Altrömische Offertoriums-Gesänge in medialen Tonarten. Zum Verhältnis des byzantinischen zum...

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Neil Moran Altrömische Offertoriums-Gesänge in medialen Tonarten. Zum Verhältnis des byzantinischen zum altrömischen und gregorianischen Choral Abstract: The present study should be understood as a contribution to the disputed relationship of Byzantine to Old Roman and Gregorian chant. It is based on a study of offertory chants in the relatively little-known medial modes. The author dis- cusses four Old Roman offertories in the second medial mode in the recently published book Inside the Offertory by Rebecca Maloy: In die sollemnitatis, Erit vobis, Confirma hoc and Oravi deum meum. Comparisons are made with chants based on Crucem tuam of the Old Roman repertory. In a previous article in Plainsong and Medieval Music the author demonstrated that the medial chara- cteristics disappeared in the same texts in the Gregorian repertoire. In her com- parisons of Old Roman and Gregorian sources Rebecca Maloy comes to a com- pletely different conclusion. She argues that the so-called Old Romanmelodies are late medieval creations and she characterizes them with the negative term formulaicism. In this article her conclusions are called into question. Adresse: Dr. Neil Moran, 257 Sherbourne St., nr. 528, Toronto, Ont. M5 A 3Z9, Canada, [email protected] Die vorliegende Abhandlung will als Beitrag zur umstrittenen Frage nach dem Verhältnis des byzantinischen zum altrömischen und gregorianischen Choral verstanden werden. Sie basiert auf eingehender Untersuchung von Offertoriums- Gesängen in den bislang relativ wenig erforschten medialen Tonarten.¹ Ich be- ginne mit Erörterungen über das Troparion Τον σταυρον σου / Crucem tuam. 1 Das byzantinische Tonsystem besteht aus acht Modi und wird daher als Oktoechos (von griech. Okto = acht und echos = Klang, Modus, Ton) bezeichnet. Das Tonsystem ist diatonisch und bezieht sich auf die finales (Endtöne) D, E, F und G, die dafür je zwei modi (Tonarten): einen melodisch höheren (authentischen) und tieferen (plagalen) haben. Das System des Dodekaechos (von griech. Dodeka = zwölf) fügt vier mediale Tonarten auf D, E, F und G hinzu. An dieser Stelle möchte ich mich bei Frau Dr. Gisa Aurbek für ihre Hilfe bei der Verfassung dieses Artikels bedanken. DOI 10.1515/bz-2013-0006 BZ 2013; 106(1): 6582 Brought to you by | Brown University Rockefeller Library Authenticated | 128.148.252.35 Download Date | 9/11/13 8:11 AM

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Neil Moran

Altrömische Offertoriums-Gesänge inmedialen Tonarten. Zum Verhältnis desbyzantinischen zum altrömischen undgregorianischen ChoralAbstract:The present study should be understood as a contribution to the disputedrelationship of Byzantine to Old Roman and Gregorian chant. It is based on a studyof offertory chants in the relatively little-known medial modes. The author dis-cusses four Old Roman offertories in the second medial mode in the recentlypublished book Inside the Offertory by Rebecca Maloy: In die sollemnitatis, Eritvobis, Confirma hoc and Oravi deum meum. Comparisons are made with chantsbased on Crucem tuam of the Old Roman repertory. In a previous article inPlainsong and Medieval Music the author demonstrated that the medial chara-cteristics disappeared in the same texts in the Gregorian repertoire. In her com-parisons of Old Roman and Gregorian sources Rebecca Maloy comes to a com-pletely different conclusion. She argues that the so-called „Old Roman“ melodiesare late medieval creations and she characterizes them with the negative term‘formulaicism’. In this article her conclusions are called into question.

Adresse: Dr. Neil Moran, 257 Sherbourne St., nr. 528, Toronto, Ont. M5 A 3Z9, Canada,[email protected]

Die vorliegende Abhandlung will als Beitrag zur umstrittenen Frage nach demVerhältnis des byzantinischen zum altrömischen und gregorianischen Choralverstanden werden. Sie basiert auf eingehender Untersuchung von Offertoriums-Gesängen in den bislang relativ wenig erforschten medialen Tonarten.¹ Ich be-ginne mit Erörterungen über das Troparion Τον σταυρον σου / Crucem tuam.

1 Das byzantinische Tonsystem besteht aus acht Modi und wird daher als Oktoechos (vongriech. Okto = acht und echos = Klang, Modus, Ton) bezeichnet. Das Tonsystem ist diatonischund bezieht sich auf die finales (Endtöne) D, E, F und G, die dafür je zwei modi (Tonarten): einenmelodisch höheren (authentischen) und tieferen (plagalen) haben. Das System des Dodekaechos(von griech. Dodeka = zwölf) fügt vier mediale Tonarten auf D, E, F und G hinzu. An dieser Stellemöchte ich mich bei Frau Dr. Gisa Aurbek für ihre Hilfe bei der Verfassung dieses Artikelsbedanken.

DOI 10.1515/bz-2013-0006 BZ 2013; 106(1): 65–82

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Die liturgische Feier der Kreuzauffindung findet ihre Ursprünge in der Le-gende von der Entdeckung des wahren Kreuzes Jesu durch die Heilige Helena imJahr 320 sowie der Weihe der Doppelkirche am Ort des Grabes Christi und demnahebei liegenden Golgota-Hügel in Jerusalem am 13. und 14. September 335.²

Obwohl das Kreuz wohl kurz nach 320 gefunden worden war, ist Jan Drijvers derMeinung, dass Helena überhaupt keine Rolle bei der Entdeckung gespielt hat.³

Jedoch wird die Erzählung von den damaligen Zeitgenossen am Ende des viertenJahrhunderts akzeptiert. Die Pilgerin Egeria beschreibt die Liturgie der Kreuz-verehrung in Jerusalem circa 381 bis 384 in ihrem Reisebericht, dem ItinerariumEgeriae.⁴

Ein Teil des Kreuzes wurde in der Palastkapelle Helenas, Santa Croce in Ge-rusalemme, in Rom aufbewahrt. Peter Jeffery schreibt: „No other center exercisedsuch far-reaching influence on such a broad range of medieval chant traditions,because no other city was so persistently visited by pilgrims from all over the Me-diterranean world“.⁵ Das Troparium Τον σταυρον σου war besonders eng mit derVerehrung des Heiligen Kreuzes am Freitag während der Karwoche verbunden.Rosemary Dubowchik äußerte sich dazu so: „It is probable that the disseminationof Τον σταυρον σου, like the relics of the cross sought by Antonio and other Christiansof his time, occurred under the influence of the Jerusalem liturgy“.⁶

Von Jerusalem aus fanden die Kreuzrituale bald Eingang in andere orienta-lische und westliche Kirchen. Die Kreuzerhöhung ist als Fest in Rom unter PapstSergius I. (687–701) bezeugt, obwohl sie wohl schon lange Teil der Liturgie vonSanta Croce in Gerusalemme in Rom war. Im beneventanischen Ritus wurde dasTroparium in griechischer und lateinischer Sprache gesungen.⁷ Τον σταυρον σου /

2 C. Meinberg, Cross. New Catholic Encyclopedia 2. Washington, DC ²2003, 382f. und H.W. VanOs / G. Jaszai, Kreuzlegende. Lexikon der christlichen Ikonographie 2. Rom 1970, 642 f. FürDarstellungen der Kreuzerhöhung vgl. N. Moran, Singers in Late Byzantine and Slavonic Pa-inting. Leiden 1986, 58–65.3 J.W. Drijvers, Helena Augusta: the mother of Constantine the Great and the legend of herfinding of the true cross. Leiden 1992, 81 und 140.4 J. Wilkinson, Egeria’s travels. London 1971 und spätere Ausgaben.5 P. Jeffery, The earliest Oktoechoi: the role of Jerusalem and Palestine in the beginnings ofmodal ordering, in: The study of Medieval chant: paths and bridges, East and West. In Honor ofKenneth Levy. Cambridge 2001, 147–209, hier 208.6 R.T. Dubowchik, A Jerusalem chant for the Holy Cross in the Byzantine, Latin and EasternRites. Plainsong and Medieval Music 5 (1996) 113–129, hier 113. Dubowchik erwähnt Antonius,einen Jerusalempilger, in ihrem Beitrag.7 T. F. Kelly, The Beneventan chant. New York 1989, 18.

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Crucem tuam liefert weitere Beweise für Anton Baumstarks „Gesetz der Erhaltungdes Alten in liturgisch hochwertiger Zeit“.⁸

In einem 2010 erschienenen Artikel untersuchte ich eine Reihe von Gesängenauf der Grundlage der palästinensischen Τον σταυρον σου in griechischen, sla-vischen und lateinischen Quellen.⁹Ausgehend von der Forschung von C. Floros¹⁰über die medialen Modi bezog ich meine Feststellungen aus den Forschungser-gebnissen von Edward Nowacki, der eine Reihe von Gesängen im altrömischenRepertoire identifizieren konnte, die auf Crucem tuam, der lateinischen Parallelezu Τον σταυρον σου, aufgebaut waren.¹¹ Die Intonationsformel für den mesosdeuteros ist NENANO. Seine Finalis ist E, und a ist der Hauptton. Alle Beispiele indieser Untersuchung beginnen mit einer typischen D–G-Formel. In seiner Dis-sertation definiert Nowacki diese Formel als ‘Type E. 4’. Sie beginnt mit einemSprung von D bis G, gefolgt von einem Aufstieg in vielen Fällen zu h, dann Wie-derholungen auf a, und schließt mit einem Abstieg nach E. Beispiele für die Be-handlung von Τον σταυρον σου / Crucem tuam in byzantinischen, römischen undSt. Galler Handschriften finden sich in Beispiel 1.¹²

Die altrömischen und St. Galler Quellen behalten den syllabischen Stil desgenos sticherarikon der ursprünglichen palästinensischen Melodie.¹³ Die byzan-tinische Quelle verziert die ursprüngliche Melodie im melismatischen Stil desasmatikon mit einem Sprung in den oberen Tetrachord G–c nach der Eröffnung.Die Einführungeinesmehr dekorativen Stils und der G–c-Sprung zeigt sich auch in

8 A. Baumstark, Das Gesetz der Erhaltung des Alten in liturgisch hochwertiger Zeit. Jahrbuchfür Liturgiewississenschaft 7 (1927) 1–23.9 N. Moran, A second medial mode Palestinian chant in Old Roman, Beneventan and Frankishsources. Plainsong and Medieval Music 19 (2010) 1– 19. Vgl. auch N. Moran, The chant „Crucemtuam“ in the Byzantine, Slavonic and Latin recension. Studies in Music from the University ofWestern Ontario 5 (1980) 35–48.10 C. Floros, Universale Neumenkunde. Kassel 1970, II 248. Für eine Diskussion der medialenTonarten in altrussischen Quellen vgl. C. Floros, Die Entzifferung der Kondakarien-Notation.Musik des Ostens 3 (1965) 7–71; 4 (1967) 12–44.11 E. Nowacki, Studies of the Office Antiphons of the Old Roman Manuscripts (= Ph.D. diss.,Brandeis University 1980) 255–257 und 578–579.12 Quellen: Athos, Mone Megistes Lavras, Γ. 3, fol. 58 (14. Jh.), St. Gallen, Codex 339 (10. Jh.),102–103 und Vaticanus, Biblioteca Apostolica, lat. 5319 (11. Jh.), fol. 80.13 B. De Salvo verwendete den Begriff genos sticherarikon um das Repertoire der Hagiopolitesin seinem Artikel „L’essenza della musica nella liturgie orientali“ zu beschrieben: Bolletino dellaBadia greca di Grottaferrata 15 (1961) 173–191. Die asmatikon war das Buch für den professio-nellen Chor. Für den Vergleich des ambrosianischen Coenae tuae mirabili im Stil des genossticherarikon mit griechischen und russischen Quellen im Stil des asmatikon vgl. N. Moran,Wechselbeziehungen zwischen dem lateinischen, byzantinischen und slavischen Kirchengesangim frühen und hohen Mittelalter. Ostkirchliche Studien 56 (2007) 155– 169.

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einer Reihe altrömischer Introitus-Antiphonen (Omnis terra, Sancti tui, Protexistime, Ecce oculi, Iubilate deo, Clamaverunt iusti, Dum clamarem und Iudica medeus).¹⁴ Diese Gesänge beginnen mit der D–G-Formel, der sich dann aber derBereich des oberen Tetrachords G–c anschließt. Dies wird im zweiten Beispielveranschaulicht.

Die altrömischen Gesänge auf der Grundlage Τον σταυρον σου in der zweitenmedialen Tonart zeichnen sich durch ein geruhsames Verweilen auf der palästi-

Beispiel 1.

14 Zu diesen kann man die Gesänge Vocem iucunditatis und Sacerdotes tui in einer Studie deraltrömischen Introitus-Gesängen von T. Connolly hinzufügen: Introits and archetypes: somearchaisms of the old Roman chant. Journal of the American Musicological Society 25 (1972) 157–174, hier 163, nr. 9.

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nensischen Urmelodie aus, wodurch die Sänger die Melodie liebevoll als eineheilige Reliquie aus der Heiligen Stadt Jerusalem verehrten. In einem Artikel habeich gezeigt, dass diese medialen Eigenschaften in den Parallelentexten des gre-gorianischen Repertoires verschwanden:¹⁵

The medial flavour was diluted or even disappeared, however, when the chant was intro-duced into the late Beneventan and Frankish rites.To judge by the various transformations ofthe opening formula of the group based on Omnis terra in the codex Ben. 34, it is to bequestionedwhether the singers of these melodies were fully aware that they were in a medialmode… the tonal figures or formulas that gave rise to the medial colouring were consciouslyor unconsciously transferred into the idiom of the traditional second modes.

Im Jahre 2010 veröffentlicht Rebecca Maloy ihre Studie Inside the offertory: as-pects of chronology and transmission.¹⁶Die Untersuchungder Offertoriumsgesängein dieser voluminösen Arbeit ergab, dass vier von ihnen dem zweiten medialenModus zugewiesen werden könnten. Im Beispiel 3 werden die ersten Sätze von Indie sollemnitatis (52), Erit vobis (53), Confirma hoc (60) und Oravi deum meum (63)

Beispiel 2.

15 Moran, A second medial mode (wie oben Fußnote 9) 16.16 R. Maloy, Inside the offertory: aspects of chronology and transmission. Oxford 2010. DieAusgabe ist on-line zugänglich unter http://www.oup.com/us/companion.websites/9780195315172/.

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verglichen. Sie alle dienen als Beispiel für Nowackis ‘Type E. 4’, d.h. für eineEröffnung auf D, selbst wenn eine anhaltende Umkreisung der Töne E oder Dvorausgeht.¹⁷

Dies ist von einemÜbergang zum oberen Tetrachord G–c gefolgt. In Beispiel 4wird diese Formel mit dem gleichen Satz in dem altrömischen Introitus Clama-verunt verglichen.

Darüber hinaus verzieren die Repetenda der ersten drei altrömischen Offer-toriumsgesänge das ursprüngliche D–G-Motiv (siehe Beispiel 5).¹⁸

17 Der Begriff „reiterative style“ wurde zur Charakterisierung der altrömischen Neigung ver-wendet, das Melos um einem einzigen Ton schweben zu lassen. Cf. J. Dyer, Tropis sempervariantibus: compositional strategies in the offertories of Old Roman chant. Early Music History17 (1998) 1–60, hier 46.18 Das ‘in pro-ie-ni-es’ in der Ausgabe von Maloy müsste eigentlich ‘in pro-ge-ni-es’ lauten.

Beispiel 3.

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In die sollemnitatis, Oravi deum meum und Erit vobis enthalten nichtpsalmi-sche Texte aus Exodus 13, Exodus 12 und Daniel 8 in der Fassung der Vetus-Latina-Bibel, d.h. aus Übersetzungen der griechischen Septuaginta, die älter sind als dievom Hl. Hieronymus übersetzte Vulgata (382–405 AD).¹⁹ Confirma hoc ist vonPsalm 67 abgeleitet. Die Abhängigkeit von der Vetus Latina bezeugt das ehr-würdige Alter der Texte.²⁰

Die drei Gesänge In die sollemnitatis, Confirma hoc und Erit vobis sind denOsterfeiern zugeordnet, nämlich Feria V post Pascha, Feria VI post Pascha undPentecostes. Wie die in meinem Artikel „A second medial mode“²¹ untersuchten

Beispiel 4.

19 Maloy, Inside the offertory (wie oben Fußnote 16) 74.20 Cf. P. Pietschmann, Die nicht aus dem Psalter entnommenen Meßgesangstücke auf ihreTextgestalt untersucht. Jahrbuch für Liturgiewissenschaft 12 (1932) 114– 130.21 Zitiert oben Fußnote 9.

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Antiphonen und Introitus-Gesänge sind sie engmit demGesang Τον σταυρον σου /Crucem tuam verbunden.

In ihrem Vergleich der altrömischen und gregorianischen Quellen zieht Re-becca Maloy jedoch eine ganz andere Schlussfolgerung als ich. Sie argumentiert,dass die sogenannten „römischen“ Melodien spätmittelalterliche Schöpfungensind, und kennzeichnet sie mit dem negativen Begriff formulaicism. Da die frü-hesten vollständigen Handschriften mit „römischen“ Melodien aus dem 11. Jh.stammen, glaubt sie, dass als Ergebnis von Jahrhunderten mündlicher Übertra-gung die meisten Melodien der ursprünglichen Offertorien des siebten und achtenJahrhunderts weitgehend vergessen oder entstellt und dann von einer „progres-siven homogenization“ abgelöst worden seien. Das Ergebnis war ein „perfunctory

Beispiel 5.

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formulaicism“.²² Sie schreibt: „The Roman repertory was created orally andtransmittedwithout notation for at least a century – perhapsmuch longer – beforeit reached the Franks“.²³ Im Gegensatz zu den gregorianischen Melodien, die diePrototypen des 8. Jh.s beibehalten hatten, entwickelten die „römischen“ Gesängeim Laufe der Zeit schrittweise schwach artikulierte Melodien, die in Handschriftenaus der 11. und 12. Jh. überliefert sind. Sie ist deshalb nicht mit der Meinung vonJoseph Dyer einverstanden, der die archaischen Elemente im altrömischen Re-pertoire so kommentiert: „The conclusion seems clear, then, that the Old Romanoffertory refrain, set to an Old Latin text version, represents a first stage, not a laterredaction“.²⁴ Obwohl Maloy sich oftmals auf nichtrömische Quellen für das Of-fertorium-Melodien bezieht, wird das musikalische Erbe von Jerusalem nichtberücksichtigt.²⁵

Die vier altrömischen Offertorium-Gesänge werden nun in Hinblick auf dieMerkmale der zweiten medialen Tonart einzeln geprüft.

In die sollemnitatis stellt ein besonderes Problem für die Analyse dar,weil mehr als50 Versionen bekannt sind.²⁶ Nach Maloy sind einige der Quellen durch einemodale Zweideutigkeit mit Merkmalen des Deuteros gekennzeichnet. Sowohl diegregorianische Melodie In die sollemnitatis in Paris lat. 776 als auch die altrömi-sche Fassung behalten die D–G‐ und G–c-Tetrachorde. Maloy ordnet irrtümlichdie Fassung in Paris lat. 776 mit dem Schluss auf D dem ersten Modus zu.Wie inBeispiel 6 dargestellt wird, ist die Quelle für die Melodie in Paris lat. 776 eindeutigin der altrömischen Melodie im zweiten medialen Tonart zu suchen, vor allem imRepetendum (inducam vos), in dessenMelos der D–G-Tetrachord in das Gebiet desG–c-Tetrachords aufsteigt und auf E schließt.

Da Maloys Transkriptionen der gregorianischen Melodien nicht vom einenkritischen Apparat begleitet sind, ist es schwierig, die Melodie in Paris lat. 776 mit

22 Maloy, Inside the offertory (wie oben Fußnote 16) 143 und 204.23 ebd. 200.24 Dyer, Tropis semper variantibus (wie oben Fußnote 17), 29.25 Maloy gibt keinen einzigen Hinweis auf die lateinischen Neumen und Formeln in derUniversalen Neumenkunde von C. Floros, jetzt auch in Englisch verfügbar als: Origins ofWestern Notation, Frankfurt a. M. 2011. Wenn Maloy die Figuren und Formeln in dieser Arbeitberücksichtigt hätte, wäre sie möglicherweise nicht zu dem Schluss gekommen, dass das gre-gorianische Repertoire im Gegensatz zum „römischen“ wenig oder keine Verwendung von For-meln macht.26 Maloy, Inside the offertory (wie oben Fußnote 16) 331–332. Für eine Bibliographie zu In diesollemnitatis vgl. T. Karp, The offertory In die sollemnitatis, in J. Szendrei / D. Hiley (Hrsg.),Laborare fratres in unum. Festschrift Lâszlô Dobszay zum 60. Geburtstag. Hildesheim 1995, 151–164.

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anderen Versionen zu vergleichen.²⁷ Im Allgemeinen geben ihre Übertragungenlediglich die Musik von einem einzigen diastematischen Manuskript wieder.Abgesehen von einigen Beispielen aus adiastematischen beneventanischen undspanischen Quellen,wurden neumatische Versionen nicht berücksichtigt. Eswäreauch nützlich gewesen, wenn Maloy alle Handschriften für ein bestimmtes Of-fertorium in der Edition aufgeführt hätte. Nach ihren Transkriptionen und Be-merkungen zeichnen sich die meisten der gregorianischen Versionen von In diesollemnitatis durch eine Verschleierung oder Elimination der Merkmale derzweiten medialen Tonart aus.

Erit vobis zeichnet sich nach Maloy auch durch „a great variety of modal cha-racteristics“ auf Grund des „lack of clarity in the aural tradition“ aus.²⁸Obwohl diegregorianische Fassung in Paris lat. 780 die charakterlichen Züge der D–G‐ undG–c-Tetrachorde enthält, ordnet Maloy den Gesang jedoch dem G-modus zu.Wieder ist die Quelle für die Melodie in Paris lat. 780 eindeutig in der altrömischenmedialen Melodie des zweiten Modus zu finden.

Beispiel 6.

27 Die Varianten der altrömischen Versionen sind vermutlich der Dissertation von J. Dyerentnommen: The offertories of old-Roman chant: a musico-liturgical investigation. Ph.D. diss.,Boston University 1971.28 Maloy, Inside the offertory (wie oben Fußnote 16) 333.

Beispiel 7.

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Es ist wichtig zu beachten, dass die altrömische Version von Erit vobis für denFreitag nach Ostern nicht in die Region des oberen Tetrachords aufsteigt. Sieähnelt dadurch der ursprünglichen palästinensischen Melodie für den Karfreitag,quasi in Anlehnung an das diem festum celebrabitis solemnem. In ähnlicher Weisebricht die altrömische Version von In die sollemnitatis für Donnerstag der Oster-woche nur einmal – und dann nur kurz – in den Bereich des oberen Tetrachordsaus. Die Ehrwürdigkeit des Osterfestes spiegelt sich in dem Melos wider.

Bei Confirma hoc für Pfingsten und Oravi deum für Domenica XVI machen imGegensatz dazu die altrömischen Versionen optimalen Gebrauch von der Färbungdes oberen Tetrachords. In ähnlicher Weise werden die beiden medialen Tetra-chorde in den „gregorianischen“ Versionen des Paris lat. 1121 und des MontpellierH 159 verwendet. In ihrer Diskussion der gregorianischen Versionen von Oravideum spricht Maloy von „nondiatonic pitches … employed in the pretheoreticaltradition“. Maloy kommentiert das „Oravi begins as a deuteros melody and in themajority of sources, closes on E“ und fügt dann hinzu: „In the pretheoreticaltradition, however, itmost likely closed onD,with a deuteros E flat“ (sic).²⁹Um ihreTheorie zu belegen, lehnt sie die Lesungen in den Handschriften ab und schlägteinen „hypothetical performance level“ einen Ton nach unten vor. Allerdingszeichnen sich sowohl die Verse 3 von Confirma hoc und 2 von Oravi deum durcheinen ähnlichen Abstieg von c zu D aus.Warumwurde dann die Einführung eines„hypothetical performance level“ nur im zweiten Stück notwendig? In der Taterscheint die gleiche Tonfolge als c–D–G in den Zeilen 6 und als c–D–E in denZeilen 7,9 und 10 der altrömischen Fassung von Confirma hoc. Jeder Abstieg hat einanderes Profil: man sollte also von extremer Empfindlichkeit statt von banalenKlischees sprechen. Die meisten Schwierigkeiten im Zusammenhang mit derEinführung von allerhand Versetzungszeichen würden verschwinden, wenn Ma-loy den altrömischen Versionen Priorität gegeben hätte.

Die Schlusskadenz in der altrömischen Version von Confirma hoc (Beispiel 5)ist fast identisch mit dem gleichen Satz in der gregorianischen Melodie in Bene-vent 39 (Beispiel 8). Das Repetendum zu Erit vobis in Beispiel 5 stimmt mit dergleichenWendung im Codex Paris lat. 776 des 11. Jahrhunderts (vgl. Maloy S. 335)überein, ein Manuskript, das eine altrömische Version von Crucem tuam enthält(vgl. unten).Wo aber sind in diesen Beispielen vom altrömischen Repertoire das

29 Maloy, Inside the offertory (wie oben Fußnote 16) 357–358. Maloy befasst sich mit Oravideum in ihrem Artikel: Scolica enchiriadis and the ‘non-diatonic’ plainsong tradition. EarlyMusic History 28 (2009) 61–96.

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„perfunctory formulaicism“, „progressive homogenization“ und die Stereotypi-sierung „developed during the prolonged period of oral transmission“?

Maloy zollt den römischen Sängern ihre Bewunderung für die Geschick-lichkeit, mit der sie die musikalische Formeln lateinischer Syntax und Wortak-zente anpassten. Dieses Merkmal wird aber nicht in den obigen Beispielen ver-anschaulicht.³⁰ Die altrömische Version von Crucem tuam behält die melodischeTonfolge der griechischen Melodie von Τον σταυρον σου bei, obwohl der lateini-sche Akzent eigentlich auf der ersten Silbe, d.h. auf dem cru, liegt. Für die rö-mischen Sänger war die Beibehaltung des Umrisses des heiligen Motivs aus derHeiligen Stadt wichtiger als der Wortakzent. Es scheint, dass die Franken eineVersion von Crucem tuam bevorzugten, die der schweren germanischen Akzen-tuierung ihres Schullateins ähnelte. Gelegentlich findet man die Umkehrung derersten beiden Wörter (d.h. Tuam crucem), aber statt einer subtilen medialenFärbung bevorzugten die Franken ganz eindeutig einen „normalen“ zweitenModus mit einem Anfang auf E und mit der „richtigen“ Akzentuierung auf cru‐.

Maloy liegt richtigmit ihrer Feststellung,dass die erste komplette altrömischeQuelle aus dem späten 11. Jh. stammt. Wenn aber laut Übertragung die altrömi-schen Melodien bis zum späten 11. Jahrhundert streng vokal waren, wie sind diealtrömischen Melodien in transalpinen Musikhandschriften zu erklären? BrunoStäbleinbespricht nicht nur altrömischeMelodien imCodex St.Gallen 339 des 10.Jh., sondern auch Introitustropen, die mit dem Wort Hodie beginnen.³¹ Andere

Beispiel 8.

30 Maloy glaubt, „the close correlation between words and music suggests that the singersrelied on a system of syntactical rules that determined the structure and surface details of themelodies“ (wie oben Fußnote 16, 93). Im Gegensatz dazu behielten nach Maloy die gregoria-nischen Melodien nur Spuren dieser syntaktischen Regeln.31 B. Stäblein, Der „altrömische“ Choral in Oberitalien und im deutschen Süden. Musikfor-schung 19 (1966) 3–9.

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Beispiele sind in meinem erwähnten Artikel „A second medial mode Palestinianchant in Old Roman, Beneventan and Frankish sources“ zitiert. Die gregorianischeVersion von Crucem tuam lautet: Crucem tuam adoramus domine, Et sanctam re-surrectionem tuam laudamus et glorificamus. Die altrömische Fassung dagegenheißt:Crucem tuam adoramus domine, Sanctam resurrectionem tuam glorificamus.Die altrömische Fassung schließt mit: qui venit salus in universo mundo, die gre-gorianische Version dagegen mit: ecce enim propter crucem venit gaudium inuniverso mundo. Das Antiphonarium von Sankt Denis, Paris, Bibliothèque na-tionale, lat. 17296 (12. Jh.) enthält in einer Reihe von Antiphonen für den14. September sowohl das gregorianische Crucem tuam als auch die altrömischeMelodie mit dem Text: quia venit salus in universo mundo.³² Die aquitanischenHandschriften Paris, Bibl.nat. lat.776 und 903 aus der ersten Hälfte des 11. Jhs.enthalten das Kommunion Tuam crucem für die Inventio crucis am 3. Mai. CodexParis, Bibl.nat. lat. 776 hat die gleiche Melodie für die Exaltatio crucis am14. September. In der obigen Diskussion wurden die Offertorien in den CodicesParis lat. 776, Paris lat. 780, Paris lat. 1121 und Montpellier H 159 als den altrö-mischen Melodien besonders nahe gekennzeichnet. Dom René-Jean Hesbertdokumentiert das Antiphonarium des 9. Jh.s aus Compiègne (Paris, Bibl. nat.lat. 17436) mit dem altrömischen Text: Crucem tuam adoramus domine et sanctamresurrectionem tuam glorificamus quia venit salus in universo mundo.³³

Als Erklärung für den Mangel an Quellen berücksichtigt Maloy die Tatsachenicht, dass tausende von Handschriften im Namen der kirchlichen Einheitlichkeitzerstört wurden. Als Toledo im Jahr 1085 erobert wurde, wollte der neue franzö-sische Erzbischof die alten spanischen Bräuche zugunsten des römischen Ritusabschaffen. Beim Versuch, die Einführung des gregorianischen oder römischenRitus zu begründen, hatte Alfonso VI von Kastilien die mozarabischen und gre-gorianischen Bücher einer Feuerprobe unterworfen, durch die die Rechtmäßigkeitdes römischen Ritus bewiesen werden sollte.³⁴ Aber obwohl das Buch von Toledowenig beschädigt wurde, während der römischen Text verbrannte, wurden diespanischen Bücher in die Flammen geworfen. Die Mönche von Montecassinoerkannten, dass ein Weg, ihre Musikhandschriften vor Zerstörung zu retten, dieAusstattung mit einer eindrucksvollen Illumination war. Beneventanische Melo-dien hätten auch mit einer Zuschreibung an den Heiligen Ambrosius geschützt

32 Für eine Beschreibung der Hss siehe: http://palmus.free.fr/These/02_12_BNF_03_17296.htm.33 R.-J. Hesbert, Corpus antiphonalium officii, III, Invitatoria et antiphonae. Rom 1968, 115 und516.34 J. C. A. Palacios, El códice de Las Huelgas. Madrid 2001.

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werden können.³⁵ In der Hagia Sophia wurden die Gesangbücher unter demzentralen Ambo aufbewahrt. Im Jahr 1204 raubten die Kreuzfahrer jedoch denAmbo und brachten ihn nach Italien. Damit waren die darunter liegenden Bücherschutzlos weiteren Plünderungen ausgeliefert, und man kann sich vorstellen,wasaus ihnen wurde.³⁶

Verweise auf eine „pretheoretical tradition“ deuten darauf hin, dass Maloyvon der Überzeugung Helmut Huckes beeinflusst war, „that the Roman version ofGregorian chant originally did not involve the system of eight church modes, andthat the system of church modes was adopted only late and gradually into theRomanversion from its Frankish counterpart“.³⁷ Theodore Karp schrieb: „It seemssecure that theWestern set of eightmodes is of Byzantine origin, and that its initialimplementation in Europe was Frankish rather than Roman“.³⁸ Die Existenzgriechischer Bezeichnungen für die lateinischen Tonarten (protus, deuterus, tritus,tetrardus), obskure griechische Fachausdrücke (ananeanes, neanes, aneanes,hagia, aneanes, neanes usw.) und Diskussionen der griechischen Musiktheorie inlateinischen Abhandlungen (z.B. Aurelians Musica disciplina) verdeutlichen,dass das byzantinische System der 10 bzw. 12 Tonarten im Westen bekannt war.³⁹Doch gibt es ebenso deutliche Anzeichen, dass die Franken Schwierigkeitenhatten, die Feinheiten des Systems zu verstehen. Nach Aurelian beklagten sicheinige Kantoren am Hof, dass manche Antiphonen sich in das System des Okto-echos nicht einreihen ließen.⁴⁰ Bei dem päpstlichen Emissär Johannes Diaconus

35 T. Kelly, New evidence of the old Beneventan chant. Plainsong and Medieval Music 9 (2000)81–93, und: Montecassino and the old Benevetan chant. Early Music History 5 (1985) 53–83.36 Moran, Byzantine castrati. Plainsong and Medieval Music 11 (2002) 99–112.37 H. Hucke, Toward a new historical view of Gregorian chant. Journal of the American Mu-sicological Society 33 (1980) 437–467, hier 442. Im Osten wird das System des Oktoechos bzw.Dodekaechos auf Johannes von Damaskus und dessen Zeitgenossen zurückgeführt. EinigeGregorianiker sind aber der Meinung, dass das System des Dodekaechos von Karl dem Großeneingeführt wurde. T. Bailey spricht von der „complete absence in Byzantine sources of anyreference to extra modes“ (De modis musicis, Kirchenmusikalisches Jahrbuch 61/62, 1977–78, 56).Ch. Atkinson, The critical nexus: tone-system, mode, and notation in early medieval music (wieunten Fußnote 49) erwähnt Johannes von Damaskus nicht einmal. Er zitiert M. Haas, MündlicheÜberlieferung und altrömischer Choral. Bern 1997, 162– 169, dass „one should be extremelycautious in backdating the system of the Byzantine oktoechos.“ Haas ist der Meinung, dass„that a full-fledge system as such did not yet exist in the ninth century“. Diese Thesen bedürfeneiner eingehender Untersuchung.38 T. Karp, Aspects of orality and formularity in Gregorian chant. Evanston, Ill. 1998, 234–242.39 C. Floros, The Byzantine origin of the Latin Dodekaechos, in: The origins of Western no-tation (wie oben Fußnote 25) 274–283.40 Aurelianus Reomensis, Musica disciplina, hrg. von L. Gushee. Corpus scriptorum de musica,21. Rom 1975, 82: Extitere etenim nonnulli cantores qui quasdam esse antiphonas, quae nulle

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heißt es, dass die Franken aufgrund ihrer barbarischen Brutalität, gepaart mitihrer Rohheit, nicht in der Lage waren, die differenzierten und wiederholtenTonhöhen sowie Nuancen des gregorianischen Repertoires zu verstehen.⁴¹ Obwohlgriechische Intonationsformeln in fränkischen Handschriften erscheinen, sind siehäufig verzerrt.⁴² Ein Vergleich gregorianischer und altrömischer Gesänge inmeinen Artikel von 2010 ergab, dass die Figuren und Formeln der zweiten me-dialen Tonart oft bewusst oder unbewusst in das Idiom der traditionellen zweitenTonarten übertragen wurden, wenn die Gesänge in das Reich der Franken ein-geführt wurden.

Anstatt einer „pretheoretical tradition“ liefert das altrömische RepertoireBelege dafür, dass das in Palästina entwickelte modale System in Romvollständigassimiliert war. Im Vorwort der Introduction to Early Medieval Notation schreibtFloros: „All indications considered, it would appear that the peculiar Old Romanmelodies were subject to a strong Byzantine influence“.⁴³ Der altrömische CodexVat. lat. 5319 überliefert einige Gesänge in griechischer Sprache. Der eindeutigeBeweis dafür, dass ein System, bestehend aus authentischen, plagalen und me-dialen Tonarten, in Italien gepflegt wurde, wird durch die Gesänge in zweitemmedialem Modus im altrömischen Repertoire geliefert.⁴⁴ Die enge Beziehungzwischen Jerusalem und Rom findet ihre Parallele in der achteckigen Glasfla-schen, die die Form von Gebäuden im Heiligen Land replizieren, sowie in dengestempelten Medaillen, die als Andenken für die Pilger häufig in italienischenGrabstätten auftauchen.⁴⁵ Zwischen 537–753 saßen sechs Griechen auf dem Stuhlvon St. Peter, nämlich Papst Bonifatius III. (607), Theodor I. (642–649), Agatho(678–681), Johannes VI. (701–705), Johannes VII. (705–707) und Zacharias (741–752). Als Diakon diente Gregor der Große (Papst 590–604) in Byzanz als Apo-

earum regulae possent aptari, asseruerunt. Gushee glaubt, dass das Kapitel über die Tonarteneine Glosse einer Abhandlung von Alkuin darstellt (138–154).41 Johannes Diaconus, Vita Gregorii, PG 75, 90–99: quia bibuli gutturis barbara feritas duminflexionibus et repercussionibus mitem nititur edere cantilenam, naturali quodam fragore.42 C. Floros, Byzantinische Musiktheorie, in: Geschichte der Musiktheorie. Darmstadt 2006, II286: „Besondere Bedeutung ist den Echemata beizumessen, nicht zuletzt deshalb, weil sie –wenn auch vielfach in korrumpierter Gestalt – in lateinischen Handschriften als geläufige In-tonantionsformeln der Modi wiederkehren“.43 Floros, Introduction to early medieval notation, revised, translated, and with an illustratedchapter on cheironomy, by Neil K. Moran. Warren, Mich. 2005.44 Für eine Diskussion der toni medii und echoi mesoi vgl. The origins of western notation (wieoben Fußnote 25) 278–280.45 G. Vikan, Early Byzantine pilgrimage art, revised ed. Dumbarton Oaks Byzantine CollectionPublications, 5. Washington, D.C. 2011, und S.J. Fleming, Roman glass: reflections on culturalchange. Philadelphia 1999.

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crisiarius.⁴⁶ In Anerkennung der Wiederherstellung der kirchlichen Harmoniezwischen Romund Konstantinopel erhielt Papst Vitalian (657–672) vomKaiser einprachtvolles Evangeliar, verziert mit kostbaren Juwelen. Rom blieb Teil des by-zantinischen Reiches bis in die Mitte des 8. Jahrhunderts.⁴⁷

Die Beziehungen zwischen Rom und dem Osten verändern sich jedoch dra-matisch zu Weihnachten 800, als der Papst Karl dem Grossen im Petersdom dieKaiserkrone aufsetzte. Bereits in der Admonitio generalis von 789 wurde derGrundstein für die Rezeption des lateinischen Chorals im Frankenreich gelegt.Alle Kleriker sollten gründlich die römischen Gesänge lernen und sie richtig Tagund Nacht in den Stundengebeten feiern „wie unser Vater seligen Angedenkens,der König Pippin, geordnet hatte, in dem er die gallikanische Liturgie verwarf imInteresse der Einheit mit dem Apostolischen Stuhl und ruhiger Concordia inner-halb der heiligen Kirche Gottes“.⁴⁸ Adhémar de Chabannes spricht über die Re-zeption des nota romana bei den Franken: et omnes Romanam… Franciae cantoresdidicerunt notam.⁴⁹

Das römische Repertoire wurde also über die Alpen ob unanimitatem apos-tolicae sedis et sanctae Dei aecclesiae pacificam concordiam ins Frankenreichgebracht. Andererseits gibt es deutliche Anzeichen dafür, dass der Klerus bei derUmsetzung von Pippins Dekret auf Schwierigkeiten gestoßen ist. Es ging nicht nurum eine einfache Bevorzugung der alten Gallikanischen Liturgie. Johannes derDiakon beschwerte sich über die Rohheit der Barbaren in Verbindung mit ihrervokalen Primitivität. Die Frankenwaren offensichtlich durch Gesänge verwirrt, dienicht auf der Finalis der beherrschenden Tonart begann und endeten. Befremdendwar auch die Vorliebe für italienische Ornamentik sowie für Texte, die nicht in derVulgata des Hieronymus zu finden waren. Angesichts einer sich verschlechtern-den Lage ordnete Karl der Große dann an: Revertimini vos ad fontem sancti Gre-gorii, quia manifeste corrupistis cantilenam ecclesiasticam.⁵⁰

46 A. Gillett, Envoys and political communication in the late antique West, 411–533. Cam-bridge 2003.47 Floros, The origins of western notation (wie oben Fußnote 25) 255.48 C. Vogel, Medieval liturgy: an introduction to the sources, rev. and trans. by W.G. Storey /N.K. Rasmussen. Washington, DC 1986, 148. Zu anderen Dokumenten der Zeit vgl. K. Levy, Anew look at old Roman chant II. Early Music History 20 (2001) 173–198.49 J. Grier, Adémar de Chabannes, Carolingian musical practices, and Nota Romana. Journal ofthe American Musicological Society 56 (2003) 43–98 und C. Floros, The age of the nota romana,in: The origins of western notation (wie oben Fußnote 25) 260. Siehe auch C. Atkinson, Thecritical nexus: tone-system, mode, and notation in early medieval music. Oxford 2009, 137: „Isuggested earlier … that the standard Latin term for musical notation from Antiquity onward wasnota“.50 Grier, Ademar de Chabannes, Carolingian Musical Practices (wie oben Fußnote 49) 47.

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Im Gegensatz zu der Auffassung, dass der „gregorianische“ Choral einefränkische Redaktion eines erhaltenen römischen Repertoires war, hat Maloy dieSchlussfolgerungen vorgeschlagen (wie von Dyer zusammengefasst), dass „theoffertories transmitted fromRome to Francia towards the end of the eighth centuryand preserved in East and West Frankish manuscripts of the ninth century andlater represent not a Frankish reworking of an imported repertory but ratherRoman chant of the period: the ‘Gregorian’ melodies are substantially what wasbeing sung in Rome at the time of Charlemagne (and hence cannot be called‘Romano-Frankish’)“.⁵¹ Im Hinblick auf die ersten Erfahrungen im Frankenreichwurden die Leiter der römischen schola cantorum offensichtlich aufgefordert, dasRepertoire zu vereinfachen. Die Gesänge sollten möglichst lehrbar sein. Obwohldie Musiker in Rom darüber sicherlich verärgert waren, mussten zum BeispielGesänge in der zweiten medialen Tonart mit einem Anfang auf D nun mit einerveränderten Anfang auf der Finalis des zweiten Modus, d.h. auf E, beginnen.Verzierte ausdrucksvolle Melismen mussten beschnitten werden, und die Textesollten mit den lateinischen der Vulgata des Hieronymus übereinstimmen. JosephDyer zeigt ein Beispiel,wie dies erreicht wurde. In Bezug auf die erste Strophe desOffertoriumsgesangs Factus est dominus schreibt er: „the Gregorian reviser, facedwith an archaic and unfamiliar psalm translation, elected to discard the venerableOld Roman refrain and convert its first verse – so similar in wording – into a re-frain“.⁵² Römische Chorleiter kehrten dann mit der überarbeiteten Redaktion insFrankreich zurück.

Wenn man die Quellen jedoch untersucht, ist es klar, dass das altrömischeRepertoire bereits erfolgreich in einigen der kulturell höher entwickelten ZentrenimNorden,wie zum Beispiel in St. Gallen, eingeführt wurde. In den Handschriftenvon St. Gallen sind gelegentlich zwei Versionen überliefert: Zuerst wurde diegregorianische, dann die altrömische Version notiert. Stäblein glaubte, dassdiese Praxis in St. Gallen bis etwa ins Jahr 900 gepflegt wurde. Eine ähnlicheRedaktion könnte die Erhaltung des altrömischen Repertoires in französischenQuellen erklären. In meiner genannten Studie wurde festgestellt, dass man dieGesänge im zweiten medialen Modus in zwei Gruppen transalpiner Handschriftenmit altrömischen Melodien unterschieden kann. Zunächst gibt es die Gruppe derHandschriften von St. Gallen, die von Stäblein identifiziert wurden, nämlich dieCodices 339 (10. Jh.), 378 und 380. Unter den französischen Quellen ist der älteste

51 Dyer, Rezension zu: Inside the Offertory. Early Music History 30 (2011) 261–270. Unter Be-zugnahme auf Levys Theorie einer „GALL-to-GREG-to-ROM flow“ schreibt Maloy „… I do notthink this theory is the most plausible explanation for the situation as it stands …“ (wie obenFußnote 16, 188). Cf. Levy, A new look at old Roman chant (wie oben Fußnote 48) 173– 198.52 Dyer, Tropis semper variantibus (wie oben Fußnote 17) 28.

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das Antiphonarium aus Compiègne, der Paris Bibl.nat. lat. 17436 (9. Jh.). Altrö-mische Melodien kommen auch im Paris lat. 776, Paris lat. 780, Paris lat. 903, Parislat. 1121, Paris lat. 17296 und Montpellier H 159 vor.

Jedoch wurde im Lauf der Zeit das sogenannte „gregorianische“ Erbe ange-nommen.Weitere Entwicklungen führten zu neu komponierten Stücken, die keineBeziehung zu den altrömischen Quellen mehr hatten. Leider führten die Miss-deutung der Modalität in den karolingischen theoretischen Abhandlungen undinsbesondere die Überschätzung der Finalis zu falschen Zuordnungen und pro-blematischen Rekonstruktionen.⁵³

Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung von Offertoirumsgesängen dermedialen Tonarten illustrieren nochmals die engen Beziehungen zwischen dembyzantinischen und altrömischen Choral. Im Gegensatz zur Identifizierung desaltrömische Repertoires als spätmittelalterlicher Schöpfung, gekennzeichnetdurch „perfunctory formulaicism“, haben sie Stäbleins Feststellung in einemArtikel in derMusikforschung von 1966 anhand von Handschriften aus Oberitalien(Nonantola, Mantua-Verona) und aus dem deutschen Süden (St. Gallen) bestätigt,dass altrömische Melodien in den frühesten neumierten Quellen aufgezeichnetsind.⁵⁴

53 H. Mori. Conflicting modal assignments of office antiphons: A comparative study of sevenGermanic sources, Ottawa 1998.54 Stäblein, Der „altrömische“ Choral in Oberitalien und im deutschen Süden (wie obenFußnote 31) 4.

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