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S. Krüger , Institut für Entwerfen von Schiffen und Schiffssicherheit Analyse und Bewertung des gegenwärtigen Zustandes der Schiffssicherheit Studie im Auftrag der Delegation DIE LINKE in der Fraktion GUE/NGL im Europäischen Parlament Hamburg, April 2014 Kontakt: www.dielinke-europa.eu www.sabine-wils.eu

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S. Krüger , Institut für Entwerfen von Schiffen und Schiffssicherheit

Analyse und Bewertung des gegenwärtigen Zustandes

der Schiffssicherheit Studie im Auftrag der Delegation DIE LINKE in der Fraktion GUE/NGL im Europäischen Parlament

Hamburg, April 2014

Kontakt: www.dielinke-europa.eu

www.sabine-wils.eu

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Zusammenfassung

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Inhaltsverzeichnis

Analyse und Bewertung des gegenwärtigen Zustandes der Schiffssicherheit ............................................................................... 1

1 Zusammenfassung ...................................................................... 3

2 Einleitung, Sinn und Zweck der Studie ........................................... 6

3 Überprüfung der Ergebnisse der Studie von 2011 ............................ 9

4 Aktuelle Fragen der Schiffssicherheit ........................................... 19

4.1 Grundsätzliches .................................................................... 19

4.2 Konflikt Umweltschutz -Schiffssicherheit .................................. 19

4.3 Sicherheit großer Passagierschiffe ........................................... 23

4.3.1 Offenfahren von Schottschiebetüren ................................ 25

4.3.2 Evakuierung der Schiffe ................................................. 26

4.4 Sicherheit von RoRo- Fahrgastschiffen..................................... 27

5 Fallstudien ................................................................................ 33

5.1 Der Fall COSTA CONCORDIA .................................................. 33

5.2 Der EEDI und seine Ausführungsbestimmungen ....................... 43

6 Literaturverzeichnis ................................................................... 52

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Zusammenfassung

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1 Zusammenfassung Im Auftrag der Delegation DIE LINKE im Europaparlament hat das Institut für Entwerfen von Schiffen und Schiffssicherheit der TU Hamburg-Harburg erneut grundlegende Untersuchungen zum gegenwärtigen Stand der Schiffssicherheit durchgeführt. Die vorliegende Studie baut auf unserer Vorgängerstudie von 2011 auf und führt diese konsequent fort. Dabei sollte auch die Frage untersucht werden, ob sich durch – als sinnvoll erkannte – Verbesserungen Möglichkeiten zur Sicherung der Arbeitsplätze in der europäischen Schiffbauindustrie ergeben könnten. Unsere Untersuchung hierzu hat verschiedene Ansatzpunkte ergeben, die im Folgenden zusammengefasst werden:

Gegenüber den bereits in der Vorgängerstudie von 2011 festgestellten Defiziten hat sich seither nichts Grundlegendes geändert. Die seinerzeit gemachten Aussagen sind nach wie vor ohne Einschränkung gültig und können fortgeschrieben werden.

Seit unserer letzten Studie hat sich in einigen Feldern der Schiffssicherheit ein bemerkenswerter Wertewandel vollzogen, der verstärkt dazu führt, dass primär technisch motivierte Diskussionen mit einem bemerkenswerten politischen Momentum belastet werden. Das führt unserer Meinung nach zu erkennbaren Verwerfungen, die ungewollt zu Lasten unserer Industrie gehen. Haupttreiber dieser Entwicklung ist einmal ein gefühltes Sicherheitsdefizit bei großen Passagierschiffen sowie die erkennbare Betonung von Umweltschutzthemen zu Lasten anderer technischer Eigenschaften, aber auch der Schiffssicherheit. Beide Motivationslagen, die ja berechtigte Anliegen vertreten, erzeugen einen extrem großen politischen Druck zum Handeln, ohne dass die nötigen technischen Prozesse oder Erkenntnisse ausgereift wären. Gerade weil Sicherheits- und Umweltschutzfragen in der Schiffstechnik extrem komplex sind und auch ineinandergreifen, entstehen durch vorschnelles, oft auch durch politisch motiviertes Handeln beim Inkraftsetzen von Vorschriften an vielen Stellen technische Kollateralschäden. Das führt langfristig zu Schiffskonzepten, die technisch nicht mehr ausgereift sein können, weil die Schiffe zu einseitig betrachtet und dann optimiert werden. Und das führt zu einer massiven Benachteiligung unserer Schiffbauindustrie mit dem möglichen Verlust von Arbeitsplätzen.

Der Untergang der COSTA CONCORDIA hat gezeigt, dass sich schwere Schiffsunglücke trotz großer Anstrengungen im Bereich der Schiffssicherheit immer wieder ereignen können. Es ist gerade im Hinblick auf diesen Unfall äußerst wichtig, dass mögliche Verschärfungen der geltenden Vorschriftenlage erst dann in Erwägung gezogen werden, wenn vorher die Unfallursache technisch korrekt aufgearbeitet worden ist. Wenn dabei festgestellt werden sollte, dass geltende Regeln nicht eingehalten worden sind, dann ist es aus unserer Sicht folgerichtig, zunächst auf der

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Einhaltung der Regeln zu bestehen und dieses konsequent durchzusetzen, bevor über die Verschärfung von Regeln nachgedacht wird. Der Unfall der COSTA CONCORDIA zeigt eindeutig, dass es eben nicht zielführend ist, das aktuelle Sicherheitsniveau der großen Passagierschiffe weiter zu verschärfen, sondern es müssen Verbesserungen an ganz anderer Stelle getroffen werden, um die Sicherheit weiter zu verbessern.

Durch die ständige Fokussierung auf die ganz großen Passagierschiffe haben wir inzwischen völlig verdrängt, dass eigentlich Handlungsbedarf bei den kleinen Passagierschiffen besteht. Dies wird vor der möglichen Anschaffung der EU- Direktive 2003/25/EC besonders aktuell, unserer Auffassung nach besteht inzwischen der größte Handlungsbedarf eindeutig bei den kleinen und nicht bei den großen Fahrgastschiffen. Dies betrifft ausdrücklich nicht nur RoRo- Fahrgastschiffe, sondern alle Fahrgastschiffe und vor allem die Offshore- Fahrzeuge.

Im Umweltschutzbereich führt die drohende Untermotorisierung zukünftiger Schiffsentwürfe durch die Anwendung des Energy Efficiency Design Indexes (EEDI) dazu, dass die Schiffe dann im schweren Wetter nicht mehr beherrschbar werden, weil sie nicht mehr manövrieren können. Das ist auch im Zusammenhang mit den im Rahmen der Energiewende in den Hauptverkehrszonen errichteten Windparks ein zukünftiges Problem, welches angegangen werden muss. Auch hier sind vor allem die kleineren Schiffe betroffen, weil diese das größte Kurshalteproblem im schweren Wetter haben, aber alle Schiffe unter 20000dwt durch die aktuellen IMO- Regelungen vom Manövrierproblem im schweren Wetter ausgenommen sind. Hier werden eindeutig sicherheitsrelevante Probleme zugunsten von vermeintlichen Umweltschutzfragen unter den Tisch gekehrt.

Die in unserer Vorgängerstudie angesprochene Häufung der Aufgaben der Klassifikationsgesellschaften hat in letzter Zeit so unverhältnismäßig zugenommen, dass das Gleichgewicht der Interessen der maritimen Industrienachhaltig gestört werden könnte. Insbesondere das Verfahren der Zertifizierung des EEDI benachteiligt gerade die innovativen Werften derartig stark, dass langfristig mit dem Verlust von Arbeitsplätzen in der europäischen Schiffbauindustrie zu rechnen ist. Auch bei anderen Sachgebieten geraten die Werften zunehmend in eine völlige Abhängigkeit der Klassifikationsgesellschaften. Denn die IMO stellt zunehmend gesetzliche Forderungen auf, welche die Übergabe und Offenlegung von komplexem technischen Know- How durch die Werften in Ihrem Kerngeschäft bedeutet. Begründet wird das mit Belangen des Umweltschutzes oder der Schiffssicherheit, in Wahrheit geht es aber um den Abfluss von wichtigem Wissen, welches die Überlebensfähigkeit der europäischen Werften betreffen kann. Eine Vorschrift darf daher nach wie vor nur den Status „erfüllt“ oder „nicht erfüllt“ haben, es liegt unserer Auffassung nicht im Mandat der IMO oder deren Erfüllungsgehilfen, gezielt Daten darüber sammeln zu lassen, wie gut die Schiffe die Vorschriften

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erfüllen und wie die einzelne Werft das im Detail sichergestellt hat. Hier muss aus unserer Sicht massiv gegengesteuert werden.

Der beschrittene Weg der europäischen Werften hin zum Spezialschiffbau mit komplexen Produkten bringt es mit sich, dass im Schiffbau vorhandene Vorschriften und Sicherheitskonzepte nicht oder nur schwer auf solche Spezialschiffe anwendbar sind. Das führt langfristig zu einem Wettbewerbsnachteil gerade der innovativen Werften, wenn nicht gegengesteuert wird. Besonders eklatant ist hier der noch junge Sektor der Offshore-Windindustrie betroffen, weil es kaum geeignete Vorschriften gibt und viel mit aufwändigen Einzelfallprüfungen mit den Flaggenstaaten (oder Klassifikationsgesellschaften in deren Beleihung) gemacht werden muss. Das ist mit einer der Gründe dafür, warum der Bau der für die Offshore- Windindustrie benötigten Schiffe weitgehend an den europäischen Werften vorbeigelaufen ist. Wenn hier nicht gegengesteuert wird, wird der Bau solcher Einheiten weiterhin an den deutschen Werften vorbeilaufen.

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Einleitung, Sinn und Zweck der Studie

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2 Einleitung, Sinn und Zweck der Studie

Die im Jahre 2007 einsetzende Wirtschaftskrise schlug in den Jahren 2008/2009 vollauf die Bestelltätigkeit durch, und davon war gerade die Schiffbauindustrie besonders betroffen. Laut einer von PWC für den Verband für Schiffbau und Meerestechnik durchgeführten Studie [1] sind weltweit nahezu 85% des Auftragsbestandes weggebrochen, vgl. dazu auch Abb. 1.

Abb.1: Wegbruch der Schiffsbestellungen in 2009. Quelle: PWC [1]

Inzwischen haben die Bestelltätigkeiten wieder zugenommen, obwohl in einigen Segmenten immer noch ein massives Überangebot an Tonnage vorliegt. Jedoch ist die Bestelltätigkeit weitgehend an den deutschen Seeschiffswerften vorbeigelaufen. Diese haben sich heute vollständig aus dem Massenmarkt verabschiedet und bedienen nur noch spezielle Nischenmärkte, in denen komplexe Spezialschiffe gefragt sind. Die derzeit noch gefertigten Schiffstypen sind (Quelle: Jahresbericht VSM 2012, S. 30):

• Fähren (3%) • RoRo- Frachtschiffe (4%) • Passagierschiffe (48%) • Yachten (32%) • Offshore Plattformen (5%) • Offshore Schiffe (3%) • Gasttanker (1%) • Sonstige (4%)

Die Prozentangaben beziehen sich dabei auf den Wert der Produktsegmente. Man erkennt, dass der wesentliche Anteil aus Yachten und Passagierschiffen besteht. Damit ist ein nahezu vollständiger Rückzug

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Einleitung, Sinn und Zweck der Studie

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aus dem Bereich der konventionellen frachttragenden Schiffe zu verzeichnen. Die PwC- Studie [1] kommt ferner zu dem Schluss, dass die Werftenlandschaft in Deutschland im Wesentlichen mittelständisch geprägt ist, bis auf eine Ausnahme gibt es kaum noch Konzernwerften.

Trotz des einschneidenden Umbaus der deutschen Werftenlandschaft mit Fokussierung auf den Spezialschiffbau liegen bei den deutschen Seeschiffswerften nicht ausreichend Bestellungen vor, um die Beschäftigung langfristig sichern zu können. Nach wie vor gibt es große Schwierigkeiten, Aufträge zu erhalten und diese auch finanziell abzusichern.

Wegen der von den meisten Akteuren erkannten grundsätzlich wichtigen Bedeutung der maritimen Industrie hatte die Delegation DIE LINKE im Europaparlament bei der TU Hamburg-Harburg im Jahre 2011 eine Studie beauftragt, in welcher die seinerzeit gegenwärtige Situation der Schiffssicherheit im Hinblick darauf zu bewerten war, ob sich aus einer stringenten Entwicklung und Durchsetzung von hohen Sicherheitsstandards in Schiffbau und Schifffahrt positive Aspekte für die Beschäftigungssicherung auf den deutschen und europäischen Werften ergeben könnten. Dabei wurden folgende Fragestellungen untersucht:

• Politische und sicherheitstechnische Bewertung der Ist-Situation • Technische Möglichkeiten im Schiffbau zum verbesserten Schutz

menschlichen Lebens • Einfluss innovativer Sicherheitskonzepte und verschärfter Standards

auf den Schutz der Beschäftigten im europäischen Schiffbau und Sicherung der Arbeitsplätze im Schiffbau

• Politische Rahmenbedingungen für eine Umsetzung

Als Ergebnis zeigte sich, dass im Prinzip beschäftigungssichernde Effekte gerade in den Segmenten der deutschen und europäischen Schiffbauindustrie entstehen könnten, wenn es gelänge, innovativere und vor allem technisch anspruchsvollere Sicherheitskonzepte durchgängig zu etablieren. Es zeigte sich aber, dass die Schiffssicherheit seinerzeit weit hinter ihren Möglichkeiten zurückblieb und in einigen Teilbereichen sogar gegenteilige Effekte umschlug, nämlich in eine Benachteiligung der Schiffbauindustrien der hochentwickelten Volkswirtschaften umschlug. Das hatte strukturelle Gründe, die sich aus der Struktur der Regelwerke an sich sowie an der Aufgabenverteilung innerhalb der maritimen Industrie ergaben.

Weil die grundsätzliche Bedeutung der Schiffssicherheit insbesondere vor dem aktuell durch deutsche Werften gefertigten Produktportfolio eher zugenommen hat, und auch angesichts der Nachwirkungen des Unfalles der COSTA CONCORDIA hat DIE LINKE erneut eine Studie zur Schiffssicherheit beim Institut für Entwerfen von Schiffen und

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Einleitung, Sinn und Zweck der Studie

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Schiffssicherheit in Auftrag gegeben, in der die seinerzeit behandelten Fragestellungen erneut analysiert werden sollten, dieses Mal aber aus der Sicht des Jahres 2013/14. Dabei sollte gezielt auf neuere Entwicklungen eingegangen werden, und es sollen spezifischere Handlungsempfehlungen daraus abgeleitet werden als in unserer Vorgängerstudie. Folglich muss die vorliegende Studie aus zwei wesentlichen Teilen bestehen:

Zunächst müssen die Erkenntnisse aus 2011 erneut bewertet werden, ob sie heute noch relevant sind und inwieweit im Falle der Relevanz Veränderungen zum Positiven oder zum Negativen hin erfolgt sind. Daraus könnten Handlungsempfehlungen abgeleitet werden. Im zweiten Teil der Studie wird dann überprüft, ob sich durch neuere Entwicklungen seit 2011 an anderen Stellen Handlungsbedarf ergeben hat und welches relevante Themenfelder sein können, auf denen ein solcher Handlungsbedarf entstanden ist. Dazu werden zwei Fallbeispiele gegeben, anhand derer explizit nachgewiesen werden wird, worauf sich der abgeleitete Handlungsbedarf gründet.

Diese einzelnen Aspekte werden in den folgenden Abschnitten diskutiert. Zunächst wird aber überprüft, in wieweit die Ergebnisse aus unserer Vorgängerstudie noch relevant sind bzw. ob sich die damals identifizierten Handlungsempfehlungen eher verstärkt oder abgeschwächt haben.

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Überprüfung der Ergebnisse der Studie von 2011

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3 Überprüfung der Ergebnisse der Studie von 2011

Im Folgenden wird diskutiert, inwieweit die seinerzeit erarbeiteten Ergebnisse heute noch relevant sind. Besonders wichtig scheint uns dabei zu sein, ob sich auf den damals identifizierten Gebieten der Handlungsdruck eher verschärft oder eher abgeschwächt hat. Die Schlussfolgerungen und Ergebnisse aus unserer Studie von 2011 werden im Folgenden in Thesenform wiedergegeben, anschließend folgt eine Bewertung der seinerzeit aufgestellten anhand der von uns vorgefundenen Ist- Situation.

These 2011:

„Die Schiffssicherheit bleibt konzeptionell in ihren Möglichkeiten deutlich hinter dem Stand der Wissenschaft zurück. Das Problem liegt darin, dass risikobasierte Sicherheitskonzepte von der internationalen Regelentwicklung nur sehr zögerlich aufgenommen werden. Propagiert wird durch die Regeln eher die direkte Vorgabe von Hardware oder von physikalischen Eigenschaften. Dadurch entsteht für die Schiffbauindustrien der hoch entwickelten Industriestaaten ein Wettbewerbsnachteil, weil intelligentere Sicherheitskonzepte, die letztlich zu deutlich wirtschaftlicheren und sichereren Schiffen führen würden, nicht durchsetzbar sind. Dass risikobasierte Sicherheitskonzepte sich international nicht durchsetzen lassen, liegt auch an der Struktur der für die Sicherheit zuständigen Organisationen: Dort ist nicht bei allen Organisationen das technische Wissen vorhanden, um solche komplexen Berechnungen überhaupt prüfen zu können.“

Bewertung der Ist- Situation 2014:

Grundsätzlich hat sich an der Ausgangslage nichts Wesentliches geändert. Der seinerzeit aufgezeigte Wettbewerbsnachteil hat sich eher noch verschärft, was vor allem darin begründet ist, dass die Werften sich nun vollständig auf komplexe Spezialschiffe fokussiert haben, die in erheblich höherem Maße nicht mehr nur nach Standard- Verfahren abgearbeitet werden können. Weil die aktuellen Regelwerke – wie in der Vorgängerstudie ausgeführt – sehr statisch sind und gerade komplexe Situationen nicht gut abdecken, fällt es den hiesigen Werften zunehmend schwerer, innovative Konzepte, die nicht zu den Regelwerken passend sind, abarbeiten zu können. Folglich ist der für die Abarbeitung der Genehmigungsprozesse benötigte Aufwand stetig angestiegen, ohne dass dadurch die Produkte besser werden würden. Als wesentliche Problemfelder sind hier zunächst alle Arten von Offshore- Schiffen zu nennen, dazu zählen besonders die Errichterschiffe und alle möglichen Windpark- Versorgungseinheiten, aber auch der Offshore- Umschlag auf

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Überprüfung der Ergebnisse der Studie von 2011

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See beim Errichten der Windparks. Im Wesentlichen begründet sich die Problematik bei diesen Schiffen besonders darin, dass

• bestehende Regelwerke von ihren physikalischen Grundannahmen her einfach nicht auf diese Schiffe passen und die Vereinfachungen, die bei solchen Regeln immer gemacht werden, dazu führen, dass die sture Anwendung der Regeln im Wortsinn der Vorschriften bei derartigen Schiffen zu falschen und meist völlig unwirtschaftlichen Lösungen führen.

• oftmals für diese Schiffe Regelwerke noch nicht existieren, weil der Schiffstyp noch zu neu ist und man gezwungen ist, auf andere Regeln auszuweichen.

Eine vergleichbare Problematik liegt bei den kleinen Passagierschiffen, insbesondere bei den RoRo- Fahrgastschiffen vor, die sich auch durch eine sehr große Diversifikation an möglichen Entwürfen auszeichnen. Ein Beispiel zu diesem Themenkomplex wird später gegeben werden.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass aufgrund der starken Fokussierung der deutschen Werften auf Spezialschiffe mit erhöhtem technischem Aufwand an die Sicherheitstechnik durch die starren Regeln, die direkte Vorgaben an Hardware oder von physikalischen Eigenschaften zielen, nun noch eher ein Wettbewerbsnachteil entsteht als das noch 2011 der Fall war. Das liegt aber nicht an der Entwicklung der Schiffssicherheit, sondern am geänderten Produktportfolio der Werften.

These 2011:

„Die gegenwärtige Struktur der Schiffssicherheit benachteiligt die hoch entwickelten Volkswirtschaften zugunsten der schiffbaulichen Schwellenländer. Praktisch die gesamten Beiträge zu Schiffssicherheitsfragen werden von den hoch entwickelten Industrieländern geleistet, insbesondere von Europa. Hier werden erhebliche Steuermittel der Bürger für die Forschung aufgewendet. In den schiffbaulichen Schwellenländern findet hierzu aber quasi keine Forschung statt. Über die internationalen Regelwerke werden komplexe Forschungsergebnisse auf einfachste Regeln heruntergebrochen und weltweit verteilt, gerade an die Schwellenländer. Diese wiederum lehnen alle Verbesserungen von Regeln ab, wenn sie mit erhöhtem Berechnungsaufwand verbunden sind. Daher erhält der europäische Steuerzahler letztlich für seinen Einsatz keinen adäquaten Gegenwert und verhilft den schiffbaulichen Schwellenländern dazu, hier den industriellen Kern der Schiffbauindustrie zu zerstören.“

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Bewertung der Ist-Situation 2014:

Grundsätzlich hat sich an der Ist- Situation nichts Grundlegendes geändert. Es ist zwar erkennbar, dass sich auch die schiffbaulichen Entwicklungsländer vorsichtig an Forschung und Entwicklung in der Schiffssicherheit beteiligen (wenn man Konferenzbeiträge und IMO- Aktivitäten als Indikator nimmt). Bezüglich des seinerzeit monierten Know- Abflusses durch die Regelwerke hat sich aber Grundlegendes nicht geändert, im Gegenteil, die Situation bezüglich des Schutzes geistigen Eigentums hat sich gegenüber 2011 auf einigen Sektoren deutlich verschlimmert, gerade weil die Regelwerke so implementiert wurden, dass der Schutz geistigen Eigentums bewusst ausgehebelt worden ist, und zwar einseitig zu Lasten der Werften, wie folgende Beispiele zeigen:

• Das durch die IMO in Kraft gesetzte „Ship Construction File“ verpflichtet die Bauwerft, praktisch alle relevanten Bauunterlagen und wichtige Berechnungsgrundlagen in Form von elektronischen Dokumenten abzuliefern. Diese Daten müssen an Bord, bei der Klassifikationsgesellschaft und beim Flaggenstaat hinterlegt werden. Ursprünglich nur für Tanker und Massengutfrachter initiiert, soll das SCF auch für andere Schiffstypen hinterlegt werden. Damit muss die Bauwerft große Teile ihres geistigen Eigentums offenlegen, ohne das wirklich sichergestellt bleibt, dass die Daten nicht abfließen.

• Die Nachweisprozedur zum Energy Efficieny Design Index (EEDI) der IMO fordert die Offenlegung sämtlicher Verfahren, Berechnungen, Methoden und Ergebnisse, Modellversuche und Daten, die für die Berechnung des EEDI benötigt werden gegenüber dem sogenannten „Verifier“, also der Klassifikationgesellschaft. Damit muss die Werft weiteres, zum Teil extrem sensibles geistiges Eigentum vollständig offenlegen. In Verbindung mit dem Ship Construction File liefert die Werft damit ein vollständiges Produktmodell ab, ohne dass es klare Regularien gibt, wie die Sicherheit der Daten garantiert werden kann.

Diese Entwicklungen sind insofern bemerkenswert, weil die Werften durch Entscheidungen der IMO praktisch gezwungen werden, ihr eigenes geistiges Eigentum vollständig auszuliefern. Uns ist keine andere Industrie bekannt, bei der die eigentlichen Hersteller der Produkte in ähnlicher Weise durch gesetzliche Regelungen zur Offenlegung von internem Wissen gezwungen werden wie in der Schiffbauindustrie. Das wirkt sich natürlich besonders negativ auf die europäischen und deutschen Werften aus, die bisher genau deshalb noch überleben konnten, weil sie aufgrund ihres akkumulierten Wissens in der Lage waren, intelligentere Produkte herzustellen als ihre Wettbewerber.

Inzwischen bieten mehr oder weniger alle Klassifikationsgesellschaften, die ja der Empfänger der abzuliefernden Daten sind, selbst schiffstechnische Ingenieursdienstleistungen genau zu den

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Fragestellungen an, zu denen die Werften ihnen die oben genannten Daten abliefern müssen. Das kann verstärkt zu möglichen Zielkonflikten führen.

Derzeit laufen bei der IMO weitere Entwicklungen, die den Autoren dieser Studie bekannt sind, darauf hinaus, dass die Werften in letzter Konsequenz zur Offenlegung weiteren Wissens gebracht werden sollen. Sicher scheint, dass die deutschen und europäischen Werften eine solche Situation nicht langfristig durchhalten können.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass derzeitige Regelentwicklungen bei der IMO, vor allem die Durchführungsbestimmungen, zunehmend darauf hinauslaufen, dass die Werften gezwungen werden, immer mehr von ihrem geistigen Eigentum offenlegen zu müssen. Eine Branche, die von ihrem geistigen Eigentum leben muss, wird langfristig an einer solchen Entwicklung zugrunde gehen müssen.

These 2011:

„Bau und Betrieb technischer Investitionsgüter mit hohen technischen und finanziellen Risiken bedürfen gewisser staatlich festgesetzter Mindeststandards, die auch staatlich überwacht werden müssen. Die gegenwärtige Struktur der Schiffssicherheit bringt es mit sich, dass hoheitliche Fragen an Klassifikationsgesellschaften übertragen werden, die zum Teil privatwirtschaftlich arbeiten und einem Wettbewerb unterliegen. Grundsätzlich ist das vielleicht nicht zu beanstanden, es muss aber sorgfältig darauf geachtet werden, dass bei den Klassifikationsgesellschaften keine Zielkonflikte entstehen. So müssen beratende und prüfende Aufgaben streng getrennt werden, und es darf nicht sein, dass Klassifikationsgesellschaften selbst in die Konzeption von Schiffen einsteigen, die dann in Billigländern gebaut werden. Hier muss staatlicherseits gegebenenfalls gegengesteuert werden, um sicherzustellen, dass hoheitliche Aufgaben auch ausschließlich den hoheitlichen Belangen dienen.“

Bewertung der Ist- Situation 2014:

Hier hat sich die Situation in den letzten drei Jahren am deutlichsten verschärft. Das liegt zum großen Teil an viele neuen Aufgaben, welche die Klassifikationsgesellschaften übernommen haben. Besonders im Fokus sind derzeit alle Fragestellungen, die mit Energieeffizienz zu tun haben, sowie vergleichbare Fragestellungen. Dies wurde oben schon angedeutet, und genau auf diesem Sektor deutet sich ein Muster für eine bedenkliche zukünftige Entwicklung an, die auch auf andere Bereiche überzugreifen

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droht. Daher werden wir die Probleme an dieser Stelle aufzeigen, und dann weiter unten detailliert an konkreten Beispielen diskutieren.

Energieeffizienz ist zunächst einmal unserem Verständnis nach keine eigentliche hoheitliche Aufgabe, weil es nicht unmittelbar um sicherheitstechnische Fragestellungen geht. Es geht schließlich nicht direkt um den Schutz menschlichen Lebens. Mittelbar ist die Umwelt zunächst auch nicht betroffen, weil keine kurzfristigen Umweltschäden größeren Ausmaßes zu verzeichnen sind. Es geht also um die Erreichung langfristiger Ziele, und Gesellschaften können es durchaus als legitim festlegen, gewisse Mindeststandards bezüglich der Energieeffizienz festzulegen. Wenn solche Mindeststandards erlassen werden, die dann Gegenstand einer gesetzlichen Grundlage sind, müssen diese Mindeststandards auch eingehalten werden, das versteht sich von selbst. Einleuchtend ist ferner, dass die Einhaltung der Standards auch überprüft werden muss, dazu muss der Hersteller des Produktes, dessen Energieeffizienz geprüft werden soll, entsprechend geeignete Unterlagen zur Prüfung vorlegen. Nun ist das Ergebnis der Prüfung, ob ein Mindeststandard eingehalten worden ist, ein binäres, weil als Ergebnis der Prüfung nur herauskommen kann, dass der Standard erfüllt worden ist oder nicht. Das gilt auf jeden Fall, wenn der Standard die Erfüllung von gesetzlichen vorgeschriebenen Regeln fordert, diese können entweder erfüllt oder nicht erfüllt sein. Auf keinen Fall hat der Gesetzgeber das Recht, zu verlangen, dass das Gesetz besonders gut oder nur gerade eben erfüllt wird. So wurde bisher mit allen bekannten Vorschriften und Regelungen verfahren, es wurde geprüft, ob die jeweiligen Regeln erfüllt wurden oder nicht.

Das ist nun mit den Energieeffizienzfragen völlig anders: Es wird nicht nur geprüft, ob die Mindestforderungen eingehalten werden, sondern es wird zusätzlich verlangt, die gesetzlichen Forderungen überzuerfüllen und diese Übererfüllung auch dezidiert auszuweisen, obwohl dazu keine rechtliche Grundlage besteht. Denn die gesetzlich formulierten Kennwerte werden gleichzeitig zu wirtschaftlich sensiblen Benchmarks benutzt, um die besondere (angebliche) Energieeffizienz des Schiffes nachzuweisen. Dazu existiert unserer Auffassung nach aber kein hoheitlich begründbares Mandat. Es ist – und da liegt das eigentliche Problem – von der Sicht der herzugebenden Daten ein gewaltiger Unterschied, ob die Bauwerft nur das weitergibt, was zum Nachweis der Vorschriftenerfüllung nötig ist, oder ob sie dezidiert bis zum kleinsten Detail genau den von ihr berechneten Wert nachweisen muss, und zwar so, dass die prüfende Organisation alles bis auf das letzte Detail nachrechnen kann. Im Falle der Energieeffizienz ist das besonders problematisch, weil hierzu die technische Kompetenz eindeutig bei den Schiffbauversuchsanstalten liegt, die dieses Geschäft seit Jahrzehnten erfolgreich betreiben. Die prüfenden Organisationen sind aber Klassifikationsgesellschaften, die nun auch die Aufgabe haben, die Schiffbauversuchsanstalten dahingehend zu überprüfen, ob ihre Verfahren

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dem Stand der Technik entsprechen. Damit fallen den Klassifikationsgesellschaften nicht nur Aufgabengebiete zu, in denen sie nachweislich fachlich nicht ausgewiesen sind, sondern sie führen auch Prüfaufgaben durch, die mit dem eigentlich mandatierten gesetzlichem Auftrag nichts zu tun haben: Um nämlich zu ermitteln, ob die Energieeffizienzstandards von Schiffen eingehalten worden sind oder nicht, ist es völlig überflüssig, die Versuchsanstalt zusätzlich zu prüfen. Das muss man nur dann machen, wenn man im Detail wissen möchte, auf welche Weise Versuchsanstalt und Bauwerft das zu prüfende Ergebnis erzeugt haben, für die eigentliche Prüfung ist das hingegen völlig unerheblich. Problematisch wird es besonders, wenn die prüfende Organisation auf dem relevanten Fachgebiet fachlich nicht besonders ausgewiesen ist (weil es bisher nicht zu deren Kerngeschäft gehört hat), aber genau die Organisationen prüfen soll, deren seit Jahren ausgeübtes Kerngeschäft gerade Gegenstand der Prüfung ist.

Es muss an dieser Stelle unbedingt angemerkt werden, dass alle Arten von die Energieeffizienz betreffenden Ingenieursdienstleistungen von Klassifikationsgesellschaften (neben und in Verbindung mit den diesbezüglichen hoheitlichen Prüfaufgaben) massiv in den Markt gedrückt werden, und zwar in direktem Wettbewerb zu Werften und Schiffbauversuchsanstalten, und auch klar zu deren Lasten.

In diesem Zusammenhang sind wir nur auf die Energieeffizienz eingegangen, vergleichbare Entwicklungen finden heute aber auf vielen anderen Sektoren in der Vorschriftenentwicklung statt. Dadurch wird das Kräfteverhältnis in der Maritimen Industrie, das bislang ohnehin nicht zu Gunsten der Werften austariert war, weiter zu deren Lasten verschoben. Auf Dauer kann diese Entwicklung nur zum Verlust von Arbeitsplätzen auf den europäischen Werften führen.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass gerade die jüngste Entwicklung der letzten Jahre zu einer massiven Aufgabenhäufung bei den Klassifikationsgesellschaften geführt hat, ohne dass diese notwendigerweise für alle diese Gebiete fachlich prädestiniert wären. Diese massive Aufgabenhäufung geht einher mit der erkennbaren Ausweitung von Ingenieursdienstleistungen der Klassifikationsgesellschaften auf genau denselben Gebieten, und zwar vor allem zu Lasten der Werften, besonders der europäischen. Im Umweltschutzbereich sind hier zusätzlich die Schiffbauversuchsanstalten besonders betroffen. Dies muss langfristig zu einem Abbau von Arbeitsplätzen auf diesen Werften führen und geht langfristig auch an den Schiffbauversuchsanstalten nicht vorbei.

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Überprüfung der Ergebnisse der Studie von 2011

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These 2011:

„Das mit Billigschiffen verbundene Sicherheitsrisiko muss angemessen bewertet werden. Nach unseren Recherchen findet bei der Prüfung der Sicherheitsunterlagen keine oder nur eine unzureichende Gebührenstaffelung entsprechend der Kompetenz der bauenden Werft statt. Es ist aber einleuchtend, dass eine Werft, welche einen sehr hohen Qualitätsstandard beim Bau der Schiffe und bei den technischen Unterlagen hat, einen geringeren Prüfaufwand bei gleichem Risiko nach sich zieht als eine Billigwerft mit erkennbaren Qualitätsmängeln. Wenn es keine entsprechende Staffelung der Prüfgebühren gibt, dann subventionieren die qualifizierten Bauwerften genau die Wettbewerber, die sie mit Billigschiffen vom Markt drängen. Hier wäre aus unserer Sicht gegenzusteuern.“

Bewertung der Ist- Situation 2014:

Bezüglich der oben angesprochenen Situation hat sich praktisch nichts verändert. Es sind uns aber auch keine Entwicklungen bekannt, die zu einer weiteren Verschlechterung der Situation geführt haben, das generelle Problem besteht unvermindert. Es muss in diesem Zusammenhang aber auf das Problem hingewiesen werden, dass derzeit viele Schiffe keine oder kaum eine Beschäftigung haben, was die Bilanzen der finanzierenden Institute zum Teil stark belastet. Das sind zu einem großen Teil genau solche Billigschiffe. Diese Schiffe werden nun zunehmend von effizienteren Neubauten verdrängt, was die generelle Krise auf den Schiffbaumärkten weiter verstärkt. Es wird oftmals der Eindruck erweckt, dass die Neubauten deutlich energieeffizienter, sicherer und nachhaltiger sein sollen als die Bestandstonnage. Relativ gesehen ist das durchaus richtig, es ist aber technisch nicht besonders kompliziert, besser zu sein als ein nicht besonders anspruchsvolles Billigschiff. Von daher wurden seinerzeit die mit Billigschiffen verbundenen Risiken in der Tat nicht richtig bewertet, allerdings haben die wirtschaftlichen Risiken bezüglich der Finanzierung zeitlich schneller zugeschlagen als die in 2011 identifizierten technischen Risiken. Wichtig ist für zukünftiges Handeln, dass es endlich zu einer entsprechenden Marktbereinigung kommt, wobei Billigschiffe nicht noch einmal durch Steuergelder gestützt werden dürfen.

Zusammenfassend kann man sagen, dass das mit Billigschiffen verbundene Risiko nicht angemessen bewertet worden ist, allerdings haben entgegen unseren Annahmen die wirtschaftlichen Risiken eher zugeschlagen als die technischen.

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Überprüfung der Ergebnisse der Studie von 2011

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These 2011:

„Praktisch ist es im Bereich der Schiffssicherheit zu einer Monopolstellung von ein oder zwei Softwareherstellern gekommen. Diese implementieren die Auslegung der Sicherheitsregeln. Dadurch verlieren die zentralen Akteure zunehmend die Fähigkeit, eigene Vorstellungen durchzusetzen. Weiterhin wird durch die praktische Implementierung der Sicherheitsregeln über diese Schiene direkt Know-how nach Asien geliefert. Die Europäer bezahlen die Implementierung, und die Asiaten erwerben sie einfach.“

Bewertung des Ist- Zustandes 2014:

Im Prinzip hat sich diese Situation gegenüber 2011 bis vor kurzem nicht grundlegend geändert. Es gibt nach wie vor nur einen Hauptanbieter von schiffstechnischer Berechnungssoftware für Schiffssicherheitsfragen, daneben existiert (in Europa) ein kleinerer Anbieter, der im Süden Europas seinen Sitz hat. Am 14. März 2014 war auf der Homepage des bisherigen Hauptanbieters (NAPA OY, Helsinki, Finnland) folgende Pressenotiz zu lesen (www.napa.fi):

“NAPA has today (Tuesday 18 March 2014) announced that ClassNK and the majority of NAPA shareholders have signed a Share Purchase Agreement that will give ClassNK 100 % ownership of NAPA.

The acquisition, will significantly enhance the success and capabilities of both organisations. For ClassNK the landmark deal is a chance to expand and improve the wide range of services it offers to shipowners and shipyards, whilst also providing NAPA with the support to accelerate expansion of existing operations and access new markets.

NAPA looks forward to continuing and reinforcing its relationships with customers, partners and stakeholders under ClassNK’s ownership. For both shipyards and shipowners, safety and performance have never been more important, which is why both ClassNK and NAPA remain committed to innovation in software that benefits the entire maritime industry.”

Das bedeutet, dass die japanische Klassifikationsgesellschaft ClassNK den bisherigen Software- Quasi- Monopolisten vollständig übernommen hat. Damit befindet sich jetzt ein großer Teil der in Europa auch mit dem Geld der europäischen Steuerzahler (NAPA war praktisch in allen relevanten EU- Forschungsvorhaben mit dabei) erarbeiteten Erkenntnisse im direkten Zugriff der japanischen Klassifikationsgesellschaft ClassNK. Das bestätigt unsere These von 2011 vollumfänglich.

Weil nahezu alle deutschen und europäischen Schiffbau-Unternehmen (auch die europäischen Klassifikationsgesellschaften) diese Software nutzen (müssen), ergibt sich daraus nach wie vor eine starke

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Überprüfung der Ergebnisse der Studie von 2011

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Abhängigkeit. Nun aber nicht mehr von einem finnischen Softwarehaus, sondern von einer japanischen Klassifikationsgesellschaft. Es ist die Frage, wie diese sich positionieren wird, auf jeden Fall kann man sagen, dass diese Entwicklung die langfristige Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Schiffbauindustrie nicht unbedingt stärken wird.

Zusammenfassend kann man sagen, dass die Rolle des in 2011 noch wesentlichen Softwareherstellers nun von der japanischen Klassifikationsgesellschaft ClassNK übernommen wird. Die seinerzeit festgestellte Abhängigkeit bleibt bestehen.

These 2011:

„Auf internationaler Ebene sind viele Probleme der Schiffssicherheit nicht oder nur sehr langfristig lösbar. Unterschiedliche Gesellschaften haben ein unterschiedliches Risikoakzeptanzniveau und daher kann eine internationale Lösung immer nur auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner erfolgen. Dieser kann aber für europäische Wertmaßstäbe nicht ausreichend sein und daher müssen unter Umständen europäische Lösungen geschaffen werden, die vielleicht später einmal international werden können. Das Beispiel der für Europa sehr wichtigen RoRo-Fahrgastschiffe oder die Einführung der SECA/ECA-Zonen zeigt, dass solche Lösungen durchsetzbar sind. Für die europäische Schiffbauindustrie bedeutet das eine klare Zukunftssicherung.“

Bewertung des Ist- Zustandes 2014:

Wir halten die seinerzeit getroffene Feststellung unverändert für richtig. Die EU muss sich unserer Auffassung weiterhin stärker positionieren und auf eigene Standards durchsetzen, wenn der international erreichte gemeinsame Nenner nicht unseren Wertevorstellungen entspricht. Wichtig wäre aus unserer Sicht, bei den SECA und ECA Zonen hart zu bleiben und keine Aufweichung der bisher verhandelten Standards zu akzeptieren. Denn letztlich bedeuten hohe Standards immer einen Wettbewerbsvorteil für die industriellen Mitspieler, die diesen nutzen können. Zur besonderen Situation der RoRo- Fahrgastschiffe wird unten noch einiges gesagt werden, hier ist die Situation durchaus derzeit sehr komplex.

These 2011:

„Schließlich wäre es wünschenswert, im Interesse der maritimen Industrie die Auswüchse der Fehlentwicklungen im Bildungssystem zumindest zu lindern, denn nur durch qualifizierte Ingenieure ist dauerhaft ein überlebensfähiger Schiffbau zu gewährleisten. Und die essenziellen Zukunftsfragen wie Schutz von Menschenleben und unserer Umwelt, Energiesicherheit und Klimawandel sowie erneuerbare Energien können überhaupt nur von qualifizierten Ingenieuren gelöst werden. Gerade

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Überprüfung der Ergebnisse der Studie von 2011

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Fragen der Schiffsicherheit sind systemrelevante Fragen, die nur von sehr qualifizierten und erfahrenen Ingenieuren gelöst werden können.“

Ist- Zustand 2014:

Wir halten obige Feststellung nach wie vor für richtig, was die Qualifikation von Ingenieuren angeht. Wir erlauben uns die Feststellung, dass nach unserem Kenntnistand die relevanten Änderungen im Bildungssystem (Bachelor/Master- System, G8- Abitur) bisher weder zu einer erkennbaren Verkürzung der Studienzeiten noch zu einer substantiellen Verringerung der Abbrecherquoten an den Hochschulen geführt haben.

Zusammenfassend können wir wiederum feststellen, dass Fragen des Umweltschutzes und Schiffssicherheit systemübergreifende Fragestellungen sind, die von erfahrenen und dafür qualifizierten Ingenieuren gelöst werden müssen.

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Aktuelle Fragen der Schiffssicherheit

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4 Aktuelle Fragen der Schiffssicherheit

4.1 Grundsätzliches 100 Jahre nach dem Unfall der RMS TITANIC ist mit der COSTA CONCORDIA ein großes Passagierschiff auf vergleichbare Weise verunfallt, allerdings gab es bei dem Unfall der COSTA deutlich weniger Tote, was auch darauf zurückzuführen ist, dass das Schiff in unmittelbarer Nähe zu Land verunfallt ist und sich viele Passagiere retten konnten. Wegen dieses Unfalles wurde in den Medien und auch in der Politik die Sicherheit großer Fahrgastschiffe heftig diskutiert, teilweise wurden Forderungen erhoben, diese deutlich zu verbessern. In der Tat beschäftigen wir uns in der EU seit Langem mit der Frage der Sicherheit von Fahrgastschiffen, es ist aber durchaus die Frage, ob dort bei großen Passagierschiffen tatsächlich Handlungsbedarf besteht oder ob es nicht andere Fragestellungen gibt, bei denen vielleicht ein größerer Handlungsbedarf besteht. Auf den Unfall der COSTA CONCORDIA, der in der Sicherheitstechnik immer noch unsere Diskussionen bestimmt, wird weiter unten noch eingegangen werden. Zunächst sollen aber einige allgemeine Bemerkungen zur gegenwärtigen Einordung der Schiffssicherheit in unser Werte- und Normensystem vorgenommen werden. Wir schreiben dabei die in unserer Vorgängerstudie gemachten Beobachtungen fort.

4.2 Konflikt Umweltschutz -Schiffssicherheit

Die Sicherheitstechnik ist nach wie vor eine der anspruchsvollsten Aufgaben der Ingenieurswissenschaften, denn sie konfrontiert unsere Gesellschaft direkt mit den Folgen der zunehmenden Technisierung. Dabei geht es immer um folgende grundlegende Fragestellungen:

• Schutz menschlichen Lebens • Schutz der Umwelt • Schutz von Wirtschaftsgütern

Dabei können unterschiedliche Gesellschaftsformen vielleicht unterschiedliche Gewichtung auf die einzelnen Gebiete legen, das hängt auch stark davon ab, wieweit Gesellschaften bereits entwickelt sind bzw. welche Fortschritte auf den einzelnen Gebieten in unterschiedlichen Gesellschaften bereits erzielt worden sind. Legt man das Wertesystem der westlichen Demokratien zugrunde, dann lässt sich sicherlich ein Konsens darüber erzielen, dass die oben vorgeschlagene Reihenfolge einer bei uns

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in Europa akzeptierten Gewichtung entspricht. Andere Länder – wie die aufstrebenden Schwellenländer - haben hier aber durchaus andere Vorstellungen, die zu einer anderen Gewichtung führen. So rangiert dort oft der Schutz von Wirtschaftsgütern vor dem Schutz der Umwelt und auch vor dem Schutz menschlichen Lebens. Das macht es auf internationaler Ebene – und die Schiffssicherheit ist ein internationales Geschäft – oft schwierig, Regeln entsprechend unseren Wertevorstellungen durchzusetzen.

Es ist bei näherer Betrachtung unserer Meinung nach aber auch in unserer Kultur ein schleichender Wertewandel erkennbar, der obige Reihenfolge in Frage stellt, allerdings ohne das offen auszusprechen. So kommt mittlerweile dem Schutz der Umwelt unserer Wahrnehmung nach eine höhere Aufmerksamkeit zu als dem Schutz menschlichen Lebens. Das äußert sich unseren Beobachtungen nach darin,

• dass eine sehr große Aktivität bei der IMO und vergleichbaren Organisationen festzustellen ist bei allen Fragestellungen, die mit dem Umweltschutz zu tun haben, dass aber vergleichsweise wenige Aktivitäten bei sicherheitstechnischen Fragen stattfinden

• dass Vorschriften, die auf den Umweltschutz zielen, mit kurzen Entwicklungszyklen entschieden werden, ohne dass darauf geachtet wird, dass diese nachteiligen Einfluss auf sicherheitsrelevante Eigenschaften der Schiffe haben können. Das liegt fast immer daran, dass zunächst gutgemeinte Entwicklungen durch den konsequenten Einfluss von Lobbygruppen solange bearbeitet werden, bis sich daraus für diese Lobbygruppen ein wirtschaftlicher Vorteil ergibt. Weil Umweltschutzthemen ein riesiges gesellschaftliches und emotionales Momentum erzeugen, besteht kaum die Möglichkeit, rational gegen solche Fehlentwicklungen zu argumentieren.

• dass wenn der oben beschriebene Konflikt auftritt, entweder zugunsten des Umweltschutzes optiert wird oder aber der Konflikt auf die Produktentwickler verlagert wird.

Es werden also vermehrt technische Richtlinien in Kraft gesetzt, die eine inzwischen einseitige Fokussierung auf Umweltfragen erzwingen, was bei technisch komplexen Systemen wie Schiffen zwangsläufig zu Lasten andere Eigenschaften wie z. B. der Sicherheit gehen muss, ohne dass das explizit offen ausgesprochen wird:

• Zum Beispiel wurde gerade durch die IMO eine Richtlinie zur Deckelung der CO2- Emissionen von Schiffen beschlossen (an und für sich etwas Sinnvolles), die aber zu einer derartigen Reduktion der zur Verfügung stehenden Antriebsleistung führt, dass einige Schiffstypen im schweren Wetter nicht mehr beherrscht werden können. Gleichzeitig erlaubt die Richtlinie eine nahezu unbegrenzte Motorisierung der großen Containerschiffe, dadurch wird der

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Umweltschutzgedanke hinfällig. Für uns in Deutschland ist diese Entwicklung besonders fatal, weil wir unsere Windparks in den Hauptseeverkehrszonen errichten und gleichzeitig die eher kleinen Schiffe in unserem küstennahen Verkehr besonders starke Reduktionen der Antriebsleistung verkraften müssen. Es wird zwar von der IMO eine weitere Richtlinie darüber erarbeitet, wie groß die Antriebsleistung von Schiffen mindestens sein muss, um im schweren Wetter sicher steuern zu können, diese Werte werden aber derzeit bewusst sehr niedrig angesetzt, und gerade die kleinen (unter 20000dwt) Schiffe sind von der Regel ausgenommen. Weiterhin existiert überhaupt keine Lösung für die Frage, was passiert, wenn eine Vorschrift die Antriebsleistung begrenzt, und eine andere Vorschrift eine mindestens zu installierende Leistung vorschreibt. Es wäre wünschenswert, wenn die aus Sicherheitsgründen mindestens zu installierende Leistung die aus Umweltschutzgründen maximal zu installierende Leistung überschreiben würde, das ist aber nicht der Fall, denn es müssen beide Regeln eingehalten werden. Es liegt auf der Hand, dass es dann nicht mehr möglich sin wird, bestimmte Schiffe zu entwerfen, wenn die maximal mögliche Leistung geringer ist als die mindestens zu installierende Antriebsleistung. Ärgerlicherweise tritt dieses Szenario aufgrund der geltenden Vorschriftenlage zuerst bei den Schiffstypen ein, die vorwiegend in Europa gebaut werden, mit allen Nachteilen, die sich für unsere Industrie daraus ergeben. Damit verkehrt sich der ursprünglich vorgetragene Gedanke zum Umweltschutz in das genaue Gegenteil bei Akzeptanz der Gefährdung von Menschenleben.

• Zum Beispiel ist der Transport von Flüssiggas (LNG) unter Räumen, in denen sich Menschen aufhalten, verboten, solange das Flüssiggas Ladung ist (nach dem Gas- Tanker- Code). Soll das Gas aber als (umweltfreundlicher) Kraftstoff verwendet werden, ist eine Lagerung unter Aufbauten erlaubt. Fairerweise muss man zugeben, dass bezüglich der Sicherheit von LNG an Bord erhebliche Fortschritte gemacht worden sind, die einen Transport unter Aufbauten aus heutiger Sicht rechtfertigen würden, es wäre dann aber nur konsequent und ehrlich, wenn man den Transport desselben Stoffes dann auch bei Gastankern unter den Aufbauten erlauben würde. Denn gerade die LNG- Konzepte für große Containerschiffe würden dann – wenn sie realisiert werden sollten – etwa solche Mengen an LNG mitführen wie ein kleinerer Gastanker.

• Zum Beispiel bedeutete die Einführung von Ballastwassermanagement durch Austausch auf See einen massiven Eingriff in die Stabilität der Schiffe durch freie Flüssigkeitsoberflächen, und mindestens ein schwerer Seeunfall ist

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darauf zurückzuführen. Es wurde bei der Einführung der Vorschrift kaum darauf geachtet, wie ein sicherer Austausch von Ballastwasser auf See in Einklang mit den Anforderungen des Stabilitätshandbuches vonstatten gehen kann.

• werden Schiffsentwürfe heute radikal bezüglich der Energieeffizienz optimiert. Das ist nichts grundsätzlich Schlechtes, es wird aber bei der Optimierung nur der Zustand betrachtet, der in der Schiffbauversuchsanstalt Gegenstand der Modellversuche ist, und gleichzeitig wird die Energieeffizienz über alle anderen Entwurfskriterien gestellt. Daher kommen Wind, Seegang und Strömung nicht vor, und das Ergebnis der scheinbaren Optimierung sind dann Schiffe, die unter realen Bedingungen nachteilige Eigenschaften wie Seegangsvermögen oder Steuerfähigkeit haben. Weil eine einseitige Fokussierung auf den akademischen Glattwasserzustand stattfindet, mit der Begründung des Umweltschutzes, wird es für verantwortungsvolle Ingenieure, die einen ausgewogenen Gesamtentwurf im Sinn haben, zunehmend schwerer, ihre Vorstellungen durchzusetzen.

• Zum Beispiel finden heute umfangreiche Diskussionen darüber statt, den Unterwasserlärm von Schiffen durch geeignete Vorschriften zu begrenzen. Auch das ist ein eigentlich sinnvolles Ziel. Es ist aber so, dass Unterwasserlärm und Energieeffizienz zu gegenteiligen Forderungen an den Propeller führen. Es liegt auf der Hand, dass bestimmte Schiffe ohnehin nur geringe Geräuschpegel erzeugen dürfen, allein um den Komfort für die Passagiere zu gewährleisten, und das sind gerade die in Europa gebauten Schiffe. Es sieht aber wegen technischer Fehlbewertungen der Ist- Situation so aus, dass gerade ein Teil der eigentlich leisen Schiffe – und zwar diejenigen mit Verstellpropellern - durch die andiskutierten Unterwasserlärmforderungen besonders abgestraft werden sollen, obwohl dazu bei genauerer technischer Betrachtung kein Grund vorliegt oder man die Ursachen an anderen Stellen suchen müsste.

• Eine weitere Beobachtung hat der Autor dieser Studie selbst gemacht: Unmittelbar, nachdem die COSTA CONCORDIA auf den Felsen auflief und dort in ihrer Endlage zu liegen kam, entbrannte ein heftiger Konflikt darüber, ab man nicht zuerst das in den Tanks noch vorhandene Öl abpumpen müsse oder ob nicht der Rettung oder Bergung der Menschen Priorität eingeräumt werden müsse. Die am Einsatz beteiligten Rettungskräfte sind zum Teil von einzelnen Umweltverbänden heftig dafür kritisiert worden, nicht zuerst das Öl abgeborgen zu haben. Dazu muss man wissen, dass zu dem Zeitpunkt überhaupt nicht klar war, ob das Schiff stabil in seiner Endlage lag oder nicht vielleicht den Abhang herunterrutschen könnte. Die Veränderung von Masse und

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Schwerpunkt des Schiffes durch das Abpumpen von Öl bedeutete nach damaligem Kenntnisstand ein großes Risiko für Rettungskräfte und auch möglicherweise noch lebende Personen, und die Einsatzkräfte haben sich unserer Meinung nach zu Recht dafür entschieden, der Sicherheit der Menschen höhere Priorität beizumessen.

Aufgrund dieser Entwicklungen, die hier beispielhaft genannt sind, wird es für uns Ingenieure zunehmend ein Problem, noch Schiffe entwickeln zu können, die konzeptionell noch ausgewogen sind.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass es unserer Auffassung nach viele Indizien dafür gibt, dass in der Wertigkeit der Schutz der Umwelt inzwischen teilweise über den Schutz menschlichen Lebens gestellt wird. Möglicherweise ist das nicht so beabsichtigt, aber die Transformation des Wertesystems vollzieht sich schleichend, und man muss hier gegebenenfalls rechtzeitig gegensteuern. Es ist für Nicht- Ingenieure zunehmend schwerer überschaubar, welche technischen Kollateralschäden durch eine zu einseitige, wenn auch berechtigte Sichtweise auf ein komplexes Produkt entstehen kann.

4.3 Sicherheit großer Passagierschiffe Ein wesentliches Problem, welches wir in unserer Vorgängerstudie benannt haben, war das Problem der sogenannten Risiko- Fluktuation: Damit war gemeint, dass das gesellschaftlich akzeptierte Risiko starken Schwankungen unterworfen ist, die nicht rational begründbar sind. Damit ist es sehr schwierig, risikobasierte rationale Methoden in der Schiffssicherheit anzuwenden, weil das zugrundeliegende Bemessungsrisiko eben nicht konstant ist. Wegen dieser irrationalen Risikobewertung akzeptiert man eher viele permanent auftretende Unfälle mit jeweils sehr wenigen Toten als wenige Unfälle mit sehr vielen Toten. Dazu ist der Unfall der COSTA CONCORDIA ein gutes Beispiel: Aus diesem Unfall wurde sofort durch einzelne Akteure der Politik Handlungsbedarf bei der Sicherheit großer Passagierschiffe abgeleitet. Dazu muss zunächst bemerkt werden, dass eine Verbesserung des Sicherheitsniveaus solcher Schiffe in jedem Fall mit großen Kosten für die Industrie verbunden ist, der gesamte Sicherheitsgewinn gegenüber dem jetzigen Zustand wäre aber überschaubar: Denn fast immer werden neue Sicherheitsregeln nur auf Neubauten angewendet, und der volle Sicherheitsgewinn entsteht erst dann, wenn alle derzeit fahrenden Schiffe vom Markt genommen worden sind und alle Schiffe nach den verbesserten Regeln fahren. Ferner sind seit 2005 (der Ablieferung der COSTA CONCORDIA) schon wesentliche Verschärfungen der Regeln für große Passagierschiffe proaktiv in Kraft getreten, nämlich:

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• Die neuen Lecksicherheitsregeln seit 2009 verlangen die Betrachtung von bis zu 60m langen Beschädigungen (bei der COSTA CONCORDIA waren es 12m). Von allen denkbaren Beschädigungsszenarien muss ein modernes Kreuzfahrtschiff etwa 90% mit strengen Auflagen bestehen, nach den alten Regeln waren dies ungefähr 30% [3]. Ferner betrachten die neuen Regeln die explizite Untersuchung von Bodenschäden, was vorher nicht der Fall war. Als Konsequenz werden erheblich mehr wasserdichte Schotte in die Schiffe eingebaut, und die Stabilität ist erheblich höher. Diese Regeländerung ist nicht aufgrund eines Unfalles eingeführt worden, sondern proaktiv.

• Seit kurzem wird von Passagierschiffen verlangt, dass auch im Schadensfall alle wichtigen Systeme noch funktionieren, also Hauptantrieb, Energieversorgung, Klimaanlage etc. (Safe- Return- To Port). Alle wichtigen Anlagen müssen also redundant ausgeführt werden. Gleichzeitig muss sichergestellt sein, dass bei Ausfall einer Feuerzone alle Passagiere in den benachbarten Feuerzonen untergebracht werden können. Auch diese Regel wurde proaktiv eingeführt.

Diese beiden Verschärfungen der Vorschriften bedeuten für Neubauten enorme Zusatzkosten, trotzdem ist der Sicherheitsgewinn wie oben ausgeführt, statistisch überschaubar: Denn diese Regeln sind auch nur auf Neubauten anzuwenden, ein Kreuzfahrtschiff ist aber bis zu 30 Jahre und länger im Einsatz. Bis die Regeländerung also voll greift, müssen erst alle vorhandenen Schiffe vom Markt genommen werden. Man erkennt daran sofort, dass ein höherer Sicherheitsgewinn bei viel geringeren Kosten erzielbar wäre, wenn man sich auf technische Nachrüstungen der vorhandenen Alttonnage fokussieren würde. Dass das im Prinzip möglich ist, hat die EU mit dem sogenannten Stockholmer Abkommen nach dem Unglück der ESTONIA gezeigt. Ganz wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, dass große Passagierschiffe praktisch nur von europäischen Bauwerften gebaut werden, die einen hohen Standard und eine große technische Kompetenz haben. Man muss also sorgfältig überlegen, ob man bei Schiffen, die eigentlich schon ein sehr hohes Sicherheitsniveau haben, weitere Regelverschärfungen für Neubauten in Kraft setzen möchte.

An dieser Stelle möchten die Autoren eine grundsätzliche Bemerkung machen. Bei allen von uns bisher untersuchten Schiffsunfällen sowie bei allen uns weiterhin in Details bekannten Unfällen mit fatalem Ausgang war es immer so, dass das Schiff aufgrund einer komplexen Versagenskette verunfallt ist. Der Unfall hätte bei jedem Glied der Kette gestoppt werden können, und dann wären keine Menschen ums Leben gekommen. Es hat sich ferner gezeigt, dass jedes einzelne Glied der Ereigniskette nur deshalb möglich war, weil geltende Regeln der Technik nicht eingehalten

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worden sind oder weil massiv gegen diese verstoßen worden ist. Es ist daher aus Sicht eines Ingenieurs deutlich effizienter, das Nichteinhalten von Regeln oder den Verstoß gegen solche konsequent zu ahnden, als genau dieses nicht zu tun und stattdessen einfach die Regeln zu verschärfen. Gerade bei Passagierschiffen –sowohl bei den großen als auch bei den kleinen - gibt es unserer Auffassung nach zwei Probleme, bei denen generell Handlungsbedarf besteht:

4.3.1 Offenfahren von Schottschiebetüren

Schottschiebetüren stellen ein bekanntes und zugleich leidiges Problem dar. Solche Türen bedeuten Durchbrüche durch ein wasserdichtes Schott und sind im Prinzip zu vermeiden. Das bedeutet, dass man theoretisch stets bis zum Schottendeck hochsteigen müsste, um von einer wasserdichten Abteilung in eine andere zu gelangen. Das ist im praktischen Schiffsbetrieb lästig, und daher werden in nahezu alle wasserdichten Schotte Türen eingebaut, allerdings mit der Maßgabe, diese auf See geschlossen zu fahren. Leider ist es möglich, von bestimmten Flaggenstaaten Ausnahmegenehmigungen für das Offenfahren von solchen Türen zu erlangen, und daher werden manche Türen auf See aufgefahren. Dies wiederum verstärkt die Neigung, derartige Türen einzubauen, anstatt durch eine sorgfältig durchdachte Raum- und Prozessplanung möglichst viele solche Türen a priori zu vermeiden. Und es werden wohl auch Türen offengefahren, obwohl keine explizite Ausnahmegenehmigung vorliegt. Anders ist es nämlich nicht zu erklären, dass bei allen von uns untersuchten Schiffsunfällen erst durch das Offenfahren von Schottschiebtüren eine Situation entstanden ist, die dann letztlich zum Untergang des Schiffes geführt hat. Es versteht sich von selbst, dass es technisch keinen Sinn ergibt, von einem Konstrukteur den Einbau eines wasserdichten Schotts zu fordern, dieses aber mit einer Tür zu versehen, die dann im Schadensfalle offen ist. Besonders problematisch ist die Anordnung von wasserdichten Türen in der sogenannten B/5- Zone, die als besonders risikoreich gilt. Hier ist die SOLAS nicht wirklich eindeutig, es gibt Flaggenstaaten, die solche Türen genehmigen, andere lehnen sie konsequent ab.

Ärgerlich ist weiterhin, dass die neuen, seit 2009 in Kraft befindlichen Lecksicherheitsregeln weniger eindeutig sind mit dem möglichen Offenfahren von Schottschiebetüren als die vorherigen Regeln. Dabei beziehen sich die neuen Regeln bei Bau und Konstruktion der Schiffe auf Neubauten nach 2009, bezüglich der operativen Vorschriften aber auf alle Schiffe. Damit ist es nun möglich, unter Hinweis auf die neuen Regeln das zusätzliche Offenfahren von Türen auf Schiffen genehmigt zu bekommen, die vor 2009 gebaut wurden und welche die weniger strengen Regeln bezüglich der Konstruktion der Schiffe erfüllen mussten. Das ergibt eine auch für Laien sofort einsichtige Reduktion des Sicherheitsniveaus. Besser

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wäre es hier, eine klare Linie zu fahren, den Einbau der Türen durch ein intelligentes Design zu minimeren und das Offenfahren auf See sehr restriktiv zu handhaben. Allerdings muss auch gesagt werden, dass es verantwortungsvolle Reedereien im Kreuzfahrtgeschäft gibt, die konsequent ihre Türen geschlossen fahren. Man muss fairerweise zur Verteidigung der Betreiber der Schiffe aber auch sagen, dass manche Schiffsentwürfe großer Passagierschiffe logistisch nur mit erheblichen Einschränkungen zu betreiben sind, wenn alle Türen konsequent zugefahren werden. Und die Situation bezüglich der Türen verschärft sich stetig, je mehr das Sicherheitsniveau bezüglich der inneren Unterteilung der Schiffe nach oben getrieben wird: Denn eine immer feiner werdende Raumaufteilung benötigt immer mehr Türen, die dann offengefahren werden müssen, weil das Schiff sonst nicht vernünftig betrieben werden kann. Summa summarum wäre es der Sicherheit, aber auch der Wirtschaftlichkeit der Schiffe zuträglicher, wenn derzeit mehr Energie in die Optimierung der inneren Unterteilung bezüglich der Vermeidung von Schottschiebetüren gelegt werden würde als in die weitere Verfeinerung der wasserdichten Unterteilung. Sonst wird sich dieser Konflikt stetig verstärken. Sinngemäß gilt das natürlich nicht nur für die großen Passagierschiffe, sondern auch für die kleineren.

4.3.2 Evakuierung der Schiffe

Ein Problem stellt die (geordnete) Evakuierung solcher Schiffe dar. Das wird ja auch in der Öffentlichkeit immer wieder als Argument herangezogen, um die großen Passagierschiffe konzeptionell in Frage zu stellen (interessanterweise werden gerade die großen Kreuzfahrtschiffe als besonders umweltfreundlich angesehen, weil der CO2- Ausstoß je Passagier so gering ist. Damit erzwingen die Umweltregeln der IMO gerade die besonders großen Kreuzfahrtschiffe, welche dann von den Sicherheitsregeln der IMO in Frage gestellt werden). Alle Experten sind sich aber in der Frage einig, dass der Fall der Evakuierung eines solchen Schiffe überhaupt nicht eintreten darf, weil es ausgeschlossen scheint, ein solches Schiff unter realen Bedingungen (Seegang, Schlagseite, etc.) überhaupt geordnet evakuieren zu können. Selbst wenn man ein solches Schiff unter vollkommen idealen Bedingungen evakuieren müsste, würden vermutlich einige Passagiere durch Herzversagen oder körperlicher Überanstrengung etc. sterben. Wenn die Bewegung der Menschen an Bord durch Schiffsbewegungen oder eine Schlagseite behindert wird, dürften noch deutlich mehr Tote wahrscheinlich sein. Daher ist es eine zentrale Herausforderung der Schiffstechnik

• ein großes Passagierschiff unter allen erdenklichen Umständen schwimmfähig zu halten.

• Entscheidungshilfesysteme für die Besatzung zu entwickeln, die eindeutig ermitteln, ob ein Schiff evakuiert werden muss.

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Die Evakuierung wird aber aus technischer Sicht nicht grundsätzlich schwieriger, weil mehr Menschen an Bord sind. Im Gegenteil ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Schiff aufgrund eines Schadensereignisses evakuiert werden muss, für ein großes Schiff eher geringer als für ein kleines Schiff. Ein Problem ist eher die Frage, wie die Menschen aus den sehr großen Rettungsbooten dann wieder abgeborgen werden können. Wichtiger noch ist die Frage, dass eine Evakuierung der Schiffe ab einer bestimmten Schlagseite nicht mehr möglich ist. Daher müssen gerade die großen Passagierschiffe vom Entwurf her besondere Anstrengungen unternehmen, dass große Schlagseiten vermieden werden können und dass im eventuell eingetretenen Schadensfall so rechtzeitig evakuiert wird, dass die Menschen noch vor Eintritt einer großen Schlagseite von Bord kommen. Das wiederum setzt die zielgenaue Vorhersage voraus, ob das Schiff überhaupt evakuiert werden muss.

Zusammenfassend kommen wir zu der Auffassung, dass das Sicherheitsniveau gerade der großen Passagierschiffe für alle Neubauten ab 2010 schon sehr hoch ist. Eine weitere Verschärfung des Sicherheitsniveaus dieser Schiffe bringt statistisch gesehen kaum einen Gewinn, solange nicht auch die vorhandene Tonnage im Standard angehoben wird. Auch muss vor jeder Verschärfung der Sicherheitsregeln bei Bau und Konzeption der Schiffe erst geprüft werden, ob geltende Regeln konsequent eingehalten werden, und das Nicht- Einhalten von Regeln müsste konsequenter verfolgt werden.

4.4 Sicherheit von RoRo- Fahrgastschiffen Diese Schiffe stellen einen für Europa sehr wichtigen Schiffstyp dar: Das liegt einmal daran, dass sehr viele solcher Schiffe in noch in Europa gebaut werden und damit ein wichtiges Standbein der europäischen Schiffbauindustrie sind. Andererseits werden sehr viele RoRo- Fahrgastschiffe auch in europäischen Gewässern betrieben, und die Sicherheit der Fahrgäste und Besatzung ist daher ein wichtiges Anliegen der Schiffssicherheit.

Im Prinzip gelten alle bei den großen Fahrgastschiffen identifizierten Problemfelder sinngemäß auch für RoRo- Fahrgastschiffe: Das Offenfahren von Schottschiebetüren ist auch bei diesen Schiffen ein latentes Problem, Gleiches gilt für die Evakuierung. Allerdings ist die Ausgangssituation für die Schiffssicherheit bei den RoRo- Fahrgastschiffen eine etwas andere als bei den großen Passagierschiffen, und das liegt an zwei wesentlichen Gründen, die im Folgenden erläutert werden:

Zunächst bedeuten die großen, offenen Wagendecks ein erhöhtes Risikopotential im Falle eines Wassereinbruchs. Dieser kann entweder

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aufgrund einer Undichtigkeit der Außenhaut oder von Öffnungen erfolgen (ESTONIA, HERALD OF FREE ENTERPRISE, JAN HEWLIUSZC) oder durch interne Mechanismen wie Feuerlöschen (SALAM BOCCACIO, LISCO GLORIA). Das Problem der großen offenen Wagendecks besteht darin, dass das sich darauf sammelnde Wasser ungehindert frei fließen kann, dadurch können sehr große krängende Momente entstehen, wenn diese Wassermenge einen kritischen Grenzwert überschreitet. In diesem Fall krängt das Schiff sofort stark zu einer Seite hin, und dadurch wird eine Evakuierung der Schiffe kaum noch möglich, weil die Menschen wegen der großen Schlagseite kaum noch mobil sind. Wichtige Fluchtwege können nicht mehr erreicht werden, und Treppenhäuser werden dann fast unbenutzbar. Wenn das Schiff dann eine weitere Flutung erleidet, weil Öffnungen infolge der Schlagseite zu Wasser kommen, sinkt das Schiff. Die darin eingeschlossenen Menschen haben dann kaum noch eine Überlebenschance. Damit besteht ein wesentliches Problem der RoRo- Fahrgastschiffe in der großen, plötzlich auftretenden Schlagseite, wenn das Wagendeck geflutet wird, die dann eine Evakuierung nahezu unmöglich macht. Dieses Problem ist bei allen Passagierschiffen, die keine RoRo- Fahrgastschiffe sind, grundsätzlich nicht vorhanden. Es kann zwar bei Nicht-RoRo-Fahrgastschiffen im Leckfall auch eine große Schlagseite auftreten, diese tritt aber meist erst in der Endphase der Flutung auf, so dass bei konsequentem Handeln ausreichend Zeit besteht, die Passagiere noch evakuieren zu können. Ein Teil des Problems entsteht also wegen eines bauartbedingten Charakteristikums von RoRo- Fahrgastschiffen.

Nach dem Unfall der ESTONIA hat man nun versucht, gezielt gegen dieses Problem anzugehen: Mit dem sogenannten „Stockholmer Abkommen“, welches später in die EU- Direktiven 2003/25/EC (vormals 98/18/EC), hat die EU gezielt eine Sicherheitsvorschrift nur für RoRo- Fahrgastschiffe erlassen. Diese Vorschrift gilt für alle RoRo- Fahrgastschiffe, die einen EU- Hafen anlaufen. Im Kern geht es aus darum, dass ein RoRo- Fahrgastschiff unter bestimmten Bedingungen eine gewisse Menge von Wasser auf dem Fahrzeugdeck ertragen muss, und mit dieser Wassermenge müssen bestimmte Mindestwerte für die verbleibender Reststabilität eingehalten werden. Diese Vorschrift war nicht nur auf alle Neubauten anzuwenden, sondern es mussten alle existierenden Schiffe entsprechend nachgerüstet werden. Diese Nachrüstungen wurden meist dadurch durchgeführt, dass die Schiffe entweder

• Stabilitätswülste (Blister) an den Seiten erhalten haben, um die Stabilität zu erhöhen, oder

• Zusätzliche wasserdichte Türen auf dem Wagendeck erhalten haben, um die Auswirkungen von Wasser auf dem Deck zu begrenzen.

Bei Neubauten hingegen haben die Regeln bewirkt, dass das Wagendeck angehoben wurde, um einen potentiellen Wassereinbruch unwahrscheinlicher zu machen und um die verbleibende Reststabilität zu

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erhöhen. Weil die damals geltenden Lecksicherheitsregeln (SOLAS Reg. 8) explizit verboten haben, das Wagendeck im Beschädigungsfall tauchen zu dürfen, wurden Doppelhüllen auf dem Wagendeck kaum eingesetzt (im Gegensatz zu rein frachtragenden RoRo- Schiffen).

Nachdem die Industrie sich auf die neuen Regeln eingestellt hatte, wurden diese Sicherheitsregeln integraler Bestandteil des Entwurfes von RoRo- Fahrgastschiffen, und es gelang in relativ kurzer Zeit, mittels dieser Regeln wettbewerbsfähige und zugleich deutlich sichere Schiffe zu entwickeln als vorher. Gleichzeitig gaben die Regeln einen starken Anreiz, ältere Schiffe aus dem Markt zu nehmen, anstatt sie umzubauen.

International fand die EU- Direktive keinen Zuspruch, im Regelwerk der SOLAS wurde der Fall „Wasser an Deck“ nicht gesondert behandelt.

Im Rahmen der Harmonisierung der Leckrechnung wurde nun die gesamte Leckrechnung für Passagierschiffe auf ein probabilistisches Konzept umgestellt, was an und für sich zu begrüßen ist, denn das Konzept ist viel moderner und passt erheblich besser zu den heute vorhandenen Berechnungsmöglichkeiten. Danach muss ein Schiff einen bestimmten Überlebensindex erreichen, und dieser Überlebensindex steigt mit zunehmender Passagierzahl. Wie vorher hat die IMO aber keine gesonderte Betrachtung von Wasser auf dem Fahrzeugdeck akzeptiert. Und genau aus der Mixtur der letztgenannten Punkte resultiert das zweite Sicherheitsproblem, dass wir bei den RoRo- Fahrgastschiffe haben.

Denn man hatte bei der Einführung der neuen Lecksicherheitsregeln nach der SOLAS 2009 speziell die sehr großen Fahrgastschiffe im Fokus, und es war eine explizite Forderung der Politik, dass der vorgeschriebene Überlebensindex mit der Anzahl der an Bord befindlichen Passagiere zunehmen muss. Dabei hat man aber außer Acht gelassen, dass große Schiffe generell eine höhere Überlebensfähigkeit als kleine Schiffe haben. Denn wenn ein großes und ein kleines Schiff eine etwa gleich große Beschädigung erleiden, dann verfügt das größere Schiffe eindeutig über ein besseres Restschwimmvermögen. Das liefern eindeutig die hydrostatischen Grundlagen zur Leckrechnung.

Gleichzeitig hat man die zu überlebenden Beschädigungen abhängig gemacht von der Schiffslänge des getroffenen Schiffes, angeblich, weil eine statistische Korrelation zwischen beobachteten Lecklängen und der Schiffsgröße des getroffenen Schiffes besteht. Das ist für Schiff-gegen– Schiff Kollisionen aber nicht richtig, denn die Leckgröße des getroffenen Schiffes hängt dabei im Wesentlichen von der Größe des treffenden Schiffes ab. Lediglich bei Grundberührungen wäre eine Abhängigkeit von der Größe des getroffenen Schiffes physikalisch plausibel, denn die kinetische Energie bei Grundberührungen hängt natürlich von der Größe des Schiffes (und dessen Geschwindigkeit ab). Diese Annahmen führen

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aber dazu, dass bei großen Schiffen auch erheblich größere Lecks überlebt werden.

Die Kombination dieser beiden Effekte hat dann bei der Auswertung der neuen Leckrechnung zunächst nicht das Ergebnis gebracht, dass die neuen Vorschriften große Schiffe als sicherer bewerten als kleine Schiffe (was aber aufgrund der Physik nicht stimmt). Um das gewünschte Ergebnis mit Blick auf die sehr großen Schiffe zu erzeugen hat man nun solange die Formulierung des zu erreichenden Überlebensindex dahingehend überarbeitet, dass man das erreichte Sicherheitsniveau für die großen Schiffe für ausreichend hielt. Als Folge davon (s.o) wurde gegenüber dem Stand von vor 2009 das Sicherheitsniveau für sehr große Fahrgastschiffe erheblich verschärft.

Man hat seinerzeit aber nicht bemerken wollen oder können, dass als Kollateralschaden der oben skizzierten Entwicklung das Sicherheitsniveau für die kleinen Schiffe erheblich gegenüber dem Stand von vor 2009 gesunken ist. Das lag daran, dass man eben nur die besonders großen Schiffe im Fokus hatte. Dazu hat die EMSA im Jahre 2009 eine Studie durchführen lassen [4], um herauszufinden, inwieweit die kleineren RoRo- Fahrgastschiffe Schiffe durch die neuen Regeln betroffen sind. Dazu führt die Untersuchung glasklar aus:

“Altogether the present investigation of the two RoPax vessel designs shows that in the framework of the new probabilistic damage stability rules (SOLAS 2009), it is possible to create ship designs with significant deficits in safety. In view of this it is difficult to come into any other conclusion that the ship stability required by the SOLAS 2009 rules is not likely to be sufficient in all cases. Corrective action should be taken to amend the SOLAS 2009 rules. In order to reliably make the right changes, some more new RoPax designs according to the probabilistic SOLAS 2009 rules should be investigated.

In view of the present results the HSVA Consortium found the idea to leave the damage stability rules in SOLAS 2009 in the present form and to develop an additional, separate Water-on-Deck (WoD) -criterion for RoPax ships based on first principles for the amendment of the SOLAS 2009 rules as best.”

Auch weitere Studien, die zum gleichen Thema durchgeführt worden sind, kommen zu dem Ergebnis, dass bei den kleinen Passagierschiffen generell ein Sicherheitsdefizit entstanden ist. Zumindest für die kleineren RoRo- Fahrgastschiffe innerhalb der EU schien diese Entwicklung trotzdem vertretbar zu sein, denn die EU- Direktive 2003/25/EC stellte ja bisher ein ausreichendes Sicherheitsniveau her. Neuere Untersuchungen dazu haben ergeben, dass die Sicherheitsgrenze für RoRo- Fahrgastschiffe etwa bei 200 m und 1700 Passagieren angesetzt werden kann: Oberhalb dieser

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Grenze führen die neuen Leckstabilitätsregeln zu härteren Auflagen (das heißt, die Schiffe werden insgesamt sicherer). Unterhalb dieser Grenze bleibt (zumindest in der EU, denn international gilt die EU- Direktive ja nicht) der Sicherheitsstandard auf dem gleichen Niveau wie vor 2009 (und wie nach dem ESTONIA- Unglück). Damit stellt sich die Situation wie folgt dar:

Größere Fahrgastschiffe werden durch die neuen Lecksicherheitsregeln nach der SOLAS 2009 B1 eindeutig sicherer in der Leckstabilität als vorher, zum Teil sogar erheblich sicherer. Bei kleineren Schiffen entsteht durch die SOLAS 2009 B1 aber ein erhebliches Sicherheitsdefizit bezüglich der Leckstabilität gegenüber dem Stand von vor 2009. Bei RoRo- Fahrgastschiffen, die innerhalb der EU betrieben werden wird das Sicherheitsdefizit aber durch die EU- Direktive 2003/125/EC kompensiert. Die Sicherheitsgrenze liegt etwa bei Schiffen mit 1700 Passagieren und 200m Länge.

Nun liegt ein erheblicher Teil der RoRo- Fahrgastschiffe, die von europäischen Werften gebaut werden, unter oder bei 200m Länge und unterhalb von 1700 Passagieren. Die Industrie hat sich insofern darauf eingestellt, weil man beim Entwurf solcher Schiffe zuerst die EU-Direktive 2003/25/EC überprüft, ob sie eingehalten wird, und das Schiff wird danach entworfen. Anschließend rechnet man die SOLAS 2009 B1 nach, die dann praktisch immer erfüllt ist. Die Industrie muss zwar eine zusätzliche Rechnung machen, was lästig ist, aber im Prinzip kann man recht gut mit der Ist- Situation leben.

Nun gibt es Bestrebungen einzelner Flaggenstaaten, die EU Direktive 2003/25/EC zu ersetzen oder abzuschaffen. Zum Teil werden technische Argumente hierfür angeführt, zum Teil politische. Als technische Gründe werden genannt, die die physikalischen Annahmen hinter den sogenannten Wasser-an-Deck- Regeln fragwürdig sind. Als politischer Grund wird oft genannt, dass diese Direktive lediglich ein regionales Abkommen darstellt, besser wäre es, diese Frage international zu regeln. Grundsätzlich kann ja beides sinnvoll sein (wir wollen das zunächst nicht kommentieren), man muss bei einer Änderung der Ist- Situation aber bedenken, dass genannte EU- Direktive derzeit die einzige Sicherheitsregel darstellt, die überhaupt für ein gewisses Maß an Kenter- und Sinksicherheit bei den kleineren RoRo- Fahrgastschiffen sorgt. Würde man die EU-Direktive nun ersatzlos streichen, dann hätte man nach allen vorliegenden Studien das Sicherheitsniveau für die kleineren RoRo-Fahrgastschiffe zum Teil dramatisch reduziert. Wenn man diese Direktive durch etwas anderes ersetzt, dann muss in der Summe wenigstens das gleiche Sicherheitsniveau wie vorher erreicht werden, und zwar möglichst für alle kleineren Passagierschiffe und nicht nur für RoRo- Fahrgastschiffe. Ferner muss beim Ersatz der EU-Direktive darauf geachtet werden, den

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Fall „Wasser auf Deck“ wirklich explizit zu berücksichtigen. Tut man das nicht, dann wird das neuralgische Entwurfselement von RoRo- Fahrgastschiffen genau nicht beachtet.

Uns ist bisher kein Ansatz bekannt, der die obigen Forderungen vollständig erfüllt. Die IMO hat zwar jüngst eine zusätzliche Betrachtung von Wasser auf dem Deck von RoRo- Fahrgastschiffen beschlossen, was im Prinzip ein richtiger Weg ist. Das allein reicht aber nachweislich nicht aus, um Sicherheitsäquivalenz herzustellen, es muss auf jeden Fall die seinerzeit erfolgte Absenkung des zu erreichenden Sicherheitsindex entscheidend korrigiert werden, um bei kleineren Schiffen Sicherheitsäquivalenz gegenüber dem Zustand vor 2009 herzustellen. Dann aber hätte man gegenüber dem jetzigen Zustand eine deutliche Verbesserung, weil auch alle anderen kleinen Passagierschiffe (und auch die Offshore- Fahrzeuge) betroffen wären und nicht nur die RoRo- Fahrgastschiffe.

Daraus folgt, dass man die EU Direktive 2003/25/EC erst dann abschaffen darf, wenn sichergestellt ist, dass eine Ersatzlösung vorliegt, die technisch etwa äquivalent ist und die gleichzeitig etwa zum gleichen Sicherheitsniveau führt.

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5 Fallstudien 5.1 Der Fall COSTA CONCORDIA Weil die Nachwirkungen des Unfalles der COSTA CONCORDIA auch die aktuelle Diskussion zur Schiffssicherheit stark beeinflusst, muss der Fall im Rahmen dieser Studie diskutiert werden, auch wegen der möglicherweise durch die Politik abgeleiteten Handlungsempfehlungen. Im Rahmen dieser Diskussion hatte der Autor dieser Studie den Fall im Rahmen des deutschen Verkehrsgerichtstag 2013 diskutiert und war bezüglich der Betrachtung der Sicherheit großer Passagierschiffe zu folgenden Schlussfolgerungen gekommen[9]:

„Der Unfall des Kreuzfahrtschiffes „COSTA CONCORDIA“ Ende Januar 2012 hat eine Reihe von Fragen in der Öffentlichkeit aufgeworfen, die in den Medien zum Teil sehr heftig und kontrovers diskutiert worden sind. Ist es überhaupt verantwortbar, Schiffe mit mehreren Tausend Menschen an Bord zu betreiben? Können solche Schiffe überhaupt evakuiert werden? Sind die Besatzungen nicht mit solchen Schiffen überfordert? Warum verbessert man nicht die Sinksicherheit der Schiffe? Sind solche Schiffe überhaupt umweltverträglich zu betreiben? Das sind einige der Fragen, die nach dem Unfall der COSTA CONCORDIA wiederholt diskutiert worden sind. Gleichzeitig beschäftigt sich die EU- Kommission gegenwärtig mit der Frage, ob die Sicherheit in der Passagierschifffahrt ausreichend ist, oder ob durch verschärfte gesetzliche Auflagen gegengesteuert werden muss. Auch der deutsche Verkehrsminister hat schon angedeutet, dass er die Sicherheit der Passagierschiffe verbessert sehen will.

Aber haben wir wirklich Defizite in der Sicherheit von Kreuzfahrtschiffen, die unmittelbar behoben werden müssten? Diese Frage wird von Ingenieuren durchaus ganz anders beurteilt als von der Allgemeinheit: Bezüglich Bau und Konzeption solcher Schiffe können wir Schiffbauingenieure nicht erkennen, dass hier nachgesteuert werden müsste, denn gerade die großen Kreuzfahrtschiffe erfüllen nachweislich von allen Schiffen am besten den verfügbaren Stand der Wissenschaft und Technik in ihrer Sicherheit.“

Seit Anfang 2013 sind nun eine Reihe von Tatsachen und Untersuchungen zum Unfall der COSTA CONCORDIA hinzugekommen, und zwar sowohl durch den Untersuchungsbericht des Flaggenstaates Italien [10] als durch eigene Berechnungen unseres Institutes [11], unterstützt durch die Bundesstelle für Seeunfalluntersuchung (BSU)1. Diese geben ein klareres

1 Die BSU führt zu dem Fall eigene Untersuchungen durch. Wir wollen einem möglichen zukünftigen BSU- Bericht keinesfalls vorgreifen und führen daher hier nur unsere unabhängigen eigenen Untersuchungen aus.

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Bild über die Unfallursachen und stützen gerade nicht die These, dass die Sicherheit bei den großen Passagierschiffen zu verbessern wäre. Wir werden nun im Folgenden einige dieser Informationen zusammenstellen und kommentieren. Dann werden wir daraus ableiten, welche Verbesserungen der Schiffssicherheit sich unserer Meinung nach aus dem Unfall der COSTA CONCORDIA ableiten lassen.

Zunächst geben wir eine Chronologie der für unsere Betrachtungen wichtigsten Ereignisse des Unfalls, gestützt zunächst auf den italienischen Untersuchungsbericht [10]:

• 21.45: Mit 15 kn ab BB- Seite mit Felsen kollidiert, Geschwindigkeitsabnahme auf ca. 8kn. Zunächst Schlagseite nach BB.

• 21.47: Blackout, ab da kein Antrieb und keine Energieversorgung mehr. Schiff kann nicht mehr selbstständig manövrieren und treibt nur noch. Notdiesel (EDG) springt nicht automatisch an.

• 21.52: Versuch, den Notdiesel zu starten, dieser lässt sich nicht mit der Notschalttafel verbinden und ist defekt. Nur Batterieversorgung, es ist keine Bewegung der Fahrstühle mehr möglich.

• 21.55 Chief meldet Wasser in Abt. 5,6,7 (3- Abt. Fall) • 22.20 Schiff liegt aufrecht, neigt sich aber nach STB • 22.35 Kapitän ordnet „Abadon Ship an“ • 23.11 30 Grad STB- Schlagseite • 23.32 Brücke wird evakuiert • 06.17 Personenrettung wird (zunächst) eingestellt, Schiff hat ca.

80 Grad Schlagseite und liegt auf Grund.

Soweit zunächst die Ereignisse, die der Unfallbericht widergibt. Die Problematik mit dem nicht ordnungsgemäß funktionierenden Notdiesel führt dazu, dass die Fahrstühle nicht mehr bewegt werden können, denn der Notdiesel hat die Aufgabe, diese zum nächsten Deck zu bewegen, um den Passagieren ein Aussteigen zu ermöglichen. Die im Untersuchungsbericht geschilderten Ereignisse lassen den Schluss zu, dass die Besatzung Kenntnis davon gehabt haben könnte, dass der Notdiesel einen Defekt hatte.

Der Untersuchungsbericht nimmt auch Stellung zu dem an Bord befindlichen Stabilitätsrechner und stellt fest, dass dieser für die Problematik der COSTA CONCORDIA nur eingeschränkt brauchbar war ([10] S. 131 Mitte.).

Aufgrund der Kollision mit dem Felsen hat das Schiff einen 5-Abteilungstreffer erhalten, vgl. dazu auch Abb.3. Durch das Hauptleck sind die wasserdichten Abteilungen 4,5,6 und 7 betroffen, dabei sind die Abteilungen 5,6 sofort vollgelaufen. Der Fluss in Abt. 3 wurde durch den im Schiff befindlichen Felsen behindert, daher lief Abt. 3 geringfügig später voll. Durch einen bei Spt. 116 gelegenen kleinen Riss lief zusätzlich

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der Doppelboden in Abt. 7 und 8 voll. Weil sich genau an Spant 116 ein wasserdichtes Querschott befand, war dieser Riss natürlich besonders tragisch. Laut Vorschriftenlage war das Schiff konstruiert für das Überstehen der Flutung von zwei benachbarten Abteilungen. Das sagt aber nichts über die tatsächliche Überlebensfähigkeit des Schiffes im Leckfall aus, sondern besagt lediglich, dass das Schiff nach dem Fluten von zwei benachbarten Abteilungen noch die vorgeschriebenen Stabilitätswerte hat. In Wahrheit ist die Überlebensfähigkeit des Schiffes um ein Vielfaches größer, wie sich zeigen wird.

Abb. 3: Geflutete Räume der Costa Concordia unmittelbar nach dem Treffer [10]

Wichtig für das Unfallgeschehen ist, wie sich zeigen wird, auch der Einfluss der wasserdichten Schottschiebetüren. Hierzu führt der Untersuchungsbericht auf S. 106 aus [10]:

“A useful information concerning stability is the state of watertight doors within the range of time before and during the contact. These data are extracted by the VDR and they confirm that at 21.45, at the time of the contact, the watertight doors were all closed. This gives confirmation to the declaration delivered by the Third Engineering in duty at the time of the accident in the area interested by the breach.

In particular watertight doors 6,7,8,9,10 connecting the flooded compartments.”

Diese Angabe ist nur formal richtig: Fakt ist, dass die Türen 12 und 13 zum Zeitpunkt des Auflaufens definitiv offen waren (das führt auch der

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Bericht dann im Nachsatz aus), diese befanden sich aber nicht im getroffenen Bereich. Fakt ist aber auch, dass nach dem Auflaufen des Schiffes wasserdichte Türen geöffnet worden sind, aus Gründen, die wir unten noch darlegen werden. Dazu gibt der Untersuchungsbericht aber keine Hinweise, es wird lediglich allgemein auf den Appendix verwiesen. Der Untersuchungsbericht zeigt auf S. 107 den Zustand der wasserdichten Türen zum Zeitpunkt der Kollision mit dem Felsen, und danach sind alle Türen geschlossen bis auf die bereits genannten Türen 12 und 13. Wir haben die VDR- Aufzeichnungen im Appendix nun ausgewertet [11] und stellen die Auswertung in folgenden Tabellen zusammen:

Abb 4: Öffnen und Schließen der wasserdichten Türen der Costa Concordia [10],[11].

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Die Daten zeigen, dass zum Zeitpunkt der Kollision die Türen bis auf Tür 12 und 13 geschlossen waren, dass aber nachher eindeutig Türen geöffnet worden sind. Zumindest bei Tür 24 ist nicht sicher, ob diese dann nachträglich wirklich vollständig geschlossen war oder ob sie sich überhaupt vollständig schließen ließ. Es wurde jedenfalls durch Zeugen eine Leckrate durch die Tür 24 beobachtet [10]. Bei den geöffneten Türen handelt es sich durchweg um Türen, von denen man aus dem beschädigten Bereich des Schiffes in unbeschädigte Bereiche gelangt. Der Grund für das Öffnen der Türen ergibt sich z. B. aus Abb. 5. Diese Abb. zeigt die bauliche Situation an Tür 10 auf dem Doppelboden, die von der beschädigten Abteilung 4 in die zunächst unbeschädigte Abteilung 3 führt:

Abb. 5: Tür Nr. 10 der COSTA CONCORDIA mit Notausstieg. Quelle: [10]

In Abb. 5 erkennt man die wasserdichte Tür Nr. 10 auf dem Doppelboden des Schiffes. Wird diese geöffnet, fließt Wasser in die noch unbeschädigte Abteilung 3. Unmittelbar neben der Tür befindet sich auf BB- Seite der Notausstieg aus der Abteilung 4, dessen Einstiegstür nach innen (also in den gefluteten Raum) geöffnet wird. Wenn es zu einem Wassereinbruch kommt, dann steht Wasser gegen die Tür, und diese kann gegen den Wasserdruck dann nicht mehr geöffnet werden. Die einzige Möglichkeit für die in dem Raum befindlichen Besatzungsmitglieder, sich zu retten, besteht dann im Öffnen der wasserdichten Schottschiebetür. Dass die Türen auch definitiv geöffnet worden sind, ergibt sich eindeutig aus den Aufzeichnungen des VDR und ist unstrittig, auch wenn dieser Umstand im Untersuchungsbericht nicht gesondert erwähnt wird. Der Appendix ist aber diesbezüglich eindeutig. Das Öffnen und Schließen (mit Leckage von Tür 24) hat aber einen wesentlichen Beitrag zum Sinkverlauf der COSTA CONCORDIA gebracht, wie unsere eigenen Berechnungen dazu zeigen. Wir geben jedoch zunächst die Ergebnisse wieder, die im Untersuchungsbericht ermittelt worden sind, diese sind in Abb. 6 gezeigt. Dabei wurde das Öffnen von Schottschiebetüren nicht berücksichtigt, das Übergehen des Schiffes nach STB wird im Wesentlichen mit dem auf das Schiff einwirkenden Wind erklärt. Man erkennt, dass Schlagseite nach STB (negativer Krängungswinkel) erheblich geringer ausfällt als die Zeugenaussagen (rotes bzw. grünes Karo in Abb. 5). Photogrammetrische Auswertungen der Unfallbilder des Schiffes haben aber die

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Zeugenaussagen eindeutig bestätigt: Unmittelbar vor dem Aufgrundlaufen des Schiffes vor der Küste muss dieses eine STB- Schlagseite von 12 Grad gehabt haben.

Abb. 6: Verlauf der Krängung aufgrund der Berechnungen im Untersuchungsbericht sowie aufgezeichnete Werte [10]

Wir haben nun vergleichbare Flutungsberechnungen wie im Untersuchungsbericht für den Unfallzustand des Schiffes angestellt und kommen zu folgenden Aussagen, wobei Einzelheiten zum Berechnungsverfahren und zum Modell [11] entnommen werden können:

• Wir erhalten zunächst in der Anfangsphase der Flutung eine Backbordneigung des Schiffes, die sehr gut zu Abb. 6 passt (vgl. dazu auch Abb. 7).

• Nimmt man alle wasserdichten Schottschiebetüren des Schiffes als geschlossen an, dann kann sich nach unseren Berechnungen keine signifikante Steuerbordschlagseite einstellen. Das liegt auch daran, dass die auf das Schiff wirkende Windgeschwindigkeit erheblich geringer gewesen sein muss als zunächst angenommen. Nimmt man den Einfluss des Felsens dazu, erhält man eher eine leichte Schlagseite nach Backbord. Selbst mit Einfluss von realistisch anzusetzendem Wind erhält man nicht mehr Schlagseite nach STB als 1.5 Grad. Auch die Fin- Stabilizer haben kaum einen Einfluss auf das Ergebnis.

• Erst wenn wir die Öffnungs- und Schließsequenzen der wasserdichten Schottschiebetüren in unser Flutungsmodell exakt so

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einbauen, wie sie vom VDR Aufgezeichnet wurden, erhalten wie den Flutungsverlauf exakt so, wie von den Zeugen beobachtet oder wie durch die Photogrammetrischen Auswertungen bestätigt. Der von uns errechnete Verlauf der Flutung passt auch sehr gut zu dem Zeitpunkt des Blackouts, der genau dann auftritt, wenn das Wasser den Hauptschalttafelraum erreicht.

• Die Berechnungen zeigen eindeutig, dass das Überholen des Schiffes nach STB eine Folge der nach dem Schließen leckenden Tür 24 ist, weil die Flutung nach BB behindert wird.

• Die Berechnungen zeigen auch, dass mehr als 1m Wasser an den Notausstiegen gestanden haben müssen, als die Schottschiebetüren geöffnet wurden. Dadurch sind erhebliche Wassermengen in unbeschädigte Bereiche des Schiffes gelaufen.

• Wären keine wasserdichten Türen geöffnet oder geschlossen worden, dann wäre das Schiff über die nicht wasserdichten Feuertüren auf dem Schottendeck auch untergegangen, allerdings erheblich später.

• Wäre das Schiff nicht an Land getrieben, dann wäre es in jedem Fall unseren Berechnungen nach auf offener See auch gekentert und untergegangen. Unseren Berechnungen nach wäre der Untergang mit Bewegen der Schottschiebetüren etwa 20min nach dem Auflaufen auf den Felsen erfolgt.

Abb. 7: Von uns berechneter Verlauf der Schwimmlage der Costa Concordia. Durchgezogene Kurve: Mit geschlossenen Schottschiebetüren, Windeinfluss und Felsenmoment. Gestrichelte Kurve: Mit Öffnen der Schottschiebetüren. Bei uns ist eine BB- Krängung negativ aufgetragen, anders als in Abb. 6.

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Der wesentliche Effekt des Öffnens/Schließens der wasserdichten Schottschiebetüren lässt sich wie folgt zusammenfassen [11]:

Durch das Öffnen der Tür 10 fließen etwa 400t Wasser in die noch unbeschädigte Abteilung 3. Dadurch vergrößert sich der achterliche Trimm des Schiffes.

Durch das Hochfluten in Abteilung 4 steht dann Wasser an der Schottschiebetür 24. Wird diese geöffnet, dann fließen erneut größere Wassermengen in Abt. 3. Weil die Tür 24 nach dem Schließversuch definitiv geleckt hat, fließt durch diese Tür weiterhin Wasser in die Abteilung 3. Weil der auf BB-Seite gelegene Raum die Flutung verzögert, fließt das Wasser nach STB und flutet dann durch die auf STB gelegenen Treppenschächte das Schottendeck.

Unsere Berechnungen decken sich in allen Belangen mit den vorliegenden Informationen, und sie sind mittels Methoden nach dem neusten Stand der Wissenschaft und Technik erzielt worden [12].

Interessant ist jetzt, wie der Unfall abgelaufen wäre, wenn die Schottschiebetüren nicht geöffnet worden wären. Auch dazu haben wir umfangreiche Berechnungen durchgeführt. Dazu hilft Abb. 8.

F

Abb. 8: Draufsicht auf das Schottendeck der Costa Concordia. Die kritische Feuertür ist mit einem roten F bezeichnet. Quelle: [10]

Wären unseren Berechnungen nach keine wasserdichten Schottschiebetüren geöffnet worden, dann hätte das Schiff zunächst eine nahezu aufrechte Gleichgewichtslage eingenommen. In dieser Gleichgewichtslage hätten dann etwa 30cm Wasser an der in Abb. 8 mit F bezeichneten Feuertür gestanden. Die Feuertür ist bauartbedingt eben nicht wasserdicht, daher leckt das Wasser ständig durch diese Feuertür in die unbeschädigte Abteilung 3. Aufgrund des EU-Forschungsvorhabens FLOODSTAND ist das Verhalten solcher Türen im Leckfall gut bekannt [13]. Abb. 9 zeigt z. B. die Leckage durch eine vergleichbare Feuertür aus den Untersuchungen des FLOODSTAND- Projektes.

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Abb.9: Fluss durch eine Feuertür. Quelle: [13]

Modelliert man nun alle nicht wasserdichten Türen der COSTA- CONCORDIA mit entsprechenden Leckraten, und setzt gleichzeitig voraus, dass keine wasserdichten Schottschiebtüren bewegt wurden, dann erhält man das in Abb. 10 gezeigte Sinkverhalten des Schiffes.

Abb. 10: Berechneter Sinkverlauf der COSTA CONCORDIA mit geschlossenen Schottschiebetüren [11]

Die Berechnungen zeigen, dass das Schiff auch mit geschlossenen Schottschiebetüren gekentert und gesunken wäre, allerdings erst nach etwa fünf Stunden. In den Berechnungen schwamm das Schiff etwa noch drei Stunden auf ebenem Kiel, man hätte also in dieser Zeit noch Menschen evakuieren können. Trotzdem wäre das Schiff aufgrund der erlittenen Beschädigung letztendlich gesunken, das steht außer Frage.

Damit führen unsere Berechnungen nicht zu grundsätzlich anderen Erkenntnissen über den Untergangsverlauf des Schiffes, es kommt ja im Groben Vergleichbares heraus wie im vorgelegten Untersuchungsbericht. Entscheidend sind unserer Meinung nach nur die Schlussfolgerungen, die man aus dem Unfall für die Weiterentwicklung der Schiffssicherheit ziehen muss:

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Unsere Berechnungen haben eindeutig gezeigt, dass wir eben kein aktuelles Sicherheitsdefizit bei der Sicherheit großer Passagierschiffe haben. Denn die COSTA CONCORDIA war ausgelegt für das Überstehen von zwei benachbarten Abteilungen, das Schiff hat aber einen Fünfabteilungstreffer erhalten und diesen hätte es auch fast überlebt. Ein geringfügiges geringeres Ausmaß des Treffers kombiniert mit dem Nicht- Öffnen von wasserdichten Schottschiebetüren hätte das Schiff nach unseren Berechnungen schwimmfähig gehalten. Das zeigt, dass die tatsächliche Überlebensfähigkeit des Schiffes um ein Vielfaches größer war, als man allein aufgrund der Vorschriftenlage hätte erwarten können. Dieses Ergebnis deckt sich mit den Erkenntnissen aus diversen EU- Forschungsvorhaben (z. B. GOALDS).

Moderne Passagierschiffe, die nach dem Inkrafttreten der neuen Lecksicherheitsregeln nach SOLAS 2009 in Fahrt gekommen wären, müssen bauartbedingt viel größere Beschädigungen überleben als das bei der COSTA CONCORDIA der Fall war. Es ist also hochwahrscheinlich, dass ein modernes Kreuzfahrtschiff, das die SOLAS 2009 erfüllt, den Unfall überlebt hätte.

Moderne Kreuzfahrtschiffe müssen seit 2010 die sogenannten Safe-Return-to-Port- Regeln erfüllen. Diese schreiben vor, dass alle wesentlichen Systeme redundant auszuführen sind. Es daher äußerst unwahrscheinlich, dass ein Safe-Return-To-Port Schiff einen kompletten Ausfall aller lebenswichtigen Systeme erlitten hätte.

Daraus kann man unmittelbar folgern, dass eine weitere Verschärfung der Sicherheitsregeln für Neubauten großer Passagierschiffe überhaupt nicht zielführend ist. Wenn aus politischen Gründen eine Regelverbesserung implementiert werden muss, dann bringt es quantitativ überhaupt nur etwas, wenn vorhandene Tonnage auf den aktuellen Sicherheitsstand gebracht wird (also SOLAS 2009 und Safe-Return-to-Port). Es besteht aber, wie der Unfall der COSTA CONCORDIA eindeutig zeigt, eher auf anderen Feldern Handlungsbedarf, wo mit ganz wenig Aufwand viel für die Sicherheit der Menschen erreicht werden könnte.

Aus unseren Berechnungen zur COSTA CONCORDIA lassen sich unserer Auffassung nach sofort folgende Sicherheitsverbesserungen ableiten:

• Notausstiege sollten konstruktiv so ausgeführt werden, dass die Tür in den Notausstieg auch geöffnet werden kann, wenn erheblicher Wasserdruck an dieser Tür steht. Das hätte im Fall der COSTA CONCORDIA verhindert, dass wasserdichte Schottschiebetüren aufgefahren werden mussten und so Wasser in noch unbeschädigte Bereiche des Schiffes fluten konnte. Diese Maßnahme ist wahrscheinlich mit bescheidenem Kostenaufwand umsetzbar.

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• Wasserdichte Schottschiebetüren müssen auf See grundsätzlich geschlossen gefahren werden. Der Unfall der COSTA CONCORDIA hat gezeigt, dass einmal geöffnete Türen nicht notwendigerweise wieder wasserdicht geschlossen werden können.

• Weil wasserdichte Schottschiebetüren generell ein Risiko darstellen, sollte ihre Anzahl minimiert werden, und zwar durch einen intelligenten Entwurf. Es bringt ja nichts, die Unterteilung der Schiffe durch steigende Anforderungen an die Lecksicherheit immer weiter zu verfeinern, ohne zu beachten, dass man das Schiff auch vernünftig betreiben können muss. Wenn für den gedachten Betrieb dann Schottschiebetüren offen gefahren werden müssen, bringt das in der Summe keine Verbesserung der Schiffssicherheit.

• Es muss sichergestellt werden, dass Notdieselaggregate im Notfall auch ordnungsgemäß funktionieren, so dass zumindest gewährleistet ist, dass die Fahrstühle noch das nächste Deck erreichen können, damit die Passagiere dann aussteigen können.

• Wünschenswert wäre noch, dass zuverlässige Entscheidungshilfesysteme an Bord brauchbar vorhersagen können, ob ein Schiff evakuiert werden muss, wieviel Zeit man für die Evakuierung noch hat und an welchen Stellen möglicherweise eine Leckabwehr sinnvoll wäre.

Alle von uns als nützlich identifizierten Maßnahmen würden wahrscheinlich mit überschaubarem Aufwand eine Verbesserung der Schiffssicherheit bringen, ohne dass man dazu die Sicherheitsstandards für große Passagierschiffsneubauten anfassen müsste. Die Diskussion darüber müsste in Zukunft wieder eher von technischen Aspekten denn von politischen Zwängen getrieben werden.

5.2 Der EEDI und seine Ausführungsbestimmungen

Wir führen den durch die IMO beschlossenen Energy Efficiency Design Index (EEDI) als Fallbeispiel für folgende Thesen an:

• Gut gemeinte Vorschriften zur Verbesserung des Umweltschutzes führen zu erheblichen Kollateralschäden in anderen Prozessen der Maritimen Industrie, wenn die Implementierung nicht sorgfältig gemacht wird, auch in der Sicherheitstechnik. Vorschriften, die zur Verbesserung des Umweltschutzes in Kraft gesetzt werden, erzeugen ein derartiges gesellschaftliches Momentum, dass mögliche Kollateralschäden oft ausgeblendet werden.

• Die Art und Weise, wie aktuell Vorschriften implementiert werden, zwingt die maritime Industrie nahezu vollständig in die Abhängigkeit von Klassifikationsgesellschaften, die zunehmend mehr Aufgaben

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übernehmen. Die Klassifikationsgesellschaften sind gleichzeitig die führenden Kräfte, welche diese Vorschriftenimplementierung vorantreiben.

Zum ersten Aspekt der untermotorisierten Schiffe ist in dieser und unserer vorangegangenen Studie [5] schon einiges gesagt worden, so dass wir uns im Wesentlichen auf den zweiten Aspekt obiger Ausführungen beschränken wollen. Es wird aber inzwischen auch von anderen Autoren obiger Konflikt anerkannt, so z. B. auch von der Klassifikationsgesellschaft Llodys Register [8]:

„Safety: energy efficiency regulations may lead to under-powered ships or ships with low design speeds. This is particularly worrisome in adverse weather conditions and could potentially contravene some IMO safety regulations.”

Wir wollen im Folgenden den zweiten Aspekt behandeln, nämlich die Art und Weise, wie diese Vorschrift nachgewiesen werden muss. Bezüglich der Grundlagen des EEDI verweisen wir auf unsere Studie von 2010 [5], in der die Defizite und die möglichen Verwerfungen in der maritimen Industrie bereits erarbeitet wurden. Die aktuellen Erfahrungen mit der Anwendung des EEDI haben nun gezeigt, dass die eindeutigen Gewinner im Markt die ganz großen Containerschiffe sind. Diese gelten im Sinne der Vorschrift als besonders umweltfreundlich, obwohl sie absolut gesehen den größten Teil an den CO2-Emissionen haben. Aktuell werden die Regeln von den großen Containerschiffen deutlich übererfüllt, und die ganz großen Containerschiffe könnten sogar ihre Emissionen in Zukunft noch steigern, da der Einbau größerer Motoren prinzipiell möglich ist. Damit haben die Protagonisten der ganz großen Containerschiffe bewusst eine Regelung in den Markt gedrückt, die absolut gesehen der Umwelt keine Vorteile bringt, ihnen aber eine bessere Ausgangsposition am Markt verschafft, weil die kleineren Schiffe so nicht mehr bestehen können. Der eindeutige Verlierer waren die RoRo- Frachtschiffe und RoRo- Passagierschiffe. Diese Schiffe, die ein wichtiges Segment der europäischen Werften darstellen, haben zunächst verloren, weil Kurzstreckenverkehre in den EEDI- Regeln völlig falsch bewertet wurden. Hier konnte es aber gegen den massiven Widerstand von Dänemark gelingen, eine für RoRo- und RoRo- Fahrgastschiffe gesonderte EEDI- Formulierung zu verabschieden, die diese Schiffe angemessen und fair behandelt und die für diese Schiffstypen auch wirklich zu einer Effizienzverbesserung führt.

Damit hat eine Entwicklung, die zunächst mit dem guten Vorsatz gestartet ist, die globalen CO2- Emissionen zu reduzieren, letztlich für den Umweltschutz nichts gebracht, aber zu erkennbaren Verwerfungen in der maritimen Industrie geführt. Möglich wurden alle diese Verwerfungen, weil die Reduzierung von Emissionen (sicherlich zu Recht) inzwischen einen so hohen gesellschaftlichen Stellwert hat, dass das daraus resultierende

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Momentum alle anderen technischen Sachfragen schlicht überrollt. Eine besondere Dramatik für die maritime Industrie ergibt sich jedoch aus den Ausführungsbestimmungen des EEDI, weil sie wesentliche Akteure der maritimen Industrie, nämlich Werften und Schiffbauversuchsanstalten, in ein nahezu vollständiges Abhängigkeitsverhältnis von der prüfenden Organisation (Verifier) bringt. Die Rolle des Verifiers wird typischerweise von den Klassifikationsgesellschaften übernommen. Abb. 11 zeigt die von der IMO verabschiedeten Ausführungsbestimmungen zum Nachweis des EEDI. Die darin aufgestellten Forderungen gehen weit über die Erfüllung von hoheitlichen Aufgaben hinaus und zwingen Werft und Versuchsanstalt in die völlige Abhängigkeit des Verifiers. Die aus Abb. 11 folgende Dramatik wird im Folgenden erläutert:

Abb. 11: Nachweisprozedur für den EEDI. Quelle:IMO MEPC.214(63)

Gegenstand einer hoheitlichen Prüfung technischer Sachverhalte sind u. A. technische Berechnungen, welche die Einhaltung von Vorschriften nachweisen. Diese Berechnungen werden einer zur Prüfung autorisierten Institution vorgelegt, und es wird geprüft, ob sich aus den Berechnungen tatsächlich ergibt, dass die Vorschriften eingehalten worden sind. Dabei kann auch geprüft werden, ob die Berechnungen richtig sind, die prüfende Organisation kann dazu auch eigene Berechnungen anstellen, wenn sie das für nötig hält. In jedem Fall lautet das Ergebnis der Prüfung entweder,

• dass die zu prüfenden Vorschriften erfüllt sind, oder • dass die zu prüfenden Vorschriften nicht erfüllt sind.

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Wenn die Vorschriften nicht erfüllt sind, muss die prüfende Organisation die Konstruktion nebst Berechnungen zurückweisen. Sind die Vorschriften erfüllt, muss die prüfende Organisation Konstruktion nebst Berechnungen akzeptieren und die entsprechenden Genehmigungen ausstellen. Das Ergebnis einer Prüfung ist nun ein binäres, weil das Ergebnis nur erfüllt/nicht erfüllt lauten kann, und die Konsequenz aus der Prüfung ist ebenfalls binär, weil das Ergebnis nur zurückgewiesen/genehmigt lauten kann. Es versteht sich von selbst, dass nur endgültige technische Berechnungen geprüft werden und nicht irgendwelche Zwischenzustände. Daher findet eine solche Prüfung im Entwurfsprozess erst in der Detailkonstruktion statt, wenn die Produktdefinition bereits abgeschlossen ist. Weiterhin hat die prüfende Organisation auf keinen Fall das Recht zu verlangen, dass die Vorschrift nun besonders übererfüllt werden muss, das Ergebnis ist ja immer binär. Die prüfende Organisation hat selbstverständlich das Recht, von der Werft die für die Prüfung nötigen Unterlagen und Berechnungen zu erhalten. Ein Recht auf darüberhinausgehende Unterlagen oder Berechnungen oder Grundlagen hat die prüfende Organisation aber nicht. Die Werft ist auch grundsätzlich nicht verpflichtet, ihre Berechnungsmethoden vollständig offenzulegen. Lediglich in dem Fall, dass die von der prüfenden Organisation erzielten Berechnungsergebnisse merklich von denen der Werft abweichen kann es notwendig werden, Berechnungsgrundlagen und deren Anwendung zu diskutieren. In einem solchen Fall ist aber die prüfende Organisation beweispflichtig, das heißt, sie muss der einreichenden Werft einen Fehler nachweisen.

Diese bisher allgemein anerkannte Grundphilosophie der hoheitlichen Prüfung wird nun durch den EEDI- Nachweis völlig zu Ungunsten der Werften und Schiffbauversuchsanstalten geändert, wie Abb. 11 zeigt. In Abb. 11 sind alle Prozesse zwischen „Submitter“ und „Verifier“ veranschaulicht [7]. In der IMO- Regulation heißt es bezüglich des Verifiers:

“Verifier means an Administration or organization duly authorized by it, which conducts the survey and certification of the EEDI in accordance with regulations 5, 6, 7, 8 and 9 of MARPOL Annex VI and these Guidelines.”

Praktisch bedeutet das, dass alle Klassifikationsgesellschaften automatisch als Verifier in Frage kommen.

Der Begriff “Submitter” ist in der Regel nicht näher definiert, es kann sich um eine Werft oder auch um ein Ingenieurbüro handeln.

Zunächst fällt auf, dass der Begriff der hoheitlichen Prüfung nicht wie bisher immer üblich in die Detailkonstruktion fällt, bei der die Produktdefinition des Schiffes weitgehend abgeschlossen ist. Es wird ein neues Prüfelement einer Vorprüfung eingeführt (erster Kasten, betitelt mit Basic Design, Tank Test, EEDI calculation). Diese Vorprüfung findet in

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der frühen Phase des Entwurfes statt, in der die Werft ihre Produkdefinitionsphase durchführt und sensible Informationen über ihr Produkt erzeugt. Mittels der von der IMO implementierten Regel erhält der Verifier (also die Klassifikationsgesellschaft) bereits in der frühen Produktdefinitionsphase Zugriff auf möglicherweise sensible Produktdefinitionsdaten der Werft, denn diese muss die geforderten Daten in Form des „EEDI Technical Files“ sowie weiterer Informationen liefern.

Dazu heißt es:

“4.2.1 For the preliminary verification at the design stage, an application for an initial survey and an EEDI Technical File containing the necessary information for the verification and other relevant background documents should be submitted to a verifier.”

Damit wird der hoheitliche Prüfauftrag unserer Auffassung nach in unzulässiger Weise ausgedehnt: Es entspricht nicht der bisher allgemein akzeptierten Gepflogenheit, eine Vorprüfung zu einer Prüfung durchzuführen, erst Recht nicht in der frühen Produktdefinitionsphase. Entscheidend ist am Ende, ob die Werft die Erfüllung der Vorschrift nachweist, ob die Vorschrift dagegen in einem Zwischenzustand, der in der frühen Produktdefinitionsphase mit noch vorläufigen Produktdaten und Annahmen behaftet ist, auch erfüllt ist, ist vollkommen unerheblich. Eine Vorprüfung wie in der IMO- Richtlinie ausgeführt macht nur dann Sinn, wenn sich die mit der Prüfung betraute Organisation weitere Produktinterna der Werft beschaffen möchte. Welche das sein können, führt die Richtlinie ebenfalls aus, es wird dort klar definiert, welche Informationen die Werft abliefern muss:

“4.2.6 The verifier may request the submitter for additional information on top of those contained in Technical File, as necessary, to examine the calculation process of the attained EEDI. The estimation of the ship speed at the design stage much depends on each shipbuilder's experiences, and it may not be practicable for any person/organization other than the shipbuilder to fully examine the technical aspects of experience-based parameters such as the roughness coefficient and wake scaling coefficient. Therefore, the preliminary verification should focus on the calculation process of the attained EEDI to ensure that it is technically sound and reasonable and follows regulation 20 of MARPOL Annex VI and the EEDI Calculation Guidelines.“

Selbst die IMO- Richtlinie erkennt somit an, dass der abzuliefernde Datenumfang weit über die hoheitlich motivierten Prüfaufgaben hinausgeht.

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Die Aufgabe des Verifiers besteht weiterhin darin, die von der Werft durchgeführten Modellversuche zu überwachen („witness model test“). In Verbindung mit der Vorprüfung ist der Verifier als von Anfang an mit dabei und überwacht die Prozesse der Werft. Dabei entsteht jetzt das Problem, dass Modellversuche eigentlich das Kerngeschäft der Schiffbauversuchsanstalten sind, die das seit vielen Jahrzehnten erfolgreich machen. Wie also soll der Verifier, der in Fragen des schiffbaulichen Modellversuchswesens nicht notwendigerweise fachlich ausgewiesen ist, seinen Prüfaufgaben hier eigentlich nachkommen? In dieser Frage geht die IMO- Richtlinie aber noch einen Schritte weiter:

“For ensuring the quality of tank tests, ITTC quality system should be taken into account. Model tank test should be witnessed by the verifier.

Note: It would be desirable in the future that an organization conducting a tank test be authorized.

Note 1: A possible way forward for more robust verification is to establish a standard methodology of deriving the ship speed from the outcomes of tank test, by setting standard values for experience-based correction factors such as roughness coefficient and wake scaling coefficient. In this way, ship-by-ship performance comparison could be made more objectively by excluding the possibility of arbitrary setting of experience-based parameters. If such standardization is sought, this would have an implication on how the ship speed adjustment based on sea trial results should be conducted in accordance with paragraph 4.3.8 of these Guidelines.”

Es ist also glasklar geplant, dass der Verifier auch die Schiffbauversuchsanstalten überwachen und zertifizieren soll, und nur zertifizierte Versuchsanstalten dürfen in Zukunft ihr Geschäft noch ausüben. Man bedenke hierzu, dass seit Jahrzehnten durch die Versuchsanstalten, die ja die eigentlichen Know- How- Träger sind, verlässliche Prognosen nach dem anerkannten Stand der Wissenschaft und Technik erstellt werden und dass kein potentieller Verifier bekannt ist, der auch nur ansatzweise über ein vergleichbares Know- How im Schiffbauversuchswesen verfügt wie die Schiffbauversuchsanstalten. Das wird sich aber in Zukunft ändern, denn auch die Schiffbauversuchsanstalten müssen in Zukunft ihr wichtigstes Know- How den Verifiern (Klassifikationsgesellschaften) offenlegen, wie die IMO- Richtlinie ausführt:

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“ 4.2.7 Additional information that the verifier may request the submitter to provide directly to it includes but not limited to:

.1 descriptions of a tank test facility; this should include the name of the facility, the particulars of tanks and towing equipment, and the records of calibration of each monitoring equipment;

.2 lines of a model ship and an actual ship for the verification of the appropriateness of the tank test; the lines (sheer plan, body plan and half-breadth plan) should be detailed enough to demonstrate the similarity between the model ship and the actual ship;

.3 lightweight of the ship and displacement table for the verification of the deadweight;

.4 detailed report on the method and results of the tank test; this should include at least the tank test results at sea trial condition and under the condition as specified in paragraph 2.2 of the EEDI Calculation Guidelines;

.5 detailed calculation process of the ship speed, which should include the estimation basis of experience-based parameters such as roughness coefficient, wake scaling coefficient; and

.6 reasons for exempting a tank test, if applicable; this should include lines and tank test results of the ships of same type, and the comparison of the principal particulars of such ships and the ship in question. Appropriate technical justification should be provided explaining why the tank test is unnecessary.

4.2.8 The verifier should issue the report on the "Preliminary Verification of EEDI" after it has verified the attained EEDI at the design stage in accordance with paragraphs 4.1 and 4.2 of these Guidelines.”

Wenn eine Organisation über einen gewissen Zeitraum die oben genannten Informationen laufend erhält, dann wäre sie selbst in der Lage,

• eine Schiffbauversuchsanstalt zu betreiben • Schiffsentwürfe zu erstellen und hydrodynamische Beratungen an

den Werften und Schiffbauversuchsanstalten vorbei durchzuführen.

Der ganze Aufwand wird immer noch in der frühen Projektphase betrieben, die für die eigentliche hoheitliche Prüfung am Ende völlig irrelevant ist. Unserer Auffassung nach läuft die oben skizzierte Entwicklung ganz genau auf Folgendes hinaus: Sowohl die Werften als auch Schiffbauversuchsanstalten werden in die vollständige Anhängigkeit von den Verifiern gezwungen, und das sind bisher die Klassifikationsgesellschaften. Die Werften und Versuchsanstalten müssen dem Verifier ihr gesamtes sensibles Know- How soweit offenlegen, dass dieser nach gewisser Zeit (und vielleicht dem Transfer einiger wichtiger

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Fachleute) selbst in der Lage ist, diese Leistungen anzubieten. Es ist offensichtlich, dass das langfristig zu einem Verlust von Arbeitsplätzen bei den Werften und vielleicht auch bei den Schiffbauversuchsanstalten führen wird, denn diese können im internationalen Wettbewerb nicht überleben, wenn sie ihr Know-How ständig offenlegen müssen. Diese ganze Entwicklung findet vor dem Hintergrund statt, dass die Umwelt durch verbesserte Vorschriften geschützt werden soll, daher ist es in der Vergangenheit kaum möglich gewesen, sachlich auf die oben beschriebenen Verwerfungen aufmerksam zu machen.

Es ist angesichts der oben beschriebenen Verwerfungen nun reine Formsache, auch noch darauf hinzuweisen, dass der Verifier die gesamte Werftprobefahrt vollumfänglich bis ins kleinste Detail überwacht und alles an Daten und Prozessinformation zur Werftprobefahrt von der Werft verlangen darf (in der Richtlinie beschrieben unter Abschnitt 4.3 „Final verification of the attained EEDI at sea trial“ in der Richtlinie). Auch hier muss die Werft dem Verifier Einblick in ihre sensiblen Werftprozesse gewähren, ohne dass die Werft auch nur im Ansatz eine Chance hat, die Herausgabe von Ihrer Auffassung nach für die eigentliche Prüfaufgabe nicht relevantem Material zu verweigern.

Eine solche Situation haben wir selbst erlebt: Aktuell entwickeln wir Methoden, um Probefahrten aufzuzeichnen und die Kennwerte für nautische Manöver zu ermitteln. Diese Methode ist bei zwei deutschen Werften im Praxiseinsatz und dient zur Erstellung der Lotsenkarte auf der Brücke. Dabei handelt es sich eindeutig um Know- How, dass mit dem EEDI überhaupt nichts zu tun hat. Trotzdem wurde vom jeweiligen Verifier verlangt, ihm eine genaue Verfahrensbeschreibung der Methode mit allen mathematisch- physikalischen Hintergründen vorzulegen. Anderenfalls wären die mit der Methode erstellten Unterlagen nicht ohne weiteres genehmigungsfähig, obwohl es nicht den geringsten Hinweis darauf geben konnte, dass mit den Methoden irgendetwas nicht in Ordnung war. Weil eine Werft bei einer Ablieferung immer in der schwächeren Position ist, musste dem Verlangen des Verifiers nachgekommen werden. Wir sehen darin aber eindeutig einen Regelverstoß, denn das hoheitliche Prüfmandat rechtfertigt das nicht, und letztlich wird damit auch das erarbeitete Know-How von anderen Institutionen direkt an die Verifier weitergegeben.

Zusammenfassend kommen wir zu dem Schluss, dass die Ausführungsbestimmungen zum Energy Efficieny Design Index die Werften und Schiffbauversuchsanstalten in die nahezu vollständige Anhängigkeit von den Verifiern zwingen. Die Verifier sind dabei bisher die Klassifikationsgesellschaften. Der hoheitliche Prüfauftrag wird dabei wird überdehnt mit der klaren Absicht, an sensibles Know- How der Werften und der Schiffbauversuchsanstalten zu gelangen. Es ist unserer Auffassung nach unumgänglich, dass diese Entwicklung langfristig zu einem massiven Verlust von Arbeitsplätzen auf den Werften führen muss,

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denn diese können nur überleben, wenn sie ihr wesentliches Know- How für sich behalten dürfen. Wie sich die Situation zukünftig für die Schiffbauversuchsanstalten darstellt, ist noch völlig offen. Anzudeuten scheint sich, dass die Klassifikationsgesellschaften das von ihnen aquirierte Know- How dazu nutzen werden, ihr Beratungsgeschäft noch weiter auszubauen. Es wäre definitiv wünschenswert, hier in soweit gegenzusteuern, als dass hoheitlich durchgeführte Aufgaben striktestens von beratenden Ingenieurtätigkeiten getrennt werden müssen und dass das auch kontinuierlich überwacht wird.

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Literaturverzeichnis

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6 Literaturverzeichnis

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[4] Valanto, P. (2009) Research for the Parameters of the Damage Stability Rules including the Calculation of Water on Deck of Ro-Ro Passenger Vessels, for the amendment of the Directives 2003/25/EC and 98/18/EC – Final Report, HSVA Report No. 1669, Hamburgische Schiffbau-Versuchsanstalt GmbH (HSVA), Hamburg.

[5] Krüger, S., Pundt, L.: Politische Rahmenbedingungen und technische Möglichkeiten beim Schiffbau zum Schutz des Klimas. Studie im Auftrag der Fraktion DIE LINKE. in der Faktion GUE/NGL im Europaparlament. Oktober 2010

[6] Krüger, S., Pundt, L.: Analyse und Bewertung desgegenwärtigen Zustandes der Schiffssicherheit. Studie im Auftrag der Fraktion DIE LINKE. in der Fraktion GUE/NL im Europaparlament. September 2011.

[7] IMO: 2012 Guidelines on survey and certification of the energy efficiency design index (EEDI). MEPC.214(63) Annex 10

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[11] Russel, P.: The Sinking Sequence of MV COSTA CONCORDIA. TU Hamburg Harburg, 2013. www.ssi.tu-harburg.de

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[13] Rupponen, P., Routi, A.L.: Guidelines and Criteria on Leakage Ocuurence Modelling. In: FLOODSTAND Project. NAPA LTD and STX Finland.