analog und digital - Otl Aicher (2. Auflage)

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Otl Aicher (1922-1991) war einer der herausragenden Vertreter des modernen Designs. Was er seit den 1950er Jahren, seit seiner Zeit an der von ihm mitbegründeten und heute legendären Ulmer Hochschule für Gestaltung, etwa auf dem Gebiet des Corporate Design, geschaffen hat - erinnert sei hier nur an die Erscheinungsbilder für die Firma Braun, die Lufthansa, das Zweite Deutsche Fernsehen und die Firma ERCO, gehört zu den ganz großen Leistungen der visuellen Kultur unserer Zeit.

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otl aicheranalogund digital

otl aicher analog und digital

Otl Aicher (1922 –1991) war einer der herausragenden Vertreter des modernen Designs, er war Mitbegründer der legendären Hochschule für Gestaltung Ulm (HfG). Der heute geläu� ge Begriff der visuellen Kommunikation ist auf ihn zurückzuführen. Was er seit den 1950er Jahren geschaffen hat, erinnert sei z. B. an die Piktogramme für die Olympischen Sommerspiele München 1972, gehört zu den ganz großen Leistungen der visuellen Kultur unserer Zeit.

Ein wesentlicher Aspekt der Arbeiten von Aicher ist deren Verankerung in einer von Denkern wie Ockham, Kant oder Wittgenstein inspirierten „Philosophie des Machens“, die die Voraussetzungen und Ziele sowie die Gegenstände und Ansprüche von Gestaltung zum Thema hat. Aichers Schriften zu Fragen des Designs von der visuellen Ge-staltung bis hin zur Architektur liegen in diesem Band in geschlossener Form vor.

Wenn Aicher das Analoge und Konkrete dem Digitalen und Abstrakten vorzieht, tut er dies mit philosophischer Absicht. Er relativiert die Rolle der reinen Vernunft. Er kritisiert den Rationalismus der Moderne als Ergebnis der Vorherrschaft des bloß abstrakten Denkens. Wer das Ab- strakte dem Konkreten vorzieht, missversteht nicht nur die wechselseitige Abhängigkeit von Begriff und Anschau-ung. Er schafft nach Aichers Urteil auch eine falsche Hierarchie, eine Rangordnung, die kulturell verhängnis-voll ist. Das digitale, Abstrakte ist nicht höher, größer und wichtiger als das Analoge, Konkrete.

Wilhelm Vossenkuhl

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inhalt

8 einführung21 greifen und begreifen27 erweiterungen des ich36 das auge, visuelles denken47 analog und digital55 universalien und versalien60 buridan und peirce63 lesen von partituren65 ehrendes begräbnis für descartes75 design und philosophie94 architektur und erkenntnistheorie

110 der gebrauch als philosophie134 planung und steuerung148 entwicklung, ein begriff152 ein apfel157 das ganz gewöhnliche174 lebensform und ideologie182 kulturen des denkens192 nachwort194 nachweise

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Einführung

von Wilhelm Vossenkuhl

Authentizität und eine fragwürdige Analogie

„Wie kommt es“, fragt Edward Young, „dass wir alsOriginale geboren werden und als Kopien sterben?"Der englische Poet aus dem 18. Jahrhundert ist da-rüber besorgt, dass wir als Individuen in der Gesell-schaft unsere Unverwechselbarkeit verlieren. Wirpassen uns den anderen Menschen, dem Geschmackder Zeit, aber auch dem Recht und der politischenOrdnung an. Am Ende wissen wir nicht, wer wir sindund was uns von allen anderen unterscheidet.Diese Sorge um unsere Authentizität hat bis heute

nicht nachgelassen. Authentizität ist eines der großenThemen der Moderne. Youngs Zeitgenosse Rousseauglaubt, wir könnten nur sinnvoll in der „Einheit desLebens mit sich selbst“, in der Einheit mit der Naturexistieren. Er schlägt zur Rettung der Authentizität einneues bürgerliches Recht vor, das eine Lebens-gemeinschaft an Stelle abstrakter Rechtsverhältnisseschaffen soll.Wir können heute nicht recht nachvollziehen, wie

wir in einer bürgerlichen Lebensgemeinschaft demIdeal der Einheit mit der Natur gerecht werden sollen.Dennoch wirkt dieses Ideal noch immer faszinierend.Wir haben nicht aufgehört, nach ihm zu streben. Eshat in unserer ökologischen Epoche aber einenanderen Sinn als bei Rousseau.Wir wollen heute auf dem kürzesten Weg zur Ein-

heit mit uns selbst gelangen und unser authentischesSelbst nicht mehr auf dem Umweg über die Gesell-schaft suchen. Wir streben nach dem direkten, kon-kreten Verhältnis zu unserer eigenen Natur und unserernatürlichen Umwelt. Die Gesellschaft und ihre Ord-nung scheinen vom richtigen Verhältnis des Individu-ums zur Natur abhängig zu sein, nicht umgekehrt. Mitdem Bewusstsein von den ökologischen Gefahren trittdie natürliche vor die soziale Umwelt. Der langezumindest politisch und rechtlich beachtete Vorrangder Gesellschaft vor den egoistischen Interessen desIndividuums wird seit einiger Zeit in Frage gestellt.Zumindest in westlichen Gesellschaften herrscht seiteiniger Zeit ein neuer Individualismus mit vielenLicht- und Schattenseiten.

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Rousseaus Vorschlag erschien Lionel Trilling voreinem halben Jahrhundert reichlich abstrakt. Trillingmeinte, unser Gefühl für Authentizität sei rauher,konkreter, extremer geworden (Das Ende der Aufrich-tigkeit, Frankfurt a. M. 1983, S. 92). Als Trilling dieseThese in seinen Vorlesungen an der Harvard Univer-sity vortrug, war sie gut nachvollziehbar. Seine dama-lige Skepsis Rousseau gegenüber ist heute wiederumschwer verständlich. Das Glück, das Rousseau als phi-losophisches Leben in seinen „Rêveries“ beschrieb, istdagegen wieder zugänglich (Heinrich Meier, Über dasGlück des philosophischen Lebens. Reflexionen zuRousseaus Rêveries, München 2011).Das Bemühen um Einheit mit der Natur und nach

einem authentischen, gleichzeitig glücklichen Selbst istangesichts der ökologischen Gefahren unter Zeitdruckgeraten. Kein Wunder, dass wir unter diesem Zeitdruckimmer ungeduldiger werden. Mit der Ungeduld wächstauch die Unduldsamkeit gegenüber den – tatsächlichenoder vermeintlichen – Verursachern dieser Gefahren.Diese Ungeduld ist jedoch selbst ein Symptom undnicht nur eine Folge der Krise des Verständnisses vonuns selbst und unserer Einheit mit der Natur.Die Krise ist nicht nur älter als die ökologische. Sie

war denen, die – wie Rousseau – in der Aufklärungnach unserer Authentizität gefragt haben, bereitsbewusst. Der Versuch, diese Krise zu lösen, führt aberin eine falsche Richtung. Im späten 18. Jahrhundertsetzt sich nämlich – nach langer Vorbereitung durchAnatomie und frühe biologische Forschung – derGedanke durch, dass das Organische das Natürliche sei.Wie irreführend dieser Gedanke im Hinblick auf

unser Selbstverständnis und unser Verhältnis zurNatur ist, lässt sich zunächst nicht erkennen. Viel-leicht hat er deswegen bis heute kaum etwas von sei-nem Einfluss eingebüßt. Er begegnet uns in der Kritikan der modernen Technologie ebenso wie in der Liter-atur. Was macht diesen Gedanken so plausibel?Ein Organ ist ein Ganzes, auch wenn es Teil eines

größeren Zusammenhangs mit anderen Organen ist;es spielt eine unverwechselbare und unersetzlicheRolle. Ein anschaulicheres Bild der Authentizitätals das Organische lässt sich schwerlich finden. Esvermittelt den Gedanken, dass das Authentischenatürlich gewachsen sein muss, dass es nicht künstlichhergestellt sein darf.Die ersten Kritiker des Zeitalters der Maschine im

frühen 19. Jahrhundert, Carlyle und Ruskin, bedienen

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sich der Analogie zwischen dem Authentischen undOrganischen. Sie sehen im mechanischen Prinzip derMaschine eine Gefahr für die Authentizität des Men-schen. Alles, was der Mensch selbst mit technischenHilfsmitteln schafft, ist in ihren Augen künstlich her-gestellt und deswegen nicht authentisch. Auch dieKunst muß sich, wenn sie Authentisches schaffen will,so meinen sie und die Romantiker des 19. und 20.Jahrhunderts, am Organischen orientieren. Wer übri-gens meint, dass Carlyles und Ruskins Skepsis derMaschinenwelt gegenüber lange her und längst obso-let ist, irrt. Erst jüngst können wir Zeugen einer nichtweniger vehementen Kritik am Maschinen- und Wis-senschaftszeitalter werden, in Michael OakeshottsTagebüchern (Michael Oakeshott, Notebooks 1922–1986, ed. by Luke O’Sullivan, Exeter 2014). AuchOakeshott ging es indirekt um die Analogie zwischendem Authentischen und dem Organischen in Gestaltdessen, was unsere integre, von nichts und nie-mandem verbogene Natur als Menschen ausmacht. Ersprach vom „Terrorismus der Wissenschaft“ („terrorismof science“) und wendete sich gegen einen oberfläch-lichen Fortschrittsglauben, der unsere Natur verändert.Wie Ruskin glaubte er, dass die Kommerzialisierungdes Lebens, die Industrialisierung und das Geld derFluch unserer Tage seien. Dies alles lenke uns vonunserem eigentlichen Selbst ab. Die Frage nach derAnalogie zwischen dem Authentischen und demOrganischen ist offenbar nicht veraltet. Was ist aberfragwürdig an dieser Analogie?Fragwürdig an der Analogie ist, dass sie uns auf-

grund einer kleinen Metamorphose irreführt. Denn dasOrganische verändert unversehens seine Bedeutung.Aus der Analogie, aus dem Bild für das Authentischewird plötzlich ein Vorbild, eine Art Ideal. Es erscheintso abstrakt wie Rousseaus Ideal der Einheit mit derNatur in Trillings Augen. Rousseaus Ideal ist aber allesandere als abstrakt, weil es mit der Idee der Freiheitverbunden ist. Der Mensch kann sich selbst bestim-men, das ist Rousseaus Botschaft. Die Freiheit ist einaktives Prinzip, das die Suche nach der Einheit mit derNatur in der Gesellschaft lenkt. Der Mensch istGestalter seiner eigenen Identität.Das Organische ist kein Vorbild aktiver Selbstbe-

stimmung. Es verurteilt den Menschen eher zu Passi-vität und Fremdbestimmung. Wir wissen nicht einmal,was wir tun sollen, wenn wir uns an dem orientieren,was organisch ist, abgesehen vom Einkauf in Bioläden

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natürlich. Die Analogie zwischen Authentischem undOrganischem ist fragwürdig, weil sie suggeriert, dasswir in der organischen Struktur der natürlichenUmwelt unsere eigene Natur entdecken können.Unsere Natur und unsere Einheit mit der natürlichenUmwelt bestimmen und gestalten wir aber selbst,wenn überhaupt. Deshalb sind wir auch für unsereeigene Natur und die Umwelt verantwortlich.

Wissen und Machen

Die Selbstbestimmung und die Gestaltung der Naturund der Lebenswelt bleiben abstrakte Ziele, solangewir nicht wissen, wie wir sie verwirklichen können.Welche Art von Wissen benötigen wir, um uns selbstzu bestimmen? Es gibt zwei Arten des Wissens, die inFrage kommen. Das eine ist das Wissen eines Plans,der vorschreibt, wie das Ziel der Selbstbestimmungerreicht werden kann. Das andere ist ein Wissen, dassich im Lauf der konkreten Selbstbestimmung erstentwickelt. Ersteres nennen wir theoretisches, letzterespraktisches Wissen. Im einen Fall liegt das Ziel fest,bevor es erreicht wird, im anderen konkretisiert sichdas Ziel erst auf dem Weg zu ihm.Beide Arten des Wissens kennt bereits Aristoteles.

Ihm ist allerdings zweierlei fremd, die Idee der Selbst-bestimmung und die Vorstellung, daß der Mensch sichselbst herstellen, sich selbst machen kann. Daher hates keinen Sinn, seine Auffassungen des theoretischenund praktischen Wissens auf die spezifisch moderneIdee der Selbstbestimmung zu übertragen. Wir müssensehen, wie in der frühen Moderne, in der die Idee derSelbstbestimmung entstand, theoretisches und prak-tisches Wissen verstanden wurde.Das moderne Verständnis des theoretischen Wissens

prägte vor allem Descartes, das des praktischen Wis-sens Vico. Für Descartes bedarf die Bestimmung deseigenen Selbst keiner Erfahrung. Das Ich hat für ihnkeine Geschichte. Es ist eine zeitlose und raumloseSubstanz, die wir nicht bezweifeln können. Wannimmer ich an etwas zweifle, weiß ich, dass ich es bin,der zweifelt. Dieses Ich muss, so argumentiert Des-cartes, unbezweifelbar sein. Seine theoretischen Be-stimmungen müssen, wie mathematischeGesetzmäßigkeiten, lediglich nachvollzogen, nicht neuentdeckt werden. Für Descartes kann es deshalb keinProblem der Selbstbestimmung geben. Das Ich ist

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immer schon als die unbezweifelbare Basis alles Wis-sens bestimmt.Vico, der Gegenspieler Descartes, glaubt, dass das

Wissen von uns selbst geschichtlich ist. Er sieht in den„Modifikationen unseres eigenen menschlichenGeistes“ die Prinzipien, nach denen wir die Geschichtemachen. Das Wissen von der Geschichte, dies ist seinGrundgedanke, bildet sich im und durch das Machender Geschichte. Wir erwerben praktisches Wissendurch das eigene Machen, das Herstellen derGeschichte.Descartes’ Auffassung des theoretischen Wissens hat

die Entwicklung der modernen Naturwissenschaftengeprägt. Ihr Wissen setzt Mathematik voraus. Mit Hilfeder Mathematik konnten und können sie erfolgreichdie Gesetzmäßigkeiten der Natur auf der Basis vonExperiment und Hypothese formulieren. Descartes for-mulierte die modernen Standards der Wahrheit undder Gewissheit des Wissens.Vicos Auffassung des praktischen Wissens durch

menschliches Machen blieb ein ähnlicher Erfolg ver-sagt. Dies liegt auch daran, dass seine Auffassung desMachens in sich unstimmig ist. Wir machen zwar dieGeschichte, folgen dabei aber, als Geschöpfe Gottes,den von ihm festgelegten Gesetzmäßigkeiten. Die Ideeder Selbstbestimmung des Menschen ist Vico nochfremd.Welche Auffassung des Wissens sagt uns nun, wie

wir uns selbst bestimmen können? Offenbar weder dieeine noch die andere. Descartes sieht in der Selbstbe-stimmung kein Problem, weil sie, in seinem Ver-ständnis, dem theoretischen Wissen zugrunde liegt.Vico führt zwar den Gedanken des geschichtlichenMachens ein, wendet ihn aber nicht auf die mensch-liche Selbstbestimmung an, weil sie für ihn noch keinProblem ist.Es ist nicht verwunderlich, dass diese frühen moder-

nen Konzepte des Wissens und Machens nicht zeigen,welches Wissen wir benötigen, um uns selbst zubestimmen. Denn die Idee der Selbstbestimmung, dieder Suche nach Authentizität und Einheit mit derNatur zugrunde liegt, ist der frühen Moderne unbe-kannt. Dennoch zeichnen sich mit den beiden Kon-zepten die alternativen Weisen des Wissens ab, die fürdie Selbstbestimmung in Frage kommen.Symptomatisch für die Moderne ist allerdings der

Vorrang des theoretischen vor dem praktischenWissen. Das praktische Wissen, das im geschichtlichen

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Machen erlernt wird, erfährt wenig Aufmerksamkeit.Marx greift im Kapital zwar Vicos Gedanken auf,wendet ihn aber nicht auf das Verhältnis des Men-schen zur Natur an. Er glaubt an die emanzipatorischeKraft der Technologie. Marx sitzt damit, wie Habermaskritisierte, einer Ideologie auf, dem Glauben an dieTechnik. Diese Ideologie ist nicht besser als ihrGegenstück, die Technikfeindlichkeit.Marx entwickelt jedoch in seinen Frühschriften, den

Pariser Manuskripten aus dem Jahr 1844, ein neuesKonzept praktischen Wissens, die Selbstherstellungdurch Arbeit. Sein Grundgedanke ist, dass der Menschsich mit seiner Arbeit selbst schafft und in den Pro-dukten seiner Arbeit genießt. Er sieht in der Arbeiteinen Prozess der Naturalisierung des Menschen undder Humanisierung der Natur. Dieser Prozess scheitertaber, wenn der Mensch seine Arbeit gegen einenabstrakten Geldwert verkauft. Er entfremdet sichdamit von seinen Produkten, von der Arbeit undschließlich von sich selbst.Marx erkennt die wechselseitige Abhängigkeit zwi-

schen Selbstbestimmung und Machen, zwischenSelbstherstellung und Arbeit. Er vertieft diese Einsichtnicht über eine Skizze der Stufen der Entfremdunghinaus. Sein Begriff der Entfremdung macht aber dar-auf aufmerksam, dass wir uns nicht selbst bestimmenkönnen, wenn wir jene wechselseitige Abhängigkeitmissachten. Wir können uns im Herstellen von Dingen,im Machen, entweder selbst bestimmen oder verfehlen.Entfremdung ist das Gegenteil von Authentizität.

Wir können uns im Machen selbst bestimmen, oderwir verfehlen und gefährden uns selbst. Das Machenist offenbar zweideutig, ebenso zweideutig wie dieTechnik. Wir sprechen heute nicht mehr von Entfrem-dung, sondern von der Gefährdung und Zerstörungvon uns selbst, der natürlichen Umwelt und unsererKultur. Wir erkennen, daß diese Gefährdung eineSelbstgefährdung ist. Mit welchem Machen gefährdenwir uns nicht, sondern bestimmen uns selbst?

Denken und Machen

Otl Aicher versucht in den hier versammelten Aufsät-zen, auf diese Frage zu antworten. Er entwickelt einePhilosophie des Machens, die von dem Grundge-danken ausgeht, daß Denken und Machen sovoneinander abhängen, dass das eine nur aus dem

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anderen zu verstehen ist. Aicher zeigt, dass wir bisherdas Machen missverstanden und deshalb eine einsei-tige Vorstellung vom Denken haben.Sein Vorwurf ist, daß wir das Praktische gegenüber

dem Theoretischen vernachlässigen. Deshalb über-schätzen wir die Bedeutung dessen, was Aicher das„Digitale“ nennt, die abstrakte Begrifflichkeit undlogische Exaktheit. Wir unterschätzen aber dasAnschauliche, aus praktischer Erfahrung und sinn-licher Wahrnehmung Gelernte, das, was Aicher das„Analoge“ nennt. Das Abstrakte, Digitale lässt sichaber, nach Aichers Überzeugung, ebensowenig vomKonkreten, Analogen trennen wie begriffliches Denkenvon unserer Sinnlichkeit. Geistiges und körperlichesTun sind aufeinander bezogen und voneinanderabhängig. Wenn wir diese wechselseitige Beziehungmissachten, gefährden wir uns und unsere Welt.Ohne Verpflichtungen der philosophischen Tradition

gegenüber und ohne sich anzulehnen, nimmt Aicherdas Konzept praktischen Wissens auf, das wir inAnsätzen bei Vico und Marx finden. Er gibt diesemKonzept einen neuen Sinn. Es soll dazu dienen, dieSpaltung des modernen Bewusstseins, die Trennungzwischen abstraktem und konkretem Denken, zwi-schen Digitalem und Analogem zu überwinden. Ersucht kein Gegenkonzept zum theoretischen Wissen,sondern kritisiert dessen Einseitigkeit. Er will zeigen,daß die Krise der Rationalität und unseres Selbstver-ständnisses in der Moderne von dieser Einseitigkeitmitverursacht ist.Aicher ist überzeugt, daß das Konkrete vor dem

Abstrakten, die Anschauung vor der Vernunft, dieWahrnehmung vor dem Wissen stehen. Bei Ockham,Kant und Wittgenstein findet er dafür hinreichendGründe. Das Gespräch mit diesen Philosophen dientihm nicht zur vordergründigen Bestätigung eigenerÜberzeugungen. Aicher nutzt seine Gesprächspartnernicht aus. Er will sie aber auch nicht nur interpre-tieren. Jedes dieser Gespräche eröffnet einen neuenBlick auf seine Partner.Aicher ist bei seinen Deutungen von Philosophen

wie Ockham, Buridan, Descartes, Kant und Wittgen-stein nicht an die Regeln historischer Auslegunggebunden. Er missachtet aber auch keine hermeneuti-schen Verpflichtungen. Es geht ihm nicht darum, Ock-ham, Kant oder Wittgenstein Absichten zuunterstellen, die seine eigenen sind. Er nimmt lediglichGedanken auf, die ihn, unabhängig von ihrem

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historischen Kontext, überzeugen. Das ist vor allemdann legitim, wenn wir auf diese Weise etwas besseroder neu verstehen lernen.Mit Wittgenstein verbindet Aicher das gemeinsame

Interesse an Architektur. Aicher sieht in der Erfahrungmit dem Haus, das Wittgenstein für seine SchwesterGretl baute, eine „schule des machens“. Wittgensteinhabe beim Bau des Hauses, dessen Entwurf er an derdigitalen, logischen Strenge des tractatus orientierte,den Mangel dieser frühen Philosophie erfahren. DiePhilosophie des Gebrauchs, der Sprachspiele und derLebensform versteht Aicher aus Wittgensteins Erfah-rung als Architekt.Es gibt kein besseres Beispiel als dieses für Aichers

Überzeugung, dass das Wissen die „rückseite desmachens“, dass das Machen „arbeit an einem selbst“ist. Wittgenstein hat in Aichers Augen in seiner Arbeitals Architekt gelernt, dass das analoge Denken Vor-rang vor dem digitalen hat.Aichers philosophische Überlegungen sind eine

Propädeutik des Entwerfens, Gestaltens und Ent-wickelns. Es gibt für ihn nichts, was nicht entworfen,gestaltet und entwickelt werden sollte. Dies gilt fürdas eigene Selbst, das Leben mit anderen und mit derNatur, die Gegenstände des täglichen Lebens, dasWohnen und Denken. Die Fähigkeit, entwerfen undgestalten zu können, lernen wir, indem wir es tun.Was wir tun und in welchem Beruf, ist zweitrangig.Wir dürfen uns nur nicht an vorgeformten Entwürfenund vorgedachten Plänen orientieren.Natürlich setzt die Freiheit, sich von Vorlagen frei

zu bewegen, bereits ein unabhängiges Urteil voraus.Aicher versteht sein „visuelles denken“ so wie Kantdie Einbildungskraft, als Element der Urteilskraft. Wirerwerben uns die Fähigkeit, richtig zu urteilen, indemwir sehen und richtig wahrnehmen lernen. Dies giltnicht nur für die Designer, sondern für uns alle.Aicher wendet sich in diesem Zusammenhang kri-

tisch an die Designer und Architekten und empfiehltihnen, das, was sie gestalten, nicht nur an der Funk-tion, sondern auch am Material und seiner Organi-sation zu orientieren. Die Form sollte sogar erst demMaterial und dann der Funktion gerecht werden.Wenn dieser Imperativ missachtet wird, degeneriertdas Design zur Verkaufsförderung, und die Architekturwird ornamental. Gestaltung und Entwurf verlierenihre Autonomie und werden von ökonomischen undpolitischen Zwecken bestimmt und missbraucht.

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Aicher sieht in dieser Art von „ästhetischemverschleiß“ keine isolierte Erscheinung. Sie istAusdruck der Krise unseres Selbstverständnisses, die inallen Lebensbereichen parallele Erscheinungen hat.Design, Architektur und Philosophie haben als aka-

demische Disziplinen kaum Beziehungen zueinander.Das entspricht ihren unterschiedlichen Aufgaben. Siehaben aber, wie Aicher zeigt, das Problem gemeinsam,wie Denken und Machen miteinander zusammenhän-gen. Dies ist das Problem jeder Art von Entwurf undGestaltung. Aicher belässt es nicht bei dieser Einsicht.Er erkennt, dass Entwerfen und Gestalten einem fun-damentalen Anspruch genügen müssen, dem derSelbstbestimmung des Menschen.

Kritik am Rationalismus

Aichers Denken beschränkt sich nicht auf eine Philo-sophie des Machens. Es setzt sich mit philosophischenProblemen des Erkennens, der sinnlichen Wahrneh-mung, der Sprache und des Denkens nicht nur auseiner äußeren Perspektive auseinander. Wenn er dasAnaloge und Konkrete dem Digitalen und Abstraktenvorzieht, tut er dies mit philosophischer Absicht. Errelativiert die Rolle der reinen Vernunft. Er kritisiertden Rationalismus der Moderne als Ergebnis derVorherrschaft des bloß abstrakten Denkens.Diese Kritik hat eine politische Perspektive. Aicher

sieht die kulturellen und politischen Folgen des abso-luten Anspruchs der abstrakten Vernunft. Sie wirkenhinein in die Institutionen unserer Kultur und desStaates. Die Vorherrschaft des abstrakten Denkens hatsich in seinen Augen in den kulturellen und politi-schen Verhältnissen unseres Zeitalters abgebildet.Mit dem Rationalismus will Aicher daher die

Ansprüche der Institutionen kritisieren, die sich alsSachwalter absoluter Werte und Wahrheiten verstehen.Schon den Anspruch, es gebe solche Werte und Wahr-heiten, hält er für absurd. Aichers Kritik am abstraktenDenken hat wie Ockhams Kritik der Universalien einepolitische Konsequenz.Wer das Abstrakte dem Konkreten vorzieht,

missversteht nicht nur die wechselseitige Abhängigkeitvon Begriff und Anschauung. Er schafft nach AichersUrteil auch eine falsche Hierarchie, eine Rangordnung,die kulturell verhängnisvoll ist. Das Digitale, Abstrakte

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ist nicht höher, größer und wichtiger als das Analoge,Konkrete.Aicher ist gegen falsche Hierarchien. Er denkt

republikanisch. Das richtige Verhältnis zwischen Ana-logem und Digitalem, die richtige Verteilung derGewichte, der Vorrang an der richtigen Stelle, imrichtigen Zusammenhang sind sein Anliegen. DasGewöhnliche ist für ihn nicht im abwertenden Sinngewöhnlich.Das Gewöhnliche ist aber auch nichts

Außergewöhnliches. Es ist das, was den Zweckenunseres täglichen Lebens entspricht. Das Gewöhnlichewird von unserem Gebrauch der Dinge und nicht vonästhetischen Idealen bestimmt. Dem Gewöhnlichen,den Zwecken unseres Lebens, soll das Design gerechtwerden. Das Design soll der Praxis, den menschlichenLebensformen dienen und nicht den Gebrauch derDinge ästhetisch beherrschen.Die Ästhetisierung des Lebens tritt für Aicher

besonders deutlich in dem Design zutage, das sichnicht am Gebrauch, sondern an der bildenden Kunstorientiert. Er vergleicht diese Missachtung desGebrauchs und der konkreten Praxis mit derMissachtung des Besonderen, Empirischen in be-stimmten Traditionen der Metaphysik. Wenn sich dasDesign die bildende Kunst zum Vorbild nimmt, stelltes sich in den Dienst einer „ästhetischen Metaphysik“.Aicher verwendet diesen Namen wie ein Schimpfwort,ähnlich wie Wittgenstein und die Philosophen desWiener Kreises von der „Metaphysik“ und ihrenScheinproblemen sprachen.Der schöne Schein des künstlerischen Designs ist für

Aicher nicht nur ein Ärgernis. Dieses Design ignoriertdie menschlichen Zwecke und den Gebrauch unddamit auch die Erfordernisse des humanen Lebens. Esbelastet unser Leben ähnlich wie der von uns ver-ursachte Müll die Natur. Das künstlerische Design ver-gibt leichtfertig die Chance zur humanen Gestaltungder Lebenswelt.Aichers Imperativ ist, dass wir die Welt in jeder Art

von Gestaltung neu entwerfen sollen. Die Welt alsEntwurf ist in seinem Denken das Thema, das Designund Philosophie direkt miteinander verbindet. DerEntwurf fordert konkrete Entwicklungen, keineabstrakten Planungen. Wir sollen nicht nur die Dingeunseres Gebrauchs, nicht nur Häuser und Städte zumWohnen und Arbeiten entwerfen, sondern uns selbstdabei entwickeln und verändern.

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Die Veränderungen im Denken und Machen, dieAicher fordert, haben philosophische Vorbilder. Essind vor allem Ockham, Kant und Wittgenstein. Einigeihrer Grundeinsichten sind für Aicher zu Leitgedankengeworden. Ockham hat die wahre Erkenntnis im sinn-lich konkreten Besonderen und nicht im Allgemeinenverankert. Kant hat die Bedeutung der Einbildungs-kraft für unser Verständnis der Dinge in der Naturerkannt. Wittgenstein schließlich sah im Gebrauch derWorte und Sätze die Bedeutung dessen, was wir sagenund denken.Alle drei Philosophen haben auf je ihre Weise die

Welt neu entworfen und das Denken verändert. Aichernimmt immer wieder ihre Grundeinsichten auf, variiertsie und verbindet sie mit seinem eigenen Nachdenkenüber die Vernunft des Konkreten im Machen.

Aicher heute

Otl Aicher starb nach einem Unfall im Spätsommer1991, viel zu früh, wie man so sagt. Im Jahr seinesTodes erschienen zwei Bände mit vielen seiner Auf-sätze (analog und digital, die welt als entwurf). Posthumerschien noch ein weiterer Band mit Aufsätzen zuaktuellen politischen Themen (schreiben und wider-sprechen, Berlin 1993). Nimmt man die drei erwähntenBände zusammen und dazu die Bücher, die er schriebund gestaltete (u. a. zur Typographie, zum Thema„Licht“ und dazu noch die vielen Ausstellungen undAusstellungskataloge), erkennt man die große Band-breite und enorme Vielfalt von Aichers Arbeiten,letztlich das, was er mit „Gestalten“ und „Machen“meinte. Er war auch als Schriftsteller, als Photographund als Philosoph ein Gestalter. Viele seiner Leistun-gen sind gut dokumentiert und bestens nachvollzieh-bar in einer lesenswerten Biographie (Eva Moser: OtlAicher: Gestalter. Eine Biografie, Ostfildern 2011).Aichers Machen und Denken hat Spuren hinterlas-

sen und ist in der Arbeit vieler Gestalter und Archi-tekten heute gegenwärtig, in vielen Ländern, nicht nurin Deutschland. Seine Wirkungsgeschichte kann hiernicht im Einzelnen nachgezeichnet werden. Als Bei-spiel seines Wirkens erinnere ich an seine Zusammen-arbeit mit Norman Foster, weil sie in drei großenBänden dokumentiert und einem bestimmten Sinnmustergültig ist. Die besondere Art der Arbeit und derGestaltung der drei Bände wird in einem separaten

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schmalen Band beschrieben (Otl Aicher an der Arbeitfür Norman Foster, Ernst und Sohn 1989). Einerseitshandelt es sich bei den drei Bänden um eine Mono-graphie über Fosters Architektur (Vol. 1: 1964–1973,Vol. 2: 1971–1978, Vol. 3: 1978–1985), die ursprünglichauf fünf Bände angelegt war, aber durch Aichers frü-hen Tod unvollendet blieb. Andererseits zeigen dieseBände mustergültig, wie Aicher Bücher gestaltete, undwie das, was die Bücher zeigen sollen, aussieht. Siezeigen im besten Sinn das, was sie sagen. Natürlicherwartet man dies von jedem gut gestalteten Buch. ImFall von Architektur geht es dazu noch um etwasscheinbar leicht Darstellbares, weil Architektur gese-hen werden muss, auf Bilder angewiesen ist und mitBildern glänzen kann. Viele Bildbände über Archi-tektur visualisieren das scheinbar leicht Darstellbareaber auf oberflächliche Weise, als wären sie Werbe-prospekte. Sie zeigen zwar Bilder von Bauprojektenund Gebäuden, benennen sie auch, sagen aber sonstso gut wie nichts. Sie kommen gar nicht in die Verle-genheit, das was sie sagen auch zu zeigen. Ganzanders die drei Bände über Fosters Architektur. DieProjekte und Bauten werden ausführlich beschrieben,von vielen Autoren, die zumeist an den Projektenmitgearbeitet haben. Von Oberflächlichkeit kann keineRede sein, stattdessen werden die Genealogien unddie Strukturen von Fosters Architekturen gezeigt,beschrieben und erläutert. Man kann sehen undnachlesen, wie aus Skizzen Bauwerke werden, wie siesich in Landschaften und Ensembles einfügen unddiese erst zu etwas Bemerkenswertem machen.Aicher hat seinen Ansatz für die drei Bände so

erläutert: „ich sah nicht zuerst die werke, sondern dieart, wie sie entstanden waren. hier konnte man sehen,was eine architektur ist, bei der denken nicht nurerlaubt ist (...), sondern die durch denken entsteht...“(Otl Aicher an der Arbeit für Norman Foster, 8).Aichers kritischer, auch architekturkritischer Geiststeht zwischen den Zeilen. Er wendet sich mit derMonographie über Fosters Architektur gegen Dar-stellungen, in denen die Architektur „wie auf demLaufsteg“ daherkommt (a.a.O.). Er kritisiert Archi-tekturen, die Moden und Einfällen folgen. Stattdessenfordert er Bauten, die so begründet sind und sich sobegründen lassen wie diejenigen Fosters.Es gibt noch einen Grund, an die Gestaltung der

Foster-Monographie zu erinnern. Sie zeigt, wie AicherBücher gestaltete. Er legt ein genaues Umbruchraster

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fest, ein Ordnungsprinzip der Gestaltung. Typographieund Layout sind präzise organisiert. All das zusammenmacht das aus, was Aicher einmal als Syntax derGestaltung bezeichnete. Wie beim Gebrauch einerSprache darf die Syntax aber nicht im Mittelpunktstehen, sie darf nicht auffallen. Und sie fällt auchnicht auf. Auffallend ist nur, wie klar und verständlichdie Prozessbeschreibungen der Bauprojekte sind undwie selbstverständlich die Verbindungen zwischen denBildern und den Texten sind. Die Prinzipien derGestaltung, die der dreibändigen Monographiezugrunde liegen, sind in der Gestalt, wie Aicher siegebrauchte, unübertroffen.

Wilhelm VossenkuhlMünchen 1991/2014

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planung und steuerung

fast in letzter minute ist uns ein wort zu hilfe gekom-men. wir hielten ja alle die welt für planbar, diezukunft für machbar. der aufbrach dieses jahrhundertsschäumte über in großplanungen wie kanalbauten unddem verlegen von eisenbahnnetzen. das bürgerlicheunternehmertum verlor zwar seine selbstsicherheit inder weltwirtschaftskrise 1929 nach dem schwarzenfreitag. aber roosevelts new deal überwand dieschwäche einer fortschrittsgesellschaft durch die staat-lichen regionalprogramme der industrialisierung vonfast globalen ausmaßen. und ehe lenin seinen lands-leuten den kommunismus bescheren wollte, verspracher ihnen die elektrifizierung rußlands. dnepropetrowskerhielt einen der größten staudämme der welt, und dastennessee valley wurde zum modell einer reguliertenflußregion, eines flußstaates, bei dem es ebenso umden kampf gegen bodenerosion ging wie um die elek-trifizierung der ländlichen haushalte. im tennesseevalley entstanden die aluminiumwerke, in denen dannspäter, im zweiten weltkrieg, die produktion-sprogramme der luftflotten anliefen, die amerika dieherrschaft über den halben globus einbrachten. hitlerskämpf gegen den wirtschaftlichen zusammenbruchbestand in einem nationalen programm der motor-isierung, in der großproduktion eines volkswagens undim bau eines flächendeckenden autobahnnetzes. nachdiesem modell ging er dann an die produktion vonpanzerspähwagen, sturmgeschützen undsturzkampfflugzeugen.die welt als eine machbare welt war indessen nicht

zuerst eine solche für politiker und ökonomischeorganisatoren. sie war entstanden in den köpfen derfuturisten, der konstruktivisten und suprematisten.der himmel war nicht mehr die heimat von mond

und sternen, sondern von luftschiffen und flugzeugen.schon züge brachten der menschheit ein neues fak-tum. die geschwindigkeit. erst fuhr man 100 kilometerin der stunde, flugzeuge brachten es auf 200, auf 500,auf 1000. der elektrische aufzug erlaubte es, stadt-wohnungen über acht stockwerke hinaus zu bauen. esentstanden der wolkenkratzer und mit le corbusiers,,plan voisin“ die Stadt himmelsstrebender türme.manhattan wuchs wie ein kristall.mussolini lernte das neue zeitalter zuerst in der

avantgardistischen kunst, ehe er die pontinischen

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sümpfe freilegte, die neue stadt entstand in den zeich-nungen von sant’elia, garnier und hilberseimer. male-witsch entdeckte den weltraum, ehe linienmaschinendie kontinente verbanden oder gar raketen starteten.das jahrhundert wurde ein solches der planbaren undmachbaren zukunft. der intellektuelle wandte sich abvom salon und der sezession, und selbst der dirigentder symphonie stieg in den sportwagen und nahm densteuerknüppel seines flugzeugs selbst in die hand. dasabbild der welt in der malerei war eine solche dergeometrischen und technischen abstraktion. duchamplehnte es ab, weiterhin expressionist zu sein. er wollteaus dem bürgertum und seiner kunst aussteigen, erbediente sich nicht mehr der leinwand, sondern derapparate.als roosevelt auf dem flug nach jalta in saudi-ara-

bien halt machte, bot er ibn saud ein heer von inge-nieuren an, die ihm die wüste bewässern könnten, dennwasser gäbe es, wenn man tief genug bohren würde,ibn saud lehnte ab. die ingenieure des new deal kamenursprünglich aus den pionierschulen der armee. diebewässerungssysteme kaliforniens und tennesseesbrauchten einen anderen, großräumigen, gesamtsyste-matischen denkansatz, einen anderen, als ihn deringenieur von industrieunternehmen braucht. und ibnsaud hatte sorge, die ingenieure der begrünung derwüste könnten die von standard oil sein. und in dertat, gerade diese kamen dann in den vorderen orient.es ging nicht mehr um bewässerung, und rooseveltwie stalin vernachlässigten ihre planungsprogrammeund wandten sich einer neuen aufteilung der welt zu.man überließ die erschließung der erde dem geschäft.planung ist konkretisierte, zielgerichtete projektion-

smethode. entwicklungsprogramme sind angewandterationalität. die neuzeit begann mit der mathematisier-ung des denkens. in der physik verstand man das wel-tall als system, als himmelsmechanik. chemie war einerationale architektur der naturbausteine. die aufklärungdes 18. jahrhunderts konkretisierte sich im 20. jahrhun-dert in planierraupen und schürfkübelzügen. wie aristo-teles noch die welt gemacht sah, bewegt von einemersten beweger, wie thomas von aquin den welt-ordoverstand, entworfen von einem gott der planung, wiedescartes die natur verstand, als maschine, das wurdenun wahr, nicht mehr nur im kopf, sondern in derhandfesten bewegung von massen, in der produktionvon kräften und der intelligenz des reißbretts und derarbeitsorganisation. daß denken und der geist der

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ordnung sich materialisieren ließen in der großtechnik,war eine neue kultur, in der logische schlüsse, rationaleableitungen und spekulative programme sich ins lebenkonkretisierten, in eine gemachte, formierte gesell-schaft. noch produzierte die industrie keine müllhalden,die chemie gefährdete noch nicht den haushalt dernatur, lebensmittel waren noch nicht vergiftet, autosproduzierten noch keinen staub- und gummiabrieb,noch keine schadstoffe. noch war das wasser rein undder wald gesund. die zeit hatte den klang eines neuenweltmodells, des modells einer neuen welt. die weltwurde realisierbar, wie sie gedacht, wie sie entworfenwerden konnte. die transmission hieß system, hießmethode, hieß prinzip, die zukunft hieß prognose. diemathematisierung des denkens führte nicht nur zugedankenketten, sondern zur aktionsverknüpfung vonflächenausmaßen. der flächenstaat erhielt seine logistik.denkstrukturen wurden raumplanungen. denkgesetzeführten zu programmen, und aus programmen wurdenfunktionsgebilde. der nachtwächterstaat wurde zurgesetzmaschine und entwickelte gesetzeswerke mit dergeschlossenheit und automatik wie aus dem techni-schen labor. schlüssigkeit war die mechanik der admi-nistration, und planung drang ein auch in die Vorsorgedes lebens. selbst die familie arrangierte sich nach demplan. man wußte seit keynes, daß sich wirtschaft-sprozesse nach dem muster von regelkreisen abwickeln,und unterwarf staatseinnahmen und staatsausgabennicht nur der praktischen vernunft, sondern einer glob-alplanung. und wittgenstein, ein freund von lordkeynes, arbeitete an einer definitiven fassung der struk-tur des logischen. er überlegte eine zeitlang, in diesowjetunion zu gehen.es war ein fieber des optimismus. intelligenz nahm

züge der sportlichkeit an, die welt wurde als ganzesendlich so perspektivisch, wie sie mit beginn der neu-zeit, seit der renaissance in der malerei gesehen wurde.sie erhielt ihre fluchtpunkte, auf die alles und jedeszulief, für hitler war dies der krieg, die politik mitnicht nur anderen, sondern letzten mitteln. was sichdann hinter dieser letzten planung zu erkennen gab,war ein erfassungs-, ein transport-, ein lager-, eintötungssystem für ,,unwürdiges leben“, für andere ras-sen, andere gesinnungen. es war der geplante tod.war das die letzte antwort? war das der triumph der

technik? war das der zwang des kalküls, der logischenverknüpfung, der schlußfolgerung nach den gesetzender natur und der naturwissenschaft?

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wir haben dann von neuem begonnen. die zerstörtenstädte waren eine neue herausforderung an die pla-nung, an ein systematisches bauen, an einen wieder-aufbau mit dem fluchtpunkt einer befriedetengesellschaft. ein stadtmodell folgte dem anderen. esgab die organische, durchgrünte stadt nach dem kon-zept der englischen gartenstadt. die charta von athenund die ciam-kongresse separierten stadtregionennach wohnen, arbeiten und erholen. es gab die auto-gerechte stadt mit kreuzungsfreien verkehrsadern. esgab die nachbarschaftsbewegung, die gliederung derstadt nach der größe von schulbezirken. aber unter derdecke der planungsmodelle fand die zweite stadtzer-störung statt, ihre verwüstung durch die ausufernden,flächenfressenden gewerbegebiete, einkaufszentrenund verkehrsflächen. die stadt degenerierte zur tank-stellen- und warenhauszivilisation.die erziehung erfaßte eine woge der planung. refor-

men und systeme legten den bedarf der erziehungs-quoten, die zahl benötigter schulabgänge fest. dieausbildung wurde eine maschinerie von unterschied-lichen institutionen, unterschiedlichen programmen,unterschiedlichen prüfungsfiltern und unterschiedlichenverzweigungen von lehrgängen. der kultusminister ver-waltete eine der größten planungsinstitutionen underweiterte das planungsprinzip, das einst in preußen aufdie oberste heeresleitung beschränkt war, auch auf das,was menschen lesen und denken sollten.inzwischen ist uns das planen vergangen. wir sind

fast nur noch von reparaturarbeiten in ansprachgenommen. die welt ist, das wissen wir inzwischen, alsganzes auf unzählige weise zerstörbar geworden, undzwar hier und heute, in jedem moment, und wir sindunfähig geworden, auch nur einer dieser todesarten, seies die des nuklearkrieges oder die der klimaverände-rung, mit aller entschiedenheit entgegenzutreten.aber nicht das zuerst hat die lage verändert. wir

sind noch immer geneigt, den kausalketten der ver-nunft eher zu folgen, als schaden wahrzunehmen. wirsind notfalls bereit, den untergang der welt in kauf zunehmen, wenn er nur schlüssig und denknotwendigist. so heilig ist uns die rationalität der reinen metho-de, wie sie descartes gelehrt hat.was die situation in wahrheit verändert hat, ist die

einsicht, daß die welt, die natur, die zeit, die entwick-lung, die geschichte keinem logischen prinzip folgt. sieist völlig anders strukturiert. die welt hat weder eineweltvernunft noch einen weltenplan. die gesetzlichkeit

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der welt, der natur, der geschichte läßt sich nur imrückblick konstatieren, hier hat sie folgerichtigkeit,weil es immer eine ursache gibt und gegeben hat fürdas, was ist. wir wissen aber nicht, welche ursachemorgen auf das einwirken wird, was kommen wird.wissen wir, wer wir morgen sein werden?das wort, das uns zu hilfe kam und das die pla-

nungslogik, die kausalität als kette auch in diezukunft, erschütterte, ist der begriff der Steuerung.auch wenn die neunmalklugen sagen werden, daß

es diesen begriff immer schon gab, in seiner tragweiteals welterklärung gibt es ihn erst seit dem zweitenweltkrieg, genauer seit den tagen von norbert wiener.damals hatten biologen, mathematiker, verhaltens-forscher und physiker sich zusammengetan, um sichunter anderem gedanken zu machen, wie man einflugabwehrgeschoß bauen kann, das sich selbst insziel lenkt, das sich selbst steuert. herausgekommensind kleine technische modelle mit namen wie ,,maus“oder ,,katze“, die selbstregulierung demonstrierenkonnten. die kybernetik war geboren und mit ihr daszeitalter des computers. ,,kybernetik“ heißt wissen-schaft von der steuerung. abgeleitet ist der begriff, dennorbert wiener 1948 einführte, vom griechischen wortfür steuermann.eine reederei mag noch so viele pläne für die routen

ihrer schiffe aufstellen, von southampton nach newyork geht es nur mit einem steuermann, mit einemkapitän. und mit dem steuermann erhebt sich eineneue art von vernunft. an die stelle der schlüssigenvernunft, die dem allgemeinen auf die spur kommenwill, tritt die vergleichende, die analoge. an die stelleder kausalkette tritt das feedback, der sich selbst kor-rigierende regelkreis. an die stelle der notwendigkeittritt die wertung und das urteil. feedback ist lernenaus dem machen. analoges denken ist vergleichen ausdem herstellen, aus dem tun, aus dem handeln.kein schiff kann ohne Steuer geradeaus fahren. kein

auto kann ohne steuer seine richtung halten, und aucheltern können nicht ohne zielvorstellungen ihre kindererziehen. es bedarf der lenkung und steuerung je nachlage und fall. und alles, so gut wie alles, existiert alsläge, als sachlage, als fall. die welt ist weder geordnetessein noch mechanisches uhrwerk. sie ist in entwicklung,im fluß und muß ihre krafteinflüsse, ihre dynamiksteuern, um ihre balance zu finden, ihren kurs zu halten.von platon bis kepler wurde die welt als gebilde

ineinandergestellter geometrischer idealkörper ver-

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standen, als raum stabilisierender proportionen mitsphärischen hüllen und rangordnungen der idealität.schon im ersten jahrhundert v. ehr. bildete man denablauf von gestirnen, von planeten, der sonne und demmond in räderwerken ab, bei denen zahnräder inein-andergreifen. um 1300 taucht dann die uhr auf, die dasurbild einer weltmechanik wird, bis hin zur aufklärung,wo alles nur noch himmelsmechanik ist, aber auch bishin zu hegel und marx, die auch gesellschaftliche pro-zesse mechanisch ineinandergreifend verstehen. es warzuerst thomas hobbes, der im leviathan den staat als einperfektes uhrwerk interpretiert hatte.ursprünglich war die uhr ein rotationshebel, sicher-

lich aus den aufzugsmechanismen des kirchenbausentwickelt, versehen mit einem auf eine achse wirken-den gewicht. dann aber galt sie zugleich als denkmodellauch für die kosmischen kräfte und diente dem ration-alistischen denken, das das mittelalter trotz andererinterpretationen in hohem maße auszeichnete, alsgrunderfahrung. die ersten uhren gaben nur nebenbeidie tagesstunden an, sie waren zuerst astronomischeautomaten, die den ersten beweger fast sinnlicherfaßbar machten. kepler wollte die existenz gottes ausder regelmäßigen bewegung begründen, welche denkosmos als mechanisches uhrwerk auszeichnet.heute verstehen wir mehr und mehr natur und welt

als fließende systeme, die unter dem maßstab der digi-talen logik ein chaos darstellen und wie das wetter nurfür kurze abschnitte vorhersagbar sind. sie sind nichts-destoweniger ausbalanciert, konsistent und beständig,auch wenn sie keinem zwang unterworfen sind. wir wis-sen, daß ein regentropfen auf dem dachfirst auf dieseoder jene seite abfließen kann. er unterliegt keinemzwang. vollends die belebte natur ist in einem maßeunbestimmt, daß fast nur geburt und tod feste datensind. dazwischen ist leben, gekennzeichnet als reaktionauf konstellationen, als selbstbestimmte balance imgleichgewichtsfeld des eigenen lebensraumes und deslebensumfeldes. ordnungen lassen sich herstellen, sindaber nicht gegeben. gegeben ist nur das nackte einzelnesubjekt in seiner umgebung.das heißt nun alles andere, als daß vernunft ein

untaugliches mittel wäre, seinem leben raum zugeben, es wird wieder mehr nietzsche gelesen denn je.der wille als lebensantrieb ist ein beliebtes argumentgegen aufklärung, vernunft, planung und rationalität.aber die welt krankt nicht an zuviel vernunft, sondernan einer falschen.

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descartes hat als vater der europäischen aufklärungeine vernunft proklamiert, welche die sinne als irrita-tionen des reinen, klaren, schlüssigen denkens aus-schaltete. wer denkt, wie man zahlenoperationenausführt, kann die augen schließen, sich in seineinnenwelt zurückziehen, er überläßt sich einem algo-rithmus von operationsregeln, die wegweiser sind esdann, nicht der fahrer, die die richtung bestimmen,wohin es geht. denkgesetze sind axiome, setzungenoder gar transzendentale bestimmungen, losgelöst vonder wirklichkeit. der mensch, der als wesen für dieseart von denken gesehen wird, ist eigentlich ein krüp-pel, er müßte sich bemühen, reiner geist zu werden.aber das entscheidende an einer so gedachten welt

ist, daß sie eben nur gedacht ist. selbst wer sie alsdenknotwendigkeit ansieht und als widerspruchsfreideklariert, muß zugestehen, daß jemand kommen undeinen fehler nachweisen oder eine unterlassung auf-finden kann. auch die wissenschaft ist ein fließendessystem und hat kein striktes verhaltensmuster. imgrenzbereich der materie, bei den elementarteilchen,hört die vorherbestimmbarkeit sogar prinzipiell auf.die unbestimmbarkeitsrelation von heisenberg legtdie unvorhersehbarkeit von elementarteilchen, ob sieals körper oder als welle erscheinen, nicht als einenmangel, sondern als systemimmanent fest.die existenz des menschen lediglich in seinen geist

zu verlegen, ist eine klägliche verkümmerung. wir sindsubjekte in einem biologischen, einem gesell-schaftlichen und einem kulturellen umfeld. die selb-stanpassung und die selbstorientierung konstituierenunser selbst, unsere person. dazu sind sinne eineessentielle voraussetzung als organe einer erstenintuitiven erkenntnis. von den sinnen geht der regelk-reis aus, die korrespondenz zwischen anblick, einsicht,erfahrung und urteil. ohne die sinne, ohne die wahr-nehmung, vor allem des auges, wäre der regelkreisdurchschnitten, das feedback könnte nicht fließen, dieanaloge erkenntnis bliebe ohne vergleichsgrundlage.analoges denken ist rückgekoppeltes denken und kannauf beobachtendes prüfen nicht verzichten.selbst dort, wo der planungsbegriff seinen festen

platz zu haben scheint, etwa in der architektur, ist ererschüttert worden. gute architektur wird heute nichtmehr geplant, sondern entwickelt. auch ein technischesprodukt ist produkt nicht einer planungsabteilung, son-dern einer entwicklungsabteilung. der begriff planungist zu pauschal und geht viel zu sehr davon aus,

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materie und material seien bloßer stoff wie bei aristo-teles, das eigentliche sein der dinge liege in ihrem plan,ihrer abstrakten form. der begriff entwicklung führt dasfeedback oder den begriff regelkreis in das machen ein.danach gibt es kein denken ohne machen, keine ein-sicht ohne verhalten.ein geplantes gebäude steht heute schon im geruch,

ein schematisiertes bauwerk zu sein, ein gebäude nachrezept. in wahrheit wächst ein bau, so wie auch dasmittelalterliche haus gewachsen ist. ein modernesgebäude ist inzwischen nach technik und auch nachbedarf, nach lage und zweck zu komplex, als daß esnoch geplant sein könnte. viel zu viel ist im detail zuverfolgen und zu überprüfen, als daß es in einem wurfhingelegt werden könnte. architekten freilich, die wiekünstler arbeiten, die eine idee haben und für die pro-duktion reine materialisierung ist, kommen ohneentwicklung, ohne feedback, ohne steuerprogrammeaus. ihr haus ist eine transzendentale vorstellung. sieselbst berufen sich auf das genie.die rückkoppelung geht zwar auch nach innen, ver-

gleicht mit den mustern, die im gedächtnis gespeichertsind. die gesellschaftlichen und kulturellen daten, diegespeicherten einsichten und gespeicherten verhal-tensmuster. das lebendige, aktuelle denken will abernicht zuerst in magazinen stöbern, sondern in die wir-klichkeit eingreifen, wie sie gegeben ist. aus dem regel-kreis der vernunft läßt sich das visuelle denken, dieeinsicht, die im sehen etwas denkt und im denken etwassieht, nicht herausamputieren, sowenig sich gedanken ineiner schrift ohne die führung der hand festhalten lassen.wir brauchen mehr vernunft denn je. das leben als

genuß, als eigenerlebnis der postmodernen rationalitätklammert die welt aus, die welt wie sie ist, und ziehtsich in ästhetische strukturen zurück, in die illusion,in die vorstellung. aber man ist noch aus jedem träumaufgewacht.die dimension des denkens wird sich erweitern

müssen, wenn wir denken als methode der steuerunganerkennen, als personale orientierung und hand-lungsanweisung. da wird viel umzukrempeln sein.kann der staat dann noch länger sich anmaßen,

oberstes planungsorgan zu sein? hegel hat den staatals die institution des allgemeinen definiert. der staathegels ist mit dem bürger einen handel eingegangen,daß er dessen arbeit und eigentum schützt, wenn erdafür die interessen des allgemeinen vertreten darf. dierolle des staates in der geschichte und dessen pakt

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mit der weltvernunft sind im vorhinein von hegel all-gemein festgelegt. dieses allgemeine hat schon wil-helm von ockham in frage gestellt, und es wird nunerst recht fragwürdig, wenn wir die vernunft zur-ückbeordern müssen aus den planungsdienststellendes staates in das eigene autonome subjekt. vernunftist zuerst eigensteuerung, und eigensteuerung istzuerst individuelle vernunft.der staat ist nicht länger fähig, neben mir am steuer

meines autos zu sitzen. ich habe es selber zu fahren.ich selbst bin die alleinige institution, die es lenkenkann. und ich als steuerndes wesen, als wesen, dasautofahren im sinne der eigensteuerung erst möglichmacht, bin auch das subjekt der verkehrsregelungen,der verkehrsplanung und des straßenbaus.unter dem philosophischen und pragmatischen

anspruch der planungshoheit, der kompetenz für dasallgemeine, hat der staat für sich in anspruch genom-men, uns an einem verkehrs- und dienstleistungsprinzipteilnehmen zu lassen. in wirklichkeit ist es umgekehrt.wir fahren nicht auto dank der geste des staates, auchwenn er noch so viel universalität in anspruch nimmtals instanz des allgemeinen. der staat kann kein autolenken. der steuernde fahrer ist es, der den autoverkehrermöglicht, und der staat ist lediglich die instanz, dieden bau der straßen und die ordnung des verkehrsgarantiert, das könnte auch durch genossenschaftlicheabsprachen der verkehrsteilnehmer geschehen und istnoch keine essentielle legitimation des staates.was gemeint ist: das subjekt, der bürger, das selbst-

steuernde wesen ist der realitätsgrund des staates. derstaat hat keinen allgemeinen, keinen übergeordnetenplanauftrag. wo planung nötig ist, wie beim bau vonstraßen, tut er es als dienstleistung, nicht als autorität.planung ist fürderhin aus der steuerung abzuleiten,nicht umgekehrt.endlich erhält so auch die freiheit eine andere, tie-

fere legitimation und ist nicht mehr der wunsch, tunund lassen zu können, was man will. freiheit ist keinesubjektivistische laune. freiheit ist nicht die spielartdes individuums. sie ist das kriterium der eigensteue-rung, auf der alle biologischen, gesellschaftlichen undkulturellen systeme beruhen. diese systeme setzenregeln voraus, aber eben solche, die die autonomie dersteuernden vernunft garantieren, die freiheit desindividuums.systemtheoretisch ist eine bürgerinitiative als eine

übereinkunft autonomer individuen höher anzusie-

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deln als selbst der staat, dem man planungshoheitzubilligen will, planung ist dort eine folge von rück-koppelungen selbständig handelnder. es gibt keinedialektik von freiheit und ordnung, die ordnung istdazu da, die freiheit zu sichern, nicht umgekehrt. diestraßenverkehrsordnung ist eine folge, nicht eine vor-aussetzung des selbstgesteuerten autos. die freiheitkommt vor der ordnung.wir treten ein in einen staat der subjekte. der rekurs

auf das allgemeine, das planbare kann uns nicht mehrtragen. wir brechen weiter ein in einer brüchig gewor-denen zivilisation, wenn der staat sagt, was friedenist, wie groß die belastbarkeit der natur ist, der frei-raum des geschäftemachens. wir brechen ein, wennder staat sagt, was er gegen den sterbenden wald, denausgelaugten boden und eine flächenfressende gewer-bearchitektur unternehmen will. eine bessere, planbarezukunft zieht nicht mehr gegenüber der unmittelbarenerfahrung des raubbaus und der ignoranz gegenüberdem einzelnen. der staat verliert die kompetenz dergesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellenwahrnehmung. er rangiert sich aus. seine augen sindblind, seine hände sind zu grob.der staat kann kein einziges bild malen, kein ein-

ziges lied komponieren, kein kind erziehen, keineoperation durchführen, kein haus bauen, keine blumenzüchten. er kann keine gesunden nahrungsmittel her-stellen, kein auto fahren, nicht einmal eine nähma-schine ölen. das alles entzieht sich der kategorie derplanung. dies heute sogar mehr denn je. denn derhoheitsanspruch, den der staat mit seiner planungs-und ordnungsfunktion verbunden hat, mit einer über-ordnung des allgemeinen über das konkrete, hat zueiner aufblähung der planungsinstanzen geführt undzu einem planungsleerlauf, der nur sanktioniert wer-den konnte mit einer potenzierung der erhebung, derfeststellungsverfahren und der statistischen ermittlung.der staat erstickt inzwischen an seiner eigenen büro-kratie der planaufbereitung.nur der steuerung, nicht der planung ist das prinzip

der ökonomie eigen. steuerung ist entweder effektiv,oder sie kommt zu spät, planung dagegen überdauertwie jedes allgemeine zeitpunkt und augenblick. sieverpaßt sie meistens.das organ der steuerung ist meistens ein beschei-

denes instrument. das bewegliche ruder an einem schiffist relativ klein. die beweglichen steuerteile am flugzeugsind minimal, und selbst der regier an der alten

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dampfmaschine bestand fast nur aus einem kugelpaar.auch die gesellschaft, auch der staat ließe sich mitweniger aufwand steuern. wer beginnt, einen neuenstaat zu denken? wer findet die organisationsformeneiner gesellschaft freier subjekte, die ihren freiheitsbe-griff aus ihrem lebensablauf und ihrer lebenssteuerungableiten und ihn nicht an wilhelm tell oder andreashofer festbinden? nun, auch dieser staat läßt sichnicht planen. er muß eingeübt sein, an ort und stelle,wo freie menschen sind. er entspringt keinem allge-meinen prinzip, keinem planungsvorgang. er entstehtwohl nur durch initiativen, die einer selbststeuernden,wertenden, vergleichenden, praktischen vernunftentspringen, durch eine form autonomer rationalität.autonom nicht im sinne der willkür, sondern dereigenverantwortung und einer neuen kultur der selb-ständigkeit, wenn es darum geht, unsere wirklichkeitzu erfassen. sie ist charakterisiert weniger durchtranszendentalien und seinsgründe als durch bedroh-lich werdende fehlplanungen auswuchernderplanungsinstanzen.freiheit ist kein allgemeiner zustand, sondern die

wahrnehmung von steuerungen. nur wer steuert, trittin den bereich der freiheit ein. planung dagegen ver-fügt. sie sagt, was sein sollte. steuerung ermittelt dasmachbare und konstituiert im machen die freiheit.freiheit gibt es erst dort, wo die planung durch diesteuerung ersetzt wird.ist das das hohelied auf das freie unternehmertum?man darf es so verstehen, wenn man noch den freien

unternehmer im auge hat. aber längst sind es die mar-keting-abteilungen, die planungsstrategen, die auch dieindustrielle produktion und die ökonomie des vertriebsbestimmen. der markt ist längst nicht mehr das regu-lativ von angebot und nachfrage. der markt jagt denmeisten angst ein. das risiko ist eine gefährliche größe,es will durch planung ausgeschaltet sein. und je größerdas unternehmen, um so umfassender werden die absi-cherungen der unternehmensplanung. aber es gibt sie,die unternehmer, die auf sich selber setzen.ja, selbst in bereichen, wo man nie planungsverkru-

stungen vermutet hätte, im sport, im spiel, ruft manneuerdings nach der spielerpersönlichkeit. es gibt imfußball heute nur eine wirkliche autorität, die des train-ers, der regie führt, der Strategien entwickelt, planspieledurchrechnet. die spieler selber haben sich, statt gele-genheiten wahrzunehmen, richtlinien zu unterwerfen.sie sind operateure von spielzügen geworden

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und träumen von alten zeiten, als es die akteure selbstwaren, die den spielfluß und den spielwitz bestimmten.auch musiker sind der instanz der planung geopfert

worden. wer kennt noch die namen derer, die tat-sächlich die musik machen? es gibt nur noch dasorchester und, über allem thronend, den dirigenten. erweiß, welche musik für welches publikum richtig ist.wo käme man hin, wenn nicht jemand von oben herden stab führen würde? und nicht nur die musik ist zuplanen, sondern auch der auftritt, wann und wo ges-pielt wird, der einsatz ist teil planender voraussicht.die reputation ergibt sich aus der abwägung zwischenkonzert, festspiel, schallplatte und fernsehen. das sub-jekt der musik, der musiker, ist nur noch ein objekt.doch die ersten aufstandsbewegungen in orchesterngegen verplanung gibt es bereits.aber auch hier wissen wir nicht, was auf uns

zukommen wird. mag sein, daß sich das große orches-ter nicht regenerieren läßt. vielleicht stirbt es. abermusik, die von wenigen gemacht wird, ist ja nichtweniger musik. auch nicht, wenn sie ohne dirigentenauskommt. bach hat ohne dirigent gespielt.der aktionsraum der steuerung ist die konkrete

wirklichkeit innerhalb des wahrnehmbaren umfeldes.steuerung hat die grenzen des unmittelbaren. planungist allgemein und unabhängig von konkreten erfah-rungsbereichen. planung hält sich an die logik derprinzipien.das wird zur folge haben müssen, daß große berei-

che des abstrakten staates, für den nur die statistikheilig ist, werden absterben müssen. so gut wie dieganze sozialversicherung wird auf die ebene her-abgestuft werden müssen, auf der sie anschaulicherfahren wird, auf die ebene der kommunen. der grie-chische stadtstaat bietet mehr aktuelle anregungen alsdas römische imperium, das untergehen mußte wiejedes imperium, auch das des heiligen römischenreiches deutscher nation. die gemeinde, die stadt istein gemeinwesen, in welchem konkrete verhältnissebewertet, beurteilt und gelöst werden können. sieentspricht dem daseins- und denkraum der steuerung,der omnipotente staat als zentralgewalt ist ein reliktvon religionen und philosophien, die davon ausgehen,daß das weltprinzip sich am ende auf einen punkthöchster abstraktion reduzieren läßt. die welt ist abernicht ein punkt, sondern ein alles, und die ordnungdieses alles ist der ausgleich, die verknüpfung, diepartizipation. das viele erzeugt relationen.

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wir brauchen in einem zukünftigen staat keinenomnipotenten lenker und planer mehr. den staa-tenlenker kann man schon heute vergessen, wennman demokratie ernst nimmt und das parlamentwieder in seine rechte einsetzt. von ihm, dem parla-ment, sollten die aufgaben der politik definiert wer-den, der beamte hätte sie auszuführen, daß das heuteumgekehrt ist, daß das parlament nach den richtliniendes kanzlers tanzt, ist mit eine folge einer planungs-ideologie, die auf das letztgültige, auf das definitiveaus ist, statt sich in absprachen über wirklichkeitser-fahrungen auf eine linie zu einigen.in der bundesrepublik haben wir 2,4 millionen

arbeitslose, das sind 9,6 prozent. aber diese zahlensagen noch nichts über den tatsächlichen umfang derarbeitslosigkeit in unserem land aus. denn neben denzwei statistisch erfaßten formen der arbeitslosigkeit, dernormalen, vorübergehenden, bei der man im rahmender sozialversicherung arbeitslosengeld erhält, und derlangzeitarbeitslosigkeit, bei der unbegrenzt arbeitslo-senhilfe gezahlt wird, gibt es eine verdeckte form derarbeitslosigkeit, die so in keiner Statistik auftaucht unddie als ,,sozialfall“ behandelt wird. in der bundesrepu-blik gibt es 3,1 millionen sozialfälle, für die die kom-munen zuständig sind, natürlich die meisten wegenmangelnder arbeit. nimmt man nur die hälfte diesersozialfälle als das, was sie in wirklichkeit sind, als fällevon arbeitslosigkeit, muß man die arbeitslosenzahl inder bundesrepublik auf 4 millionen ansetzen.das darf natürlich nicht sein. ein bundeskanzler

müßte den bankrott seiner sozial-, arbeits- und wirt-schaftspolitik anmelden, wenn diese fakten bekanntwürden. infolgedessen wird die arbeitslosigkeit in zweiklassen geteilt und eine davon einer unteren instanz,der kommune, zugeschoben, wo sie als arbeitslosigkeitnicht mehr in erscheinung tritt.ein gutes hat diese entwicklung. der staat stirbt

oben ab. das problem der arbeitslosigkeit wird auf eineuntere, kommunale ebene heruntergenommen, wo esmehr konkrete urteilskraft, nähe zu den problemenund eine philosophie des steuerns gibt. wenn diegemeinden noch mit den entsprechenden mitteln aus-gestattet würden, um diese aufgabe zu lösen, so wäremit mehr einblick in konkrete verhältnisse mehr hilfemit weniger bürokratie möglich. immerhin befindetsich der staat, der zentralstaat, in einer aufsplitterung,auch schon weil der eine oder andere länderchef einebessere politik macht als die auf den gipfeln mit ihren

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planungsweitblicken. er muß sich den sachen widmenund nicht den prinzipien.ob solche statischen monster wie zentralregierungen

allerdings absterben, wie sie ja in manchen aufge-klärten ländern schon abgestorben sind, wird ebensoeine frage sein wie die, ob die großorganisationen, diezentralgewalten insgesamt zurückgehen zugunstenvitaler kleinerer organisationen, in welchen das füh-rungsprinzip nicht die planung ist, sondern die steue-rung. und hier fällt der großstaat bereits in seine erstefalle, wenn er, aus gründen der optik, die sorge um diearbeitslosen nach unten abstößt, vom staat in diekommune.es wird nach wie vor vieles generelle zu planen

sein. aber die welt, in die wir eingetreten sind, brauchtnicht so sehr planungen, sondern eingehen auf kriti-sche zustände. es gibt heute mehr fragen als ant-worten. wir brauchen eine andere vernunft, einesolche, die in der lage ist, fragen auch als solche zuerkennen. die philosophie hat zu lange das allgemeinegesucht, und der staat hat zu lange das gültigegewußt, als daß sie noch in der läge wären, fragen alssolche wahrzunehmen.fragen sind resultate der fragwürdigkeit. die aber

wird sichtbar im konkreten.

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