

a) Überblick

Jugendhilfe ist der Inbegriff aller Maßnahmen, die ergriffen werden, um die Entwicklung von Ju-

gendlichen zu fördern. Diese sind seit dem 1.1.1991 im KJHG (= SGB VIII) geregelt. Dieses Ge-

setz hat das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (1922) sowie das JWG (1961) ersetzt. Durch Jugendhilfe

soll die Erziehung eines Kindes im Elternhaus gefördert werden, oder es sollen Gemeinde- oder

private Wohlfahrtseinrichtungen bei Gefährdung des Kindes im Elternhaus für eine angemessene

Erziehung in einer anderen Familie oder in einem Heim sorgen. Wesentliche Regelungsbereiche

sind die Jugendarbeit, Kinder- und Jugendschutz, Beratung in Trennungs- und Scheidungsangele-

genheiten, Kindertageseinrichtungen und Hilfen zur Erziehung. Stark sozialpädagogisch orientierte

Hilfsangebote stehen neben ordnungsrechtlichen Aufgaben.

Die verfassungsrechtliche Grundlage findet Jugendhilfe im staatlichen Wächteramt über Familien

(Art. 6 Abs. 2 GG), das Jugendhilfe erfüllt und ausfüllt. Elterliches Erziehungsrecht und staatli-

ches Wächteramt sind einander nicht kontradiktorisch entgegengesetzt, sondern konvergieren in

der Zielsetzung, sind füreinander je wechselseitig Voraussetzung: Ohne Jugendhilfe bestünde für

manches Kind die Gefahr der Verwahrlosung, ohne dass ihm geholfen würde; ohne Elternrecht wäre

die staatliche Gemeinschaft selbst und unmittelbar zur Pflege und Erziehung der Kinder aufgerufen

- dies widerspräche dem staatlichen Wächteramt. Statt Eingriff und Sanktion für Verstöße gegen die

elterliche Erziehungspflicht werden die Maßnahmen der Jugendhilfe als Angebote zur Förderung

des Kindes oder Jugendlichen gesehen. Das KJHG beschreibt Handlungsmöglichkeiten für öffentli-

che und freie Träger der Jugendhilfe. Statt Geldleistungen regelt das KJHG im Wesentlichen sozial-

rechtliche Dienstleistungen.

b) Adressaten

Adressat der Leistungen der Jugendhilfe sind Kinder, Jugendliche und junge Menschen (Personen

bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres – vgl. § 7 SGB VIII). Dem deutschen Jugendhilferecht

unterworfen sind alle Jugendliche mit gewöhnlichem Aufenthalt in Deutschland, unabhängig von

ihrer Nationalität (vgl. § 6 SGB VIII).

75

c) Leistungen

Die Jugendhilfe soll Beiträge zur Förderung leisten, sie normiert nicht wesentlich Eingriffsbefugnis-

se des Staates. Das Gesetz unterscheidet „Leistungen“ von „anderen Aufgaben der Jugendhilfe“ (§ 2

SGB VIII).

Leistungen (§ 2 Abs. 2 SGB VIII) der Jugendhilfe sind Angebote der Jugendarbeit (vgl. §§ 11 ff.

SGB VIII), zur Förderung der Erziehung in der Familie (vgl. §§ 16 ff. SGB VIII), zur Förderung von

Kindern in Tageseinrichtungen und Tagespflege sowie Hilfen zur Erziehung und ergänzende Leis-

tungen. Die Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen betrifft die Vorschulerziehung in Kin-

dergarten und Kinderhort (§§ 22 ff. SGB VIII). Für jedes Kind wird der Rechtsanspruch auf einen

Kindergartenplatz begründet (§ 24 SGB VIII). Die Länder und Gemeinden sind gehalten, diesen

Rechtsgrundsatz zu verwirklichen. Die Vorschriften über die Hilfe zur Erziehung regeln insbeson-

dere die Voraussetzungen der Erziehung von Kindern in Heimen oder in Pflegefamilien (§§ 27 ff.

SGB VIII). Für diese Kinder bestimmt § 37 SGB VIII das Gebot der Zusammenarbeit zwischen

Heim- und Pflegeerziehern einerseits und den Eltern andererseits. § 38 SBG VIII modifiziert die

Vertretungsmacht und das Recht der Eltern auf Personen- und Vermögenssorge zugunsten derer, die

sich dem Kind pflegend annehmen.

„Andere Aufgaben der Jugendhilfe“ (§ 2 Abs. 3 SGB VIII) sind in den §§ 42 - 60 SGB VIII gere-

gelt: Fragen der Inobhutnahme von Jugendlichen, des Schutzes von Kindern und Jugendlichen in

Familienpflege und Einrichtungen (Pflegeerlaubnis, Heimaufsicht des Jugendamtes), die Stellung

des Jugendamtes im vormundschafts-, familien- und jugendgerichtlichen Verfahren, Aufgaben des

Jugendamtes im Vormundschaftswesen und seine Stellung als Amtspfleger und Amtsvormund.

d) Träger

Träger der Jugendhilfe sind öffentliche und freie Träger. Innerhalb der öffentlichen Jugendhilfe ist

zwischen den örtlichen und den überörtlichen Trägern zu unterscheiden (§ 69 SGB VIII). Örtliche

Träger sind Kreise, kreisfreie Städte und kreisangehörige Gemeinden, soweit das Landesrecht dies

zulässt. Überörtlicher Träger ist das Land. Innerhalb der örtlichen Jugendhilfeträger besteht ein Ju-

gendhilfeausschuss als kommunales Vertretungsorgan (§ 70 SGB VIII), in dem jedoch Repräsentan-

ten der freien Träger der Jugendhilfe vertreten sind (§ 71 SGB VIII). Öffentliche und freie Träger

teilen sich in die Gesamtverantwortung für die Jugendhilfe. Entsprechend dem Prinzip des Nach-

76

ranges öffentlicher gegenüber privater Hilfe haben die freien Träger gegenüber den öffentlichen

Trägern Vorrang (vgl. § 4 SGB VIII).

e) Finanzierung

Die mitunter beträchtlichen Kosten der Jugendhilfe sind grundsätzlich von den Trägern aufzubrin-

gen. Unterhaltspflichtige Eltern können zu einer Beteiligung an den Kosten entsprechend ihrer Leis-

tungsfähigkeit herangezogen werden (§§ 91 ff. SGB VIII). Kommt ein Unterhaltspflichtiger der

Leistung nicht nach, kann der Träger der Jugendhilfe Vorleistungen an Kinder oder Jugendliche

erbringen und im Wege der Überleitung den Unterhaltsanspruch des Kindes gegen den Unterhalts-

pflichtigen geltend machen (§§ 95 f. SGB VIII).

Quelle: www.destatis.de