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Religiöse Semantik Ulrich Welbers Eine sprachphilosophische Grundlegung Wilhelm Fink

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Religiöse Semantik

Ulrich Welbers

Eine sprachphilosophische Grundlegung

ISBN 978-3-7705-

Wilhelm Fink

Wilhelm Fink

Michael Grünbart

Inszenierung und Repräsentationder byzantinischen Aristokratie vom 10. bis zum 13. Jahrhundert

Welbers.QXD:Meister_Maß.QXD 27.03.14 13:25 Seite 4

Ulrich Welbers

Religiöse SemantikEine sprachphilosophische Grundlegung

Wilhelm Fink

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Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn

ISBN der Printausgabe 978-3-7705-5643-4ISBN 978-3-8467-5643-0

„Die Unsterblichkeit darf kein Wunsch sein, wenn sie nicht erst eine Aufgabe gewe-

sen ist, die Ihr gelöst habt. Mitten in der Endlichkeit eins werden mit dem Unend-lichen und ewig sein in einem Augenblik, das ist die Unsterblichkeit der Religion.“

(Friedrich Schleiermacher, 1799)

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Die Feststellung einer Wiederkehr religiöser Erscheinungsformen und Deutungs-muster prägt die wissenschaftliche und gesellschaftliche Debatte am Beginn des 21. Jahrhunderts nachhaltig. Auf der Suche nach einer sprachphilosophischen Sys-tematik des Zusammenhangs von Sprache und Religion ist hier das entstanden, was man eine sprachtheoretische Religionsgeschichte nennen könnte. Diese will den Erscheinungsformen nicht vorderhand des religiösen Sprachgebrauchs im engeren Sinne, sondern vor allem denen des Sprachdenkens, also dem Gebrauch der Refl exion, anhand von wirkungsmächtigen Positionen nachgehen und untersu-chen, wie die Beziehung von Religion und Sprache, zudem von Gottesvorstellung und ihrer Versprachlichung, historisch Gegenstand der Sprachrefl exion geworden ist. Sie entwickelt zudem selbst einen Beitrag zum Verständnis religiöser Semantik.Nach einer dem Kompositionsprinzip Friedrich Schleiermachers aus dem Jahr 1799 folgenden ‚Apologie‘ zur aktuellen Fragestellung der Sprachlichkeit von Reli-gion heute wird in historischen Kapiteln den systematisch-sprachrefl exiven Bezü-gen von Sprache und Religion bei Moses und Moses Mendelssohn, Augustinus und Gadamer, Luther und Bonhoeff er, Süßmilch und Herder, Kant und Schleier-macher, dem Evangelisten Johannes und bei Goethe, bei Adorno und Beethoven, Aristoteles und Benjamin, Saussure und Lévi-Strauss, Lyotard und Wittgenstein, schließlich für das 20. Jahrhundert noch einmal insgesamt, nachgegangen. Diese eher prominenten Übergänge bieten aber lediglich das Gerippe für eine Vielzahl weiterer Verknüpfungen. Insofern versteht sich dieses Buch auch als Möglichkeit, von einem neuen Standpunkt aus die Religionsgeschichte und damit das Funda-ment abendländischer Kultur anhand markanter Stationen kennenzulernen und in seinen sprachphilosophischen Konstruktionsbedingungen zu verstehen.

Inhalt

Vorwort: Gewiße Übergänge ins Unendliche1. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11Übergänge einer Th ese 11 – Die sprachphilosophische Perspektive 12 – Eine sprach-theoretische Religionsgeschichte 13 – ‚Übergang‘ als Kompositionsprinzip 13 – Zwölf Tore 14 – ‚Eucharistische‘ Einsichten 15

1. Apologie: Die ganze Welt ist eine Gallerie religiöser Ansichten. Von Wesen, Erscheinung und Erkenntnis religiöser Semantik . . . . 17

I. EINFÜHRUNG

Semantische Selbst(er)schöpfung 17 – Die Wiederkehr des Gebliebenen 20 – Empi-rische Religionsübersichten 24

II. ERSCHEINUNGSFORMEN

Substitution der Religion: Religiöse Welt-Ansichten (Kontroverse Tiefensemantik, Semantische Kontextuierung, Kontroverse Geltungsansprüche, Religiöse Sprachord-nungen, Sprachnormierungen, Popkultur, Werbung, Mediale Transformationen, Säkularisierung der Säkularisierung, Apokalyptik) 29 – Übergang 43 – Konstitution der Religion: Sakramentale Sprachansichten (Sakramente, Liturgie, ‚Erlösung‘ oder zur semantischen Reziprozität des religiösen Begriff sfeldes, Gleichnis, Gebet) 44

III. ERKENNTNISWEGE

Welche Wissenschaft der ‚Religion‘? Eine Kritik 66 – Übergänge Religiöser Seman-tik (Repräsentation und Konstitution, Deskription und Deutung, Säkularisierung und Sakralisierung, Vernunft und Empfi ndung, Glaubenserfahrung und Vernunft-wissen, Religion und Religiosität, Religion und Religionskritik, Sprache und Religi-on, Religiöse Semantik als Suchbegriff und Suchprogramm) 73

2. Und die Schrift war Gottes Schrift. Moses als Begründer einer religiösen Semantik . . . . . . . . . . . . . . . 117

Eine Bibel der Sprache 117 – Mose, der Vermittler 122 – Mose, der Begründer 126 – Mose, der Unterscheider 132 – Jerusalems Ursprung 138 – Die Konkretheit der Weisung 143

1 Die kursiv gesetzten Zitate werden jeweils in den einzelnen Kapiteln nachgewiesen.

8 INHALT

3. Du allein gewandest uns mit Licht. Augustins Bekenntnis einer Sprache der Gotteserinnerung . . . . . . 145

Augustinus in der Schwebe: Deutende Annäherungen 145 – Des Übergängers Übersetzer: Aktualisierende Legitimierungen 150 – in interiore homine habitat veri-tas: Weitreichende Reklamierungen 154 – ad audiendum illum intus magistrum: Augustins Th eorie seiner Sprachtheorien 160 – et inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te: Sprachbekenntnisse 166 – quod est verbum linguae nullius: Die Geburt der Bedeutung aus der Trinität der Sprache 174 – lux ergo lucet in tenebris: Spuren des Sprach-Seins 177

4. Das sey vom dolmetzschen vn(d) art der Sprachen gesagt. Martin Luthers Semantik der Unmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . 181

Sprachworte 181 – Worte keiner Sprache 183 – Sprachschenkungsmythen 185 – Luther-Bilder 188 – WortWerke 190 – Allein 192 – Apologie einer Übersetzung 194 – Die dritte Sprache 198 – Unmittelbarkeitssemantik 198 – Der Klang des Gewissens 199 – Eine Sprache des Gebets 202

5. Himmel, welch ein Lehrsaal der Ideen und der Sprache! Herdes anthropologische Schöpfungsnarration der Sprache . . . . . 205

Um uns so viel Nacht 205 – Gottes letzte Vernunft 206 – Im Rücken der Vollkommen - heit 211 – Menschheitsaufgang 215 – Hieroglyphen der Schöpfung 217 – Sechs Nächte der Sprache 219 – Die Unruhe der Gesetze 226 – Diesseits der Grenzlinie 229 – Fünf Wege zur Religion 231 – Sprachtheoretische Versuchung einer Rehabi-litierung eines Beweisversuchs 237

6. Diese geheiligte Werkstätte des Universums. Schleiermachers säkulare Kritik der Säkularisierung . . . . . . . . . . . 241

Eine Kritik der religiösen Vernunft (Whitehead) 241 – Kritischer Übergang I (von Hobbes zu Rousseau) 245 – Der Kritiker (Kant) 246 – Die Kritik des Kritikers (Schleiermacher I) 254 – Kritiker werden (Schleiermacher II) 262 – Sprache und Kritik (Schleiermacher III) 268 – Kritischer Übergang II (von Feuerbach zu Ador-no) 273 – Der Kritikaster (Dawkins) 275 – Epilog: Gibt es ein Sprachdenken des Protestantismus? Zehn Prinzipien einer theoretischen Form 279

7. Und was verschwand wird mir zu Wirklichkeiten. Goethe als Erneuerer einer religiösen Semantik . . . . . . . . . . . . . . . 283

Vor der Sprache 283 – Faustus noctu de principio contemplabundus 284 – Der Grundtext, aufgeschlagen 287 – Vernunft fängt wieder an zu sprechen 289 – Nach allen höchsten Worten greife 291 – Finsternis über Urwirbels Antlitz 292 – Im Innern ist ein Universum auch 295 – Götter, wie soll ich euch danken 298 – Christentum zu meinem Privatgebrauch 300 – Ein Diskurs wie dieser da 304 – Jede Entelechie ist ein Stück Ewigkeit 307 – Letzte Versuchung 311 – Wittgensteins Zettel 313

9INHALT

8. Religiöse Gefühle zu erwecken und dauernd zu machen. Ludwig van Beethovens Musiksprachphilosophie

in die Unendlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315

I. ÜBERGÄNGE VON SPRACHE, MUSIK UND RELIGION

Eine Rochade religiöser Semantik 315 – Der Verschwundene 318 – Musikalische Epi-phanie 329 – Vertontes Schweigen 336 – Hermeneutische Fuge (6-stimmig) 339 – Schwellenpartituren 358

II. EINE DIALEKTISCHE SYMPHONIE

Hegelianische Ligatur (1824) 367 – 1. Satz (1723): Jesus bleibet meine Freude 379 – 2. Satz (1742): Halleluja-Topographien 386 – 3. Satz (1776): ordinarium missae ornitologicum 390 – 4. Satz (1824): Sprachgötterfunken, eine Inszenierung (mit Schlusschor) 395 – Coda: Was bleibt Vom Geist der Liturgie 404 – ‚Trugschluss‘: Fidelios Hörer 407

9. Dicht unterm Himmel ruhn gleich Sternedeutern. Ontologisch Übersetzen mit Walter Benjamin. . . . . . . . . . . . . . . . 409

Passage Portbou 409 – Sprachtheoretische Refl exionen über einen Strafzettel 411 – Untreue Th eologie 413 – Aristoteles treue Umschreibungen 416 – Th eologie der Sprachbefreiung 419 – Göttliche Grammatik 420 – Sprachergänzungssehnsucht 422 – Übersetzungslandschaften 423 – Le passage des indignés 424

10. Eine Gottheit, die wir verehren müssen. Sprache, Sprachwissenschaft, Geist bei Claude Lévi-Strauss. . . . . . 427

Annäherung an das Unsichtbare 427 – Diff erentes Judentum 428 – Saussure und die Folgen 431 – ‚Sprachwissenschaft‘ als Strukturwissenschaft 434 – Mythen und Gusteme 437 – Modell-Bedingungen 439 – Semiologische Kartierung 441 – Schrift und Kommentar 443 – Geist-Wissenschaft 444 – Gottes kalte Sprache 446

11. Die große Frage, die hinter allen diesen Betrachtungen steht. Wittgenstein, Lyotard und der Neubeginn

der großen Erzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449Von der (Un-)Möglichkeit, philosophisch zu taufen 449 – Erinnerung der Sprache als Diagnostik der Zeit 450 – Krise und Rückkehr der großen Erzählungen in zwei-erlei Ansicht 450 – Über was wir schweigen können 451 – Sprachspiel sein 452 – Familien der Erinnerung 453 – Regelfolgenfolgen 454 – Das Ende der großen Erzählungen 455 – Wittgenstein im Gebrauch 456 – Lyotard im Gebrauch 458 – Religiöse Sprachspielsematik 459 – Nachfranzösische Zustände 461 – Erinnerungs-grammatik 462 – Semantischer Phönix 464 – Epilog 465

10 INHALT

12. Von neuem zu Gott erwachen.Religiöse Semantik in den Übergängen der Moderne. Eine Jahrhundertpassage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467Aufzeichnungen und Materialien I: Kultur/wesen/christen/tum 470 – Erfahr ung 471 – Vergegenständlichung 472 – Nonkonformität 472 – Off enbarung 473 – Heilig- keit 474 – Dialektik 474 – Wort-Überlegenheit? 475 – Sprachfolgen 476 – Gegen(-)Modernität?! 476 – Entgegenständlichung 477 – Unbedingtheit 477 –Schwellenpro-fanität 478 – Geist-Evolution 479 – Erneuerungssemantik 479 – A-Th eismus 480 – Th eologie-Revolution 481 – Gnaden-Begriffl ichkeit 481 – Selbstver-‚Gott‘-ung 482 – Geist-Geschichte 482 – Andersheit 483 – Gerechtigkeit 483 – Perspektive 483 – Sprach-/Religions-/Anthropologie 484 – Epistemo(theo)logie 485 – Konstitutions-eschatologie 485

Aufzeichnungen und Materialien II: Verträglichkeit 486 – Sprachvernunftreligion 486 – Entschiedenheitstheologie 487 – Monströsität 487 – Eskalation 488 – Zeit(alter)semantik 488 – Spracherbeutung 489 – Weltreligionsgesellschaft 490 – Gottes-Dämmerung? 490 – Semantischer Advent 491

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493

Personenverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527

Gewiße Übergänge ins Unendliche.Vorwort

„Die Entwicklung der Sprache führt ganz von selbst zur Erschaff ung von so etwas wie

Gott. Gott ist wahrscheinlich das reinste Wort, das es gibt. Die pure Wortwörtlich-keit. Das vollkommene Sprachwesen. Das

Sprachliche schlechthin. In GOTT kommt die Sprache zu sich selbst. Sagt ER zu den Studenten. Nein, zu den Journalisten. Die

brauchen das mehr als alle anderen, weil sie mit der Sprache umgehen, ohne daran zu denken, dass sie mit Gott umgehen. Das

Höchste, was wir haben, ist also aus Spra-che. Daran denkt doch, bitte, wenn ihr euer

Wesen mit der Sprache treibt.“1

Übergänge einer These

Die Feststellung einer Wiederkehr religiöser Erscheinungsformen und Deutungs-muster prägt die wissenschaftlich-gesellschaftliche Debatte seit mindestens einem Jahrzehnt nachhaltig. Sie stellt damit eine der nicht allzu häufi g anzutreff enden Th esen in den Geistes- und Kulturwissenschaften dar, die eine Brücke herzustellen vermögen zwischen der öff entlichen Wahrnehmung bzw. den vielfältigen Diskur-sen dieser Öff entlichkeit einerseits und der wissenschaftlichen Diskussion anderer-seits. Solch wechselseitige Bezugnahme lässt auf eine anhaltende Brisanz der Th e-matik schließen, die im Hinblick auf deren Konstruktionsbedingungen über bloße Zufälligkeit deutlich hinausweist. Vielmehr scheinen hier Grundfragen mensch-licher Existenz und gesellschaftlicher Verfasstheit dauerhaft angesprochen, die im-mer neue Antwortmuster herausfordern. Religion bzw. Religiosität bilden dabei naturgemäß in mehrfacher Hinsicht eine Th ematisierung von Übergängen. Sie behandeln zunächst selbst thematisch die Vergänglichkeit des Endlichen und damit auch die Übergänglichkeit ins Metaphysische als konstitutiven Kern ihres Gegen-standes – sie erkunden, wie Friedrich Schleiermacher es treff end ausdrückt, nicht

1 Walser, Martin: Über Rechtfertigung, eine Versuchung. Reinbek bei Hamburg 2012, S. 98 [Tagebuch, 6. März.1981].

12 GEWISSE ÜBERGÄNGE INS UNENDLICHE

eindeutige, sondern „gewiße Übergänge ins Unendliche“2 –, sie stellen dann aber auch den diskursiven Übergang gesellschaftlicher Relevanz und akademischer De-batte dar und her, und sie sind schließlich ein zutiefst interdisziplinäres bzw. auch transdisziplinäres Unterfangen, was z.B. die Aktivitäten der letzten Jahre im Rah-men des Forschungsverbundes Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und Moderne zeigen.3 Aber auch außerhalb solcher Großkonstruktionen ist eine vielfältige Beschäftigung mit dem Th ema unübersehbar geworden und zeigt die Prosperität religionsbezogener Zugangsweisen zur Erklärung aktueller anthropolo-gischer, erkenntnistheoretischer und gesellschaftlicher Fragestellungen.

Die sprachphilosophische Perspektive

Es stellt sich folglich die Frage, wie von sprachwissenschaftlicher bzw. sprachphilo-sophischer Seite aus ein Beitrag zu dieser Debatte auszusehen hätte, der sich nicht nur in einer mosaiksteinartigen Zufütterung vereinzelter sprachbezogener Aspekte zu einer ansonsten fühlbar breiter angelegten Debatte religionswissenschaftlicher oder sozialwissenschaftlicher Provenienz erschöpft, sondern der das Th ema selbst unter einer spezifi schen Perspektive angeht. Dies wäre einerseits möglich, indem man den aktuellen Sprachgebrauch des Religiösen in der Gesellschaft mit sprach-wissenschaftlichen Instrumentarien untersucht, ein äußerst weiträumiges und pro-duktives Unterfangen, dem erhebliche Forschungsergebnisse abzugewinnen wären und das teilweise auch schon unternommen worden ist. Diese Herangehensweise wird hier eher am Rande, vor allem in der Apologie, eine Rolle spielen. Stattdessen wird in der vorliegenden Studie die Verbindung zwischen Sprache und Religion selbst unter sprachphilosophischen Gesichtspunkten in historischer Perspektive auf-gesucht. Damit ist die Unterstellung verbunden, dass Religion bzw. Religiosität nicht nur ein zutiefst sprachliches Phänomen darstellt, sondern dass die Sprache Religion nicht in erster Linie repräsentiert, sondern sie zuallererst konstituiert. Das Wesen der Religion ist ihre Sprachlichkeit, könnte man sagen, und umgekehrt ist alle Sprache, als sie in ihrem vollkommenen Wesen erscheint, religiös durchwirkt. Es ist fundamental für die sprachphilosophische Perspektive, dass sie durch ihr Grundtheorem einer Wirklichkeitskonstitution durch sprachliche Gedankenbil-dung dem Gegenstand der Religion nichts von ihrem objektiven Wirklichkeitscha-rakter nimmt, sondern diesen ihr gerade zuspricht.

2 Schleiermacher, Friedrich: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799). Hrsg. von Günter Meckenstock. Berlin, New York 2001, S. 124.

3 So zu sehen in der ‚Image-Broschüre‘ zum Exzellenz-Cluster Religion und Politik der WWU Münster. Münster 2010.

13VORWORT

Eine sprachtheoretische Religionsgeschichte

Auf der Suche nach einer sprachphilosophischen Systematik des Zusammenhangs von Sprache und Religion ist das entstanden, was man eine sprachtheoretische Religionsgeschichte nennen könnte. Sie will den Erscheinungsformen nicht des reli-giösen Sprachgebrauchs im engeren Sinne, sondern denen des Sprachdenkens, also dem Gebrauch der Refl exion, anhand von Beispielen nachgehen und untersuchen, wie die Beziehung von Religion und Sprache, zudem von Gottesvorstellung und ihrer Versprachlichung, historisch Gegenstand von Sprachrefl exion geworden ist. Dafür muss sie, wiederum ein Übergang, die Sprachlichkeit dieser Sprachrefl exion selbst im Zitat ausstellen, sie damit erscheinen lassen, als ob sie Religion schon wäre, sie behandeln, als wäre sie eine Th eologie der Sprache im Übergang von Gegen-standsbezug und seiner refl exiven Anschauung. Erst in diesen reziproken Verhält-nissen von Gegenstandskonstitution, sprachlicher Gestaltung, theoretischer Refl e-xivität und den Regeln, in denen all dies darstellbar und erkennbar wird, soll sie Religiöse Semantik heißen und erst hier ist sie selbst (sprach-)philosophisches Tun. Dieses Tun geschieht nicht um seiner selbst willen, sondern will dem Gegenstand des Religiösen in der Anerkennung einer eigenen Sprachlichkeit seiner Sprachrefl e-xion etwas semantisch Zwingendes verleihen und ihr damit insofern etwas zurück-geben, als ihr diese Autonomie in der subjektivistischen Betrachtung gesellschaftli-cher Prägung und auch aus der Perspektive einer zunehmend selbst technologisch anmutenden, spätmodernen Wissenschaftskultur, die Evidenz und Wahrheit nahe-zu programmatisch miteinander zu verwechseln scheint, nicht mehr selbstverständ-lich zugestanden wird. Sie ist damit allemal kein sprachphilosophischer Gottesbe-weis oder auch nur Beleg für die Notwendigkeit von Religion, sie will aber die -jenigen in produktive Bedrängnis bringen die denken, dass mit einer handelsüblich gewordenen Trivialvariante des methodischen Zweifels, wie sie gesellschaftlich und wissenschaftlich zuweilen prägend wird, für den Kritikaster an der Religion schon Hinreichendes gewonnen sei. Vielmehr müsste schon eine erhebliche Menge an positivistischer Sprachlichkeit aufgebracht werden, um die Semantik der Religion überhaupt nachhaltig in Bedrängnis zu bringen.

‚Übergang‘ als Kompositionsprinzip

Die religionsphilosophisch begründete und kulturwissenschaftlich angelegte Er -kenntnisfi gur des ‚Übergangs‘ im Sinne Schleiermachers bzw. der ‚Schwelle‘ in der Sicht Walter Benjamins prägt die Vorgehensweise in den einzelnen Kapiteln. Im-mer spannen diese sich von einer sprachrefl exiven Position hin auf eine andere und überbrücken diesen Weg in sprachphilosophischer Weise. Die dreiteilig angelegte Apologie nimmt als erstes von zwölf Kapiteln insofern eine Sonderstellung ein, als sie die Legitimationsarbeit, die an dieser Stelle begonnen ist, fortsetzt und systematisch fundiert, zudem Sondierungsarbeit zur Aktualitätsbehauptung des Problems leistet. Sie steht somit einerseits ganz in der klassischen Funktion einer Einleitung, anderer-

14 GEWISSE ÜBERGÄNGE INS UNENDLICHE

seits aber ist sie auch Forschungsbericht aus interdisziplinärer Perspektive, wird dann eigenständige Problemfelderkundung aus aktueller Sicht und auch Methodenklä-rung, sammelt schließlich in zulaufender Bewegung die verschiedenen Aspekte zur Begründung und Rechtfertigung des Th emas kritisch ein und diskutiert sie. Dieses Kompositionsprinzip einer erweiterten, ‚einleitenden‘ Apologie als aktiver Verteidi-gungsrede ist der Vorgehensweise Friedrich Schleiermachers aus dem Jahr 1799 ent-lehnt. Schleiermacher tat dies in dem Bewusstsein, dass das Th ema ‚Religion‘ in sei-ner Zeit ein hoch umstrittenes und damit besonders zu begründendes sei, und daran hat sich bis heute wenig geändert. Die Apologie trägt nicht nur diesem kritischen Charakter Rechnung, sondern zeigt auch die Wichtigkeit aktueller Zugangsweisen, was über den Charakter einer Einleitung schon vom Gegenstand her hinausweist. Für die historischen Kapitel 2-12 gibt sie freilich auch Systematik und Suchrichtung vor. In diesen Studien werden nun die syste matisch-sprachrefl exiven Bezüge von Sprache und Religion bei Moses und Moses Mendelssohn, Augustinus und Gada-mer, Luther und Bonhoeff er, Süßmilch und Herder, Kant und Schleiermacher, dem Evangelisten Johannes und bei Goethe, bei Adorno und Beethoven, Aristoteles und Benjamin, Saussure und Lévi-Strauss, schließlich bei Lyotard und Wittgenstein auf-gesucht. Diese eher prominenten Übergänge bieten aber lediglich das Gerippe für eine Vielzahl weiterer Verknüpfungen. Gerade das letzte Kapitel zeigt diesen An -schlusscharakter des Th emas, indem es eine breite Front religiöser Sprachansichten bis in die heutige Zeit integrierend abschreitet und somit wieder an Fragestellungen der Apologie anknüpft. Insofern bemüht sich die vorliegende Untersuchung um einen weiten Zugriff , sowohl historisch als auch systematisch.

12 Tore

Gleichwohl wäre schon der Versuch von Vollständigkeit eine enorme Verkennung von Wesen und Kulturmächtigkeit des Gegenstandes. Vielmehr zeigen die hier aus-gewählten sprachphilosophisch-historischen Positionen eine spezifi sche Suchbewe-gung nach charakteristischen Darstellungsformen der Sprachrefl exion, innerhalb derer diese bestenfalls voneinander abweichen. Religiöse Semantik ist in der Denk-geschichte des Abendlandes bzw. Europas, auf die sich die vorliegende Darstellung bewusst wesentlich bezieht, Ertrag Jahrtausende alter Refl exion auf das Sprachpro-blem. Dies führt naturgemäß zu divergierenden Positionen und Perspektiven. Um die symptomatische Geschichte dieses Sprachdenkens kennenzulernen, bietet der vorliegende Versuch einer sprachphilosophischen Grundlegung nun genau zwölf Kapitel zu einer Th eorie und Praxis religiöser Semantik an, ein Bild, das an die zwölf Tore des neuen Jerusalem in der Off enbarung des Johannes (vgl. Off b 21,9-22,5) erin-nern will. Auf diesen zwölf Toren fi nden sich zwölf Engel, auf den Toren die Namen der zwölf Stämme Israels. Die Bibel berichtet von diesem neuen Jerusalem: „Ihre Tore werden den ganzen Tag nicht geschlossen – Nacht wird es dort nicht mehr geben.“4

4 Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Stuttgart (5. Aufl.) 2004, S. 1394.

15VORWORT

Insofern versteht sich dieses Buch auch als Angebot, von einem neuen Standpunkt aus die Religionsgeschichte und damit das Fundament abendländischer Kultur an-hand markanter Stationen kennenzulernen und in seinen sprachtheoretischen Kon-struktionsbedingungen zu verstehen. Mit dem Bild des neuen Jerusalem ist gleich-wohl die Unterstellung verbunden, dass trotz aller Unterschiedlichkeiten der Zu-gänge im Innern der Mauern die eine Wahrheit zu fi nden wäre, die die vielen Ein-sichten in sich aufhebt.

‚Eucharistische‘ Einsichten

Es ist das Th ema der Religion eines wie kein anderes auch für den, der über es schreibt. Dieter Henrich hat in seiner hellsichtigen Erkundung zur Genesis philoso-phischer Einsichten festgestellt, dass in den Religionen zwar elementare „Erfahrun-gen in Lehren, Riten und tradierte[n] Muster[n] des Erwartens und Verhaltens eingebettet und in deren Sprache thematisiert“5 werden, dass aber solche „Lehren und Traditionen […] selbst wohl auf jene ursprünglichere Art der Erfahrung zurückgehen, die Menschen in ihrem Leben spontan gemacht haben und von der sie glaubwürdig berichten konnten“6. So ist es auch hier und das in erheblichem Maße. Einige Texte sind zunächst für spezielle Kontexte entstanden und wurden für die hiesige Untersuchung überarbeitet, ohne ihren gewordenen Textcharakter anzutasten. In den entsprechenden Passagen ist dies vermerkt und es erklärt zum Teil den unterschiedlichen Umfang der Kapitel. Es liegt alsdann stets eine Bekun-dung des Existentiellen vor auch dann, wird über Wesentliches in wissenschaftli-cher Form gehandelt. Die Auff orderung Martin Walsers zu sprachkritischer Hell-sichtigkeit am Beginn dieses Vorwortes ist daher unbedingt zu komplettieren um eine ebensolche Hellsichtigkeit gegenüber der Existentialität des Gegenstandes, in Schleiermachers Worten: „Die Unsterblichkeit darf kein Wunsch sein, wenn sie nicht erst eine Aufgabe gewesen ist, die Ihr gelöst habt. Mitten in der Endlichkeit eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in einem Augenblik, das ist die Unsterblichkeit der Religion.“7

Kein Buch schreibt sich demnach biographisch anlasslos und zudem schon gar nicht allein aus sich selbst. Gerade, wenn über viele Jahre des Nachdenkens und des Gesprächs mit Vielen sinnstiftend Gemeinschaftlichkeit auf Zeit entstanden ist, scheint die Zahl derjenigen, denen zu danken ist, fast übermächtig, weil der eineng-ende Rahmen funktionaler Kommunikation häufi g ins Bedeutsame überbrückt wurde. Ihnen allen, neben den Kollegen Barz, Busse, Dörr, Schulz und Wengeler vor allem Studierende der Heinrich-Heine-Universität, mit denen ich in Haupt- und Masterseminaren über die Probleme diskutierte, bin ich zu Dank verpfl ichtet.

5 Henrich, Dieter: Werke im Werden. Über die Genesis philosophischer Einsichten. München 2011, S. 27-28.

6 Henrich, Werke im Werden, a.a.O., S. 28. 7 Schleiermacher, Reden, a.a.O., S. 115.

16 GEWISSE ÜBERGÄNGE INS UNENDLICHE

Einige Menschen bleiben in besonderer Erinnerung, weil sie mit Rat und Tat an der Erstellung des Buches mitwirkten: Ursula Keuthen-Welbers konnte einige Manuskripte noch selbst korrigieren und ist so an dieser Publikation aktiv beteiligt gewesen. Sie bleibt damit auch durch dieses Buch in Erinnerung. Alexandra Eßer M.A., Esther Schlamann M.A. und Dr. Nina Spangenberger halfen mir über die Entstehungszeit hinweg mit ihrer philologischen Kompetenz. Dies gilt auch und zuallererst für Christian auf der Lake M.A., der zu einem unermüdlichen Korrek-turbegleiter dieses Buches wurde und damit kapitalen Anteil an dessen Gelingen hat. Ohne seinen Fleiß, sein fachliches Interesse und seine Kompetenz wäre dieses Buch in der jetzigen Form nicht möglich gewesen. Ich danke Herrn Andreas Knop vom Fink-Verlag für den Druck nun auch dieses Buches in einem besonderen Ver-lag. Zu danken bleibt Dr. Klaus-Hinrich Roth. Ihm ist unendlich viel an produk-tiven Anregungen geschuldet, vor allem auch durch unsere gemeinsame Planung und Durchführung germanistischer Lehre an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Klaus-Hinrich Roth ist dieses Buch in Dankbarkeit gewidmet mit besonderem Blick auf den, für den es nichts „höheres g[ab] […], als der Gottheit sich mehr als andere Menschen nähern, u. von hier aus die strahlen der Gottheit unter das Menschengeschlecht [zu] verbreiten.“8

Ulrich Welbers, im Advent 2013

8 Beethoven, Ludwig van: Briefwechsel Gesamtausgabe. Im Auftrag des Beethoven-Hauses Bonn hrsg. von Sieghard Brandenburg. München 1996ff., Band 4, Nr. 1438.

1. Apologie: Die ganze Welt ist eine Gallerie religiöser Ansichten

Von Wesen, Erscheinung und Erkenntnis religiöser Semantik

I. EINFÜHRUNG

Semantische Selbst(er)schöpfung

Die Krise der modernen Menschen lässt sich beschreiben als dessen zunehmende Unfähigkeit, seinen geschichtlich gewordenen Vertrautheiten zu vertrauen. Dieser Vertrauensverlust ins verbürgt Gewordene ist verbunden mit einer Eskalation des Fremdgebliebenen im Menschen selbst. Häufi g wird dieses Phänomen sinnfällig als Orientierungsverlust in Zeiten zunehmender Pluralität bezeichnet, die Freiheit hierzu als im Prinzip wünschenswert deklariert und die folglich dauerhaft notwen-dig werdende Orientierungsarbeit als kreatives Pendant der Freiheit bezeichnet. Wieso, wäre zu fragen, fühlen sich dann eigentlich heute so wenige Menschen wirk-lich frei? Die nach dem Muster industrieller Organisation gestaltete Orientierungs-maschinerie westlicher Zivilisationen sieht den Menschen eindimensional als ein sich selbst gegenüber ökonomisch handelndes Wesen. Es orientiert sich nicht, um ein besseres Leben zu gewinnen, es ordnet sich gegen die Widerstände des Alltags, formt sich selbst, um den Konfl ikt von Eigen- und Fremdbestimmung sozial aus-tragen und aushalten zu können. Der Mensch orientiert sich um der Orientierung willen gegen sich selbst.

Alain Ehrenberg hat als Folge dieser Situation die Depression als zentrale Verhal-tensmodalität der Gesellschaft gesehen. In ihr werde das „Gefühl der Minder-wertigkeit“1 präsent, der „Depressive ist nicht voll auf der Höhe, er [sei] erschöpft von der Anstrengung, er selbst werden zu müssen“2. In der Aufgabe, „sich sein Leben zu wählen“3, bleibe das „Individuum in einer ständigen Bewegung“4, müs-se zur „Aufrechterhaltung [seiner] inneren Ordnung“5 heute nicht mehr zwischen Erlaubtem und Verbotenem wählen, sondern zwischen Möglichem und Unmögli-

1 Ehrenberg , Alain: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frank-furt/M. 2008, S. 15.

2 Ebd. 3 Ehrenberg , Das erschöpfte Selbst, a.a.O., S. 19. 4 Ebd. 5 Ebd.

18 DIE GANZE WELT IST EINE GALLERIE RELIGIÖSER ANSICHTEN

chem. Das projektierte „ideale Individuum“6 gestalte sich nicht nach den Regeln überlieferter Gesetzmäßigkeiten, sondern nach den wandelbaren Normen des Pro-jekts, der Motivation und der Kommunikation. Die eigene Unzulänglichkeitser-fahrung nun habe die Depression als „Krankheit einer Gesellschaft [zur Folge], deren Verhaltensnorm nicht mehr auf Schuld und Disziplin gründet, sondern auf Verantwortung und Initiative“7. Die Depression werde so zur alltäglichen „Tragö-die der Unzulänglichkeit. Sie ist der vertraute Schatten des führungslosen Men-schen, der des Projekts, er selbst zu werden, müde ist und der versucht ist, sich bis zum Zwanghaften Produkten oder Verhaltensweisen zu unterwerfen.“8 Er befi n-det sich damit einerseits in den Konfl ikten um Selbsterhaltung, die die souveräne Herrschaft früherer Zeiten für ihn gar nicht aufkommen ließen, die Begriff e der Religion dagegen werden durch die der Psyche ersetzt, die sich selbst dann nicht mehr wirklich aushält.9 Die Depression ist die Konsequenz eines doppelten Ver-lustes von Sicherheit des Diesseitigen und des Jenseitigen.

Es wäre freilich zu ergänzen, dass neben der Depression die Aggression den zwei-ten großen Schatten von Individuum und Gesellschaft bildet, eine dauerhafte Angriff shaltung erzeugend, deren Haupterscheinung heute nicht einmal die mani-feste Gewalt gegen den anderen, sondern die alltagsideologische Selbstbehauptung gegen alle anderen ist, eine Inszenierung des Selbst, die die eigene Lebensform als unverhandelbar bestimmt und sie rücksichtslos allem und jedem entgegenstellt. Die ideologische Monade, die sich selbst als absolut setzt, sie ist die verzweifelte Antwort des modernen Menschen auf die Ablösung sozialer Homogenität, ein Ver-lust, den er nur aushalten kann, wenn er diese Homogenität – seine eigene soziale Vernichtung dabei in Kauf nehmend – immer mehr zerstört.

Diese und ähnliche Zeitdiagnosen können den Unterbau bieten für eine Th ese, die den sprachlichen Charakter des Problems nicht nur unterstreicht, sondern in den Mittelpunkt der Perspektive rückt. Sie lautet: Der moderne Mensch leidet vor allem an einer semantischen Selbsterschöpfung, ihm fehlt vor allem anderen die Sprache, die ihn gedeutet erhält und anspruchsvoll entscheidungsfähig macht, eine Sprache, in der er semantisch vielseitig, bewährten Begriff en vertrauend, sinnstif-tend agieren kann. Dies aber erblickt der Mensch in der Sprache der Religion. Weil diese ihm zunehmend fehlt, fi ndet er in einer panischen Suche nach selbstzusetzen-den Orientierungsmustern immer wieder das auf, was er als freigelassenes Subjekt längst überwunden glaubte: vollständige Konformität mit den Anderen. Nicht hat die moderne Gesellschaft vorderhand zu einer unendlichen Vervielfältigung von auswahl- und entscheidungsbefähigenden Orientierungsmustern geführt, sondern gerade zu einer technologischen Dauerwiederholung trivialster Muster wie bspw. dem der biographischen Effi zienztrimmung, die nur in ganz unterschiedlichen Varianten immer wieder präsentiert wird. Hier aber wird der Mensch nicht nur

6 Ebd. 7 Ehrenberg , Das erschöpfte Selbst, a.a.O., S. 20. 8 Ehrenberg , Das erschöpfte Selbst, a.a.O., S. 23. 9 Vgl. Ehrenberg , Das erschöpfte Selbst, a.a.O., S. 21.

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notwendig roh und einsam und damit zum Verheerer gegen sich selbst und andere, er kann auch in Verzweifl ung gesetzt letztlich nur noch zwischen zwei Gewaltfor-men der Unfreiheit wählen, der Depression als Unfreiheit gegen sich selbst und der Aggression als Unfreiheit gegen andere. Das alles ist vor allem dem Verlust seiner vielfältigen Sprachmöglichkeiten geschuldet, sich selbst aus dem Blick des Anderen zu sehen, überhaupt das Andere zu sehen. Entgegen der Behauptung von Individu-alität und Selbstschöpfung ist die Gesellschaft semantisch derart dramatisch arm geworden an sinnstiftender Begriffl ichkeit, tragfähigen Deutungsmustern und för-derlichen Wegweisungen, dass der Mensch als autonome Katastrophe seinem Selbst semantisch schutzlos ausgeliefert bleibt.

Mit der selbstverordneten Diesseitigkeitsdoktrin hat der Mensch aber auch seine Geschichtlichkeit aufgegeben. Den Menschen vor sich selbst und seiner Deutungs-macht zu schützen ist seit jeher kulturgeschichtlich vor allem eine Aufgabe der Religion gewesen. Die Th ese muss so dahingehend erweitert werden, dass der Mensch vor allem ein religiöses Wesen um seiner selbst Willen ist, der die in der Religion überlieferte religiöse Semantik notwendig zum eigenen Existenzverständ-nis braucht, um in diesem nicht allein zu bleiben. Die in der Moderne propagierte Möglichkeit eines religionslosen Lebens ist dagegen entweder interessegeleitete Unternehmung derer, die in einer schutzlosen Ausplünderung des heutigen Men-schen Gewinn zu fi nden hoff en, oder gut gemeinte, hoff nungslose Überschätzung des allgegenwärtigen Subjektivitätstheorems mit rationalistischen Mitteln. Beide Zugänge leben von der gezielten Aussperrung religiöser Wahrheitsmöglichkeiten zum eigenen Existenzerhalt. Durch den zunehmenden Verlust an religiöser Seman-tik kann der Mensch zu einer tragfähigen Deutung seiner Existenz jedoch immer weniger aufschließen, weil ihm schlicht die Worte dafür fehlen zu erkennen, dass er verbürgt mehr ist als das, was andere von ihm erwarten. Ihm fehlt die Sprach-welt, in der er sich selbst in aller Ganzheitlichkeit versteht und seine drohende Ein-dimensionalität überwindet. Er bleibt zurück in einer ‚als-ob‘-Gesellschaft dauern-der Selbstinszenierung, in der er auf nichts mehr hoff t als auf die kleinste Spur eigener Heiligung durch fremde Anerkennung, wird anfällig für Religionssubstitu-te, die ihm Erlösendes als welterreichbar vorgaukeln. Da aber zielführende Sprach-formen religiöser Semantik wesentlich kulturgeschichtlich bedingt sind, sind sie nach ihrer allgegenwärtigen Wegdrängung vor allem in begriff shistorischer Pers-pektive zu denken. Erst wenn der Mensch in eine religiöse Semantik zurückkehrt, die ihn als kulturgewordenes Wesen ausweist, ist er wirklich frei zu entscheiden, ob absolute Deutungsautarkie für ihn eigene Freiheit bedeutet oder Selbst-Gefangen-schaft. Erst in religiöser Semantik kann er den sprachlichen Vertrauensbeweis auf-fi nden, dass er seinen Vertrautheiten auch wirklich vertrauen kann. Hier hat der Mensch die Vertrautheit mit sich selbst in dem Maße erreicht, dass er sich aus dem zynischen Modus des Alleingelassenseins befreien kann, die ihm die Selbsterschöp-fung auch noch als selbst zu verantwortende Schuld beimisst. Selbstschöpfend kann er nur in einer religiösen Semantik werden, die in ihm einen Bedeutungs-raum aufspannt, in dem er seine Selbstschöpfung von etwas ihn übersteigenden her denkt. Das Glück des Menschen hängt gerade davon ab, dadurch er selbst sein zu

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dürfen, dass er nicht ein Selbst sein muss. Nur in der Sprache der Religion fi ndet er dazu den adäquaten Bedeutungsrahmen, ohne sich dafür schon als glaubend entscheiden zu müssen.

Es gehört zur Paradoxität moderner Gesellschaften, dass der Beobachtung wie der eines Verlustes an religiöser Sprachlichkeit die folgende problemlos als Komple-mentärerscheinung korrespondiert, die eine globale Wiederkehr religiöser Deu-tungsperspektiven anzeigt und die über eine „Grammatik des inneren Lebens“10 in vielfacher Hinsicht hinausweist: eben die Wiederkehr der Religion vor allem auch in ihren verschiedenen öff entlichen Erscheinungsweisen.11

Die Wiederkehr des Gebliebenen

Wenn von einer Wiederkehr der Religion gesprochen wird ist stets zunächst zu klä-ren, von welcher Qualität eine solche Aussage sein will und welchem Religionsbe-griff sie sich jeweils verantwortlich zeigt. Gottfried Küenzlen hat in seiner formel-prägenden Studie zur Wiederkehr der Religion12 deren Lage und Schicksal in der säkularen Moderne aufgesucht und damit einen Bedeutungskontext als Referenz-rahmen gewählt, der explizit auf modernisierungstheoretische und religionssozio-logische Problemhorizonte des Th emas verweist. Küenzlen stellt hier zunächst apo-diktisch fest, dass „[d]ie Religion […] in die Geschichte zurückgekehrt“13 sei. Mit der Geschichtlichkeit von Religion tritt aber wiederum deren Sprachlichkeit gleich mit auf den Plan, denn die Rückkehr in die ‚Geschichte‘ ist ja etwas grundständig anderes als eine Rückkehr im Rahmen der Historie, also in dem, was man nach Lage der Dinge sichtbare Realität nennen könnte. Hier war Religion niemals ver-schwunden, war stets das große Dauernde der Kulturgeschichte, aber die Wahrneh-mung von ihr war eine aus den unterschiedlichsten Gründen verloren gegangene, programmatisch ausgesetzte, unverstanden zurückgelassene, sprachlos gewor dene. Der Begriff der ‚Geschichte‘ problematisiert demnach, dass die gebliebene Religion in den sprachlichen Deutungsrahmen der aktuellen Moderne zurückgekehrt ist. War sie historisch betrachtet stets präsent, wird sie nun aber nicht nur wieder ver-stärkt als solche wahrgenommen, sie ist auch zu einer zentralen Deutungsfolie moderner und zudem auch der als ‚unmodern‘ gedachten Gesellschaften avanciert. Wir verstehen unsere Lage und unser Schicksal in der globalen Welt besser, ja nur dann, wenn wir sie auf dem Hintergrund der Religionsproblematik erfassen. Dabei

10 Ehrenberg , Das erschöpfte Selbst, a.a.O., S. 27. 11 Vgl. Schröder , Richard: Abschaffung der Religion? Wissenschaftlicher Fanatismus und die Fol-

gen. Freiburg 2008. – Bernius , Volker: Religion und Gesellschaft. Zur Aktualität einer unbe-quemen Beziehung. Berlin 2010. – Matussek , Matthias: Das katholische Abenteuer. Warum es ohne Glauben nicht geht. Eine Provokation. München 2011.

12 Küenzlen , Gottfried: Die Wiederkehr der Religion. Lage und Schicksal in der säkularen Moder-ne. München 2003.

13 Küenzlen , Die Wiederkehr der Religion, a.a.O., S. 9.

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provoziert der von Küenzlen plakatierte Schicksalsbegriff eine doppelte, brisante Einsicht: Nicht nur die Religion ist schicksalhaft geworfen in eine modern-unsi-chere Welt, auch die ‚aufgeklärte‘ Gesellschaft beherrscht die Lage, in der sich aktu-elle Weltbeschreibung wiederfi ndet, mit den Mitteln der rationalen Vernunft kei-neswegs. Der Religionsbegriff zeigt uns vielmehr, dass die Wissenschaftsgläubig-keit der Moderne mit ihrem Paradigma rationaler Erkenntniskontrolle allen Seins schon im Ansatz ihre Unzulänglichkeit und damit eine Schicksalhaftigkeit anzeigt, aus der weder verstehende Religionen noch verständige Vernunft, sondern dispara-te Deutungsmuster in der Gestalt von Irrationalismen erwachsen. Es ist somit kei-neswegs ungefährlich, auf das Erstarken einer Quasi-Religiosität des Tatsächlichen im Gewand des Positivismus zu setzen. Die Wiederkehr der Religion zeigt vor allem die Krise derer, die diese Religion vollständig überwunden glaubten. Küenzlen spricht so von Wirklichkeitsverweigerungsstrategien moderner Weltauff assung:

„Blind ist – wer in eurozentrischer Selbstbornierung – nicht wahrnimmt, daß wir die heutige Weltlage, ihre Krisen, Konfl ikte und Kriege, aber auch das Selbstverständ-nis und Selbstbewußtsein der außereuropäischen Kulturen nur wirklich verstehen können, wenn wir auch die Rückkehr der Religionen als ‚Lebensmacht‘ (Max Weber ) erkennen.“14

Insofern ist die Ansicht einer allmählichen Überwindung der Religion durch Rati-onalität nicht nur – wie hier bemerkt – Ausdruck bornierter Selbstbezüglichkeit, sie ist auch von einer dramatischen Provinzialität des Denkens. Hinzu tritt eine plakative Legerheit im medialen Diskurs um Sinnfragen einerseits und die etwas hastig anmutende Lösungsgewissheit eines zunehmend angloamerikanisch einge-kleideten Wissenschaftsessayismus‘ andererseits. Die Sprache für die Krisis der Moderne, sie ist noch nicht genügend aufgefunden, sucht lieber hastig nach Lösun-gen, den Fortschrittsgedanken in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft als deren ideologische Voraussetzung zu retten.

Aus diesem Grunde ist es von systematisch zentraler Bedeutung, das sprachliche Deutungsmuster der Religionen und hier eben nur unter anderen das des Christen-tums als der „Herkunftsreligion Europas“15 nicht lediglich in der systematischen Fläche und damit in deskriptiver Gleichzeitigkeit aufzuschließen, sondern vor allem in seinen geschichtlich gewordenen Erscheinungsformen zu verstehen, die zum Teil Jahrtausende alter Prüfung obliegen. Erst hier wird es grundständig kri-tisch, und auf diesem Hintergrund ist Religiöse Semantik als sprachphilosophische Suchbewegung zu verstehen, die bewusst auf die Religionen als Lebensmächte der Kulturgeschichte zurückgeht, um die Defi zite und Probleme der Gegenwart kri-tisch kenntlich zu machen und analytisch zu verstehen.

Die Geschichte des spätmodernen Europas im 21. Jahrhundert ist aber auch die Geschichte eines philosophischen Geschichtsverlustes, und daher ist nicht nur die

14 Ebd. 15 Ebd.

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Religion eher unverhoff t in die Deutungsmuster der Geschichte zurückgekehrt, mit ihr fi ndet sich erneut eine Betrachtungsweise der Philosophie denkgeschicht-lich ein, die geisteswissenschaftlich im engeren Wortsinn verfährt, das Wesen der Dinge im Denken sprachlich sichtbar machen will und sich die Erkenntnisbemü-hung nicht von einer angeblichen Integrationsnot mit Zeitgeistkonstruktionen verschleiern lässt. Es geht hier keinesfalls um eine Philosophie der sanften Bestäti-gung gegenüber dem was ist, um zu zeigen, wie aktuell man selber teilhaben kann, es geht um einen kritisch angelegten Denkmonitor, in dem die Geistesgeschichte aktuellen Weltbeschreibungen großräumig den Spiegel vorhält. Dies alles ist, um in Küenzlens Diktion zu bleiben, gerade „kein geisteswissenschaftlicher Luxus, son-dern gründet in der realistischen Einsicht in die Macht der Kultur: Gesellschaften leben nicht nur von der Pragmatik der Interessen und Nutzenkalküle, sondern auch von den in ihnen lebendigen Ideen, Welt- und Menschenbildern“16. Diese sind folglich in die Geschichte zurückzuholen, um die Welt angemessen deuten zu können, und hier waren es kulturgeschichtlich immer zuerst „die Religionen, die […] Antwort auf die Frage des Menschen nach sich selbst boten“17, eine Frage, auf die jede Gesellschaft jenseits der Ebene des Subjekts Antworten zu geben hat.18 Während jedoch die Religionen durch ihre Geschichte ebenso orientierungssicher wie sprachkundig geworden sind, ist

„die von Aufklärung, Religionskritik und säkular-diesseitigen Glaubenskräften geprägte säkulare Moderne, auf die Religion bezogen ein historisch höchst eigenar-tiges und überdies bislang, geschichtlich betrachtet eher kurzlebiges Gebilde […]; nur das in der Dogmatik eines von bestimmten Aufklärungstheoremen gefangene Denken gaukelt uns vor, die Evolutionsdynamik moderner Gesellschaften sei not-wendig und geradezu geschichtsprovidentiell verbunden mit dem Verlust der Religi-on als kulturprägender Kraft.“19

Dies soll ausdrücklich keine Zurückweisung aufklärerischen Denkens weder seiner grundsätzlichen Profi llinien noch seiner vielstimmigen Erscheinungsformen (viel-mehr eine deutliche Forderung danach) sein, aber es ist der aufklärende Befund, dass eine positivistische Argumentationsindustrie szientistischer Prägung, die das

16 Ebd. 17 Küenzlen , Die Wiederkehr der Religion, a.a.O., S. 11. 18 Zur Rückkehr der Religion und Rücknahme von Religionsvergessenheit im Rahmen der

Kulturwissenschaften vgl. Weidner , Daniel: Bibel und Literatur um 1800. München 2011, S. 15. Interessant ist hier vor allem die Tatsache, dass sich um 1900 ein ähnlicher Befund zeigt, der sich mit den Namen Warburg , Freud , Weber und Benjamin verbindet. – Vgl. in theologischer Perspektive und im Rekurs auf Thesen Joseph Ratzingers zur Modernität der Religion Waldenfels , Hans: „Rückkehr der Religion. Eine Einführung“. In: Ders. (Hrsg.): Religion. Entstehung – Funktion – Wesen. Freiburg, München 2003, S. 7-25, hier: S. 7-8. – Vgl. als Charakteristik des Christentums zwischen Glaube und Theologie Joseph Ratzinger : Einführung in das Christentum. Vorlesungen über das apostolische Glaubensbekenntnis. Mün-chen 1968.

19 Küenzlen , Die Wiederkehr der Religion, a.a.O., S. 12.

23APOLOGIE

Sichtbare als Heiliges auszugeben gewohnt ist, vielerorts ihren aufklärerischen Charakter längst eingebüßt hat. In einem gesellschaftsimprägnierten Referenzrah-men bequem eingerichtet behauptet sie starrsinnig, dass Säkularisierung eo ipso eine Art Erkenntnisfortschritt darstelle. Dass dies vor allem dem allgegenwärtigen Religionssubstitut eines radikalen Markt-Kapitalismus in die Hände spielt, braucht kaum erwähnt zu werden. Hier hat die Geistesreligionsgeschichte in ihrer integrier-ten Form sich dialektisch entgegen zu setzen, in dem sie bspw. den Menschen und seine niemals allein auf sich selbst gestellte Würde, seine gelingende Geschichtlich-keit und mitfühlende Erzählbarkeit in den Mittelpunkt der Argumentation rückt. Die Religion, sie kehrt nicht wieder in die Geschichte um ihrer selbst willen, son-dern um ihrem Selbstwillen genüge zu tun ist sie gerade Zeuge des Anderen. Ihre Geschichtlichkeit ist dabei Garant ihrer „Umformungen, Assimilationen und Transformationen […] – als Bedingung ihres Überlebens“20. In diesem theoreti-schen und praktischen Horizont muss sich ihre Sprachlichkeit als prüfend erwei-sen. Die Religion ändert sich, weil ihr Feld sich ändert.

Religion ist untrennbarer Teil säkularer Kultur, weil sie mit ihr die Erschei-nungsräume teilt. Damit sind Verwechslungen in der Wahrnehmung vorprogram-miert, denn „die Moderne hat ihre eigene säkulare Glaubensgeschichte“21 weithin ausgebildet, ist in dieser gestützt auf „innerweltliche[.] Erlösungshoff nungen und Heilsversprechen“22, die ihr Halt bieten wie bspw. die Progressivität der Geschich-te, die Eff ektivität technischer Wissenschaft und einen „politischen Messianismus“23, der ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen will. Diese drei Substitute bieten laut Küenzlen weder Aufklärung noch Religion, sondern zeigen eine Trias diessei-tigen Glaubens. In der Religion aber ist Geschichtsverständnis selbst Gegenwarts-verständnis. Sie kennt und erkennt den Menschen selbst als erklärungsbedürftig und entlastet ihn vom Albtraum „schiere[r] Diesseitigkeit“24, in der der lose Mensch an sich selbst erschöpft und in „Eindimensionalität und Trivialität gebannt“25 zurückbleibt. Hier verliert der Mensch u.a. seine Fähigkeit, Transzendentes sprach-lich zu erfassen, und wird so nicht nur zunehmend unfähig, sich selbst als „prinzi-piell gute[s], stets verbesserbare[s] Wesen[.]“26 zu verstehen (und sich auch verge-ben zu können), er verliert zudem die kulturtragende Vorstellung von „der Idee der einen Wahrheit“27 und damit die Entscheidungsmöglichkeit, die „Botschaft vom richtigen Leben“28 als eine solche gegen das falsche für sich aufzubieten.

Nun wäre dies Alles als trivialer Rettungsversuch einer um sich selbst besorgten Religion abzutun oder gar als Sicherungsarbeit ihrer moralisierenden Machtansprü-

20 Küenzlen , Die Wiederkehr der Religion, a.a.O., S. 13. 21 Küenzlen , Die Wiederkehr der Religion, a.a.O., S. 18. 22 Ebd. 23 Küenzlen , Die Wiederkehr der Religion, a.a.O., S. 19. 24 Küenzlen , Die Wiederkehr der Religion, a.a.O., S. 25. 25 Ebd. 26 Küenzlen , Die Wiederkehr der Religion, a.a.O., S. 27. 27 Küenzlen , Die Wiederkehr der Religion, a.a.O., S. 28. 28 Küenzlen , Die Wiederkehr der Religion, a.a.O., S. 29.

24 DIE GANZE WELT IST EINE GALLERIE RELIGIÖSER ANSICHTEN

che, sähe sie ihre selbsternannten Nachfolger gelingend am Werk. Es hat sich jedoch die „säkularisierungstheoretische Annahme, die Macht der Religion sei Zeichen noch nicht erreichter Modernisierung und sie verschwinde, je mehr ein Land oder eine Kultur in der ‚Moderne‘ ankäme“29, historisch off ensichtlich als falsch erwie-sen. Allerdings profi tiert die Religion vom Unvermögen ihrer Substitute, was sie vor prinzipielle Fragen stellt, denn die Sinnhaftigkeit ihres Erstarkens gilt es in mehr zu begründen als den Schwächen der säkularen Moderne. Ihren gegenwärtigen Prozess der Wiederkehr dialektisch zu sehen ist auch deswegen angezeigt, weil das Phäno-men selbst dialektisch angelegt ist. Nicht nur die zahlreichen Fundamentalismen zeigen dies, es lassen sich auch „Privatisierung und Entpolitisierung“30 der Religion ebenso beobachten wir deren „Entprivatisierung und Politisierung“31, ein Zurück-gehen institutioneller Religionsformen korrespondiert einer Interessezunahme an ungebundenen, „neue[n] Formen von Spiritualität und neue[n] Frömmigkeitsbe-wegungen“32. Wenn so von ‚Wiederkehr der Religion‘ gesprochen wird ist zu klä-ren, welcher Religionsbegriff hier eigentlich in Rede steht und auch, ob und welcher Religionsbegriff sinnstiftend wäre für die aktuelle gesellschaftliche Realität. Dafür ist es zunächst hilfreich, sich seiner Perspektivierung durch die Sprachbenutzer zu nähern und nach deren Einstellungen und Haltungen zu fragen.

Empirische Religionsübersichten

Die Bertelsmann-Stiftung hat im Jahr 2008 einen sogenannten Religionsmonitor herausgegeben und dafür über 21000 Menschen in aller Welt zu ihren religiösen Ansichten befragt.33 Einige Ergebnisse dieser komplexen Studie in der Übersicht anzuschauen ist dreifach lohnend. Zuerst erfährt man über das Fragedesign der Untersuchung Zentrales über den Religionsbegriff selbst. Es musste hier ein Begriff von Religion vorausgesetzt sein, der in einer sozialwissenschaftlich gestützten Stu-die auch handhabbar und aussagekräftig ist. Sodann erfährt man etwas über die Einstellungen der Menschen zur Religion in empirischer Perspektive, kann sich somit ein Bild von Reichweite, Intensität und Struktur ihres Religionsverständnis-ses machen. Schließlich lässt sich, und das ist für den hiesigen Zusammenhang bedeutsam, die Rolle der Sprache im Prozess individueller und gesellschaftlicher Religionswerdung ermessen. Besonders nach diesem dritten Aspekt soll hier ge -sucht werden. Die folgende Sichtung bezieht sich dafür gerade auf den Teil der Stu-die, der religiöse Haltungen und Einstellungen in Deutschland betriff t. Zwar hat sich die Dynamik des Th emas in seiner kontrastiven Interpretationsweite in inter-nationaler Perspektive stark verändert, es ist aber gerade interessant, die heteroge-

29 Küenzlen , Die Wiederkehr der Religion, a.a.O., S. 32. 30 Küenzlen , Die Wiederkehr der Religion, a.a.O., S. 33. 31 Ebd. 32 Küenzlen , Die Wiederkehr der Religion, a.a.O., S. 73. 33 Vgl. Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Religionsmonitor 2008. Gütersloh 2007.

25APOLOGIE

nen Auswirkungen auf die Gesellschaft in Deutschland als eines westlichen Indus-trielands zu sichten, das in dieser Hinsicht Homogenitätsverlust und starke Transformationen erlebt.

Stefan Huber formuliert für das Untersuchungsdesign sechs Kerndimensionen von Religiosität, die wesentlich auf der amerikanischen Religionssoziologie der 1960er Jahr fußen. Hier wäre zunächst die intellektuelle Dimension zu nennen, die sowohl das religiöse Wissen als auch die entsprechende Auskunftskompetenz zur eigenen Religiosität betriff t.34 Religiosität hat insofern immer etwas mit sprach-lichem Verstehen und Bekenntnis zu tun und ist wesentlich mit „der geistigen Durchdringung religiöser Inhalte und der religiösen Deutungskompetenz ver-bunden“35. Dies gilt auch für die zweite Dimension, die Huber als religiöse Ideolo-gie bezeichnet. Hier stehen die Glaubensaussagen, also wiederum sprachliche Phä-nomene, im Vordergrund verbunden mit der Zustimmungsbereitschaft zu einer „transzendente[n] Wirklichkeitsschicht“36. Diese kann entweder theistisch oder pantheistisch ausfallen, Huber weißt jedoch ausdrücklich darauf hin, dass „das semantische Universum religiöser Ideologie wesentlich vielfältiger und komplexer“37 ausfällt, als es diese Scheidung suggeriert. Man darf sich hier mit einigem Recht an Hubers Terminus der ‚Ideologie‘ stoßen, impliziert diese doch auf den ersten Blick die Behauptung einer strategischen Vereinseitigung von Glaubensphänomenen sei-tens der Akteure sowie eine Willkürlichkeit der in der Religion enthaltenen Deu-tungsformen. In einer soziologischen Studie kann der Ideologiebegriff gleichwohl der besseren Vergleichbarkeit zu ähnlichen Phänomenen dienen und die Verortung der Glaubenskonstruktion im Hinblick auf andere weltanschauliche Haltungen erleichtern. In einem soziologischen Referenzrahmen ist Glaube deswegen eine ‚Ideologie‘, weil damit seine Relationalität zu anderen Ideologien kenntlich wird.

„Die Kerndimension der religiösen Ideologie bezieht sich auf die soziale Erwartung, dass religiöse Menschen an eine Reihe empirisch nicht verifi zierbarer Vorstellungen glauben, die sich auf die Existenz und das Wesen einer transzendenten Schicht der Wirklichkeit beziehen. Psychologisch vollzieht sich diese Dimension im Medium des Glaubens. Das Religiöse erscheint daher in der Form von sozial geteilten Plausi-bilitätsmustern.“38

Damit umgreift der Glaubensbegriff den Ideologiebegriff prägend und hält ihn auf einer religiösen Interpretationsebene. Dass Glaubensvorstellung semantische Teil-

34 Vgl. Huber , Stefan: „Aufbau und strukturierende Prinzipien des Religionsmonitors“. In: Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.): Religionsmonitor 2008. Gütersloh 2007, S. 19-29.

35 Huber , „Aufbau und strukturierende Prinzipien“, a.a.O., S. 22. 36 Ebd. 37 Huber , „Aufbau und strukturierende Prinzipien“, a.a.O., S. 23. 38 Huber , Stefan: „Der Religionsmonitor 2008: Strukturierende Prinzipien, operationale Kon-

strukte, Auswertungsstrategien“. In: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Woran glaubt die Welt? Analysen und Kommentare zum Religionsmonitor 2008. Gütersloh 2009, S.  17-52, hier: S. 24.

26 DIE GANZE WELT IST EINE GALLERIE RELIGIÖSER ANSICHTEN

habe an Plausibilität ist, mindert ihren transzendenten Wirklichkeitscharakter nicht substantiell, sondern richtet ihn auf den Anderen und damit seinen Transzendenz-vorbehalt. Die dritte Dimension der Religiosität ist dann die einer „öff entlichen religiösen Praxis“39, die auf gemeinschaftliche Ritualisierung der Glaubensvollzüge zielt. Auch dies muss man sich letztlich mindestens in einer Sprache der Symbole vorstellen, womit wiederum der sprachliche Aspekt angesprochen und die sprach-lich-liturgische Dimension noch gar nicht berücksichtigt ist. Demgegenüber steht die „private[.] religiöse[.] Praxis“40, in der Menschen eine Hinwendung zur Trans-zendenz personal gestalten. Hier wäre die zentrale sprachliche Form das Gebet als Sprachform einer theistischen Gottesvorstellung. Transzendenzerfahrung ist für religiöse Menschen eine charakteristische Wahrnehmungsweise, die sich u.a. mit einer Gefühlssemantik von „Ehrfurcht, Geborgenheit, Schuld, Freude, Angst und Liebe“41 mischt, diesen Gefühlen aber auch im Religiösen besondere Prägung ver-leiht und grundlegend verwandelt. Ist davon auszugehen, dass Glaubensvollzug ein selbstverständigender Prozess ist, ist deutlich, dass Begriff sbildung konstitutiv hier mit einbezogen ist. Als letzte Dimension nennt Huber die Alltagskonsequenz, die schon daher sprachlich ist, weil ihre Maßstäbe wertegebunden und ihre Auswir-kungen kommunikativ auftreten.

Hilfreich ist eine weitere Diff erenzierung Hubers, die eine Typologie der Bevöl-kerung in Bezug auf die Religionsproblematik erlaubt und diese dafür in Hochreli-giöse, Religiöse und Nichtreligiöse einteilt. Hochreligiöse sind dabei diejenigen, bei denen „religiöse Inhalte eine zentrale Rolle in der Persönlichkeit“42 spielen, und deren gesamtes Verhalten, vor allem das eigene und gesellschaftliche Erleben, durch Religiosität bestimmt ist. Bei Religiösen „kommen religiöse Inhalte und Praktiken vor, sie spielen in der Persönlichkeit jedoch nur eine untergeordnete Rolle“43. Nicht-religiöse sind nach Huber diejenigen, bei denen dies alles kaum oder gar nicht vor-kommt. Bei dieser Gruppe sind also zunächst die im strengen Sinne Nicht-Religiö-sen wie dann auch die, bei denen Religiosität nur eine marginale Rolle spielt, zusammengefasst. Dies profi liert im Kontrast die mittlere Gruppe der Religiösen noch einmal als durchaus religionsbezogen. In der Untersuchung nun ergab sich, dass immerhin 70% der Deutschen den Gruppen Hochreligiöse (18%) und Religiöse (52%) angehören.44 Dies passt auf Anhieb vielleicht nicht so ganz in das üblich gewordene Bild einer in dramatischer Weise durchsäkularisierten Gesellschaft eben-so wie die Tatsache, dass diese Gruppen einen eher hohen Organisationsgrad auf-weisen. Immerhin über 30% der deutschen Bevölkerung sind der katholischen Kir-che angehörig, noch einmal 30% binden sich in den in der EKD organisierten

39 Huber , „Aufbau und strukturierende Prinzipien“, a.a.O., S. 23. 40 Ebd. 41 Huber , „Aufbau und strukturierende Prinzipien“, a.a.O., S. 24. 42 Huber , „Aufbau und strukturierende Prinzipien“, a.a.O., S. 25. 43 Ebd. 44 Vgl. Huber , „Aufbau und strukturierende Prinzipien“, a.a.O., S. 27.

27APOLOGIE

evangelischen Kirchen, knapp 30% haben überhaupt keine Zugehörigkeit.45 Bei den verbleibenden 10% sind die Muslime mit 4% am stärksten vertreten.46 Die Kir-chenzugehörigkeit ist insofern öff entlichkeitssprachlich bedeutsam, als Kirchen sich als semantische Überzeugungsgemeinschaften verstehen und damit als regulierende Sprachgemeinschaften verfasst sind, die in ihren tradierten Sprachregeln gemeinsa-me Gewissheiten und Ansichten zum Ausdruck bringen und sicherstellen.

Huber macht nun eine brisante Beobachtung, die enorme Konsequenzen für öff entliche Diskurse bedeutet, und die die religiöse Semantik zur öff entlichen hin entgrenzt: „Je breiter die Gruppe der Hochreligiösen in einem Land ist, desto grö-ßer dürfte die Wahrscheinlichkeit sein, dass allgemeine gesellschaftliche Diskurse in einer religiösen Semantik geführt werden und eine religiöse Signatur tragen.“47 Es wäre, trotz der als international zu verstehenden Reichweite dieser Th ese, voll-ends fehlgehend, nun auf einen Begriff des Hochreligiösen zu schließen, der vor allem dogmatische oder gar fundamentalistische Züge trüge. Letzterer ist ein Son-derbereich, der das Hochreligiöse gerade gefährdet, weil er es in den Geruch des Irrationalen bringt. Vielmehr betreff en Diskursprägungen durch Hochreligiosität vor allem die Diskurse moderner Zivilgesellschaften, die in der Mitte der Gesell-schaft stattfi nden, dort jedoch dann von der Gesamtheit der Sprachgemeinschaft kontrovers diskutiert werden. Ein semantischer Streit wie bspw. der um die Einfüh-rung eines Betreuungsgeldes für zu Hause erziehende Familien und seine pejorative Bezeichnungskonkurrenz als Herdprämie hat im Kern ein religionssemantisches Fundament. Die Programmatik eines christlich verstandenen Familienbildes triff t im kontroversen Diskurs auf gesellschaftliche Entscheidergruppen, die ebenso kompromisslos ihr Konzept einer Säkularisierung der Geschlechterrollen durchzu-setzen suchen. Die eine Gruppierung würde es in dieser Perspektive aus prinzipiel-len Gründen wohl auch dann weiter verfolgen, wenn jede realpolitische Einsicht oder auch gesellschaftliche Zwänge davon abraten, und die andere würde es selbst dann weiter bekämpfen, wenn es gesellschaftspolitisch sinnvoll oder von einer Mehrheit explizit gewünscht wäre. Ein solcher Streit ist letztlich nur dann aufzulö-sen, wird die ihm zugrunde liegende kontroverse Semantik öff entlich zunehmend vergessen bzw. egalisiert und das Th ema dadurch politisch entscheidungsfähig, dass es die Normativität seiner Semantik verliert.

Die konstitutive Rolle der Sprachlichkeit von Religiosität wird jedoch erst dann wirklich auffi ndbar, wenn man über diese Beobachtungen hinausgeht und nach einer Th eorie von Religiosität fragt, die deren Konstitutionsbedingungen versteht. Volkhard Krech sieht im Religionsmonitor belegt, dass

45 Vgl. Krech , Volkhard: „Exklusivität, Bricolage und Dialogbereitschaft. Wie die Deutschen mit religiöser Vielfalt umgehen“. In: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Religionsmonitor 2008. Gü-tersloh 2007, S. 33-43, hier S. 34.

46 Vgl. Krech , „Exklusivität, Bricolage und Dialogbereitschaft“, a.a.O., S. 35. 47 Huber , „Aufbau und strukturierende Prinzipien“, a.a.O., S. 28.

28 DIE GANZE WELT IST EINE GALLERIE RELIGIÖSER ANSICHTEN

„zwei von drei Deutschen dazu [neigen], ihre eigene Religiosität etwas oder stark zu hinterfragen […]. Der in diesem Zusammenhang wichtigste Befund lautet, dass Menschen, für die Religiosität in ihrem Denken, Fühlen und Handeln zentral ist, auch eine vergleichsweise hohe Bereitschaft an den Tag legen, sie zu hinterfragen.“48

Dass demnach religiöse Menschen eher zur schlichten Übernahme fremdbestimm-ter Muster neigen, die aus der Tradition unrefl ektiert übernommen werden, stimmt gerade nicht. Mit diesem Befund ist aber der sprachliche Charakter von Religiosität als konstitutiv ausgewiesen, denn die Refl exion der eigenen Religiosität ist nur in Begriff en denkbar und so an die Möglichkeiten religiöser Semantik gebunden, die dem Individuum jeweils zur Verfügung stehen. Immerhin 40% der Hochreligiösen refl ektieren sogar besonders stark über ihren Glauben. Dass ‚glauben‘ refl exive Sprachentscheidung zum Glauben voraussetzt zeigt auch die Tatsache, dass 60% der stark Religionsgebundenen die Glaubensaussagen ihrer Religion für überzeu-gender halten als die anderer Religionen. Dass damit zumeist keineswegs Intole-ranz gegenüber anderen verknüpft49 ist zeigt an, dass mit der Religiosität von Hoch-religiösen häufi g eine bewusste Entscheidung für eine spezifi sche Religiosität ver -bunden ist, die auch in ihrem Konzept verstanden und geschätzt wird. Sprachliche Refl exivität ist somit zur Konstitutionsbedingung von Religiosität überhaupt ge-worden. Damit ist auch ein Trend abzulesen, der diesem eigenen Verstehen nicht nur einen normativen Raum sichert, sondern der auch dafür steht, dass gerade Hochreligiöse besonders kritisch gegenüber vorgegebenen Meinungen bspw. auch durch ihre Kirchenleitungen sind. Jene haben vielfach schon erkannt, dass die inner-kirchliche Kritik für ihre Bestandssicherung dauerhaft sehr viel brisanter ist als die von außen. Huber und Krech merken auf prinzipieller Ebene des Problems an, dass religiöse Refl exivität sprachbezogen selbst mittlerweile „als ein religiöser Stil ver-standen werden [kann]. Charakteristisch ist, dass die eigene Religiosität kritisch hinterfragt und auf ihre innere Konsistenz hin geprüft wird. Das Konzept der reli-giösen Refl exivität gehört zur intellektuellen Dimension“50 und nimmt mit ihr nicht nur eine immer bedeutsamere Stellung ein, sie ist auch selbst eine Vollzugs-form des Religiösen geworden, kurz: nur eine Religiosität, die kritisch verstanden wird, ist moderne Religiosität, nur kritisch verstandene Religion ist moderne Reli-gion. Gerade hochreligiöse Menschen sind darüber hinaus traditionskritisch des-wegen eingestellt, weil sie Kritik im religiösen Raum erst erlernen.51 Und hier ist wiederum ein Übergang zwischen religiöser Semantik und öff entlichem Diskurs zu beobachten.

48 Krech , „Exklusivität, Bricolage und Dialogbereitschaft“, a.a.O., S. 36. 49 Vgl. Krech , „Exklusivität, Bricolage und Dialogbereitschaft“, a.a.O., S. 39. 50 Huber , Stefan und Krech , Volkhard: „Das religiöse Feld zwischen Globalisierung und Regi-

onalisierung: Vergleichende Perspektiven“. In: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Woran glaubt die Welt? Analysen und Kommentare zum Religionsmonitor 2008. Gütersloh 2009, S. 53-96, hier: S. 70.

51 Vgl. Krech , „Exklusivität, Bricolage und Dialogbereitschaft“, a.a.O., S. 40.

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Hochreligiöse Menschen neigen zudem „etwas mehr dazu, gegenüber der Lebens- weise von Ausländerinnen und Ausländern Toleranz zu üben, als Menschen, für die Religion […] eine geringere Rolle spielt“52. Dies markiert nicht nur die kritische Sprachrefl exivität von Religiosität, es zeigt auch, dass religiöse Refl exion sensibel machen kann auch für andere Problemkreise, und es unterstützt die schon entfal-tete Th ese, dass gerade religiöse Semantik stärker als andere Semantiken geeignet scheint, angemessene Verständnisse zum und vom Anderen her begriffl ich ange-messen zu entwickeln. Dies ist ihr gesellschaftliches Potential, das die Teilhabe an Humanitätskonstruktionen indiziert. Laut Religionsmonitor hat daher „religiöse Refl exivität […] einen positiven Einfl uss auf die Bereitschaft zur Übernahme eines Ehrenamts […], ist somit eine zivilgesellschaftliche Ressource“53. Krech resümiert, dass Refl exion und Religiosität sich nicht nur häufi g wechselseitig ergänzen, son-dern dass gerade in dieser Kombination „religiöse Toleranz und zivilgesellschaftli-ches Engagement am stärksten ausgeprägt“54 sind. Refl exionsfähigkeit zur religiö-sen Semantik ist nicht nur auf den engeren Bedeutungsbereich der Religion bezogen, sondern bildet öff entliche Diskurse in spezifi scher Art und Weise. Religi-öse Semantik konstruiert eine erweiterte Sprachfähigkeit, die soziale Flexibilität, gedankliche Angemessenheit, Einsichts- und Humanitätsfähigkeit entwickelt.55

II. ERSCHEINUNGSFORMEN

Substitution der Religion: Religiöse Welt-Ansichten

In seinen Reden Über die Religion von 1799, einem bis heute in motivsprachlicher Hinsicht nahezu uneingeholten Text zum Religionsproblem, aus dessen Komposi-tionsform u.a. die hier verwendete Konstruktionsidee einer Apologie als Auftakt-text stammt, hat Friedrich Schleiermacher die in der Praxis weitreichende und the-oretisch-systematisch anspruchsvolle Th ese vertreten, „die ganze Welt [sei] eine Gallerie religiöser Ansichten“56. Damit wollte er explizit darauf hinweisen, dass erst genau hingeschaut werden muss um zu erfassen, wie unentrinnbar unsere Wirklich-keitskonstruktion von religiöser Semantik geprägt ist. Die gesamte gesellschaftliche Praxis heute wie vor 200 Jahren ist wesentlich von religiösen Spracherscheinungen

52 Krech , „Exklusivität, Bricolage und Dialogbereitschaft“, a.a.O., S. 41. 53 Krech , „Exklusivität, Bricolage und Dialogbereitschaft“, a.a.O., S. 42 54 Ebd. 55 Die Bertelsmann-Folgestudie Religionsmonitor. Religiosität und Zusammenhalt in Deutsch-

land. Gütersloh 2013, zeigt einen Trend zur Soziologisierung des ‚Religionssujets‘ und pers-pektiviert nun eher säkularisiert gesellschaftlich.

56 Schleiermacher , Friedrich: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799). Hrsg. von Günter Meckenstock . Berlin, New York 2001, S. 119. – Das folgende Unterkapitel wurde 2012 als Vortrag bei der Gesellschaft für deutsche Sprache gehalten und ist in gekürzter Form veröffentlicht in Sprachdienst 2/2013, S. 60-72.

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durchwirkt. Es ist kein Zufall, dass Schleiermacher mit dem ‚Ansich ten‘-Terminus hier eine Wortwahl triff t, die Wilhelm von Humboldt Jahrzehnte später in seiner ‚Weltansichten‘-Th ese zum systematischen Fluchtpunkt der Sprachkonstitution werden lässt. Das sprachliche Bild der ‚Galerie‘ mag zudem an die ‚Passagen‘-Kon-struktion Walter Benjamins erinnern und in dieser Zuordnung kann sie als Einla-dung zu einem Besichtigungstermin verstanden werden, wie, warum und nach welcher Typologie diese religiösen Spracherscheinungen gesellschaftlich auftreten. Es werden im Folgenden diese Typen erörtert und anhand von Beispielen erläutert. Dabei wird mit den Typen begonnen, die kein oder nur ein geringeres Maß an Refl exivität seitens der Sprachbenutzer aufweisen und voraussetzen und in denen religiöse Semantik vor allem in vielfachen sprachlichen Repräsentationsverhältnis-sen organisiert ist und zur Erscheinung kommt. Damit sind sie nicht im inneren Wesen religiöser Semantik angesiedelt, sondern zeigen, inwiefern religiöse Sprach-formen in die vielfältigsten säkularen Kontexte meist unkritisch eingestellt werden. Man kann sie daher auch als Substitutionsformen bzw. -typen einer wesenhaft religiösen Semantik bezeichnen, die im Anschluss an diese Substitutionstypen als Kon stitutionstypen erörtert werden. Erstere werden hier kritisch als ‚Welt-Ansich-ten‘ erkannt, letztere als ‚Sprachansichten‘ verstanden.

Kontroverse TiefensemantikReligiöse Semantik tritt bspw. in der Form auf, dass religiöse Deutungsprinzipien nicht explizit, aber in einer Art motivischer Tiefensemantik den öff entlichen Dis-kurs prägen. Ein Beispiel dafür wurde schon gegeben in der Bezeichnungskonkur-renz von Betreuungsgeld und Herdprämie. Hier wird nicht off ensichtlich kontrovers um religiöse Th emen gestritten, aber der öff entliche Diskurs hierzu wäre ohne die-sen Hintergrund weder existent noch verstehbar. In diesem Beispiel scheint zwar aus religiöser Semantik auf den ersten Blick sozialgeschichtliche Semantik gewor-den, der hohe Kontroversitätsgrad und die propagierte Unvereinbarkeit der besetz-ten Begriff e ist jedoch nur mit der Prägung durch eine religiöse Tiefensemantik zu verstehen. Diese erreicht heute mannigfach gesellschaftliche Wirklichkeiten, und prägt jene häufi g unerkannt bis in kleinste Verästelungen.57

57 Die hiesige Studie nutzt für die entsprechende Analyse im Wesentlichen das Instrumentari-um der sog. Düsseldorfer Diskurssemantik von Georg Stötzel und Martin Wengeler . – Vgl. hierzu Stötzel , Georg und Wengeler , Martin (Hrsg.): Kontroverse Begriffe. Geschichte des öf-fentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 1995; Stötzel , Georg und Eitz, Thorsten (Hrsg.): Zeitgeschichtliches Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Hildesheim (2., erweiterte und aktualisierte Aufl.) 2003; Wengeler , Martin: Topos und Dis-kurs. Begründung einer argumentationsanalytischen Methode und ihre Anwendung auf den Mi-grationsdiskurs (1960-1985). Tübingen 2003.