Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

108
Analysis 3 f¨ ur Physiker * Domenico P.L. Castrigiano * Vorlesungsskript WS 2010 erstellt von Diana Beyerlein nach einer Vorlage von Dipl. Math. W.Kinzner Zentrum Mathematik TU M¨ unchen

Transcript of Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Page 1: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Analysis 3 fur Physiker ∗

Domenico P.L. Castrigiano †

∗Vorlesungsskript WS 2010 erstellt von Diana Beyerlein nach einer Vorlage von Dipl. Math. W.Kinzner†Zentrum Mathematik TU Munchen

Page 2: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Inhaltsverzeichnis

23 Der Integralsatz von Cauchy 3

24 Laurentreihen, Residuensatz 21

25 Das Lebesgue Maß 32

26 Das Lebesgue Integral 44

27 Satz von Fubini 57

28 Integration in der Ebene 60

29 Substitutionsformel fur das mehrdimensionale Lebesgue Maß 67

30 Integration uber Flachen im Raum 71

31 Integration uber 3-dimensionale Bereiche 82

32 Hilbertraume 88

33 Lp–Raume, speziell der Hilbertraum L2 100

2

Page 3: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

23 Der Integralsatz von Cauchy

Die nachsten beiden Kapitel beschaftigen sich mit den Hauptsatzen der Funktionentheorie.

(1) Holomorphe Funktion. Seien U ⊂ C offen und f : U → C. Dann heißt f holomorph,wenn f differenzierbar ist, d.h. wenn f ′(z) fur jedes z ∈ U existiert. Nach (8.1) ist

f ′(z) = limh→0,h6=0, z+h∈U f(z+ h) − f(z)

h.

Das folgende Beispiel ist fundamental.

(2) Beispiel. Seien U := Ur(a) = z ∈ C : |z − a| < r fur ein a ∈ C und r > 0 und f : U → Cdurch eine auf U konvergente Potenzreihe um a, d.h. mit Konvergenzradius ≥ r, gegeben. Istalso f(z) =

∑∞n=0 an(z− a)n, dann existiert und ist

f ′(z) =

∞∑n=1

nan(z− a)n−1

fur jedes z ∈ U, siehe (10.13)(d). Also ist f holomorph.

(3) Reellifizierung. Im Folgenden fassen wir C als 2–dimensionalen reellen Vektorraum mittelsder naturlichen reell-linearen Bijektion ι : C → R2, z 7→ (Re z, Im z), auf.

(a) Sei T : C → C linear, d.h. es existiert ein c ∈ C mit Tz = cz ∀z ∈ C. Wie sieht T alslineare Abbildung auf R2 aus, d.h. wie lautet T : R2 → R2, T := ι T ι−1? Sei c = a + ib mita = Re c und b = Im c. Dann ist T(x, y) = ι T(ι−1(x, y)) = ι T(x+ iy) = ι((a+ ib)(x+ iy)) =

ι(ax− by+ i(bx+ ay)) = (ax− by, bx+ ay). Folglich ist

T : R2 → R2, (x, y) 7→ (ax− by, bx+ ay).

Die T bezuglich der Standardbasis in R2 darstellende Matrix lautet(a −b

b a

)∈ R2×2.

Sie stellt die Multiplikation auf C mit der komplexen Zahl c = a +ib dar.

(b) Die reellen Matrizen der Form(a −b

b a

)sind Drehstreckungen, denn

(a −b

b a

)=

r

(cosϕ − sinϕsinϕ cosϕ

), wobei der Streckungsfaktor r ≥ 0 und der Drehwinkel ϕ ∈ [0, 2π[ die Po-

larkoordinaten von c := a+ ib = r eiϕ sind.

3

Page 4: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

(c) Einer Abbildung f : U → C mit U ⊂ C entspricht die reelle Abbildung f : ι(U) → R2,f := ι f ι−1. In Komponenten ist

f = (u, v), u := (Re f) ι−1, v := (Im f) ι−1.

Wenn U offen in C ist, dann ist ι(U) offen in R2 und umgekehrt. In (4) gehen wir der Fragenach, in welchem Zusammenhang die Differenzierbarkeit von f mit der von f steht.

Beispiele.

f(z) := ez = ex+iy = ex eiy = ex (cos(y) + i sin(y)) = ex cos(y) + iex sin(y) ⇒ f(x, y) =

(ex cos(y), ex sin(y)) ⇒ u(x, y) = ex cos(y), v(x, y) = ex sin(y).

f(z) := z2 = (x + iy)2 = x2 − y2 + 2ixy ⇒ f(x, y) = (x2 − y2, 2xy) ⇒ u(x, y) = x2 − y2,v(x, y) = 2xy.

f(z) := 1z = z

|z|2= xx2+y2 + i −y

x2+y2 ⇒ f(x, y) = ( xx2+y2 ,

−yx2+y2 )⇒ u(x, y) = x

x2+y2 , v(x, y) =−y

x2+y2 .

(4) Lemma. Seien U ⊂ C offen, z = x+ iy ∈ U und f : U → C. Dann sind aquivalent:

(i) f ist differenzierbar in z mit Ableitung f ′(z).

(ii) f ist differenzierbar in (x, y) und die Jacobi-Matrix Jf(x, y) ∈ R2×2 ist eine Drehstreckung.

Gelten (i), (ii), dann ist

Jf(x, y) =

(Re f ′(z) − Im f ′(z)Im f ′(z) Re f ′(z)

).

Beweis. (i) bedeutet, dass 0 = limh→0 f(z+h)−f(z)h − f ′(z) = limh→0 f(z+h)−f(z)−f ′(z)h

h =

lim|h|→0 |f(z+h)−f(z)−f ′(z)h||h| = lim‖ι(h)‖2→0 ‖f(ι(z)+ι(h))−f(ι(z))−(ιf ′(z)ι−1)(ι(h))‖2

‖ι(h)‖2. Letzteres bedeu-

tet, dass f differenzierbar ist in ι(z) = (x, y) mit Df(ι(z)) = ι f ′(z) ι−1. Nach (3)(a) istJf(ι(z)) = Jf(x, y) wie angegeben und es gilt (ii). — Umgekehrt, wenn Jf(x, y) eine Drehstre-ckung ist, dann ist Jf(x, y) die Darstellungsmatrix von T , wobei T gemaß (3)(b), (a) die Multi-

plikation mit einer komplexen Zahl c ist. Aus 0 = lim‖ι(h)‖2→0 ‖f(ι(z)+ι(h))−f(ι(z))−T(ι(h))‖2

‖ι(h)‖2folgt

dann analog, dass f ′(z) existiert und gleich c ist.

(5) Sprechweisen. Sei f : U → C mit U ⊂ C offen. Ist f differenzierbar, dann heißt f derDeutlichkeit halber auch komplex differenzierbar. Man nennt f reell differenzierbar, wennf = ι f(z) ι−1 differenzierbar ist, siehe (3)(c). Demnach besagt Lemma (4), dass f genau danndifferenzierbar und somit holomorph ist, wenn f reell differenzierbar ist und die Jacobi Matrixvon f eine Drehstreckung ist.

(6) Lemma. Sei f differenzierbar in z = x+ iy. Dann gelten

(a) Re f ′(z) = ∂xu(x, y) = ∂yv(x, y)

4

Page 5: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

(b) Im f ′(z) = ∂yu(x, y) = −∂xv(x, y).

Beweis. Da Re f ′(z) = Re(limh→0 f(z+h)−f(z)

h

)= limh→0 Re(h (f(z+h)−f(z)))

|h|2, ist

Re f ′(z) = lim(h1,h2)→0

h1(u(ι(z+ h)) − u(ι(z)) + h2(v(ι(z+ h)) − v(ι(z)))

h21 + h22

mit h = h1 + ih2. Fuhrt man hier den Grenzubergang 0 6= (h1, h2) → 0 so, dass h2 = 0

und 0 6= h1 → 0, erhalt man ∂xu(x, y) als Grenzwert. Setzt man hingegen h1 = 0 und laßt0 6= h2 → 0, lautet der Grenzwert ∂yv(x, y). Das zeigt (a). Analog beweist man (b).

(7) Cauchy–Riemann Differentialgleichungen. Seien U ⊂ C offen und f : U → C. Dannsind aquivalent:

(i) f ist holomorph.

(ii) f ist reell differenzierbar und es gelten fur u, v die Cauchy–Riemann DGL auf ι(U) (vgl.(3)(c)):

∂xu = ∂yv , ∂yu = −∂xv.

Beweis. (i) ⇒ (ii) gilt nach (6). — In (ii) existiert Jf(x, y) =

(∂xu(x, y) ∂yu(x, y)

∂xv(x, y) ∂yv(x, y))

), was

wegen der Cauchy–Riemann DGL eine Drehstreckung ist. Damit folgt (i) aus (4).

(8) Beispiel. Die Exponentialfunktion exp : C → C ist holomorph mit exp ′ = exp, siehe dasBeispiel (iv) zu (8.1). Nach dem vorangegangenen Beispiel sind u, v : R2 → R2 mit u(x, y) =

ex cos(y) und v(x, y) = ex sin(y). Damit gelten in der Tat

∂xu(x, y) = ex cos(y) = ∂yv(x, y), ∂yu(x, y) = −ex sin(y) = −∂xv(x, y).

(9) Bemerkung. Seien D ⊂ R2 offen und u, v: D → R zweimal stetig differenzierbar. Erfullenu,v die Cauchy–Riemann DGL, dann gelten ∆u = 0, ∆v = 0 auf D, d.h. u, v sind Losungen derLaplacegleichung auf D.

Beweis. ∂2xu = ∂x(∂xu) = ∂x(∂yv) = ∂y(∂xv) = ∂y(−∂yu) = −∂2yu und analog fur v.

(10) Erinnerung. Seien I = [a, b] ⊂ R und ϕ : I → C eine Regelfunktion. Dann sindReϕ und Imϕ Regelfunktionen und

∫baϕ(t)dt =

∫ba(Reϕ+ i Imϕ)(t)dt =

∫ba(Reϕ)(t)dt +

i∫ba(Imϕ)(t)dt, wobei die Integrale reell sind. Daraus folgt:

Re∫baϕ(t)dt =

∫ba(Reϕ)(t)dt, Im

∫baϕ(t)dt =

∫ba(Imϕ)(t)dt.

5

Page 6: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

(11) Komplexes Kurvenintegral. Seien U ⊂ C, f : U → C stetig und γ : [a, b] → C einestuckweise stetig differenzierbare Kurve mit γ[a, b] ⊂ U. Dann heißt∫

γf(z)dz :=

∫baf(γ(t))γ ′(t)dt

das komplexe Kurvenintegral von f langs γ.

(12) Bemerkungen.

Wie wir sehen werden, hat das komplexe Kurvenintegral ganz ahnliche Eigenschaften wiedas Kurvenintegral fur Vektorfelder.

γ ′(t) = (Rey) ′(t) + i(Imy) ′(t) nach Definition (8.1) der Differenzierbarkeit.

Das komplexe Kurvenintegral ist invariant unter orientierungstreuer Umparametrisierung.Ist ϕ : [a ′, b ′] → [a, b] eine C1–Parametertransformation (16.8) und γ := γ ϕ, dann gilt∫γ f(z)dz = ±

∫γ f(z)dz mit + falls ϕ ′ > 0 und − falls ϕ ′ < 0. Der Beweis hierfur verlauft

ganz analog zum Beweis von (21.5).

Das folgende Beispiel ist fundamental.

(13) Beispiel. Sei γ die im positiven mathematischen Drehsinn durchlaufene Kreislinie umc ∈ C mit Radius r > 0, namlich γ(t) = c+ r eit, t ∈ [0, 2π]. Dann gelten:

(a)∫γ(z− c)ndz = 0 ∀ n ∈ Z \ −1

(b)∫γ

1z−c = 2πi

Beweis.∫γ(z− c)ndz =

∫2π0 (γ(t) − c)n γ ′(t)dt =

∫2π0 (r eit)n(ir eit)dt = irn+1

∫2π0 eit(n+1)dt ist

0 falls n 6= −1 und gleich 2πi fur n = −1.

(14) Lemma. Seien f und γ wie in (11), Spur(γ) = γ([a, b]), M := maxz∈Spur(γ) |f(z)| undL(γ) die Lange von γ bez. | · |. Weiter seien fn ∈ C(Spur(γ)) fur n ∈ N. Dann gelten:

(a)∣∣∣∫γ f(z)dz∣∣∣ ≤ML(γ).

(b) fn → f gleichmaßig auf Spur(γ) =⇒ ∫γ f(z)dz = limn→∞ ∫

γ fn(z)dz.

Beweis. (a)∣∣∫ f(z)dz∣∣ =

∣∣∣∫ba f(γ(t))γ ′(t)dt∣∣∣ ≤ M

∫ba |γ ′(t)|dt = ML(γ) nach (16.16). (b) folgt

aus (9.14).

(15) Stammfunktion. Seien U ⊂ C offen und f : U → C holomorph. Eine Funktion F : U → Cheißt eine Stammfunktion von f, wenn F differenzierbar ist mit F ′ = f.

6

Page 7: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

(16) Lemma zur Stammfunktion. Seien U ⊂ C offen, f : U → C stetig und F eine Stamm-funktion von f. Dann gilt ∫

γf(z)dz = F(γ(b)) − F(γ(a))

fur jede stuckweise stetig differenzierbare Kurve γ mit Spur in U. Insbesondere ist (vgl. (21.7))∮f(z)dz = 0.

Beweis.∫γ f(z)dz =

∫ba f(γ(t))γ ′(t)dt =

∫baddt(F γ)(t)dt

HDI= (F γ)(b) − (F γ)(a).

(17) Beispiele.

(a) Seien c ∈ C, ak ∈ C, m ∈ N und f : C \ c → C mit

f(z) :=

m∑k=−m,k6=−1

ak(z− c)k.

Dann ist F(z) =∑mk=−m,k6=−1

akk+1(z − c)k+1 eine Stammfunktion von f. Daher gilt nach

(16), dass∮f(z)dz = 0 fur jede geschlossene stuckweise stetig differenzierbare Kurve mit

Spur in C \ c. Ein Spezialfall hiervon ist (13)(a).

(b) Seien c ∈ C und V ⊂ C offen mit c ∈ V . Dann hat

f : V\c → C, f(z) :=1

z− c

keine Stammfunktion. Dies folgt aus Beispiel (13)(b) und aus (16).

(c) Bekanntlich erfullt F : R\0 → C, F(t) = ln(|t|) die Gleichung F ′(t) = 1t . Dennoch ist F

keine Stammfunktion von 1t im Sinne von Definition (15), weil R\0 nicht offen in C ist.

(18) Satz zur Stammfunktion. Sei U ⊂ C offen und sternformig bezuglich c ∈ U und seif : U → C stetig. Weiter sei ∫

γf(z) dz = 0

fur alle Dreieckswege γ mit Spur in U und einer Ecke c. Dann hat f eine Stammfunktion.

Beweis. Allgemein fur a, b ∈ C bezeichne∫ba f(ζ)dζ das komplexe Kurvenintegral von f langs

der Strecke σ(t) := tb+ (1− t)a fur t ∈ [0, 1] von a nach b.Fur z ∈ U sei F(z) :=

∫zc f(ζ)dζ. Sei r > 0 so klein, dass Ur(z) ⊂ U. Sei w ∈ Ur(z) \ z

beliebig. Sei zudem γ ein Dreiecksweg mit Ecken c, z, w. Dann gilt nach Voraussetzung 0 =∫γ f(ζ)dζ =

∫zc · · ·+

∫wz · · ·+

∫cw · · · , weshalb

F(w) − F(z) =

∫wzf(ζ)dζ.

7

Page 8: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Weil∫wz 1dζ =

∫10 1·σ

′(t)dt =∫10(w−z)dt = w−z, folgt F(w)−F(z)

w−z −f(z) = 1w−z

∫wz (f(ζ)−f(z))dζ.

Nach (14)(a) gilt daher∣∣∣F(w)−F(z)

w−z − f(z)∣∣∣ ≤ 1

|w−z| L(σ)maxζ |f(ζ) − f(z)| = maxζ |f(ζ) − f(z)|. Daζ = tw+(1−t)z : t ∈ [0, 1] kompakt und f stetig ist, folgt maxζ |f(ζ) − f(z)| → 0, wenn w → z.Es folgt daraus, dass F differenzierbar in z ist mit F ′(z) = f(z) fur alle z ∈ U.

(19) Lemma von Goursat. Seien U ⊂ C offen und f : U → C holomorph. Dann ist∫γf(z)dz = 0

fur jeden Dreiecksweg γ, wofur das volle abgeschlossene Dreieck 4 in U liegt.

Beweis. Sei40 ⊂ U ein solches Dreieck. Man zerlege40 in vier kongruente Dreiecke 41, . . . , 44,indem die Seitenmitten von 40 verbunden werden. Die Rander γ0 von 40 und γk von 4k furk = 1, . . . , 4 werden dann im mathematisch positiven Drehsinn durchlaufen. Man erhalt∫

γ0

f(z)dz =

4∑k=1

∫γk

f(z)dz,

weil sich die Beitrage der Seiten des inneren Dreiecks aufheben. Wahle j ∈ 1, · · · , 4 so, dass fur41 := 4j , γ1 := γj gilt ∣∣∣∣∫

γ0

f(z)dz

∣∣∣∣ ≤ 4∑k=1

∣∣∣∣∫γk

· · ·∣∣∣∣ ≤ 4 ∣∣∣∣∫

γ1

f(z)dz

∣∣∣∣ .Wiederholt man dieses Verfahren fur 41 anstelle von 40 und so fort, erhalt man eine Folge(4n)n≥0 von Dreiecken, wofur∣∣∣∣∫

γ0

f(z)dz

∣∣∣∣ ≤ 4n ∣∣∣∣∫γn

f(z)dz

∣∣∣∣ , diam(4n) = 2−n diam(40), L(γn) = 2−n L(γ0).

Da 40 ⊃ 41 ⊃ · · · ⊃ 4n ⊃ . . . und alle 4n kompakt sind, folgt⋂∞n=04n 6= ∅. Weil

diam(4n) → 0 fur n → ∞, ist der Schnitt einpunktig, d.h.⋂n4n = c. Die Funktion

g : U → C, g(z) :=

f(z)−f(c)z−c − f ′(c) fur z 6= c

0 fur z = c

ist stetig, weil f differenzierbar ist. Da f(z) = f(c)+(z−c)f ′(c)+(z−c)g(z) fur alle z ∈ U ergibt dieIntegration

∫γnf(z)dz =

∫γn

[f(c) + (z− c)f ′(c)]dz+∫γn

(z−c)g(z)dz. Das erste Kurvenintegralverschwindet nach (17)(a). Setze Mn := maxz∈Spur(γn) |g(z)|. Mit (14)(a) folgt die Abschatzung∣∣∣∫γn

f(z)dz∣∣∣ ≤ L(γn)maxz∈Spur(γn) |(z− c)g(z)| ≤ L(γn)2Mn ≤ (2−nL(γ0))

2Mn und somit∣∣∣∫γ0f(z)dz

∣∣∣ ≤ 4n∣∣∣∫γn

f(z)dz∣∣∣ ≤ L(γ0)

2Mn. Wegen der Stetigkeit von g gilt Mn → |g(c)| = 0

fur n → ∞. Das hat∫γ0f(z)dz = 0 zur Folge.

(20) Der Integralsatz von Cauchy. Seien U ⊂ C offen und sternformig und f : U → Cholomorph. Dann hat f eine Stammfunktion und∮

f(z)dz = 0

8

Page 9: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

fur jede geschlossene, stuckweise stetig differenzierbare Kurve in U.

Beweis. Sei γ ein Dreiecksweg mit Spur(γ) ⊂ U. Dann ist das zugehorige Dreieck in U enthalten,weil U sternformig ist. Nach dem Lemma von Goursat (19) folgt

∫γ f(z)dz = 0. Dann hat f eine

Stammfunktion nach dem Satz zur Stammfunktion (18). Nach (16) gilt∮f(z)dz = 0.

(21) Bemerkung. Die Voraussetzung, dass U offen und sternformig ist, lasst sich in (20)allgemeiner durch die Bedingung, dass U offen und einfach wegzusammenhangend ist, ersetzen.Vgl. dazu die Bemerkung zu (21.17).

(22) Die Integralformel von Cauchy fur Kreise. Seien U ⊂ C offen, f : U → C holomorphund Ur(c) ⊂ U mit c ∈ U, r > 0. Dann gilt fur alle z ∈ Ur(c) die Formel

f(z) =1

2πi

∫γ

f(ζ)

ζ− zdζ,

wobei γ die im positiven Sinn durchlaufene Kreislinie z : |z− c| = r ist.

Beweis. Sei z ∈ Ur(c) fest. Wir gehen von folgender Umformung∫γ

f(ζ)

ζ− zdζ =

∫γ

f(ζ) − f(z)

ζ− zdζ+ f(z)

∫γ

1

ζ− zdζ

aus und zeigen zunachst, dass ∫γ

1

ζ− zdζ = 2πi.

Sei r ′ > 0 derart, dass Ur ′(z) ⊂ Ur(c). Nach (13)(b) ist∫γ ′

1ζ−zdζ = 2πi. Man verbinde die

Punkte z + r ′ und z − r ′ mit horizontalen Strecken und die Punkte z + ir ′ und z − ir ′ mitvertikalen Strecken mit dem Rand von Ur(c). Damit wird Ur(c) \ Ur ′(z) in vier Teile zerlegt.Fur r ′ > 0 klein genug, liegen diese in offenen, sternformigen Teilmengen von U. Integriert manlangs ihrer Rander im positiven Sinn, heben sich die Beitrage langst der Strecken gegenseitigauf und gemaß dem Integralsatz von Cauchy (20) folgt

∫γ

1ζ−zdζ−

∫γ ′

1ζ−zdζ = 0.

Es bleibt zu zeigen, dass das mittlere Integral in der obiger Umformung verschwindet. Dazusei r ′′ > r derart, dass Ur ′′(c) noch in U enthalten ist. Die Funktion

g : Ur ′′(c) → C, g(ζ) :=

f(ζ)−f(z)ζ−z fur ζ 6= z

f ′(z) fur ζ = z

ist stetig, weil f differenzierbar ist. Auf Ur ′′(c)\z ist g holomorph. Wir zeigen, dass∫δg(ζ)dζ = 0 (?)

fur jeden Dreiecksweg δ in Ur ′′(c). Nach (18) hat dann g eine Stammfunktion und die Behaup-tung folgt nach (16).Wenn z außerhalb des Dreiecks liegt, dann gilt (?) nach Goursat (19). Wenn z innerhalb liegt,zerlege man das Dreieck in zwei Dreiecke, so dass z auf einer Seite liegt. Es bleibt also der

9

Page 10: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Fall zu behandeln, dass z auf einer Seite des Dreiecks liegt. Daher genugt es letztlich fur einenDreiecksweg δ in Ur ′′(c) mit Ecken a, u, b zu zeigen, dass (gleichgultig wo z liegt)∫

δg(ζ)dζ

u→b−→ 0

gilt. Nun ist∫δ g(ζ)dζ =

∫10 [g (tu+ (1− t)a)(u− a) − g(tb+ (1− t)a) (b− a)]dt +

∫10 g(tb +

(1− t)u)(b−u)dt. Fur u → b verschwindet der Integrand des ersten Integrals gleichmaßig, weilg gleichmaßig stetig auf Kompakta ist. Aber auch der zweite Integrand verhalt sich so, da g alsstetige Funktion beschrankt auf Kompakta ist. Damit folgt obige Behauptung.

——————————————————————————————————————————

Kurze Wiederholung

U ⊂ C offen und sternformig bez. c, f : U → C stetig und∫4 f(ζ)dζ = 0 ∀4 Dreiecksweg

mit Ecke c =⇒ f hat Stammfunktion nach dem Satz zur Stammfunktion (18).

U ⊂ C offen und sternformig, f : U → C holomorph =⇒ f hat Stammfunktion nach demIntegralsatz von Cauchy (20).

U ⊂ C offen, f : U → C holomorph =⇒ f(z) = 12πi

∫γf(ζ)ζ−zdζ ∀ z ∈ U nach der Integralformel

von Cauchy (22).

—————————————————————————————————————————–

(23) Mittelwerteigenschaft. Seien U ⊂ C offen, f : U → C holomorph und z ∈ U. Sei weiterr > 0 mit Ur(z) ⊂ U. Dann ist

f(z) =1

∫2π0f(z+ reit)dt und |f(z)| ≤ max

|ζ−z|=r|f(ζ)|.

Beweis. Wertet man die Integralformel von Cauchy (22) fur die Kurve γ(t) = z + r eit, t ∈[0, 2π] aus, so ergibt sich obiger Ausdruck fur f(z). Daraus folgt unmittelbar die angegebeneAbschatzung fur |f(z)|.

(24) Potenzreihenentwicklung nach Cauchy–Taylor. Seien U ⊂ C offen, f : U → Cholomorph und Ur(a) ⊂ U mit a ∈ U, r > 0. Dann gilt die folgende Darstellung

f(z) =

∞∑k=0

ck(z− a)k mit ck =1

2πi

∫γ

f(ζ)

(ζ− a)k+1dζ

von f als auf Ur(a) konvergente Potenzreihe. Dabei ist γ die im positiven Sinn durchlaufeneKreislinie um a mit Radius r.

10

Page 11: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Beweis. O.E. sei a = 0, ansonsten betrachte man f(z) := f(z+ a). Sei nun z ∈ Ur(0) fest. Nach(22) ist f(z) = 1

2πi

∫γf(ζ)ζ−zdζ. Fur |ζ| = r ist | zζ | < 1 und die geometrischen Reihe 1

ζ−z = 1ζ

11− z

ζ=

∑∞k=0

(zζ

)kliefert

f(z) =1

2πi

∫γ

∞∑k=0

gk(ζ) dζ mit gk(ζ) :=f(ζ)

ζ

(z

ζ

)k.

Als Funktion auf der Kreislinie ist gk beschrankt mit ‖gk‖s ≤1r max|ζ|=r |f(ζ)|

(|z|r

)k. Weil |z|

r < 1

folgt daraus, dass∑∞k=0 ‖gk‖s < ∞ und somit

∑k gk normal konvergent (d.h. normkonvergent in

der Supremumsnorm) ist. Nach dem Weierstraß Kriterium (10.3) konvergiert∑k gk gleichmaßig.

Mit (14)(b) folgt schließlich

f(z) =

∞∑k=0

[1

2πi

∫γ

f(ζ)

ζk+1dζ

]zk.

(25) Korollar. Eine holomorphe Funktion f lasst sich um jeden Punkt a des DefinitionsbereichsU in eine Potenzreihe entwickeln, deren Konvergenzradius mindestens bis an den Rand von Ureicht. Die Entwicklungskoeffizienten lauten

ck =f(k)(a)

k!=

1

2πi

∮f(ζ)

(ζ− a)k+1dζ.

Insbesondere ist eine holomorphe Funktion f in jedem Punkt beliebig oft differenzierbar. Darausfolgt

|ck| ≤M

rkmit M := max

|ζ−a|=r|f(ζ)|,

wobei r der Radius des Kreises in U um a ist, der kleiner oder gleich dem Konvergenzradius derPotenzreihe ist. Damit ist schließlich |f(k)(a)| ≤M k!

rk.

(26) Ganze Funktion. Eine holomorphe Funktion mit Definitionsbereich ganz C (wie z.B.z 7→ ez) heißt ganze Funktion. Sei f ganz und a ∈ C. Dann gilt

f(z) =

∞∑k=0

ck(z− a)k mit ck =f(k)(a)

k!∀z ∈ C.

Insbesondere ist der Konvergenzradius unendlich.

Beweis. Nach (25) gilt fur jedes r > 0, dass f(z) =∑∞k=0 ck(z − a)k mit ck =

f(k)(a)k! eine fur

|z− a| < r konvergente Potenzreihe ist. Da die Koeffizienten ck unabhangig von r sind, folgt dieBehauptung.

(27) Satz von Liouville. Sei f eine ganze und beschrankte Funktion. Dann ist f konstant.

11

Page 12: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Beweis. Fur die Potenzreihe in (26) gilt nach (25), dass |ck| ≤ Mrk≤ Crk

mit C := supz∈C |f(z)| <∞. Da ck von r nicht abhangt, folgt ck = 0 fur alle k > 0. Deshalb ist f(z) = c0 konstant.

Ub Man beweise den Fundamentalsatz der Algebra, dass jedes Polynom P uber C vomGrad großer 0 mindestens eine Nullstelle besitzt.

(28) Satz von Morera. Seien U ⊂ C offen und f : U → C stetig derart, dass∫γf(z)dz = 0

fur jeden Dreiecksweg γ zu einem in U enthaltenen Dreieck. Dann ist f holomorph.

Beweis. Sei a ∈ U beliebig. Wahle r > 0 mit Ur(a) ⊂ U. Nach (18) hat f|Ur(a) eine Stamm-funktion F. Damit ist F holomorph mit F ′ = f|Ur(a). Nach (25) ist F beliebig oft differenzierbar.Also ist f in a differenzierbar.

(29) Bemerkung. Seien U ⊂ C offen und sternformig und f : U → C stetig. Wie gezeigt, sinddann aquivalent:

(i) f ist holomorph

(ii) f ist reell differenzierbar und es gelten die Cauchy-Riemann Differenzialgleichungen.

(iii) f hat Stammfunktion

(iv)∮f(z)dz = 0

In (29) kann sternformig durch einfach wegzusammenhangend ersetzt werden. Fur (i) ⇔ (ii),(iii) ⇒ (i), (iv) und fur (iv) ⇒ (i) genugt es, dass U offen ist. Man vergleiche (29) mit derBemerkung (21.17). Man erkennt, dass dabei die Cauchy-Riemann Differenzialgleichungen derIntegrabilitatsbedingung und die Stammfunktion dem Gradientenfeld entsprechen.

(30) Kompakte Konvergenz. Seien U ⊂ C offen und fn : U → C holomorph fur alle n ∈ Nderart, dass (fn) gleichmaßig auf Kompakta konvergiert. (Letzteres heißt, dass fur jedes kompakteK ⊂ U die Folge (fn|K)n gleichmaßig gegen eine Funktion auf K konvergiert .) Dann existiertf : U → C derart, dass fn → f punktweise. Es folgt, dass fn|K → f|K gleichmaßig und fholomorph ist.

Beweis. Zu zeigen ist die Holomorphie von f. Alles andere ist offensichtlich. Seien 4 ⊂ U einbeliebiges Dreieck und γ der zugehoriger Dreiecksweg. Da 4 kompakt ist, folgt nach Vorausset-zung, dass fn|4 → f|4 gleichmaßig und somit aus der Stetigkeit der fn|4, dass f|4 stetig ist.Da 4 beliebig ist, folgt, dass f insgesamt stetig ist. Nach (14)(b) und dem Lemma von Goursat(19) ist ∫

γf(z)dz = lim

n→∞∫γfn(z)dz = 0

und mit dem Satz von Morera (28) folgt schließlich, dass f holomorph ist.

12

Page 13: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

(31) Lemma. Seien U ⊂ C offen, S := a+ tb : t ∈ R mit a, b ∈ C, b 6= 0 eine Gerade,f : U → C stetig und f| (U\S) holomorph. Dann ist f holomorph.

Beweis. Zunachst bemerkt man, dass S abgeschlossen und somit U \ S offen ist. Damit ist dieVoraussetzung an f sinnvoll. — Sei nun γ ein Dreiecksweg zu einem Dreieck 4 ⊂ U. NachMorera (28) ist ∫

γf(z)dz = 0 (?)

zu zeigen. Falls 4 ∩ S = ∅, gilt (?) nach Goursat (19). Falls 4 durch S geteilt wird, ziehe manauf jeder Seite von S eine Parallele zu S ein. Es entstehen zwei geschlossene Polygonzuge α undβ in U \ S. Weil f|(U\S) holomorph ist, gilt∫

αf(z)dz = 0 und

∫βf(z)dz = 0,

unabhangig vom Abstand der Parallelen. Aus Stetigkeitsgrunden bleibt dies gultig fur AbstandNull (vergleiche dazu den letzten Teil des Beweises von (22)). Daraus folgt (?), weil sich dieBeitrage langs S wegheben.

Sei H± = z ∈ C : ±Im(z) > 0 die obere bzw. untere offene komplexe Halbebene. Es ist H± =

H± ∪ R.

(32) Spiegelungsprinzip von Schwarz. Sei U ⊂ C offen und symmetrisch bez. der reellenAchse, d.h. U = z : z ∈ U. Sei weiter g : U ∩ H+ → C stetig und derart, dass g|(U ∩ H+)

holomorph ist und g(U ∩ R) ⊂ R. Setze

f : U → C mit f|U ∩H+ := g und f(z) := g(z) fur z ∈ U ∩H−.

Dann ist f holomorph.

Beweis. Offenbar ist f ist stetig. Gemaß (31) bleibt zu zeigen, dass U ∩ H− → C, z → g(z)

holomorph ist. Sei a ∈ U ∩ H−. Dann ist a ∈ U ∩ H+ und g(z) =∑k ck(z − a)k nach (24)

in einer offenen Kreisscheibe um a. Damit ist z → g(z) =∑k ck(z − a)k in der gespiegelten

Kreisscheibe um a holomorph.

Einschub zur Topologie

In (21.14) wurde der Wegzusammenhang fur einen metrischen Raum definiert. Allgemeiner istder folgende Zusammenhangsbegriff.

(33) Zusammenhang. Ein metrischer Raum X heißt zusammenhangend, falls ∅ und X dieeinzigen Teilmengen von X sind, die sowohl offen wie abgeschlossen sind.

(34) Lemma. X wegzusammenhangend =⇒ X zusammenhangend.

13

Page 14: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Beweis. Angenommen X ist nicht zusammenhangend. Dann existiert A ⊂ X, ∅ 6= A 6= X, A offenund abgeschlossen. Dann existiert a ∈ A, b /∈ A und eine Kurve w : [0, 1] −→ X mit w(0) = a,w(1) = b. Man nennt w auch einen Weg von a nach b. Betrachte

J := t ∈ [0, 1] : w ([0, t]) ⊂ A und T := sup J.

Offenbar ist [0, T [⊂ J ⊂ [0, T ]. Ware T ∈ J, dann w(T) ∈ A, T < 1 und es existiert δ > 0 mitw([T, T + δ[) ⊂ A, weil w stetig und A offen ist. Daraus folgt sup J ≥ T + δ, was ein Widerspruchist. Ware T 6∈ J, dann w(T) ∈ X\A, T > 0 und es existiert δ > 0 mit w(]T − δ, T ]) ⊂ X \ A weilw stetig und X\A offen. Daraus folgt sup J ≤ T − δ, was ebenfalls ein Widerspruch ist.

(35) Zusammenhangende Menge. Seien (X, d) ein metrischer Raum und Y ⊂ X. Dann ist(Y, dY) mit der induzierten Metrik dY = d| (Y × Y) ein metrischer Raum, siehe (13.2)(b). Mannennt Y zusammenhangend, wenn (Y, dy) zusammenhangend ist

(36) Zusammenhang in R. Sei B ⊂ R. Dann ist B genau dann zusammenhangend, wenn Beinelementig oder ein Intervall ist.

Beweis. Offenbar ist ein Intervall wegzusammenhangend und somit nach (34) zusammenhangend.— Sei nun B kein Intervall und nicht einelementig. Dann existieren a, b ∈ B und c /∈ B mita < c < b. Denn wenn mit a, b ∈ B auch stets [a, b] ⊂ B gilt, dann ist B ein Intervall mit denEndpunkten inf B und supB. Hieraus konnen wir folgern, dass A := B∩ ] − ∞, c[ = B∩ ] − ∞, c]offen und abgeschlossen in B ist mit a ∈ A und b ∈ R\A. Das zeigt, dass B nicht zusam-menhangend ist.

(37) Satz vom zusammenhangenden Bild. Seien X , Y metrische Raume und f : X → Y

stetig. Dann gilt:

B ⊂ X zusammenhangend =⇒ f(B) zusammenhangend

B ⊂ X wegzusammenhangend =⇒ f(B) wegzusammenhangend

Beweis. Offenbar genugt es, die Behauptung fur die stetige surjektive Abbildung B → f(B),x 7→ f(x) zu zeigen. Daher kann o.E. angenommen werden, dass B = X und f surjektiv ist.

Seien also X zusammenhangend und Z ⊂ Y offen und abgeschlossen. Weil f stetig ist, istf−1(Z) offen und abgeschlossen. Weil X zusammenhangend ist, folgt f−1(Z) ∈ ∅, X. Somit istZ ∈ ∅, Y, weil f surjektiv ist. — Seien nun X wegzusammenhangend und y1, y2 ∈ Y. Weil fsurjektiv ist, existieren x1, x2 ∈ X mit y1 = f(x1) und y2 = f(x2). Sei w : [0, 1] → X ein Weg vonx1 nach x2. Dann ist die Komposition f w : [0, 1] → Y ein Weg von y1 nach y2.

(38) Beispiel. Seien I ⊂ R ein Intervall und f : I → R stetig und nicht konstant. Dann istf(I) ebenfalls ein Intervall nach (36) und (37). Daher existiert zu a, b ∈ f(I) mit a < b undy ∈ ]a, b[ ein x ∈ I mit f(x) = y. Ist außerdem I kompakt, dann ist auch f(I) kompakt nach(14.10). Vgl. dazu den Zwischenwertsatz (7.17).

14

Page 15: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Es sei erinnert, dass eine Aquivalenzrelation auf einer Menge X reflexiv, symmetrisch undtransitiv ist. Allgemein ist eine Relation auf X eine Teilmenge R von X×X. Sie heißt reflexiv,wenn (x, x) ∈ R ∀ x ∈ X. Sie heißt symmetrisch, wenn mit (x, y) ∈ R auch (y, x) ∈ R gilt.Schließlich nennt man sie transitiv, wenn aus (x, y) ∈ R und (y, z) ∈ R folgt, dass (x, z) ∈ R.Im Fall einer Aquivalenzrelation schreibt man gerne x ∼ y statt (x, y) ∈ R. Zu jedem x ∈ X kannman die zugehorige Aquivalenzklasse [x] := y ∈ X : y ∼ x betrachten. Offenbar ist stets x ∈ [x]

und es gilt [x] = [y] genau dann, wenn x ∼ y. Damit sind die Aquivalenzklassen nichtleerepaarweise disjunkte Teilmengen von X, deren Vereinigung ganz X ergibt. Sie bilden also einePartition von X.

(39) Wegkomponente. Sei X ein metrischer Raum. Fur x, y ∈ X bedeute x ∼ y, dass es einenWeg von x nach y gibt. Dadurch wird eine Aquivalenzrelation auf X definiert. Die Aquivalenz-klassen heißen Wegkomponenten.

Beweis. Die Reflexivitat x ∼ x besteht, denn w : [0, 1] → X, w(t) := x ist ein Weg von x nach x.— Zur Symmetrie sei x ∼ y. Damit existiert w : [0, 1] → X stetig mit w(0) = x, w(1) = y. Dannist w : [0, 1] → X, w(t) := w(1 − t) ein Weg von y nach x. Also gilt y ∼ x. — Zum Nachweisder Transitivitat seien x ∼ y, y ∼ z. Damit existieren stetige Abbildungen u : [0, 1] → X mitu(0) = x, u(1) = y und v : [0, 1]→X mit v(0) = y, v(1) = z. Setze w : [0, 1] → X,

w(t) :=

u(2t) fur 0 ≤ t ≤ 1

2

v(2t− 1) fur 12 < t ≤ 1

Offenbar ist w ein Weg von x nach z. Damit gilt x ∼ z.

(40) Wegzusammenhang im Kn. Sei U ⊂ Kn offen. Dann sind die Wegkomponenten von Uoffen. Weiter gilt: U zusammenhangend ⇐⇒ U wegzusammenhangend.

Beweis. Seien W eine Wegkomponente von U und x ∈W. Dann existiert r > 0 mit Ur(x) ⊂ U.Da offenbar y ∼ x fur alle y ∈ Ur(x), folgt Ur(x) ⊂W. Also ist W offen. — Wegen (34) bleibt ⇒zu zeigen. Angenommen U ist nicht wegzusammenhangend. Sei W0 ⊂ U eine Wegkomponentevon U. Dann ist ∅ 6= W0 6= U. Da U \W0 =

⋃W : W Wegkomponente, W 6= W0, ist U\W0

offen (in U). Damit ist W0 abgeschlossen in U. Dies ist ein Widerspruch zum Zusammenhangvon U.

(41) Gebiet. U ⊂ Kn heißt Gebiet, wenn U offen und zusammenhangend ist.

Wir kehren nun zur Funktionentheorie zuruck.

(42) Konstante Funktion. Seien U ⊂ C ein Gebiet und f : U → C holomorph mit f ′ = 0.Dann ist f konstant.

15

Page 16: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Beweis. Sei a ∈ U beliebig. Gemaß (25) stellen wir f in einer Umgebung von a als konvergentePotenzreihe f(z) =

∑k≥0 ck(z − a)k dar. Somit ist f ′(z) =

∑k≥1 ckk(z − a)k−1 = 0. Wegen

der Eindeutigkeit der Potenzreihendarstellung folgt daraus, dass ckk = 0 ∀k ≥ 1, d.h. ck =

0 ∀k ≥ 1. Daher ist f(z) = c0 in einer Umgebung von a. Das zeigt, dass A := z ∈ U : f(z) = c0

nichtleer und offen ist. Weil f stetig ist, ist A = f−1(c0) auch abgeschlossen. Da nun U nachVoraussetzung zusammenhangend ist, folgt A = U. Damit ist f konstant.

Wenn U nicht zusammenhangend ist, z.B. wenn U = U1 ∪ U2 mit U1 6= ∅, U2 6= ∅ offen undU1 ∩U2 = ∅, dann ist f|U1 := c1, f|U2 := c2 fur c1 6= c2 nicht konstant, aber f ′ = 0.

(43) Satz von der lokalen holomorphen Inversen. Seien U ⊂ C offen, f : U → C ho-lomorph und c ∈ U mit f ′(c) 6= 0. Dann existiert ein r > 0 derart, dass U0 := Ur(c) ⊂ U

und

(i) f(U0) offen in C und U0 → f(U0), z 7→ f(z), bijektiv ist,

(ii) die Umkehrfunktion g : f(U0) → C von f|U0 holomorph ist.

Beweis. Zunachst ist f ′ : U → C stetig, weil f nach (25) sogar beliebig oft differenzierbar ist.

Mit f ′(c) =: α+ iβ 6= 0 ist Jf(ι(c)) =

(α −β

β α

)∈ R2×2 nach (4). Die Matrix ist invertierbar,

da det(Jf(ι(c))

)= α2 + β2 > 0. Ihre Inverse lautet

Jf(ι(c))−1 =

α2+β2β

α2+β2

− βα2+β2

αα2+β2

),

was offensichtlich ebenfalls eine Drehstreckung ist. Nach dem Satz von der lokalen Inversen(19.6) folgt die Existenz von U0, so dass (i) erfullt ist und g differenzierbar ist mit Jg(ι(f(z))) =

Jf(ι(z))−1 ∀z ∈ U0. Bezuglich g und f siehe (3)(c). Die Inverse einer Drehstreckung ist wiederum

eine Drehstreckung (s.o). Mit (4) folgt daraus die Behauptung.

(44) Biholomorphe Funktion. Seien U, V ⊂ C offen. Dann heißt f : U → V biholomorph,wenn f bijektiv, holomorph und f−1 : V → U ebenfalls holomorph ist.

Um im Einklang mit dem bisherigen Sprachgebrauch zu sein, ist f als Funktion von U in Cund entsprechend die Umkehrabbildung als Funktion von V in C aufzufassen. Nach (43) ist eineholomorphe Funktion f : U → C um jeden Punkt c mit f ′(c) 6= 0 lokal biholomorph, d.h. esgibt offene Mengen U0, V0 in C mit c ∈ U0 ⊂ U derart, dass f(U0) = V0 und U0 → V0, z 7→ f(z)

biholomorph ist.

(45) Wurzeln. Sei f : C −→ C, f(z) := zm. Offenbar ist diese Funktion fur m = 1 biholomorphund fur m = 0 konstant und damit nirgends lokal biholomorph.

Sei nun m ≥ 2. Da f ′(z) = mzm−1 6= 0 fur z 6= 0, folgt nach (43), dass f lokal biholomorphist um jeden Punkt z 6= 0. Zur naheren Untersuchung bestimmen wir zunachst die Urbilder zuw ∈ C \ 0 unter f:

f−1(w) = z ∈ C : zm = w .

16

Page 17: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Es ist also die Gleichung zm = w zu losen. In Polarkoordinaten ist w = reiα, z = ρeiϕ mitr, ρ > 0 und α,ϕ ∈ [0, 2π[. Damit ist zm = ρmeimϕ = reiα. Das bedeutet ρm/r = 1 undei(mϕ−α) = 1. Ersteres ergibt ρ = r

1m und letzteres ist aquivalent zu mϕ− α = 2πk mit k ∈ Z.

Also ist ϕ ∈αm + 2π km : k ∈ Z

∩ [0, 2π[ = ϕk : k = 0, . . . ,m− 1 mit ϕk := α

m + 2π km .Als Ergebnis erhalten wir genaum verschiedene Wurzeln zk := r

1m eiϕk mit k = 0, . . . ,m−1,

die die Gleichung zm = w erfullen. Fur w = 1 sind dies die m-ten Einheitswurzeln ei2πkm ,

k = 0, . . . ,m− 1.Der Sektor U0 := seiψ : s > 0, αm − π

m < ψ < αm + π

m ist eine offene Umgebung vonz0 = r

1m ei

αm . Die Sektoren Uk := ei2π

kmU0 fur k = 0, . . . ,m − 1 sind paarweise disjunkte offene

Umgebungen von zk. Jeder dieser Sektoren wird unter f biholomorph auf die offene Umgebungf(U0) = seiψ : s > 0, α− π < ψ < α+ π = eiα(C\] − ∞, 0]) von w abgebildet.

(46) Ordnung einer Nullstelle. Seien U ⊂ C offen, f : U → C holomorph und a ∈ U mitf(a) = 0. Dann heißt

m := infk ∈ N : f(k)(a) 6= 0

die Ordnung der Nullstelle a. Ist m = ∞, d.h. f(k)(a) = 0 ∀k ∈ N, dann heißt a eine Nullstelleunendlicher Ordnung.

(47) Beispiel. Seien a ∈ C und f : C → C, f(z) = (z−a)n fur n ∈ N. Dann ist a eine Nullstellen-ter Ordnung. In der Tat ist f(k)(z) = n!

(n−k)!(z− a)n−k fur k = 0, . . . , n und daher f(k)(a) = 0

fur k = 0, . . . , n− 1 und f(n)(a) = n! 6= 0.

(48) Satz von der Nullstelle m–ter Ordnung 1. Seien U ⊂ C offen, f : U → C holomorphund a ∈ U eine Nullstelle von f der Ordnung m ∈ N. Dann existiert ein r > 0 mit Ur(a) ⊂ Uund h : Ur(a) → C holomorph mit

f(z) = h(z)m ∀z ∈ Ur(a)

und h(a) = 0, h ′(a) 6= 0, h(z) 6= 0∀z ∈ Ur(a) \ a.

Beweis. Man entwickle f auf einer offenen Kreisscheibe U0 ⊂ U von a in eine konvergentePotenzreihe. Da f(k)(a) = 0 fur 0 ≤ k ≤ m− 1 ist

f(z) =

∞∑k=m

ck(z− a)k = cm(z− a)m +

∞∑k=m+1

ck(z− a)k = (z− a)mg(z)

mit g(z) := cm +∑∞k=m+1 ck(z − a)k−m. Damit ist g : U0 → C holomorph mit g(a) = cm 6= 0.

Es geht nun darum, ein m-te Wurzel von g(z) in holomorpher Weise zu ziehen.Sei c ∈ C mit cm = g(a), d.h. c ist eine m-te Wurzel von g(a), siehe (45). Es ist c 6= 0 und fur

p : C → C, p(z) := zm ist p(c) = g(a) und p ′(c) = mcm−1 6= 0. Nach (43) existiert daher δ > 0mit δ < |c| derart, dass p(Uδ(c)) eine offene Umgebung von g(a) ist und Uδ(c) → p(Uδ(c)),z 7→ p(z) biholomorph ist. Sei q : p(Uδ(c)) → Uδ(c) die lokale Inverse zu p.

Weil g stetig ist, ist g−1(p(Uδ(c))) eine offene Umgebung von a. Somit existiert r > 0 mitUr(a) ⊂ g−1(p(Uδ(c))). Da g(Ur(a)) ⊂ p(Uδ(c)) gilt hierfur q(g(Ur(a))) ⊂ Uδ(c). Nun setze

h : Ur(a) → C, h(z) := (z− a)q(g(z)).

17

Page 18: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Aufgrund der obigen Uberlegungen ist h eine wohldefinierte holomorphe Funktion mit h(z)m =

(z − a)m(q(g(z)))m = (z − a)mg(z) = f(z). Weiter gilt h(a) = 0 und h ′(a) = q(g(a)) = c 6= 0.Weil schließlich q(g(z)) ∈ Uδ(c) fur z ∈ Ur(a) und 0 /∈ Uδ(c), ist h(z) 6= 0 ∀z ∈ Ur(a) \ a.

(49) Isolierte Nullstelle. In (48) ist f(z) 6= 0 ∀z ∈ Ur(a)\a. Also ist jede Nullstelle endlicherOrdnung einer holomorphen Funktion isoliert, d.h. es gibt eine Umgebung der Nullstelle, in derkeine weitere Nullstelle der Funktion liegt.

(50) Satz von der Nullstelle m–ter Ordnung 2. Seien U ⊂ C offen, f : U → C holomorphund a ∈ U eine Nullstelle von f der Ordnung m ∈ N. Dann existieren U0 ⊂ U offen mita ∈ U0 und δ > 0 derart, dass f(U0) = Uδ(0) ist, a einzige Nullstelle von f in U0 ist und jedesw ∈ Uδ(0) \ 0 genau m Urbilder unter f in U0 hat.

Beweis. Sei p(z) = zm. Im Spezialfall f = p, a = 0 wahle man δ > 0 beliebig und U0 := Uδ

1m

(0),siehe (45). Im allgemeinen Fall betrachte man

h : Ur(a) → C

aus (48). Weil h ′(a) 6= 0, laßt sich dabei r > 0 nach dem Satz von der lokalen Inversen (43)so klein wahlen, dass h(Ur(a)) offen ist und von h biholomoroph auf h(Ur(a)) abgebildet wird.Wahle δ > 0 so, dass U

δ1m

(0) ⊂ h(Ur(a)). Setze U0 := h−1(Uδ

1m

(0)). Dann gilt fur alle z ∈ U0,dass f(z) = h(z)m = p(h(z)). Da U0 → U

δ1m

(0), z 7→ h(z) bijektiv ist, folgt die Behauptung ausdem genannten Spezialfall.

(51) Identitatssatz. Seien f und g zwei holomorphe Funktionen auf einem Gebiet U ⊂ C.Dann sind aquivalent:

(i) f = g.

(ii) z ∈ U : f(z) = g(z) hat einen Haufungspunkt in U.

(iii) Es gibt ein a ∈ U mit f(k)(a) = g(k)(a) ∀k ∈ N0.

Beweis. Die Aussage (i) ⇒ (ii) ist offensichtlich. — Zum Nachweis von (ii) ⇒ (iii) sei a ∈ Uein Haufungspunkt von f = g. Da f = g abgeschlossen ist in U, folgt a ∈ f = g. Damit ista eine Nullstelle der holomorphen Funktion h := f − g derart, dass in jeder Umgebung vona weitere Nullstellen von h liegen. Wegen (49) hat a also keine endliche Ordnung. Damit gilt0 = h(k)(a) = f(k)(a) − g(k)(a) ∀k ∈ N. — Zum Nachweis von (iii) ⇒ (i) betrachte man A :=⋂∞k=0

z ∈ U : f(k)(z) = g(k)(z)

. Da jede der Mengen

z ∈ U : f(k)(z) = g(k)(z)

abgeschlossen

in U ist, ist auch A abgeschlossen in U. Nach Voraussetzung ist A 6= ∅. Sei a ∈ A beliebig.Man entwickle h := f− g in eine konvergente Potenzreihe h(z) =

∑∞k=0

h(k)(a)k! (z− a)k auf einer

offenen Kreisscheibe Ua ⊂ U um a. Da a ∈ A, ist h(k)(a) = 0 ∀k, und somit h|Ua = 0, weshalbUa ⊂ A. Es folgt, dass A offen ist. Weil U zusammenhangend ist, bleibt nur A = U.

(52) Bemerkung. Sei U ⊂ C ein Gebiet. Aus dem Identitatssatz (51) folgen sofort die folgen-den Aussagen.

18

Page 19: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

(a) Eine holomorphe Funktion f auf U ist bereits durch ihre Werte f(zn), n ∈ N, eindeutigbestimmt, wenn zn → z ∈ U mit zn 6= z fur unendliche viele n.

(b) Sei I ⊂ R ein Intervall mit I ⊂ U. Dann existiert zu g : I → C hochstens eine holomorpheFortsetzung f : U → C von g, das ist eine holomorphe Funktion f auf U mit f|I = g.

(c) Ist f eine holomorphe Funktion auf U mit einer Nullstelle unendlicher Ordnung, dann istf = 0.

(53) Offene Abbildung. Seien X, Y metrische Raume und f : X → Y. Dann heißt f offen,wenn f(U) offen ist fur jede offene Menge U ⊂ X.

(54) Satz von der offenen Abbildung. Seien U ⊂ C offen und f : U → C eine nichtkonstante holomorphe Funktion. Dann ist f offen. Ist U ein Gebiet, dann ist f(U) ein Gebiet.

Beweis. Wegen (40) sei o.E. U zusammenhangend. Seien W ⊂ U offen und c ∈ f(W) beliebig.Es existiert a ∈ W mit f(a) = c. Setze g : U → C, g(z) := f(z) − c. Die Nullstelle a von ghat endliche Ordnung, da sonst g = 0 nach (52)(c) und f somit konstant. Man wende (50) aufg|W an. Danach existiert U0 ⊂ W mit g(U0) = Uδ(0) fur ein δ > 0. Also ist Uδ(0) ⊂ g(W).Hieraus folgt c ∈ c + Uδ(0) ⊂ c + g(W) = f(W). Damit ist f(W) eine Umgebung von c. Dac ∈ f(W) beliebig ist, ist f(W) offen. — Schließlich ist f(U) nach (37) zusammenhangend, weilU zusammenhangend und f stetig ist.

——————————————————————————————————————————

Kurze Wiederholung

Die Ordnung einer Nullstelle einer holomorphen Funktion f: Sind f(a) = 0, f ′(a) =

0, . . . , f(m−1)(a) = 0 und f(m)(a) 6= 0, dann ist a eine Nullstelle m-ter Ordnung von f.

Ist a eine Nullstelle m-ter Ordnung der holomorphen Funktion f, dann existiert eine holo-morphe Funktion h in einer Umgebung von a derart, dass f(z) = h(z)m und a eine isolierteNullstelle erster Ordnung von h ist.

Zum Identitatssatz: Sind f, g auf dem Gebiet U holomorphe Funktionen und ist (zn)

eine gegen z ∈ U konvergente Folge mit zn 6= z, wofur f(zn) = g(zn) ∀n, dann ist f = g.

Nichtkonstante holomorphe Funktionen f sind offen, d.h. sie bilden offene Mengen aufoffene Mengen ab.

——————————————————————————————————————————

(55) Das Maximumprinzip. Seien U ⊂ C ein Gebiet, f : U → C holomorph und a ∈ U mit|f(a)| = supz∈U |f(z)|. Dann ist f konstant.

Beweis. Sei f nicht konstant. Nach (54) ist f(U) offen. Daher existiert zu a ∈ U ein r > 0 mitUr(f(a)) ⊂ f(U). Damit ist |f(a)| nicht maximal.

19

Page 20: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

(56) Korollar. Seien U ⊂ C ein beschranktes Gebiet und f : U −→ C stetig derart, dass f|Uholomorph ist. Dann ist supz∈U |f(z)| = maxz∈∂U |f(z)| = |f(a)| fur ein a ∈ ∂U.

Beweis. Da U kompakt und f stetig ist, existiert nach dem Satz vom Maximum und Minimumein a ∈ U mit |f(a)| = maxz∈U |f(z)|. Ist a ∈ U, dann ist f|U konstant nach (55). Da f stetig ist,ist damit f konstant. Das ergibt die Behauptung.

20

Page 21: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

24 Laurentreihen, Residuensatz

Ist V ⊂ C offen und a ∈ C, dann ist V \ a offen, weil a abgeschlossen ist.

(1) Isolierte Singularitat. Seien V ⊂ C offen, a ∈ V und f : V\ a −→ C holomorph. Dannnennt man a eine isolierte Singularitat von f.

(2) Hebbare Singularitat. Sei a eine isolierte Singularitat von f. Dann sind aquivalent:

(i) f ist holomorph auf V fortsetzbar.

(ii) f ist stetig auf V fortsetzbar.

(iii) Es existiert r > 0 mit Ur(a) ⊂ V derart, dass f|(Ur(a)\ a) beschrankt ist.

(iv) Es gilt limz→a,z6=a(z− a)f(z) = 0.

Falls (i) vorliegt, heißt a eine hebbare Singularitat.

Beweis. Die Inklusionen (i) ⇒ (ii) ⇒ (iii) ⇒ (iv) sind klar. Es bleibt (iv) ⇒ (i) zu zeigen. Dazudefiniere man g, h : V → C mit

g(z) := (z− a)f(z) fur z 6= a, g(a) := 0 und h(z) := (z− a)g(z).

Offenbar ist h(a) = 0. Wegen (iv) ist g stetig in a und damit h(z)−h(a)z−a = g(z)

z→a,z6=a→ 0. Alsoist h auch in a differenzierbar mit h ′(a) = 0. Somit ist h holomorph. Man entwickle h aufeiner offenen Kreisscheibe um a in eine konvergente Potenzreihe h(z) =

∑∞k=2 ck(z − a)k =

(z − a)2∑∞k=0 ck+2(z − a)k. Weil h(z) = (z − a)2f(z) fur z 6= a folgt f(z) =

∑∞k=0 ck+2(z − a)k

fur z 6= a. Also ergibt f(a) := c2 die gesuchte holomorphe Fortsetzung von f auf V .

(3) Pol, Wesentliche Singularitat. Sei a eine nicht hebbare isolierte Singularitat von f.Dann heißt a ein Pol von f, falls ein m ∈ N existiert derart, dass a eine hebbare Singularitatvon z 7→ (z− a)mf(z) ist. Das kleinste m mit dieser Eigenschaft heißt die Ordnung des Pols.Ansonsten heißt a eine wesentliche Singularitat von f.

(4) Beispiele.

(a) Offenbar hat f(z) = 1(z−a)n , z ∈ C\ a fur n ∈ N in a einen Pol n-ter Ordnung.

(b) Die Funktion f : C\ 0 → C, f(z) = e1z hat in 0 eine wesentliche Singularitat.

21

Page 22: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Beweis. Fur n ∈ N betrachte man g(z) := zne1z , z 6= 0. Dann ist g( 1m) =

(1m

)nem

m→∞−→∞. Also ist g nicht beschrankt in einer Umgebung von 0.

(5) Eine nicht isolierte Singularitat. Als Beispiel betrachten wir fur m ∈ N \ 1 einem-te Wurzelfunktion g definiert auf C\] − ∞, 0] durch g(r eiϕ) := r

1m eiϕ/m fur r > 0 und

ϕ ∈] − π, π[. Die Funktion g ist die Umkehrfunktion der biholomorphen Funktion f : r eiϕ :

r > 0, ϕ ∈] − πm ,

πm [ → C\] − ∞, 0], f(z) := zm, die in (23.45) diskutiert ist, denn es ist

g(f(z)) = z ∀ z ∈ C\] − ∞, 0]. Insbesondere ist g holomorph. Doch wird unten gezeigt, dass eskeine auf Uρ(0) \ 0 fur ein ρ > 0 definierte holomorphe Funktion h gibt, die h(zm) = z fur0 < |z| < ρ

1m erfullt. Deshalb ist 0 eine nicht isolierte Singularitat der Wurzelfunktion.

Angenommen es gibt eine solche Funktion h. Dann ergibt der Ausdruck h(f(g(z))) fur z ∈Uρ(0) \ [−ρ, 0] einerseits h(z), denn f(g(z)) = z. Andererseits ist h(f(g(z))) = h(g(z)m) = g(z).Also stimmen h und g auf Uρ(0)\ [−ρ, 0] uberein. Dies ist aber nicht moglich, denn fur 0 < r < ρist −r = limϕ→π reiϕ = limϕ→−π re

iϕ und somit h(−r) = limϕ→±π g(reiϕ) = r

1m e±iπ/m.

Es folgt eine eingehende Untersuchung der isolierten Singularitaten.

(6) Kreisring. Fur a ∈ C und 0 < r1 < r2 nennt man

S := z ∈ C : r1 ≤ |z− a| ≤ r2

den Kreisring um a mit Radien r1 und r2. Seien U ⊂ C offen mit S ⊂ U und f : U → Cholomorph. (Der interessante Fall ist a 6∈ U.) Dann gilt∫

γ1

f(z)dz =

∫γ2

f(z)dz,

wobei γi fur i = 1, 2 die im positiven Sinn durchlaufene Kreisline um a mit Radius ri bezeichnet.

Beweis. Man teile den Kreisring durch endlich viele radiale Strecken in Teilstucke auf, die jeweilsin einer offenen, sternformigen Teilmenge von U liegen. Die Kurvenintegrale langs des Randeseines jeden Teilstucks sind null nach dem Cauchy Integralsatz (23.20). Die Beitrage langs radialerStrecken heben sich auf. Es folgt

∫γ1f(z)dz +

∫cγ2f(z)dz = 0 wobei γ1 und γ2 antiparallel

durchlaufen werden.

(7) Die Laurentreihenentwicklung. Seien V ⊂ C offen, a ∈ V, r > 0 mit Ur(a) ⊂ V undf : V\ a → C holomorph. Sei

ck :=1

2πi

∫γρ

f(ζ)

(ζ− a)k+1dζ ∀ k ∈ Z,

wobei 0 < ρ < r beliebig ist und γρ die positiv durchlaufene Kreislinie um a mit Radius ρbezeichnet. Dann konvergieren die beiden folgenden Reihen fur jedes z ∈ Ur(a) \ a und es gilt

f(z) =

∞∑k=0

ck(z− a)k +

∞∑k=1

c−k(z− a)−k. (?)

22

Page 23: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Beweis. Wegen (6) (angewandt auf z 7→ f(z)(z−a)k+1 ) ist ck von ρ ∈]0, r[ unabhangig. Sei z ∈

Ur(a) \ a fest. Dann ist g : Ur(a)\ a −→ C mit g(ζ) :=f(ζ)−f(z)ζ−z fur ζ 6= z und g(z) := f ′(z)

nach (2)(ii) holomorph mit einer isolierten Singularitat in a. Nach (6) ist∫γ1g(ζ)dζ =

∫γ2g(ζ)dζ

fur 0 < r1 < |z− a| < r2 < r. Das bedeutet∫γ1

f(ζ)

ζ− zdζ− f(z)

∫γ1

ζ− z=

∫γ2

f(ζ)

ζ− zdζ− f(z)

∫γ2

ζ− z.

Nach dem Cauchy Integralsatz (23.20) ist das zweite Integral null und nach der Cauchy Inte-gralformel (23.22) ist das letzte Integral gleich 2πi. Es folgt daher

f(z) =1

2πi

∫γ2

f(ζ)

ζ− zdζ−

1

2πi

∫γ1

f(ζ)

ζ− zdζ.

Fur ζ auf γ2 gilt |z−a| < r2 = |ζ−a|. Mit Hilfe der geometrischen Reihe folgt 1ζ−z = 1

ζ−a1

1− z−aζ−a

=

1ζ−a

∑∞k=0

(z−aζ−a

)kund damit wie im Beweis zu (23.24)

1

2πi

∫γ2

f(ζ)

ζ− zdζ =

∞∑k=0

[1

2πi

∫γ2

f(ζ)

(ζ− a)k+1dζ

](z− a)k.

Entsprechend gilt fur ζ auf γ1, dass |z−a| > r1 = |ζ−a|. Daraus folgt analog 1z−ζ = 1

z−a1

1− ζ−az−a

=

1z−a

∑∞k=0

(ζ−az−a

)kund

1

2πi

∫γ1

f(ζ)

z− ζdζ =

∞∑k=0

[1

2πi

∫γ1

f(ζ)

(ζ− a)−kdζ

](z− a)−k−1.

Insgesamt erhalt man so die Formel (?).

(8) Haupt– und Nebenteil. Die beiden Summen in (?) der Laurentreihenentwicklung (7)

f(z) =

∞∑k=0

ck(z− a)k︸ ︷︷ ︸Nebenteil

+

∞∑k=1

c−k(z− a)−k

︸ ︷︷ ︸Hauptteil

bezeichnet man als Nebenteil und Hauptteil der Laurentreihe von f in a.

(9) Lemma. Seien a ∈ C, c−k ∈ C fur k ∈ N und r > 0 derart, dass die Laurentreihe

h(z) :=

∞∑k=1

c−k(z− a)−k

fur jedes z ∈ Ur(a)\ a konvergiert. Dann konvergiert die Laurentreihe fur alle z ∈ C\ a unddefiniert eine auf C\ a holomorphe Funktion h. Sei ρ > 0. Dann konvergiert die Folge (sn) derPartialsummen

sn(z) :=

n∑k=1

c−k(z− a)−k

gleichmaßig auf z ∈ C : |z− a| ≥ ρ gegen h. Schließlich gilt h(z) → 0 fur |z| → ∞.

23

Page 24: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Beweis. Offenbar gilt: z ∈ Ur(a)\ a ⇔ 1r <

1|z−a| < ∞. Nach Voraussetzung konvergiert daher

die Potenzreihe∑∞k=1 c−kζ

k aufζ ∈ C : |ζ| > 1

r

. Als solche konvergiert sie deshalb auf ganz C,

und die Folge ihrer Partialsummen∑nk=1 c−kζ

k konvergiert gleichmaßig auf jeder abgeschlosse-

nen Kreisscheibeζ ∈ C : |ζ| ≤ 1

ρ

. Hieraus folgt der Rest der Behauptung.

(10) Eindeutigkeit der Laurentreihe. Seien V ⊂ C offen, a ∈ V, r > 0 mit Ur(a) ⊂ V undf : V\ a → C holomorph. Seien g : Ur(a) → C und h : C\ a → C holomorph derart, dass

f = g+ h auf Ur(a)\ a und

h(z)|z|→∞−→ 0.

Dann sind g(z) =∑∞k=0 ck(z − a)k und h(z) =

∑∞k=1 c−k(z − a)−k, wobei die Koeffizienten

ck, k ∈ Z, durch die Formel in (7) gegeben sind.

Beweis. Seien f = g+ h = g+ h zwei solche Darstellungen. Dann ist k := g− g = h− h, wobeig − g holomorph auf Ur(a) und h − h holomorph auf C \ a ist. Damit ist k ganz und erfulltk(z) → 0 fur |z| → ∞. Aus letzterem folgt, dass k beschrankt ist. Nach dem Satz von Liouvilleist daher k konstant, weshalb nur k = 0 bleibt. Also gilt h = h, g = g.

Die Potenzreihenentwicklung ist eindeutig. Aber auch die Entwicklung in eine Reihe mitnegativen Potenzen ist eindeutig, denn

∑∞k=1 ck(z − a)−k ∀z 6= a ist eine Potenzreihe in der

Variablen ζ := 1z−a mit positivem Konvergenzradius.

Nach (7) und (9) erfullen der Nebenteil g und der Hauptteil h der Laurentreihe von f dieVoraussetzungen. Damit folgt die Behauptung.

(11) Korollar. Seien V ⊂ C offen, a ∈ V, r > 0 mit Ur(a) ⊂ V und f : V\ a → C holomorph.Fur die Laurentreihe von f in der Singularitat a gilt:

a ist hebbar ⇔ der Hauptteil ist 0, d.h. c−k = 0 ∀k ≥ 1.

a ist Pol m-ter Ordnung ⇔ c−m 6= 0, c−k = 0 ∀k > m.

a ist wesentlich ⇔ es existieren unendlich viele k ∈ N mit c−k 6= 0.

Beweis. Betrachte g(z) = (z − a)mf(z) fur ein m ∈ N0. Hat g eine hebbare Singularitat in a,dann ist g holomorph fortsetzbar auf Ur(a). Nach (10) folgt, dass der Hauptteil von g gleichnull ist.

(12) Gleichmaßige Konvergenz der Laurentreihe. Seien V ⊂ C offen, a ∈ V, r > 0 mitUr(a) ⊂ V und f : V\ a → C holomorph. Dann konvergieren die Partialsummen

sn(z) :=

n∑k=0

ck(z− a)k +

n∑k=1

c−k(z− a)−k

der Laurentreihe (8) von f in a gleichmaßig auf jedem Kreisring z ∈ C : r1 ≤ |z| ≤ r2 mit 0 <r1 < r2 < r.

24

Page 25: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Beweis. Fur den Hauptteil siehe (9). Der Nebenteil ist eine Potenzreihe.

(13) Windungszahl. Seien γ : [a, b] → C eine geschlossene stuckweise stetig differenzierbareKurve und z ∈ C \ γ([a, b]. Dann heißt

ν(γ, z) :=1

2πi

∫γ

1

ζ− zdζ

die Windungszahl von γ um z.

(14) Bemerkung.

(a) Sei γ eine einmal positiv durchlaufene Kreislinie. Dann ist ν(γ, z) gleich 0 falls z außerhalbdes Kreises liegt und 1 falls z innerhalb liegt. Dies folgt sofort aus dem Cauchy Integralsatz(23.20) und der Cauchy Integralformel (23.22).

(b) Gleiches gilt z.B. fur den Rechtecksweg γR: Denn liegt z im Inneren des Rechtecks, dannzeigt man in gewohnter Weise (siehe etwa den Beweis zu (23.22)), dass das Kurvenintegrallangs des Rechteckswegs gleich dem Kurvenintegral langs einer im gleichen Sinn durchlau-fenen Kreislinie im Inneren des Rechtecks mit z als Mittelpunkt ist. Also ist ν(γR, z) = 1.

Das Gleiche gilt auch fur den Halbkreisweg: Der Beweis erfolgt z.B. durch Erganzung desHalbkreises zum Kreis.

(c) Seien γ1, γ2 zwei geschlossene Wege mit demselben Anfangspunkt und sei γ die Verkettungvon γ1 mit γ2 (bei der γ1 und γ2 nacheinander durchlaufen werden). Dann gilt ν(γ, z) =

ν(γ1, z) + ν(γ2, z).

(15) Satz zur Windungszahl. Seien γ[a, b] → C eine geschlossene, stuckweise stetig diffe-renzierbare Kurve und U := C\γ([a, b]). Dann ist

(a) ν(γ, z) ∈ Z ∀ z ∈ U,

(b) ν(γ, ·) auf Wegkomponenten von U konstant, und

(c) ν(γ, z) = 0 ∀ z ∈ U mit |z| > ‖γ‖s.

Beweis. (a) Sei z ∈ U. Dann ist infs∈[a,b] |γ(s) − z| > 0, weil γ([a, b]) kompakt ist undz 6= γ([a, b]). Damit ist

F(t) := (γ(t) − z)e−f(t) mit f(t) :=

∫ ta

γ ′(s)

γ(s) − zds

wohldefiniert. Die Funktion F ist offenbar stetig und stuckweise stetig differenzierbar mit F ′(t) =

γ ′(t)e−f(t)+(γ(t)−z)e−f(t) −γ ′(t)γ(t)−z = 0 in allen Punkten t ∈ [a, b], wo γ differenzierbar ist. Daraus

folgt, dass F konstant ist. Da F ungleich null ist, schließen wir daraus, dass

1 =F(b)

F(a)=γ(b) − z

γ(a) − ze−f(b)+f(a) = exp

(−

∫ba

γ ′(s)

γ(s) − zds

)= exp

(−

∫γ

1

ζ− zdζ

).

25

Page 26: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Also existiert ein k ∈ Z mit −∫γ

1ζ−zdζ = 2πik.

(b) Zunachst ist U offen, da γ([a, b]) kompakt und damit abgeschlossen ist. Weiter ist offen-bar ν : U → R, ν(z) := ν(γ, z) = 1

2πi

∫baγ ′(s)γ(s)−zds stetig. Sei nun W eine Wegkomponente von

U. Nach (23.37) ist ν(W) zusammenhangend. Da ν(U) ⊂ Z nach (a) ist damit ν(W) einpunktig.

(c) Sei |z| > ‖γ‖s. Es folgt |γ(t) − z| ≥ |z| − |γ(t)| ≥ |z| − ‖γ‖s > 0. Damit schatzt manwie ublich ab: |ν(γ, z)| ≤ 1

2πL(γ) supt∈[a,b]1

|γ(t)−z| ≤L(γ)2π

1|z|−‖γ‖s

→ 0 fur |z| → ∞. Wegen (a)folgt daraus, dass ν(γ, z) = 0, wenn |z| hinreichend groß ist. Weiter ist z ∈ C : |z| > ‖γ‖s ⊂ Uwegzusammenhangend. Damit folgt (c) aus (b).

(16) Hauptsatz zum Kurvenintegral. Seien V ⊂ C offen, a ∈ V, r > 0 mit Ur(a) ⊂ V undf : V\ a → C holomorph. Weiter sei γρ die positiv durchlaufene Kreislinie um a mit einemRadius ρ ∈ ]0, r[ und γ eine geschlossene stetig differenzierbare Kurve mit Spur in Ur(a)\ a.Dann gilt ∫

γf(ζ)dζ = ν(γ, a)

∫γρ

f(ζ)dζ.

Beweis. Da die Spur von γ kompakt ist, liegt diese in einem in Ur(a)\a enthaltenen Kreisringum a. Wegen (12) darf nach (9.14) die Laurentreihe (8) gliedweise integriert werden. Fur l ∈Z, l 6= −1 hat gl(z) := (z − a)l die Stammfunktion Gl(z) = 1

l+1(z − a)l+1 auf C\ a. Daher ist∫γ(ζ− a)ldζ = 0 ∀l 6= −1 nach (23.16). Fur l = −1 gilt

∫γ(ζ− a)−1dζ = 2πi ν(γ, a) nach (13).

Damit folgt die Behauptung.

(17) Residuum. Seien V ⊂ C offen, a ∈ V , r > 0 mit Ur(a) ⊂ V und f : V\ a → Cholomorph. Weiter sei γρ die positiv durchlaufene Kreislinie um a mit einem Radius ρ ∈ ]0, r[.Das Residuum von f in a ist definitionsgemaß

Res(f, a) := c−1 =1

2πi

∫γρ

f(ζ)dζ,

das ist der erste Koeffizient des Hauptteils der Laurentreihe f in a.

(18) Bemerkungen. Aus der Definition des Residuums erkennt man wegen (16) leicht, dass

Res(f, a) = 12πi

∫γ f(ζ)dζ fur eine positiv einfach durchlaufene Kreislinie γ in V mit a in

derem Inneren,

Res(f, a) = 0, falls a eine hebbare Singularitat ist,

Res(f+ αg, a) = Res(f, a) + αRes(g, a) fur in V \ a holomorphe Funktionen f und g.

Sind V ⊂ C offen und E ⊂ C endlich, dann ist V \ E offen, weil E abgeschlossen ist.

26

Page 27: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

(19) Residuensatz. Seien V ⊂ C offen und sternformig, E ⊂ V eine endliche Menge, f :

V\E → C holomorph und γ eine geschlossene stuckweise stetig differenzierbare Kurve mit Spurin V \ E. Dann gilt ∫

γf(ζ)dζ = 2πi

∑a∈E

Res(f, a)ν(γ, a).

Beweis. Fur a ∈ E sei fa(z) :=Res(f,a)z−a +

∑∞k=2 c

a−k(z−a)−k der Hauptteil der Laurentreihe von f

in a. Nach (9) ist fa : C\ a → C holomorph. Damit ist g : V\E → C, g(z) := f(z) −∑a∈E fa(z)

holomorph. Der Hauptteil der Laurentreihe von g in a ∈ E ist null, was klar ist nach derDefinition von fa. Also ist a eine hebbare Singularitat von g. Dies gilt fur jedes a ∈ E. Nachdem Cauchy Integralsatz (23.20) folgt

0 =

∫γg(ζ)dζ =

∫γf(ζ)dζ−

∑a∈E

∫γfa(ζ)dζ,

weil γ eine geschlossene Kurve in dem sternformigen Gebiet V ist und g holomorph auf Vfortsetzbar ist. Schließlich ist

∫γ fa(ζ)dζ = 2πi Res(f, a)ν(γ, a) nach (16).

Es folgen zwei Aussagen zur Bestimmung des Residuums in einfachen Situationen.

(20) Residuums eines einfachen Pols. Sei f : Ur(a)\ a → C holomorph mit einem einfa-chen Pol, d.h. Pol erster Ordnung, in a. Dann ist Res(f, a) = limz→a(z− a)f(z).

Beweis. Nach Voraussetzung ist f(z) = c−1

z−a + h(z), wobei h holomorph auf Ur(a) ist. Darausfolgt die Behauptung.

(21) Korollar. Seien g, h : Ur(a) → C holomorph mit h(a) = 0, h ′(a) 6= 0. Dann ist fur einhinreichend kleines r ′ ∈]0, r] die Funktion f := g

h : Ur ′(a)\ a → C holomorph mit Res(f, a) =g(a)h ′(a) . Dabei ist a ein einfacher Pol im Fall g(a) 6= 0 und eine hebbare Singularitat, wenng(a) = 0.

Beweis. Zur Existenz von r ′ beachte (23.49) fur h. Da h(z)z−a =

h(z)−h(a)z−a

z→a−→ h ′(a), folgt (z −

a)f(z) =g(z)h(z)z−a

z→a−→ g(a)h ′(a) . Also ist a eine hebbare Singularitat von f, wenn g(a) = 0. Anderenfalls

ist a eine hebbare Singularitat von z 7→ (z− a)f(z) und somit ein einfacher Pol von f. Der Restder Behauptung gilt nach (20).

(22) Beispiele. (a) Sei f(z) := 11+z2

. Weil f(z) = 1z+i

1z−i , hat f in −i und i jeweils einen

einfachen Pol und es folgt (z − (−i))f(z) = 1z−i → 1

−2i fur z → −i, (z − i)f(z) = 1z+i → 1

2i furz → i. Daher gilt nach (20), dass Res(f,±i) = ± 1

2i .

(b) Die ganze Funktion z 7→ sin(z) := 12i(e

iz − e−iz) hat ihre Nullstellen bei kπ fur k ∈ Z. Sei

f(z) :=z

sin(z)fur z 6= kπ, k ∈ Z.

27

Page 28: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Es ist sin ′(z) = cos(z) und cos(kπ) = (−1)k 6= 0. Nach (21) hat daher f eine hebbare Singularitatbei z = 0 und einfache Pole bei z = kπ fur k ∈ Z\ 0 und es ist Res(f, kπ) = kπ

(−1)k fur k ∈ Z.

Der Residuensatz kann verwendet werden, um uneigentliche Integrale der Form∫∞−∞ f(x)dx = lim

A→∞∫0−Af(x)dx+ lim

B→∞∫B0f(x)dx

zu berechnen.

(23) Satz. Seien E ⊂ C endlich mit E ∩ R = ∅, δ > 0 und f : z ∈ C : Im(z) > −δ \E −→ Cholomorph mit lim|z|→∞, Im(z)≥0 |zf(z)| = 0. Dann ist

limR→∞

∫R−Rf(x)dx = 2πi

∑a∈E, Im(a)>0

Res(f, a),

was gleich dem Integral∫∞

−∞ f(x)dx ist, falls es existiert.

Beweis. Sei QR die offene Halbscheibe z : |z| < R, Im(z) > 0. Dabei sei der Radius R so groß,dass a ∈ E : Im(a) > 0 ⊂ QR. Weiter sei γR die positiv durchlaufene geschlossene Kurve, die ausden Teilkurven t 7→ t fur t ∈ [−R, R] und t 7→ R eit fur t ∈ [0, π] besteht. Fur die Windungszahlgilt gemaß (14)(b) ν(γR, a) = 1 ∀a ∈ QR. Der Residuensatz ergibt daher∫

γR

f(ζ)dζ = 2πi∑

a∈E, Ima>0Res(f, a).

Die Auswertung liefert∫γRf(ζ)dζ =

∫R−R f(x)dx+

∫π0 f(Re

it)Rieitdt.Nun gilt∣∣∫π0 f(Re

it)Rieitdt∣∣ ≤

πR supt∈[0,π]

∣∣f(Reit)∣∣ R→∞−→ 0 nach Voraussetzung. Damit folgt die Behauptung.

(24) Beispiel Rationale Funktionen. Seien p, q Polynome in C mit grad(q) ≥ 2+ grad(p),wobei q keine reelle Nullstelle hat. Dann existiert und ist∫∞

−∞p(x)

q(x)dx = 2πi

∑Im(a)>0, q(a)=0

Res(p

q, a).

Dies ist eine direkte Anwendung von (23), denn die Voraussetzungen dafur gelten offensichtlich.Es folgen zwei konkrete Beispiele dazu.

Fur f(x) := 11+x2 gilt bekanntlich

∫∞−∞ f(x)dx = arctan(x)|∞−∞ = π

2 − (−π2 ) = π. Alternativ

liefert der Residuensatz mit (22)(a)∫∞−∞

1

1+ x2dx = 2πi Res(f, i) = 2πi

1

2i= π.

Sei f(x) := x2

1+x4 . Zur Bestimmung der Polstellen faktorisieren wir den Nenner 1 + x4 =∏ζ4=−1(x − ζ) mit ζ = e2πi

k8 fur k = 1, 3, 5, 7. Explizit ist ζ1 := e2πi

18 = 1√

2(1 + i).

Daraus folgen ζ2 := e2πi38 = iζ1 = 1√

2(−1 + i), ζ3 := e2πi

58 = −ζ1 = 1√

2(−1 − i), und

28

Page 29: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

ζ4 := e2πi78 = −iζ1 = 1√

2(1 − i). Die Polstellen in der oberen Halbebene sind ζ1, ζ2. Die

Residuen hierfur berechnet man mit (21): Res(f, ζ1) =ζ2

1

4ζ31

= 141ζ1

= 14 ζ1 = 1

4ζ4 und

Res(f, ζ2) = 14ζ3. Somit ist 2πi(Res(f, ζ1) + Res(f, ζ2)) = 2πi14(ζ4 + ζ3) = 2πi14

−2i√2

= π√2.

Daraus folgt das Ergebnis ∫∞−∞

x2

1+ x4=π√2.

(25) Beispiel Fouriertransformierte. Seien E ⊂ C endlich mit E∩R = ∅ und g : C\E −→ Cholomorph mit lim|z|→∞ g(z) = 0. Fur y ∈ R setze fy(z) := g(z)e−izy. Dann existiert und ist

g(y) :=1√2π

∫∞−∞ g(x)e−ixydx =

−√2π i

∑a∈E,Im(a)<0Res(fy, a) fur y > 0

+√2π i

∑a∈E,Im(a)>0Res(fy, a) fur y < 0

Man nennt g(y) die Fouriertransformierte von g an der Stelle y.

Beweis. Sei y > 0. Seien A,B > 0 so groß , dass das offene Quadrat QAB mit Ecken B, −A,−A−

i(A+ B), B− i(A+ B) die Menge a ∈ E : Im(a) < 0 enthalt. Weiter bezeichne γAB die Kurve,die den Rand von QAB positiv durchlauft. Der Residuensatz besagt dann∫

γAB

fy(ζ)dζ = 2πi∑

a∈E, Im(a)<0

Res(fy, a).

Das Kurvenintegral ergibt sich als die Summe von vier Integralen langs der Seiten des Quadrats∫γAB

fy(ζ)dζ =

∫−A

Bfy(x)dx+

∫−A−i(A+B)

−Afy(ζ)dζ+

∫B−i(A+B)

−A−i(A+B)fy(ζ)dζ+

∫BB−i(A+B)

fy(ζ)dζ.︸ ︷︷ ︸Es bleibt nachzuweisen, dass jedes dieser Integrale fur A,B−→∞ verschwindet.

Wir schatzen ab:∣∣∣∣∣∫−A−i(A+B)

−Afy(ζ)dζ

∣∣∣∣∣ =∣∣∣∣∫A+B

0fy(−A− it)(−i)dt

∣∣∣∣ ≤ ∫A+B

0|g(−A− it)| e−tydt,

weil e−i(−A−it)y = eiAye−ty. Damit folgt weiter∫A+B

0|g(−A− it)| e−tydt ≤ sup

t∈[0,A+B]|g(−A− it)|

1− e−(A+B)y

y≤ 1

ysup

t∈[0,A+B]|g(−A− it)|

A→∞−→ 0

nach Voraussetzung. (In der Tat existiert zu ε > 0 ein R > 0 derart, dass |g(z)| < ε ∀ |z| > R.Damit folgt fur A ≥ R, dass |g(−A − it)| < ε ∀ t ∈ R.) Ebenso schatzt man

∫BB−i(A+B) fy(ζ)dζ

ab. Es bleibt das mittlere Integral abzuschatzen:∣∣∣∣∣∫B−i(A+B)

−A−i(A+B)fy(ζ)dζ

∣∣∣∣∣ =∣∣∣∣∫B

−Afy(t− i(A+ B))dt

∣∣∣∣ ≤ ∫B−A

|g(t− i(A+ B))|e−(A+B)ydt,

weil e−i(t−i(A+B))y = e−itye−(A+B)y. Damit folgt weiter∫B−A

|g(t− i(A+ B))|e−(A+B)ydt ≤ e−(A+B)y(A+ B) supt∈[−A,B]

|g(t− i(A+ B))|A,B→∞−→ 0,

29

Page 30: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

weil e−ss → 0 fur s → ∞ und der zweite Faktor wie oben nach Vorraussetzung verschwindet.

Der Fall y < 0 folgt analog, indem man den Integrationsweg in der oberen Halbebene schließt.

(26) Cauchy Dichte. Die Funktion g(z) = 11+z2

ist holomorph auf C\ i,−i und erfullt

g(z)|z|→∞−→ 0. Ihre Fouriertransformierte g kann daher nach (25) berechnet werden. Zu y ∈ R ist

fy(z) = e−izy

1+z2. Gemaß (21) findet man Res(fy,−i) = e−i(−i)y

−2i = −e−y

2i und Res(fy, i) = e−iiy

2i =ey

2i . Damit folgt nach (21)

g(y) =1√2π

∫∞−∞

1

1+ x2e−ixydx =

√π

2e−|y|

fur y 6= 0. Diese Formel gilt auch fur y = 0, denn nach (24) ist g(0) = 1√2π

∫∞−∞ 1

1+x2dx =1√2ππ =

√π2 . Fur die Cauchy Dichte c1(x) := 1

π1

1+x2

(∫∞−∞ c1(x)dx = 1

)ist also

c1(y) =1√2πe−|y|.

(27) Gauß Dichte. Die Funktion g(z) = e− z2

2 ist ganz und verschwindet daher nach Liouvillenicht fur |z| → ∞. Zur Berechnung der Fouriertransformierten g laßt sich (25) nicht anwenden.Der Cauchy Integralsatz erlaubt dennoch die Bestimmung von g bis auf einen konstanten Faktor.Dieser ist der Wert des Gauß Integrals. Zunachst formen wir um

g(y) =1√2π

∫∞−∞ e− x2

2−ixydx =

1√2π

∫∞−∞ e− 1

2(x+iy)2− y2

2 dx =1√2πe− y2

2

∫∞−∞ e− 1

2(x+iy)2

dx.

Wir zeigen jetzt, dass∫∞

−∞ e− 12(x+iy)2

dx =∫∞

−∞ e− 12x2dx. Seien y > 0 und A > 0. Mit γ be-

zeichnen wir den Rechtecksweg von −A uber A nach A+ iy und −A+ iy zuruck nach −A. DerCauchy Integralsatz ergibt

0 =

∫γe− 1

2z2dz =

∫A−Ae− 1

2x2dx+

∫A+iy

Ae− 1

2z2dz+

∫−A+iy

A+iye− 1

2z2dz+

∫−A

−A+iye− 1

2z2dz.

Nun gilt ∣∣∣∣∫A+iy

Ae− 1

2z2dz

∣∣∣∣ = ∣∣∣∣∫y0e− 1

2(A+it)2

idt

∣∣∣∣ ≤ e− 12A2

∫y0e

12t2dt

A→∞−→ 0.

Ebenso verschwindet∫−A

−A+iy e− 1

2z2dz fur A → ∞. Weil

∫−A+iyA+iy e− 1

2z2dz = −

∫A−A e

− 12(t+iy)2

dt

folgt schließlich ∫∞−∞ e− 1

2x2dx =

∫∞−∞ e− 1

2(x+iy)2

dx.

Diese Gleichheit gilt auch fur y = 0. Ganz analog zeigt man sie fur y < 0. Damit gilt sie fur alley ∈ R. Fur das Gauß Integral gilt ∫∞

−∞ e− 12x2dx =

√2π.

30

Page 31: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Mit mehr Integrationstheorie werden wir es spater leicht berechnen konnen. Geht man damit indie obige Formel fur g ein, folgt

1√2π

∫∞−∞ e− x2

2 e−ixydx = e− y2

2 .

Fur die Gauß Dichte g0,1(x) := 1√2πe− x2

2

(∫∞−∞ g0,1(x)dx = 1

)gilt also g0,1 = g0,1.

(28) Rationale Funktionen in Sinus und Cosinus. Sei R(x, y) ein rationaler Ausdruck inzwei Variablen. Mit Hilfe des Residuensatzes lassen sich Integrale der Form

I =

∫2π0R(sin(t), cos(t))dt

berechnen, wenn R(x, y) keine Pole auf dem Einheitskreis x2 + y2 = 1 hat. Setze z = eit. Dannfolgt I =

∫γ R(12i(z− 1

z ),12(z+ 1

z ))1iz dz und somit nach dem Residuensatz

I = 2π∑

a Pol mit |a|<1

Res(1

zR

(1

2i(z−

1

z),1

2(z+

1

z)

), a

).

Ub Sei b ∈ R, b > 1. Man zeige mit (28), dass I =∫2π0

dtb+sin(t) = 2π√

b2−1.

(29) Meromorphe Funktionen. Sei U ⊂ C. Eine Funktion f heißt meromorph auf U, wenneine Teilmenge Pf ⊂ U existiert derart, dass U\Pf offen ist, f : U\Pf → C holomorph ist undjedes a ∈ Pf ein Pol von f ist.

In (29) besteht Pf aus isolierten Punkten und U ist offen, denn zu jedem a ∈ Pf existiert eine offene Menge Ua

mit a ∈ Ua ⊂ (U \ Pf) ∪ a (weil a ein Pol ist) und deshalb U = (U \ Pf) ∪S

a∈PfUa.

(30) Bemerkung. Die meromorphen Funktionen auf einem Gebiet U bilden einen Korperbezuglich der Addition und Multiplikation. Dazu ist zu zeigen, dass fur jede meromorphe Funk-tion f 6= 0 auf U auch 1

f meromorph auf U ist.

Wir zitieren abschließend noch den folgenden Satz.

(31) Satz. Seien U ⊂ C offen und sternformig und f 6= 0 meromorph auf U. Bezeichne P ⊂ Udie Menge der Pole und N ⊂ U Menge der Nullstellen von f. Sei weiter γ eine geschlosseneKurve in U derart, dass Spur(γ) ∩ (P ∪N) = ∅ und ν(γ, a) = 1 ∀ a ∈ P ∪N. Dann gilt

1

2πi

∫γ

f ′(z)

f(z)dz =

∑a∈N

ord(a) −∑a∈P

ord(a),

wobei ord(a) die Ordnung der Nullstelle bzw. des Pols von a bezeichnet.

31

Page 32: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

25 Das Lebesgue Maß

Das Lebegue Maß einer Punktmenge der reellen Geraden, der reellen Ebene oder des reellenRaums ist die Zahl, die man in der Geometrie als ihre Lange oder Flache oder Volumen be-zeichnet. Fur eine Strecke, ein Rechteck oder einen Quader sind die Lange, die Flache oderdas Volumen elementargeometrisch definiert. Daraus wird in mehreren Schritten eine Maßzahlfur weit kompliziertere Punktmengen bestimmt. Dabei beschrankt man sich nicht auf die dreiDimensionen der Anschauung. Im Folgenden bezeichne d ∈ N die Dimension des GrundraumsRd.

(1) Halboffene Quader. Fur a = (a1, . . . , ad) ∈ Rd und b = (b1, . . . , bd) ∈ Rd sei a ≤ b,falls komponentenweise ai ≤ bi ∀i = 1, . . . , d gilt. Wir schreiben a C b, falls ai < bi fur alleKomponenten zutrifft. Weiter bezeichne

[a, b[ :=x ∈ Rd : a ≤ xC b

= [a1, b1[×[a2, b2[× · · · × [ad, bd[=

d∏i=1

[ai, bi[

den achsenparallelen, nach rechts hin offenen d-dimensionalen Quader, kurz halboffenen Quader,mit unterer linken Ecke a und oberer rechten Ecke b. Offenbar ist [a, b[ 6= ∅ genau dann, wennaC b. Entsprechend definiert man die Quader ]a, b], [a, b], ]a, b[.

(2) Elementarinhalt. Fur jeden halboffenen Quader [a,b[ heiße

λ0([a, b[) :=

d∏i=1

(bi − ai)

der d-dimensionaler Elementarinhalt von [a, b[.

Eine Teilmenge E ⊂ P(Rd) heißt vereinigungsstabil oder ∪-stabil, wenn A∪B ∈ E falls A, B ∈ E .Entsprechend versteht man durchschnittsstabil oder ∩-stabil.

(3) Figuren. Bezeichne Id :=[a, b[: a, b ∈ Rd

die Menge der d–dimensionalen halboffenen

Quader. Eine Menge F ⊂ Rd heißt eine d–dimensionale Figur, wenn sie die Vereinigung vonendlich vielen halboffenen Quadern ist. Mit

Fd :=

n⋃j=1

Ij : Ij ∈ Id, j = 1, . . . , n und n ∈ N

wird die Menge aller d-dimensionalen Figuren bezeichnet. Fur Id und Fd gelten:

(α) Id ⊂ Fd , Fd ist ∪-stabil, Id ist ∩–stabil, Fd ist ∩–stabil.

32

Page 33: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

(β) I, J ∈ Id ⇒ I\J ∈ Fd.

(γ) Fd =⋃n

j=1 Ij : Ij ∈ Id, j = 1, . . . , n, paarweise disjunkt, n ∈ N

.

(δ) F,G ∈ Fd ⇒ F\G ∈ Fd.

Beweis. (α) Die beiden ersten Behauptungen folgen unmittelbar aus der Definition von Fd.Seien nun I = [a, b[ und J = [c, d[ mit a ≤ b, c ≤ d. Dann ist I ∩ J = [u, v[ mit ui =

max ai, ci und vi = min bi, di ∀i = 1, · · · , d. Daher ist I∩J ∈ Id. Die letzte Behauptungfolgt nun elementar aus

⋃k Ik ∩

⋃l Jl =

⋃k,l Ik ∩ Jl.

(β) Da I\J = I\(I ∩ J) und I ∩ J ∈ Id wie eben gezeigt, kann o.E. angenommen werden, dass∅ 6= J ⊂ I, d.h. a ≤ cC d ≤ b. Nun wird I langs der Ebenen durch die Quaderflachen vonJ zerschnitten: Setze a(1)

1 := a, a(2) := c, a(3) := d, a(4) := b. Dann ist a(1) ≤ a(2) C a(3) ≤a(4). Wir zeigen, dass

I =⋃

[u, v[: ui = a(k)i , vi = a

(k+1)i fur i = 1, · · · , d und k = 1, 2, 3

.

Zum Nachweis der Inklusion ⊃ sei x aus einem der Quader [u, v[. Dann ist a(1)i ≤ ui ≤

xi < vi ≤ a(4)i fur jedes i, woraus folgt, dass x ∈ [a(1), a(k)[= I. — Zum Nachweis der

Inklusion ⊂ sei nun x ∈ I. Das bedeutet a(1)i ≤ xi ≤ a

(4)i ∀i. Zu jedem i existiert genau ein

k(i) ∈ 1, 2, 3 derart, dass ui := a(ki)i ≤ xi < a

(ki+1)i =: vi. Somit ist x ∈ [u, v[.

Die Eindeutigkeit von u beweist außerdem, dass obige Vereinigung disjunkt ist. Daschließlich J = [u, v[ mit u = a(2), v = a(3) ist, folgt, dass I\J die Vereinigung von maximal3d − 1 disjunkten Quadern ist. (Es sind 3d − 1 Quader, wenn a(1) C a(2) C a(3) C a(4).)

(γ) Sei F ∈ Fd, d.h. F = I1 ∪ · · · ∪ In mit Ii ∈ Id. Dann ist rein mengentheoretisch

F = I1 ∪ [I2\I1] ∪ [(I3\I1) ∩ (I3\I2)] ∪ · · · ∪ [(In\I1) ∩ (In\I2) ∩ · · · ∩ · · · (In\In−1)].

Das ist eine Vereinigung von n Mengen, die offenbar paarweise disjunkt sind. Jede dieserMengen ist eine Vereinigung von paarweise disjunkten Quadern, da jede der DifferenzenIk\Il nach (β) eine solche ist. Damit ist F selbst eine Vereinigung von disjunkten Quadern.

(δ) Seien F =⋃mi=1 Ii und G =

⋃nj=1 Jj mit Ii, Jj ∈ Id ∀i, j. Dann ist F\G =

⋃mi=1 (Ii\G) =⋃m

i=1

(Ii\⋃nj=1 Jj

)=⋃mi=1

⋂nj=1 (Ii\Jj). Das zeigt, dass F\G ∈ Fd, weil nach (β) alle Ii\Jj ∈

Fd und Fd nach (α) sowohl ∩–stabil wie ∪–stabil ist.

Die Eigenschaften des Mengensystems Fd geben Anlaß zu folgender allgemeinen Definition.

(4) Ring, Algebra. Seien Ω eine nichtleere Menge und R ⊂ P(Ω). Dann nennt man R einen(Mengen-)Ring auf Ω, wenn

∅ ∈ R

A,B ∈ R ⇒ A\B ∈ R

A,B ∈ R ⇒ A ∪ B ∈ R.

33

Page 34: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Gilt zusatzlich, dass Ω ∈ R, so heißt R eine Algebra auf Ω. — Jeder Ring ist ∩−stabil, dennfur A,B ∈ R ist A∩B = (A∪B)\[((A∪B)\A)∪ ((A∪B)\B)]. — In (3) ist gezeigt, dass Fd einRing auf Rd ist. Jedoch ist Fd keine Algebra, weil Rd keine Figur ist.

(5) Erzeugter Ring. Sei E ⊂ P(Ω). Dann heißt ρ(E) :=⋂

R : R Ring auf Ω,R ⊃ E der vonE erzeugte Ring. — Dazu ist anzumerken, dass P(Ω) offenbar ein Ring ist, der E enthalt. Deshalbist ρ(E) wohldefiniert. Weiter ist ρ(E) ein Ring, wie man direkt uberpruft. Nach Definition istρ(E) in jedem Ring enthalten, der E enthalt. Deshalb ist es der kleinste Ring, der E enthalt.

(6) Lemma. Es ist Fd = ρ(Id).

Beweis. Aus (3) folgt, dass Fd ein Ring ist, der Id enthalt. Deshalb gilt ρ(Id) ⊂ Fd. Da ρ(Id)∪–stabil ist, folgt aus der Definition von Fd, dass ρ(Id) ⊃ Fd.

——————————————————————————————————————————Kurze Wiederholung

Seien a, b ∈ Rd. Die Menge [a, b[=x ∈ Rd : ai ≤ xi < bi ∀i

=

∏di=1[ai, bi[ heißt halb-

offener Quader. Die Menge aller halboffenen Quader wird mit Id bezeichnet.

Eine Figur ist eine Menge, die Vereinigung von endlich vielen halboffenen Quadern ist. DieMenge aller Figuren wird mit Fd bezeichnet.

Fd ist ein Mengenring, d.h. es gelten: ∅ ∈ Fd und F,G ∈ F ⇒ F ∪G ∈ F , F\G ∈ Fd.

Abstrakte Definition eines Mengenrings und des von einer Menge E von Teilmengen er-zeugten Rings ρ(E) ⊂ P(Ω). Es ist Fd = ρ(J d).

Elementarinhalt auf J d: λ0([a, b[) =∏di=1(bi − ai).

—————————————————————————————————————————–

(7) Inhalt, Maß. Seien R ein Ring auf Ω und A,B, An aus R fur n ∈ N. Dann heißt

(a) λ : R → [0,∞] ein Inhalt auf R, wenn

• λ(∅) = 0

• A ∩ B = ∅ ⇒ λ(A ∪ B) = λ(A) + λ(B).

(b) µ : R → [0,∞] ein Maß auf R, wenn

• µ(∅) = 0

• An ∩Am = ∅ fur n 6= m und⋃nAn ∈ R ⇒ µ

(⋃n∈NAn

)=

∑∞n µ(An).

Ein Inhalt ist additiv, ein Maß ist σ–additiv. — Beim Rechnen mit Inhalten oder Maßen istFolgendes zu bemerken.

a+ ∞ = ∞ + a = ∞ fur a ∈ R ∪ ∞.

34

Page 35: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Falls µ(An0) = ∞ fur ein n0 ∈ N ist

∑∞n=1 µ(An) = ∞. Weil alle µ(An) ≥ 0, kommt es

bei der Summation nicht auf die Reihenfolge der Summanden nicht an.

In Hinblick auf die σ–Additivitat eines Maßes beachte man, dass die Vereinigung⋃nAn

von disjunkten An ∈ R i. allg. kein Element von R ist, wie z.B. R /∈ F1 obwohl R =⋃∞n=1([−n,−n+ 1[∪ [n− 1, n]).

Jedes Maß ist ein Inhalt. Denn sind A, B ∈ R disjunkt, setze man A1 := A, A2 = B

und An := ∅ ∀n ≥ 3. Dann sind An ∈ R, n ∈ N disjunkt mit⋃nAn = A ∪ B und

µ (⋃nAn) =

∑∞n=1 µ(An) = µ(A) + µ(B).

Vielfach wird ein Maß auf einem Ring R ein Pramaß genannt und nur fur den Fall, dass Reine σ−Algebra (s.u.) ist, als Maß bezeichnet.

(8) Lemma. Seien R ein Ring, λ ein Inhalt und A,B,A1, · · · , An ∈ R. Dann gelten

λ(A ∪ B) + λ(A ∩ B) = λ(A) + λ(B)

A ⊂ B ⇒ λ(A) ≤ λ(B) Monotonie

λ (⋃ni=1Ai) ≤

∑ni=1 λ(Ai) Subadditivitat

Beweis. Wir benutzen mehrfach die Additivitat und die Nichtnegativitat.

• A∪B = A∪(B\(A∩B)) ⇒ λ(A∪B)+λ(A∩B) = λ(A)+λ(B\(A∩B))+λ(A∩B) = λ(A)+λ(B).

• B = A ∪ (B\A) ⇒ λ(B) = λ(A) + λ(B\A) ≥ λ(A).

• Den dritten Punkt zeigen wir mit Induktion nach n. Der Induktionsanfang n = 1 ist offensicht-lich richtig. Es folgt der Induktionsschluß : λ

(⋃n+1i=1 Ai

)= λ (

⋃ni=1Ai ∪An+1) ≤ λ

(⋃n+1i=1 Ai

)+

λ(An+1) ≤∑ni=1 λ(Ai) + λ(An+1).

(9) Definition. Ein Inhalt λ auf dem RingR heißt σ−endlich, wenn An ∈ R, n ∈ N, existierenmit λ(An) < ∞ und

⋃n∈NAn = Ω.

(10) Lemma. Es existiert genau ein Inhalt λ auf dem Ring Fd der d-dimensionalen Figuren,der den Elementarinhalt λ0 auf Id fortsetzt. Es folgt, dass λ(Fd) ⊂ [0,∞[ und λ σ–endlich ist.

Beweis. Zunachst wird die Eindeutigkeit, Endlichwertigkeit und σ−Endlichkeit von λ nachge-wiesen. Sei F ∈ Fd. Nach (3)(γ) existieren disjunkte Ii ∈ Id, i = 1, · · · , n mit F =

⋃ni=1 Ii.

Damit ist λ(F) =∑ni=1 λ(Ii) =

∑ni=1 λ0(Ii) < ∞. Hieraus ersieht man, dass λ eindeutig durch λ0

bestimmt ist und endlichwertig ist. Wegen An := [−n,n[d∈ Id,⋃nAn = Rd folgt zudem, dass

λ σ−endlich ist.Jetzt zeigen wir die Existenz von λ. Sei wieder F =

⋃ni=1 Ii ∈ Fd mit disjunkten Ii ∈ Id.

Setze

λ(F) :=

n∑i=1

λ0(Ii).

35

Page 36: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Jedoch ist λ genau dann wohldefiniert, wenn jede weitere solche Darstellung F =⋃mj=1 Jj das

gleiche Ergebnisn∑i=1

λ0(Ii) =

m∑j=1

λ0(Jj) (?)

liefert. Außerdem ist, wenn (?) gilt, λ bereits ein Inhalt. Denn erstens ist λ(∅) = λ0(∅) = 0.Sind zweitens F, F ′ ∈ Fd disjunkt mit Darstellungen F =

⋃i Ii, F

′ =⋃i I′j mittels disjunkter

Ii, I′j ∈ Id, dann ist F ∪ F ′ =

⋃i Ii ∪

⋃j I′j eine disjunkte Vereinigung und daher λ(F ∪ F ′) =∑

i λ0(Ii) +∑j λ0(I

′j) = λ(F) + λ(F ′) nach (?). Schließlich folgt die Eigenschaft (?) aus dem

Spezialfall

λ0(H) =

l∑k=1

λ0(Hk) (??)

fur alle H =⋃lk=1Hk mit H,Hk ∈ Id und disjunkten Hk. Denn es ist Ii = Ii ∩ F = Ii ∩

⋃mj=1 Jj =⋃m

j=1(Ii ∩ Jj) mit disjunkten Ii ∩ Jj ∈ Id nach (3)(α). Damit ist λ0(Ii)(??)=

∑j λ0(Ii ∩ Jj) und

somit∑i λ0(Ii) =

∑i

∑j λ0(Ii ∩ Jj) =

∑j

∑i λ0(Ii ∩ Jj)

(??)=

∑j λ0(Jj).

Damit bleibt (??) zu zeigen. Seien H = [a, b[ mit aCb und Hk = [a(k), b(k)[ mit a(k)Cb(k) furk = 1, · · · , l. Fur jedes i ∈ 1, · · · , d setze Zi :=

⋃lk=1a

(k)i ∪ b

(k)i . Fur α ∈ Zi mit α < maxZi

sei α := min β ∈ Zi : β > α. Damit ist α das zu α nachstgroßere Element in Zi.Sei nun k ∈ 1, . . . , l fest. Zerschneide Hk langs der Ebenen durch die Quaderflachen aller

Quader. Wir zeigen, dass

Hk =⋃

[u, u [ : u ∈ Hk mit ui ∈ Zi ∀i

und dass die Vereinigung disjunkt ist, wobei (u)i := ui :

“ ⊃ “ u ∈ Hk ⇒ ui < b(k)i ∀ i; ui ∈ Zi, b

(k)i ∈ Zi ⇒ ui ≤ b

(k)i . Daraus folgt [u, u[∈ Hk.

“ ⊂ “ x ∈ Hk ⇒ a(k)i ≤ xi < b

(k)i ∀i; a

(k)i , b

(k)i ∈ Zi ⇒ ∃1 αi ∈ Zi: a

(k)i ≤ αi ≤ xi < αi ≤ b

(k)i .

Daraus folgt u := (αi) ∈ Hk und x ∈ [u, u [.

Die Disjunktheit der Quader [u, u [ folgt aus obiger Eindeutigkeit der u.

Mit Ek := u ∈ Hk : ui ∈ Zi ∀i = 1, . . . , d und Zik := α ∈ Zi : a(k)i ≤ α < b(k)

i folgt

∑u∈Ek

λ0([u, u [) =∑u∈Ek

d∏i=1

(ui − ui)(1)=

d∏i=1

∑α∈Zik

(α− α)(2)=

d∏i=1

(b(k)i − a

(k)i ) = λ0(Hk).

Dabei gilt (2), weil die Summe davor eine Teleskopsumme ist. Die Gleichheit (1) folgt aus einerallgemeinen Formel, die am Ende des Beweises erklart wird. Weil H =

⋃kHk, sind ai, bi ∈ Zi ∀i

und es gilt mit E := u ∈ H : ui ∈ Zi ∀i = 1, . . . , d ebenso∑u∈E

λ0([u, u [) = λ0(H).

Wegen E =⋃lk=1 Ek ist λ0(H) =

∑u∈E λ0([u, u [) =

∑lk=1

∑u∈Ek

λ0([u, u [) =∑lk=1 λ0(Hk).

36

Page 37: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Die zur Gleichheit (1) erwahnte Formel lautet

d∏i=1

∑γ∈Ci

γ =∑c∈C

d∏i=1

ci,

wobei Ci ⊂ C fur i = 1, · · · , d endliche Mengen sind und C := C1 × · · · × Cd. Denn dasAusmultiplizieren des Produktes

(∑γ∈C1

γ)·(∑

γ∈C2γ)· · ·(∑

γ∈Cdγ)

bedeutet, ein c ∈ C zuwahlen, das Produkt

∏i ci zu bilden und anschließend alle diese Produkte aufzusummieren.

(11) Satz. Der Inhalt λ aus (10) ist ein Maß auf Fd.

Beweis. Es wird zunachst die φ−Stetigkeit von λ gezeigt, d.h. ist (Fn) eine absteigende Folgeaus Fd, d.h. F1 ⊃ F2 ⊃ F3 ⊃ . . . , wofur δ := limn→∞ λ(Fn) > 0 ist, dann gilt

⋂n Fn 6= ∅.

Jedes Fn ist eine endliche disjunkte Vereinigung von [a, b[∈ Id\ ∅. Ersetzt man jedes [a, b[

durch ein kleineres [a, c[ mit c ∈ [a, b[, erhalt man eine neue Figur Gn, die Gn ⊂ Fn erfullt. DieVerkleinerung von Fn auf Gn sei dabei so gering, dass

λ(Fn) − λ(Gn) ≤ 2−nδ. (?)

Da Gn ⊂ Fn beschrankt ist, ist Gn kompakt. Es genugt zu zeigen, dass⋂mi=1Gi 6= ∅ ∀m, denn

dann folgt aus der endlichen Durchschnittseigenschaft (siehe nach (2.8))

∅ 6=⋂n

Gn ⊂⋂n

Fn.

Angenommen⋂mi=1Gi = ∅ fur ein m. Dann gilt Fm = Fm\

⋂mi=1Gi ⊂ (Fm\Gm) ∪ · · · ∪ (F1\G1).

Mit (8) und (?) folgt der Widerspruch δ ≤ λ(Fm) ≤ λ(Fm\Gm) + · · ·+ λ(F1\G1) ≤ (2−m + · · ·+2−1)δ < δ. Die σ−Additivitat von λ folgt nun aus der φ−Stetigkeit nach folgendem Lemma.

(12) Lemma. Seien R ein Ring und λ ein Inhalt auf R. Dann ist λ ein Maß, wenn λ φ–stetigist, d.h. wenn fur jede absteigende Folge (An) in R mit

⋂nAn = ∅ gilt limn→∞ λ(An) = 0.

Beweis. Zu zeigen ist die σ–Additivitat von λ. Seien also An ∈ R, n ∈ N disjunkt mit A :=⋃nAn ∈ R. Die Folge der Bn := A\

⋃ni=1Ai ∈ R ist offenbar absteigend mit

⋂n Bn = ∅. Damit

gilt λ(A) = λ(Bn) + λ (⋃ni=1Ai) = λ(Bn) +

∑ni=1 λ(Ai)

n→∞−→ ∑∞i=1 λ(Ai), weil λ(Bn) → 0 wegen

der φ−Stetigkeit von λ.

Ub Man zeige: Ist µ ein Maß auf dem Ring R mit µ(R) ⊂ [0,∞[, dann ist µ φ−stetig. Manfinde ein Gegenbeispiel dazu fur den Fall, dass µ(R) 6⊂ [0,∞[.

Elementare geometrische Mengen M wie Kreise, Kugeln, Zylinder etc., aber auch abzahlbarePunktmengen wie die rationalen Zahlen und andere kompliziertere aber konstruierbare Mengenwie das Cantorsche Diskontinuum sind keine Figuren und ihnen kann bislang keine Maßzahlλ(M) zugeordnet werden. Das Mengensystem der zu messenden Mengen muss daher uber denRing der Figuren hinaus erweitert werden. Wie sich herausstellt, ist das adaquate Mengensystemhierfur die vom Ring der Figuren erzeugte σ–Algebra.

(13) σ–Algebra. Eine Menge von Teilmengen A ⊂ P(Ω) heißt σ−Algebra auf Ω, wenn

37

Page 38: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

∅ ∈ A

A ∈ A ⇒ Ω\A ∈ A

(An) Folge in A ⇒ ⋃nAn ∈ A.

Ub Zeigen Sie:

Eine σ–Algebra A ist stabil gegenuber abzahlbaren (auch endlichen) Vereinigungen undDurchschnitten, gegenuber Differenzbildung und Bildung der symmetrischen Differenz.Dabei ist A4B := (A\B) ∪ (B\A) die symmetrische Differenz von A und B.

Jede σ–Algebra ist auch eine Algebra.

P(Ω) und ∅,Ω sind die großte bzw. kleinste σ–Algebra auf Ω.

(14) Bemerkung. Sei A eine σ−Algebra. Dann ist A ein Ring und µ : A → [0,∞] ist ein Maßgenau dann, wenn µ(∅) = 0 und µ (

⋃nAn) =

∑n µ(An) fur jede Folge (An) disjunkter Mengen

in A. Man braucht⋃nAn ∈ A nicht extra zu fordern. Vgl. (7)(b).

(15) Erzeugte σ–Algebra. Sei E ⊂ P(Ω). Dann heißt σ(E) :=⋂

A : A σ–Algebra,A ⊃ E

die von E erzeugte σ–Algebra (vgl. (5)). Es ist die kleinste σ–Algebra, die E enthalt, dennzunachst ist σ(E) definiert, weil P(Ω) eine σ–Algebra ist, die E enthalt. Weiter ist σ(E) eineσ–Algebra, was man leicht nachpruft. Sie enthalt offenbar E und definitionsgemaß ist σ(E) injeder σ–Algebra enthalten, die E enthalt.

Ub Zeigen Sie:

E ⊂ P(Ω) ⇒ ρ(E) ⊂ σ(E).

A ist eine σ−Algebra ⇒ σ(A) = A.

E = A ⇒ σ(E) = ∅, A,Ω\A,Ω.

E = A ⊂ Ω : A einpunktig ⇒ σ(E) = A ⊂ Ω : A oder Ω \A ist abzahlbar.

(16) Borel Mengen. Bezeichne T d die Menge der offenen Teilmengen von Rd (d.i. die Topo-logie auf Rd). Dann heißt Bd := σ(T d) die σ–Algebra der Borel Mengen von Rd.

(17) Satz. Seien Cd und Kd die Menge der abgeschlossenen bzw. kompakten Teilmengen vonRd. Dann gilt

Bd = σ(Cd) = σ(Kd) = σ(Fd) = σ(Id).

38

Page 39: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Beweis. Zunachst gilt mit (6): Id ⊂ Fd = ρ(Id) ⊂ σ(Id) ⇒ σ(Fd) = σ(Id). Weiter ist A ⊂ Rdgenau dann offen, wenn Rd\A abgeschlossen ist. Daher folgt Bd = σ(T d) = σ(Cd). — Nunsei A abgeschlossen. Dann ist A =

⋃nAn mit kompakten An := A ∩ [−n,n]d. Daher folgt:

Kd ⊂ Cd ⊂ σ(Kd) ⇒ σ(Kd) = σ(Cd).Es bleibt also noch zu zeigen, dass σ(Id) = Bd. Seien a, b ∈ Rd. Mit a(n)

i := ai + 1n ∀i

folgt, dass der offene Quader ]a, b[=⋃n[a(n), b[∈ σ(Id). Sei nun A offen. Dann ist offenbar

A =⋃

]a, b[: a, b ∈ Qd, ]a, b[⊂ A

eine abzahlbare Vereinigung offener Quader. Zusammenfolgt, dass A ∈ σ(Id) fur alle offenen A und somit Bd ⊂ σ(Id). — Der abgeschlossene Quader[a, b] ist eine abgeschlossene Menge. Hyperflachen sind auch abgeschlossen. Daher ist [a, b[=

[a, b]\⋃di=1 x : xi = bi ∈ σ(Cd). Damit ist σ(Id) ⊂ σ(Cd) = Bd.

Die Aufgabe, die sich jetzt stellt, ist die Fortsetzung des Maßes λ auf Fd zu einem Maß auf Bd.Dazu geht man zunachst zu dem auf der gesamten Potenzmenge definierten außeren Maß uber.Dieses ist σ–subadditiv aber nicht generell σ–additiv. Das folgende Lemma gibt die allgemeineKonstruktionsmethode an. Entscheidend ist dabei die Verwendung von abahlbar unendlichenUberdeckungen.

(18) Außeres Maß. Sei E ⊂ P(Ω) mit ∅ ∈ E und ϕ : E → [0,∞] mit ϕ(∅) = 0. Fur A ⊂ Ωsetze

ϕ∗(A) := inf

∞∑n=1

ϕ(En) : En ∈ E ,⋃n

En ⊃ A

,

wobei ϕ∗(A) := ∞ falls A nicht in einer abzahlbaren Vereinigung von Mengen aus E enthaltenist. Dann ist ϕ∗ ein außeres Maß, denn ϕ∗ : P(Ω) → [0,∞] erfullt fur A, B, An ⊂ Ω, n ∈ N:

(i) ϕ∗(∅) = 0

(ii) ϕ∗(A) ≤ ϕ∗(B) falls A ⊂ B (Monotonie)

(iii) ϕ∗(⋃nAn) ≤

∑nϕ

∗(An) (σ–Subadditivitat).

Beweis. (i) und (ii) sind offensichtlich. Zum Nachweis von (iii) kann sofort angenommen werden,dass ϕ∗(An) < ∞ ∀n. Sei ε > 0 vorgegeben. Dann existiert fur jedes n eine Folge (Enm)m inE mit An ⊂

⋃m Enm und ϕ∗(An) ≥

∑mϕ(Enm) − 2−nε. Dann gilt

⋃nAn ⊂

⋃nm Enm und

ϕ∗(⋃nAn) ≤

∑nmϕ(Enm) =

∑n

∑mϕ(Enm) ≤

∑n (ϕ∗(An) + 2−nε) =

∑nϕ

∗(An) + ε.

(19) Lebesgue–Borel Maß. Setze λd : Bd −→ [0,∞],

λd(B) := inf

∞∑n=1

λ0(In) : In ∈ Id,⋃n

In ⊃ B

.

Dabei ist das Infimum erklart, da B ⊂⋃n In mit In := [−n,n[d. Dann ist λd ein Maß auf Bd.

Es ist die einzige Fortsetzung des Elementarinhaltes λ0 auf Id zu einem Maß auf Bd. λd heißtdas Lebesgue-Borel Maß (LB–Maß) auf Rd.

Beweis. Wegen (3)(γ) ist λd(B) = inf∑∞

n=1 λ(Fn) : Fn ∈ Fd,⋃n Fn ⊃ B

. Demnach ist λd =

λ∗|Fd mit λ aus (10) gemaß (18). — In der allgemeinen Theorie zur Fortsetzung von Maßen

39

Page 40: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

nach C. Caratheodory wird nun gezeigt, dass fur jedes außere Maß ω (d.i. eine monotone σ–subadditive Funktion auf P(Ω) mit ω(∅) = 0, vgl. (18))

Aω := A ⊂ Ω : ω(S) = ω(S ∩A) +ω(S \A) ∀S ⊂ Ω

eine σ–Algebra, die sog. σ–Algebra der ω–messbaren Mengen ist und dass ω|Aω ein Maßist. Im Fall, dass ω = λ∗ ist, wobei λ ein Maß auf einem Ring R ist und λ∗ gemaß (18) gebildetwird, beweist man, dass λ∗|R = λ und σ(R) ⊂ Aλ∗ ist. Damit erhalt man eine Fortsetzung desMaßes λ auf R zu einem Maß λ∗|σ(R) auf σ(R). Außerdem ist diese Fortsetzung eindeutig, wennλ σ–endlich ist.— Da λ aus (10) die eindeutige Fortsetzung des Elementarinhalts λ0 auf Fd ist,σ–endlich ist und nach (11) ein Maß ist, folgt daraus die Behauptung.

Es werden jetzt wichtige Eigenschaften des Lebesgue–Borel Maßes untersucht. Dabei werdendazu auch einige allgemeine Begriffsbildungen und Konzepte eingefuhrt.

(20) Nullmenge. Sei λ ein Inhalt auf dem Ring R. Dann heißt A ∈ R eine (λ–)Nullmenge,wenn λ(A) = 0.

(21) Lemma. Sei µ ein Maß auf einer σ−Algebra. Dann ist µ σ−subadditiv, d.h. µ (⋃nAn) ≤∑

n µ(An) fur beliebige An ∈ A, n ∈ N. Insbesondere ist die Vereinigung abzahlbar vieler Null-mengen eine Nullmenge.

Beweis. Setze C1 := A1, Cn := An\⋃n−1i=1 Ai fur n ≥ 2. Dann ist A :=

⋃nAn =

⋃nCn eine

disjunkte Vereinigung und Cn ⊂ An ∀n. Damit folgt µ(A) =∑n µ(Cn) ≤

∑n µ(An).

(22) Lemma.

Ist B ∈ Bd beschrankt, dann ist λd(B) < ∞.

Fur α ∈ R, i0 ∈ 1, · · · , d sei H :=x ∈ Rd : xi0 = α

eine Hyperebene orthogonal zur

i0−Koordinatenachse. Dann ist λd(H) = 0, d.h. H ist eine λd-Nullmenge.

Ist A ⊂ Rd abzahlbar, dann ist λd(A) = 0.

Fur a, b ∈ Rd ist λd([a, b[) = λd(]a, b]) = λd([a, b]) = λd(]a, b[) =∏di=1(bi − ai).

Beweis. Seien a, b ∈ Rd mit B ⊂ [a, b[. Damit folgt λd(B) ≤ λd([a, b[) < ∞.

Es ist H ∈ Bd, weil H abgeschlossen ist. Dann ist Hn := H∩ [−n,n[d∈ Bd mit⋃nHn = H.

Nach (21) genugt es zu zeigen, dass λd(Hn) = 0 ∀ n. Fur m ∈ N ist Hn0⊂ Im :=

x ∈ Rd : −n0 ≤ xi < n0 ∀ i 6= i0, α ≤ xi0 < α+ 1m

∈ Id. Es folgt wieder mit Benutzung

der Monotonie λd(Hn0) ≤ λd(Im) = (2n0)

d−1 1m → 0 fur m → ∞.

Es ist A =⋃a∈A a eine abzahlbare Vereinigung abgeschlossener Mengen. Deshalb ist

A ∈ Bd. Weiter ist λd(a) ≤ λd(H) = 0 mit irgendeiner Hyperebene H durch a. Damit istλd(A) = 0 nach (21).

40

Page 41: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Da [a, b[∈ Id, ]a, b[ offen und [a, b] abgeschlossen ist, sind diese Mengen in Bd enthalten.Weiter ist ]a, b] =]a, b[∩[a, b] fur b C b, weshalb auch ]a, b] ∈ Bd. Da λd monoton ist,genugt es zu zeigen, dass λd([a, b]) ≤ λd(]a, b[). Nun gilt [a, b] ⊂ ]a, b[∪N mit N :=⋃di=1 x : xi = ai ∪

⋃di=1 x : xi = bi, wobei N nach obigem eine Nullmenge ist.

(23) Messraum, Maßraum, Messbarkeit. Man nennt (Ω,A) einen Messraum, wenn Ω

eine Menge und A eine σ–Algebra auf Ω ist. Die Mengen A ∈ A heißen messbar. Ist µ ein Maßauf der σ–Algebra A, dann heißt (Ω,A, µ) ein Maßraum. Seien (Ω,A), (Ω ′,A ′) Messraumeund T : Ω → Ω ′ eine Abbildung. Diese heißt (A,A ′)–messbar, kurz messbar, wenn T−1(A ′) ∈A ∀ A ′ ∈ A, oder kurz

T−1(A ′) ⊂ A

gilt, d.h. wenn das Urbild einer messbaren Menge messbar ist. Man vergleiche diese Definitionmit der Eigenschaft einer stetigen Abbildung, wonach das Urbild einer offenen Menge offen ist.

Ub Zeigen Sie: T konstant ⇒ T messbar.

(24) Satz. Sei E ′ ein Erzeuger von A ′, d.h. σ(E ′) = A ′. Dann gilt:

T : Ω → Ω ′ messbar ⇐⇒ T−1(E ′) ⊂ A.

Beweis. Weil T−1 alle mengentheoretischen Operationen erhalt, ist S ′ :=S ′ ⊂ Ω ′ : T−1(S ′) ∈ A

eine σ–Algebra auf Ω ′. Daher gilt: T messbar ⇔ A ′ ⊂ S ′ ⇔ E ′ ⊂ S ′.

(25) Stetig, borelsch. Ist T : Rd → Rd ′ stetig, dann ist T (Bd,Bd ′)–messbar, kurz Borelmessbar oder borelsch genannt.

Beweis. Die Aussage gilt nach (24), weil Bd ′ = σ(T d ′), T−1(T d ′) ⊂ T d ⊂ Bd.

Ub Man zeige: Sind T1 : (Ω1,A1) → (Ω2,A2), T2 : (Ω2,A2) → (Ω3,A3) beide messbar, dannist T2 T1 messbar.

(26) Bildmaß. Seien T : (Ω,A) → (Ω ′,A ′) messbar und µ ein Maß auf Ω. Dann ist A ′ →[0,∞], A ′ 7→ µ(T−1(A ′)) ein Maß auf A ′. Es heißt das Bildmaß von µ unter T und wird mitT(µ) bezeichnet.

Beweis. Wir prufen die Eigenschaften eines Maßes fur T(µ) nach. Zunachst ist T(µ)(∅) Def=

µ(T−1(∅)) = µ(∅) = 0. — Seien nun A ′n ∈ A ′, n ∈ N disjunkt. Dann sind T−1(A ′

n) ∈ A disjunktund T(µ)(

⋃nA

′n)

Def= µ(T−1(

⋃nA

′n)) = µ(

⋃n T

−1(A ′n)) =

∑n µ(T−1(A ′

n)) =∑n T(µ)(A ′

n).Damit ist T(µ) σ–additiv.

41

Page 42: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Ub Man weise die Transitivitat fur Bildmaße nach: T2 T1(µ) = T2(T1(µ)).

(27) Translationsinvarianz von λd. Sei a ∈ Rd und Ta : Rd → Rd, Ta(x) := x + a dieTranslation um a. Sie ist stetig und damit messbar. Es gilt:

Ta(λd) = λd.

Es folgt λd(a+ B) = λd(B) ∀B ∈ Bd ∀a ∈ Rd.

Beweis. Offenbar ist Ta(λd)([b, c[) = λd(T−1a ([b, c[)) = λd([b − a, c − a[) =

∏di=1[(bi − ai) −

(ci − ai)] =∏di=1(bi − ci) = λ0([b, c[) ∀b, c ∈ Rd. Folglich ist Ta(λd)|Id = λ0. Mit (19) folgt

Ta(λd) = λd.

(28) Skalierung. Seien α1, . . . , αd ∈ R\ 0 und D : Rd → Rd, D(x) := (α1x1, . . . , αdxd). Dadie Abbildung D stetig ist, ist sie messbar. Es gilt:

D(λd) = |α1 · · ·αd|−1λd.

Sind speziell α1 =. . .= αd = α, dann ist D eine Dilatation (oder Homothetie) und es giltD(λd) = |α|−dλd. Damit folgt λd(αB) = |α|dλd(B) ∀ α ∈ R ∀ B ∈ Bd.

Beweis. Fur das Maß µ := |α1 · · ·αd|D(λd) rechnet man leicht nach, dass µ|Id = λ0. Mit (19)folgt µ = λd, woraus sich die Behauptung ergibt.

(29) Translationsinvariante Maße. Fur den halboffenen Einheitswurfel W := [0, 1[d des Rdgilt λd(W) = 1. Sei α > 0. Dann ist µ := αλd offenbar ein translationsinvariantes Maß auf Bd(d.h. µ(a+B) = µ(B)∀a ∈ Rd ∀B ∈ Bd) mit µ(W) = α. Es gilt folgende Umkehrung: Ist µ eintranslationsinvariantes Maß auf Bd mit 0 < µ(W) < ∞ dann gilt

µ = αλd mit α := µ(W).

Beweisidee. O.E. sei α = 1, sonst betrachte man 1α µ. Man zeigt µ([a, b[) = λd([a, b[) ∀aCb fur

a, b ∈ Qd, indem man W und [a, b[ in kongruente achsenparallele Wurfel mit rationalen Eckenzerschneidet. Der Rest folgt durch Approximation.

Ub Man fuhre die Beweisidee zu (29) aus.

(30) Drehspiegelunsinvarianz von λd. Sei O : Rd → Rd eine lineare Bijektion, die dieVollkugel K := x ∈ Rd : ‖x‖2 ≤ 1 invariant laßt, d.h. O(K) = K. Das ist eine orthogonaleTransformation bestehend aus einer Drehung und (eventuell) einer Spiegelung. Dann gilt dieDrehspiegelungsinvarianz

O(λd) = λd.

Es folgt λd(OB) = λd(B) fur alle B ∈ Bd und alle Drehspiegelungen O.

42

Page 43: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Beweis. Wir zeigen, dass O(λd) translationsinvariant ist: Ta(O(λd))(B) = O(λd)(T−1a (B)) =

O(λd)(B−a) = λd(O−1(B−a)) = λd(O−1B−O−1a) = λd(O−1B) = O(λd)(B), wobei die Trans-lationsinvarianz von λd genutzt wurde. Also ist in der Tat Ta(O(λd)) = O(λd).

Um (29) anwenden zu konnen, muß noch O(λd)(W) = 1 gezeigt werden. Weil O−1W be-schrankt ist, folgt O(λd)(W) = λd(O−1W) < ∞. Weil O−1W offenbar einen nichtleeren halb-offenen Quader Q enthalt, folgt O(λd)(W) = λd(O−1W) ≥ λd(Q) > 0. Somit ergibt (29), dassO(λd) = αλd fur ein geeignetes α ∈]0,∞[. Zu zeigen bleibt α = 1. Fur die Vollkugel K gilt wiefur O−1W, dass 0 < λd(K) < ∞. Jetzt folgt α = 1 aus αλd(K) = O(λd)(K) = λd(O−1K) =

λd(K).

(31) Satz. Sei T : Rd → Rd eine lineare Bijektion. Es folgt T(λd) = | det(T)|−1λd.

Beweis. Aus der bekannten Polarzerlegung T = OS einer Matrix T ∈ Rd×d mit einer orthogona-len Matrix O und einer positiven symmetrischen Matrix S, folgt durch Diagonalisierung von Sdie Darstellung T = O1DO2, wobei O1, O2 orthogonale Matrizen und D eine Diagonalmatrix ist.Dann ist | det(T)| = det(D). Die Behauptung folgt nun aus (30) und (28) und der Transitivitatder Bildmaße.

(32) Vervollstandigung eines Maßraums. Seien µ ein Maß auf der σ–Algebra A und J :=

Q ⊂ Ω : Q ist Teilmenge einer µ–Nullmenge. Dann ist

A := A0 ∪Q : A0 ∈ A, Q ∈ J

eine σ–Algebra, die A enthalt. Die Mengenfunktion µ : A → [0,∞], µ(A0 ∪ Q) := µ(A0), istein wohldefiniertes Maß auf A, welches µ fortsetzt. Jede Teilmenge einer µ−Nullmenge ist eineµ−Nullmenge. Man nennt A und µ die Vervollstandigung von A bzw. von µ.

Beweis. Der Beweis bietet keine Schwierigkeiten. Z. B. gilt Ω \ A ∈ A fur A ∈ A. Denn istA = A0 ∪Q mit A0 ∈ A und Q ⊂ N fur N ∈ A mit µ(N) = 0, dann ist Ω \ A = A ′

0 ∪Q ′ mitA ′0 := Ω \ (A0 ∪N) ∈ A und Q ′ := N \ (Q ∪A0) ∈ J . — Zum Nachweis der Wohldefiniertheit

von µ sei A = A0 ∪ Q = A ′0 ∪ Q ′. Dann ist A0 \ (N ∪ N ′) = A ′

0 \ (N ∪ N ′) und daherµ(A) = µ(A0) = µ(A0 \ (N ∪ N ′)) = µ(A ′

0 \ (N ∪ N ′)) = µ(A ′0). — Die ubrigen Teile der

Behauptung folgen ebenso einfach.

(33) Lebesgue Maß. Die Vervollstandigung Bd von Bd bez. des LB-Maßes λd heißt die σ–Algebra der Lebesgue messbaren Mengen. Entsprechend heißt λd das Lebesgue Maß auf Rd. EineTeilmenge A ⊂ Rd ist also eine Lebesgue messbare Menge genau dann, wenn eine BorelmengeB und eine Teilmenge Q einer Borelmenge N existieren mit λd(N) = 0 und A = B ∪Q. Es giltλd(A) = λd(B).

Man kann zeigen, dass es auch nicht Lebesgue messbare Mengen gibt, also dass Bd 6= P(Rd)gilt.

43

Page 44: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

26 Das Lebesgue Integral

Das Lebesgue Integral bezuglich des Lebesgue Maßes verallgemeinert das Integral fur Regel-funktionen in zweifacher Hinsicht:

es ist fur allgemeinere Funktionen als Regelfunktionen erklart

es erlaubt die Integration von Funktionen mehrerer Variablen.

Das Lebgesgue Integral wird fur einen beliebigen Maßraum (Ω,A, µ) erklart. Das Ziel ist,moglichst vielen Funktionen f : Ω → R ∪ −∞,∞ einen ”Mittelwert“

∫fdµ zuzuordnen, der

linear und positiv ist:

∫(f+ αg)dµ =

∫fdµ+ α

∫gdµ

∫fdµ ≥ 0 fur f ≥ 0.

(1) ±Unendlich. Fur die kompaktifizierte Zahlengerade R := R ∪ −∞,∞ = [−∞,∞] giltdie Anordnung −∞ < a < ∞ ∀a ∈ R. Die Rechenoperationen +, · sind kommutativ mit

a+ (±∞) := ±∞ ∀ a ∈ R

∞ + ∞ := ∞, (−∞) + (−∞) := −∞ a · (±∞) := ±∞ ∀ a ∈]0,∞]

a · (±∞) := ∓∞ ∀ a ∈ [−∞, 0[ 0 · (−∞) := 0, 0 ·∞ := 0

Man beachte, dass gerade die letzte Regel in der Integrationstheorie besonders wichtig ist. DieOperationen ∞ − ∞ und −∞ + ∞ sind nicht definiert. Weiter wird R mit der σ–Algebra derBorelmengen B1 :=

B ⊂ R : B ∩ R ∈ B1

versehen. Eine Funktion f : Ω → R ist messbar, wenn

f−1(B) ∈ A ∀ B ∈ B1.

(2) Indikatorfunktion. Sei A ⊂ Ω. Die Indikatorfunktion 1A zu A ist durch

1A(ω) :=

1 fur ω ∈ A0 fur ω ∈ Ω\A

definiert. — Offenbar gelten fur Indikatorfunktionen die folgenden Aussagen: 1A ≤ 1B ⇔ A ⊂ B,1Ω\A = 1Ω−1A, 1A4B = |1A−1B|, 1S

ιAι= supι 1Aι , 1T

ιAι= infι 1Aι fur beliebigeA, B, Aι ⊂ Ω.

Außerdem ist 1A genau dann messbar, wenn A ∈ A.

44

Page 45: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Fur f : Ω → R und α ∈ R benutzen wir im Folgenden die abkurzende Schreibweise f ≥ α :=

ω ∈ Ω : f(ω) ≥ α = f−1([α,∞]). Entsprechend werden < α, > α, ≤ α, = α anstelle von ≥ αverwendet.

(3) Messbarkeitskriterium. Sei f : (Ω,A) → R. Dann sind aquivalent:

(a) f messbar

(b) f ≥ α ∈ A ∀ α ∈ Q

(c) f > α ∈ A ∀ α ∈ Q

(d) die Ausagen in (b) und (c), wobei ≤ und < anstelle von ≥ bzw. > steht.

Beweis. Da f ≥ α = f−1([α,∞]) und [α,∞] ∈ B1, folgen (b), (c) und (d) unmittelbar aus (a).— Nun zeigen wir die Implikation (b) ⇒ (a). Zunachst folgen f−1(∞) =

⋂n∈N f ≥ n ∈ A und

f−1(−∞) =⋂n∈N f < −n =

⋂n∈NΩ\ f ≥ −n ∈ A. Fur a, b ∈ R mit a < b gelten [a, b[=

[a,∞]\[b,∞] und [a,∞] =⋂α∈Q,α≤a[α,∞]. Weil f−1 alle mengentheoretischen Operationen

erhalt, folgt damit mit (b), dass f−1([a, b[) ∈ A. Schließlich ist f messbar nach (25.24), weil B1von J 1 ∪ ∞ ∪ −∞ erzeugt wird. — Die ubrigen Teile der Behauptung konnen auf diesenzuruckgefuhrt werden oder direkt in analoger Weise bewiesen werden.

Ub Man beweise die ubrigen Teile der Behauptung von (3).

(4) Lemma. Seien f, g : (Ω,A) → R messbar. Dann liegt jede der Mengen f < g, f ≤ g,f = g, f 6= g in A.

Beweis. Nach (3) ist f < g =⋃α∈Q f < α ∩ α < g ∈ A. Die restlichen Aussagen folgen

ahnlich.

(5) Satz. Seien f, g : (Ω,A) → R messbar. Dann ist f + g messbar, falls f + g uberall auf Ωdefiniert ist. Weiter ist f · g messbar.

Beweis. Da f+ g ≥ α = f ≥ α− g fur α ∈ R gilt (auch falls g(ω) = ±∞), folgt aus (4), dassf+ g ≥ α ∈ A ∀ α ∈ R. Aus (3) folgt die Messbarkeit von f + g. — Die Messbarkeit von f · gbeweist man ahnlich.

Ub Zeigen Sie in (5), dass f · g messbar ist.

(6) Satz. Seien fn : (Ω,A) → R messbar, n ∈ N. Dann sind sup fn, inf fn, lim supn fn, lim infn fnmessbar. Dabei sind diese Funktionen punktweise definiert, z.B. ∀ω ∈ Ω : (sup fn)(ω) =

sup fn(ω).

45

Page 46: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Beweis. Nach (3) ist s := sup fn messbar, weil s ≤ α =⋂n fn ≤ α ∈ A ∀ α ∈ R. Damit

ist auch inf fn = − sup(−fn) messbar wegen (5). Da lim supn→∞ fn = infn supm≥n fm undlim infn→∞ fn = supn infm≥n fm, folgt schließlich daraus die Messbarkeit von lim supn fn undlim infn fn.

(7) Satz. Seien fn : (Ω,A) → R messbar, n ∈ N. Existiert der punktweise Limes limn fn in R,so ist dieser messbar.

Beweis. Wegen limn fn = lim supn fn(= lim infn fn) folgt die Behauptung nach (6).

(8) Positivteil, Negativteil. Fur f : Ω → R seien f+ := sup f, 0 der Positivteil und f− :=

− inf f, 0 der Negativteil von f. Man beachte, dass f+ ≥ 0 und f− ≥ 0. Offenbar gelten f =

f+ − f−, |f| = f+ + f− und f− = (−f)+, sowie:

f messbar ⇔ f+, f− messbar ⇒ |f| messbar.

Lebesgue Leiter: 1 Elementarfunktionen und ihr Integral

(9) Elementarfunktion. Sei E := u : Ω → R : u ≥ 0 messbar, u(Ω) endlich. Dabei heißtu ∈ E eine Elementarfunktion. Es ist

u =∑

α∈u(Ω)

α 1u=α,

wobei u = α ∈ A und Ω =⋃α∈u(Ω) u = α eine endliche disjunkte Vereinigung ist.

(10) Normaldarstellung. Seien A1, · · · , An ∈ A und α1, · · · , αn ≥ 0. Dann ist

u :=

n∑i=1

αi1Ai∈ E.

Falls die Mengen Ai ∈ A paarweise disjunkt sind und⋃ni=1Ai = Ω gilt, dann heißt u =∑n

i=1 αi1Aieine Normaldarstellung von u. Dafur ist nicht verlangt, dass die αi paarweise ver-

schieden sind. Die Normaldarstellung ist offenbar nicht eindeutig.

Beweis. Zunachst ist u ≥ 0 und messbar nach (5). Außerdem ist u(Ω) ⊂ 0 ∪ αi1 + · · ·+ αik :

1 ≤ i1 < i2 < · · · < ik ≤ n, 1 ≤ k ≤ n endlich. Daher ist u ∈ E.

(11) Lemma. Seien u, v ∈ E und α ≥ 0. Dann sind u+ αv, uv, sup u, v , inf u, v ∈ E.

Beweis. Die Aussage gilt, weil alle diese Funktionen nichtnegativ und nach (5), (6) messbar sindund nur endlich viele Werte annehmen.

46

Page 47: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Wir erinnern, dass (Ω,A, µ) einen beliebigen Maßraum bezeichnet.

(12) Lemma. Fur u ∈ E seien u =∑mi=1 αi1Ai

=∑nj=1 βj1Bj

zwei Normaldarstellungen. Dannist

∑mi=1 αiµ(Ai) =

∑nj=1 βjµ(Bj). Beachte, dass 0 ·∞ = 0, z.B. wenn αi = 0 und µ(Ai) = ∞.

Beweis. Mit Ω =⋃iAi =

⋃j Bj folgt Ai = Ai ∩Ω =

⋃j(Ai ∩ Bj) und ebenso Bj =

⋃i(Ai ∩ Bj),

wobei die Mengen Ai ∩ Bj paarweise disjunkt sind. Daher ist µ(Ai) =∑j µ(Ai ∩ Bj), µ(Bj) =∑

i µ(Ai ∩ Bj). Damit ergibt sich∑i αiµ(Ai) =

∑i αi

∑j µ(Ai ∩ Bj) =

∑i,j αiµ(Ai ∩ Bj) und

ebenso∑j βjµ(Bj) =

∑i,j βjµ(Ai ∩ Bj). Weil u(ω) = αi = βj fur ω ∈ Ai ∩ Bj, folgt damit die

Behauptung.

(13) Integral einer Elementarfunktion. Sei u eine Elementarfunktion und u =∑ni=1 αi1Ai

eine Normaldarstellung von u. Dann heißt∫udµ :=

n∑i=1

αi µ(Ai) ∈ [0,∞]

das Integral von u bez. µ. Nach (12) hangt es nicht von der gewahlten Normaldarstellung ab.

(14) Satz. Das Integral E → [0,∞], u 7→ ∫udµ hat folgende Eigenschaften.

(a)∫1Adµ = µ(A) ∀ A ∈ A.

(b) Es ist eingeschrankt linear:∫(u+ λv)dµ =

∫udµ+ λ

∫v dµ ∀ λ ≥ 0.

(c) Es ist monoton:∫udµ ≤

∫v dµ falls u ≤ v.

Beweis. Die Aussage (a) ist offensichtlich. — Seien u =∑mi=1 αi1Ai

und v =∑nj=1 βj1Bj

jeweilsin einer Normaldarstellung gegeben. Dann sind u =

∑i,j αij1Cij

und v =∑i,j βij1Cij

ebenfallsNormaldarstellungen von u bzw. v fur Cij := Ai∩Bj und αij := αi, βij := βj ∀ i ∈ 1, . . . ,m, j ∈1, . . . , n. Daher ist u + λv =

∑i,j(αij + λβij)1Cij

eine Normaldarstellung von u + λv unddefinitionsgemaß

∫(u + λv)dµ =

∑i,j(αij + λβij)µ(Cij) =

∑i,j αijµ(Cij) + λ

∑i,j βijµ(Cij) =∫

udµ + λ∫v dµ, was (b) beweist. — Zum Nachweis von (c) sei o.E. angenommen, dass alle

Cij 6= ∅. Dann folgt aus u ≤ v, dass αij ≤ βij ∀ i, j und somit∫udµ =

∑i,j αijµ(Cij) ≤∑

i,j βijµ(Cij) =∫v dµ.

Lebesgue Leiter: 2 Integral nichtnegativer messbarer Funktionen

Seien fn : Ω → R. Man schreibt fn ↑n, wenn (fn) monoton wachsend ist, d.h. wenn fn(ω) ≤fn+1(ω) ∀ω ∀n. In diesem Fall wachst (fn) monoton gegen f := supn fn und man schreibt

fn ↑n f.Sind An ⊂ Ω, dann bedeutet An ↑n, dass (An) monoton aufsteigend ist, d.h. An ⊂ An+1 ∀n.Man schreibt

An ↑n A fur A :=⋃n

An.

47

Page 48: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Im Fall An ∈ A, An ↑ A folgt bekanntlich A ∈ A und µ(A) = limn µ(An) fur ein Maß µ.

(15) Lemma. Seien u, un ∈ E, un ↑n und u ≤ supn un. Dann gilt∫udµ ≤ supn

∫un dµ.

Beweis. Sei u =∑kj=1 αj1Aj

. Wahle α ∈]0, 1[ und setze Bn := un ≥ αu ∈ A. Dann giltoffenbar Bn ↑ Ω und somit Aj∩Bn ↑n Aj fur j = 1, . . . , k. Weil un ≥ αu1Bn nach Definition vonBn, ist

∫undµ ≥ α

∫u1Bndµ. Außerdem gilt

∫udµ =

∫αjµ(Ai) = limn

∑kj=1 αjµ(Aj ∩ Bn) =

limn

∫u1Bndµ. Damit erhalten wir

supn

∫un dµ ≥ sup

∫u1Bndµ = α lim

n

∫u1Bndµ = α

∫udµ ∀ α ∈]0, 1[,

woraus die Behauptung folgt.

(16) Lemma. Seien (un), (vn) monoton wachsende Folgen in E. Dann gilt

supnun = sup

nvn ⇒ sup

n

∫un dµ = sup

n

∫vn dµ.

Beweis. ∀m : vm ≤ supn un(15)⇒ ∫

vm dµ ≤ supn∫un dµ ⇒ supm

∫vm dµ ≤ supn

∫un dµ.

Ebenso folgt supm∫um dµ ≤ supn

∫vn dµ.

(17) Integral einer Funktion aus E?. Sei E? :=f : Ω → R : ∃ un ∈ E, un ↑n f. Fur f ∈ E?

heißt ∫f dµ := sup

n

∫un dµ ∈ [0,∞]

das Integral von f bezuglich µ. Nach (16) hangt es nicht von der gewahlten monoton gegenf aufsteigenden Folge (un) von Elementarfunktionen ab. — Ist u ∈ E, dann gilt un ↑ u furun := u ∀n. Das zeigt, dass E ⊂ E? und dass

∫udµ (gemaß (17)) = supn

∫un dµ =

∫udµ

(gemaß (13)). Also wird das Integral von E auf E? fortgesetzt.

(18) Satz. Seien f, g ∈ E? und α ≥ 0. Dann sind f + αg, fg, sup f, g und inf f, g in E?.Das Integral E? → [0,∞], f 7→ ∫

fdµ ist

(a) eingeschrankt linear:∫(f+ αg)dµ =

∫fdµ+ α

∫gdµ

(b) monoton:∫fdµ ≤

∫gdµ falls f ≤ g.

Beweis. Die ersten Aussagen folgen aus (11), aus der Definition von E? (17) und wegen supn un =

limn un fur un ↑. — (a) Seien un ↑ f, vn ↑ g gemaß (17). Dann ist (un + αvn) eine Folge vonElementarfunktionen mit (un+αvn) ↑n (f+αg). Daher gilt

∫(f+αg)dµ = supn

∫(un+αvn)dµ =

limn(∫un dµ + α

∫vn dµ) = limn

∫un dµ + α limn

∫vn dµ = supn

∫un dµ + α supn

∫vn dµ =∫

fdµ+α∫gdµ. — (b) Wegen f ≤ g ist um ≤ supn vn = g ∀ m. Mit (15) folgt

∫um dµ ≤

∫gdµ

und somit∫f dµ = supm

∫um dµ ≤

∫gdµ.

48

Page 49: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Der nachste Satz besagt, dass E? bereits abgeschlossen ist gegenuber der Bildung von monotonenLimites.

(19) Lemma. Ist (fn) eine monoton wachsende Folge von Funktionen in E?, dann ist supn fn ∈E?.

Beweis. Sei f := supn fn . Wir zeigen

∀m ∈ N ∃ vm ∈ E : vm ≤ fm und vm ↑m f. (?)

In der Tat existiert nach (17) fur jedes n ∈ N eine Folge (unm)m in E derart, dass unm ↑m fn.Nach (11) ist vm := sup u1m, . . . , umm ∈ E fur jedes m ∈ N. Fur die Folge (vm) gilt vm ↑, weilunm ↑m fur jedes n, und vm ≤ fm, weil sup f1, · · · , fm ≤ fm. Hieraus folgt vm ≤ f und somitsup vm ≤ f. Weiter ist unm ≤ vm ∀ n ≤ m, weshalb fn = supm unm ≤ supm vm und somitf ≤ sup vm. — Damit ist (?) nachgewiesen. Daraus folgt sofort f ∈ E?.

(20) Satz von der monotonen Konvergenz. Sei (fn) eine monoton gegen f = supn fnaufsteigende Folge aus E?. Dann gilt ∫

f dµ = supn

∫fn dµ.

Beweis. Nach (19) ist f ∈ E?. Mit (?) aus (19) und der Monotonie des Integrals nach (18) folgt∫f dµ = supn

∫vn dµ ≤ supn

∫fn dµ ≤

∫fdµ.

Ub Man zeige: fn ∈ E?, n ∈ N ⇒ ∑∞n=1 fn ∈ E? und

∫(∑∞n=1 fn)dµ =

∑∞n=1

∫fndµ.

Ub Man zeige: Jedes Maß µ auf auf dem Messraum (N,P(N)) ist eindeutig durch die Wer-te an := µ(n) ∈ [0,∞] bestimmt. Man zeige weiter: E? = f : N → [0,∞] und

∫f dµ =∑∞

n=1 f(n)an.

Ub Man zeige mit Hilfe des Satzes von der monotonen Konvergenz in der Situation (N,P(N), µ):

anm ∈ [0,∞], anm ≤ an+1,m ∀ n,m ⇒ supn

∞∑m=1

anm =

∞∑m=1

supnanm.

Man gebe ein Gegenbeispiel dazu fur den Fall an, dass die Monotonie nicht vorliegt.

Gegenbeispiel: anm := 2−|n−m|. Denn einerseits ist supn anm = 2−0 = 1 fur jedes m, wes-halb

∑∞m=1 supn anm = ∞. Andererseits ist

∑∞m=1 anm =

∑∞m=1 2

−|n−m| =∑nm=1 2

−(n−m) +∑∞m=n+1 2

−(m−n) =∑n−1k=0 2

−k+∑∞k=1 2

−k = 1−2−n

1− 12

+1 = 2(1−2−n)+1, weshalb supn∑∞m=1 anm =

supn(2(1− 2−n) + 1

)= 3.

Das nachste Resultat liefert eine einfache Beschreibung der Funktionen aus E?.

(21) Satz. E? =f : Ω → R : f ≥ 0 messbar

.

49

Page 50: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Beweis. Zur Inklusion “ ⊂ “ sei f ∈ E?. Dann ist f das Supremum einer aufsteigenden Folge vonElementarfunktionen. Damit ist offensichtlich f : Ω → R und f ≥ 0. Nach (6) ist f messbar. —Zum Nachweis der Inklusion “ ⊃ “ sei f : Ω → R messbar und f ≥ 0. Fur n ∈ N setze

fn := 2−n∞∑k=1

1f>k 2−n.

Man uberlegt sich, dass fn ↑ f (und f ≤ fn + 2−n). Dann gilt unm := 2−n∑mk=1 1f>k2−n ↑m fn

fur jedes n ∈ N, wobei unm ∈ E, weil f messbar ist. Damit ist fn ∈ E? und f = sup fn ∈ E? nach(19).

Lebesgue Leiter: 3 Integrierbare Funktionen

Fur f : (Ω,A) → R erinnern wir, dass f = f+ − f− und dass f nach (8) genau dann messbar ist,wenn f+ und f− messbar sind.

(22) Integrierbarkeit. Eine Funktion f : Ω → R heißt µ–integrierbar, in Zeichen f ∈ L1(µ),wenn

f messbar ist und

∫f+dµ < ∞ und

∫f−dµ < ∞.

Dann heißt∫fdµ :=

∫f+dµ −

∫f−dµ ∈ R das Integral von f bezuglich µ. — Weil fur f ≥ 0

offenbar f+ = f und f− = 0, ist∫fdµ fur f ∈ L1∩E? weiterhin wie in (17) definiert. Man beachte,

dass∫fdµ nach (17) fur alle f ∈ E? definiert ist, aber dass f ∈ E? nur dann integrierbar ist, wenn∫

fdµ < ∞. — Im Fall (Ω,A, µ) = (Rd,Bd, λd) spricht man von Lebesgue integrierbarenFunktionen und vom Lebesgue Integral (im engeren Sinn).

(23) Satz. Sei f : Ω → R messbar. Dann sind aquivalent

(i) f ∈ L1

(ii) f+, f− ∈ L1

(iii) |f| ∈ L1

Beweis. (i) ⇔ (ii) gilt definitionsgemaß. — Die Implikation (ii)⇒ (iii) folgt aus der Linearitatdes Integrals, weil: |f| = f+ + f− ⇒ ∫

|f|dµ =∫f+ dµ +

∫f− dµ < ∞ ⇒ |f| ∈ L1. — Schließlich

gilt (iii) ⇒ (ii) wegen der Monotonie des Integrals, weil: |f| ∈ L1 ⇒ ∫f± dµ ≤

∫|f|dµ < ∞ ⇒

f± ∈ L1.

Schließlich wird jetzt noch das Integral fur komplexwertige Funktionen erklart.

50

Page 51: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

(24) Integral komplexwertiger Funktionen. Eine komplexwertige Funktion f : Ω → Cheißt µ–integrierbar, in Zeichen f ∈ L1(µ), wenn Re(f) und Im(f) integrierbar sind. In diesemFall heißt die komplexe Zahl ∫

f dµ :=

∫Re(f)dµ+ i

∫Im(f)dµ

das Integral von f bezuglich µ. – Dabei sind Re(f) und Im(f) punktweise definiert, d.h. (Re(f))(ω) =

Re((f(ω)) ∀ω ∈ Ω und entsprechend fur Im(f). — Aus der Definition des Integrals folgt sofort

Re(∫f dµ

)=

∫Re(f)dµ, Im

(∫f dµ

)=

∫Im(f)dµ.

Offensichtlich ist das Integral weiterhin linear.

(25) Betragsintegriebarkeit. Sei f : Ω → C. Dann gilt

(a) f ist messbar (bez. B2 auf C ' R2) ⇐⇒ Re(f) und Im(f) sind messbar.

Sei f messbar. Dann ist |f| messbar und es gilt

(b) f ∈ L1(µ) ⇔ ∫|f|dµ < ∞.

Schließlich sei f ∈ L1(µ). Dann gilt

(c) |∫fdµ| ≤

∫|f|dµ.

Beweis. (a) “ ⇒ “ Da Re : C → R stetig ist, ist Re messbar und damit Re(f) = Re f messbar.Ebenso ist Im(f) messbar. Zur Umkehrung “ ⇐ “ beachte man, dass ω : f(ω) ∈ [α,β[+i[γ, δ[ =

α ≤ Re(f) < β ∩ γ ≤ Im(f) < δ ∈ A nach Voraussetzung. Nun ist I2 ein Erzeugendensystemvon B2. Nach (25.24) ist daher f messbar.

Da |f| =√

(Re(f))2 + (Im(f))2 folgt mit (a) aus der Meßbarkeit von f die von |f|.

(b) Weil | Re(f)|, | Im(f)| ≤ |f| ≤ | Re(f)|+ | Im(f)|, folgt die Behauptung aus (24), (23) und wegender Monotonie des Integrals (18)(b).

(c) Sei α ∈ C mit |α| = 1 und α(∫fdµ) = [0,∞[. Damit folgt |

∫fdµ| = α

∫fdµ =

∫(αf)dµ =∫

Re(αf)dµ+ i∫

Im(αf)dµ =∫Re(αf)dµ ≤

∫|αf|dµ =

∫|f|dµ.

(26) Einschrankung eines Maßraums. Seien (Ω,A, µ) ein Maßraum und M ∈ A. SetzeAM := A ∈ A : A ⊂M und µM : AM → [0,∞], µM(A) := µ(A). Dann ist (M,AM, µM) einMaßraum.

Fur f ∈ L1(µ) ist f|M ∈ L1(µM) und∫M f dµ :=

∫1Mf dµ =

∫f|MdµM.

Fur g ∈ L1(µM) sei g : Ω → R definiert durch g|M := g, g|Ω\M := 0. Dann ist g ∈ L1(Ω)

und es gilt∫gdµM =

∫gdµ =

∫M gdµ =:

∫M gdµ.

Beweis. Die Aussagen sind offensichtlich.

51

Page 52: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

(27) Lebesgue Integral fur Regelfunktionen. Sei R[a, b] der Raum der Regelfunktionenuber dem Intervall [a, b]. Dann ist R[a, b] ⊂ L1[a, b] bezuglich des Lebesgue Maßes λ1 auf (R,B1)und fur f ∈ R[a, b] gilt ∫b

af(x)dx =

∫[a,b]

f dλ1.

Beweis. Sei ϕ ∈ T [a, b] eine Treppenfunktion. Nach Definition (9.2) ist ϕ =∑nk=1 ck 1]xk−1,xk[+∑n

k=0ϕ(xk)1xk mit gewissen ck ∈ C. Fur u := Reϕ und v := Imϕ sind offenbar u± undv± Elementarfunktionen. Daher ist einerseits

∫baϕ(x)dx =

∑nk=1 ck(xk − xk−1) nach Definiti-

on (9.5) des Regelintegrals. Andererseits ist nach Definition des Lebesgue Integrals∫

[a,b]ϕdλ1 =∫

[a,b] udλ1+i

∫[a,b] v dλ

1 =∑nk=1Re(ck)(xk−xk−1)+i

∑nk=1 Im(ck)(xk−xk−1)+0 =

∑nk=1 ck(xk−

xk−1), da λ1(xk) = 0. Kurz es gilt∫baϕ(x)dx =

∫[a,b]

ϕdλ1.

Sei nun f ∈ R[a, b]. Definitionsgemaß (9.12) existiert eine Folge (ϕn) von Treppenfunktionen,die gleichmaßig gegen f konvergiert und wofur∫b

af(x)dx = lim

n→∞∫baϕn(x)dx.

Nach (7) ist f messbar. Außerdem ist |f| ≤ c1[a,b] beschrankt nach der Bemerkung zu (9.11).Es folgt

∫[a,b] |f|dλ

1 ≤∫c1[a,b]dλ

1 = c(b − a) < ∞, weshalb f ∈ L1[a, b] nach (25). Wegender gleichmaßiger Konvergenz existiert zu ε > 0 ein N ∈ N mit |ϕn(x) − f(x)| ≤ ε ∀ x ∈[a, b] ∀ n ≥ N. Daher gilt

∣∣∣∫[a,b]ϕndλ1 −

∫[a,b] fdλ

1∣∣∣ = ∣∣∣∫[a,b](ϕn − f)dλ1

∣∣∣ ≤ ∫[a,b] |ϕn−f|dλ1 ≤

ε∫1[a,b] dλ

1 = ε(b− a) ∀ n ≥ N. Das bedeutet∫[a,b]

ϕn dλ1 n→∞−→ ∫

[a,b]f dλ1.

Es folgt die Behauptung. Siehe auch die Bemerkung (30).

(28) Lemma von Fatou. Fur jede Folge (fn) aus E? gilt∫lim infn→∞ fn dµ ≤ lim inf

n→∞∫fn dµ.

Beweis. Nach (6), (21) sind f := lim infn fn und gn := infm≥n fm aus E?. Da gn ↑ f, folgtnach dem Satz von der monotonen Konvergenz

∫fdµ = supn

∫gndµ = limn

∫gndµ. Weiter ist∫

gndµ ≤∫fmdµ ∀m ≥ n, weshalb

∫gndµ ≤ infm≥n

∫fmdµ. Zusammen folgt die Behauptung.

Eines der wichtigsten Ergebnisse zur Vertauschbarkeit von Integral und Grenzwert ist der fol-gende Satz von Lebesgue.

(29) Satz von der majorisierten Konvergenz. Seien K ∈R,C

und fn : (Ω,A, µ) → K

messbar fur n ∈ N. Weiter sei (fn)n punktweise konvergent gegen f : Ω → K und es existiereg ∈ L1(µ), g ≥ 0 mit

|fn| ≤ g ∀ n ∈ N.

52

Page 53: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Dann sind fn, n ∈ N und f integrierbar und es gilt∫f dµ = lim

n

∫fn dµ.

Die Funktion g heißt eine integrierbare Majorante fur (fn).

Beweis. Die Funktion f ist messbar nach (25)(a) und (7) (weil ggf. Re fn → Re f, Im fn → Im f).Weil |fn|, |f| ≤ g sind fn und f integrierbar nach (25)(b). Es bleibt zu zeigen, dass∫

f dµ = limn

∫fn dµ.

Es genugt offenbar, den Fall K = R zu betrachten, denn K = R ist ein Spezialfall davon undder Fall K = C folgt nach (24), (25). Es genugt außerdem f± und f±n zu betrachten wegen derDefinition (22) und weil f±n = 1

2(|fn|± fn) → 12(|f|± f) = f± und f±n ≤ |fn| ≤ g. Also konnen wir

davon ausgehen, dass fn, f ∈ E?, fn → f und fn ≤ g. Weil f = lim infn fn gilt nach dem Lemmavon Fatou (28) ∫

f dµ ≤ lim infn

∫fn dµ.

Nun betrachten wir hn := g − fn ∈ E?, wofur hn → g − f ∈ E?. Weil∫(g − f)dµ +

∫fdµ =∫

gdµ < ∞, ist∫gdµ−

∫fdµ =

∫(g−f)dµ. Wieder mit (28) folgt

∫(g−f)dµ =

∫lim infn hndµ ≤

lim infn∫hndµ = lim infn

(∫gdµ−

∫fndµ

)=

∫gdµ− lim supn

∫fndµ. Das ergibt∫

f dµ ≥ lim supn

∫fn dµ.

Es folgt die Behauptung.

Ub Formulieren Sie das Lemma von Fatou und den Satz von der majorisierten Konvergenz furden Maßraum (N,P(N), µ).

(30) Bemerkung. In Hinblick auf den Beweis von (27) erinnern wir an die folgende Aussage

des Satzes (9.14): f, fn ∈ R[a, b], n ∈ N, fnglm−→ f ⇒ ∫b

a f(x)dx = limn→∞ ∫ba fn(x)dx. Die

gleichmaßige Konvergenz ist eine starke Voraussetzung fur diese Schlußfolgerung. Wegen (27)

und nach dem Satz von der majorisierten Konvergenz reicht z.B. fnpktw−→ f und |fn| ≤ c1[a,b] ∀ n.

Damit laßt sich auch der letzte Beweisteil von (27) verkurzen.

(31) Integration bezuglich des Bildmaßes. Seien T : (Ω,A) → (Ω ′,A ′) messbar, µ einMass auf Ω und T(µ) das Bildmaß T(µ) = µ T−1 gemaß (25.26). Weiter sei K ∈ R,C undg : Ω ′ → K messbar. Dann gilt

g ∈ L1(T(µ)) ⇔ g T ∈ L1(µ) =⇒ ∫g dT(µ) =

∫g T dµ.

Entsprechendes folgt fur g ∈ L1(T(µ)). Schließlich gilt

g ∈ E?(Ω ′) ⇔ g T ∈ E?(Ω) =⇒ ∫g dT(µ) =

∫g T dµ.

Beweis. Zunachst ist festzustellen, dass g T messbar ist, weil nach Voraussetzung g und Tmessbar sind. Nun besteige man die Lebesguesche Leiter.

53

Page 54: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

(1) Sei g ∈ E(Ω ′). Dann ist g =∑ni=1 αi1A ′

imit A ′

i ∈ A ′ und es folgt gT =∑ni=1 αi1T−1(A ′

i)∈

E(Ω) mit∫g T dµ =

∑ni=1 αi µ(T−1(A ′

i)) =∑ni=1 αiT(µ)(A ′

i)) =∫g dT(µ) definitions-

gemaß.

(2) Als nachstes sei g ∈ E?(Ω ′). Dazu existiert eine Folge (vn) in E(Ω ′) mit vn ↑ g. Dannfolgt vn T ∈ E(Ω), vn T ↑ g T und

∫g dT(µ) =

∫g T dµ wegen der Definition (17)

des Integrals fur Funktionen aus E? und wegen (1).

(3) Jetzt sei g : Ω ′ → R. Nach (2) sind g± ∈ L1(T(µ)) genau dann, wenn (g T)± = g± T ∈L1(µ), und es ist

∫g± dT(µ) =

∫(gT)± dµ. Die Behauptungen fur g gelten daher aufgrund

der Definition (22). Die Behauptungen fur eine komplexwertige Funktion g folgen dannaus der Definition (24), weil Re(g T) = Re(g) T und Im(g T) = Im(g) T .

Neben dem Bildmaß ist das Maß mit Dichte die zweite grundlegende Konstruktion eines Maßesaus einem vorgegebenen Maß.

(32) Maß mit Dichte. Seien (Ω,A, µ) ein Maßraum und ρ ∈ E?(Ω). Dann ist

A → [0,∞], A 7→ ∫Aρdµ

ein Maß auf (Ω,A). Es heißt das Maß mit Dichte ρ bezuglich µ und wird mit ρµ bezeichnet.Weiter sei f : Ω → K messbar mit K ∈ R,C. Dann gilt

f ∈ L1(ρµ) ⇔ fρ ∈ L1(µ) =⇒ ∫f dρµ =

∫fρ dµ.

Außerdem gilt: f ∈ E? ⇒ ρf ∈ E? und∫f dρµ =

∫fρ dµ. Wenn ρ reellwertig ist, dann gilt auch:

f ∈ L1(ρµ) ⇔ ρf ∈ L1(µ) ⇒ ∫f dρµ =

∫fρ dµ.

Beweis. Fur ν(A) :=∫A ρ dµ mit A ∈ A gelten ν(A) ≥ 0 und ν(∅) = 0. Sind außerdem An ∈ A

disjunkt und ist A :=⋃nAn, dann gilt

∑Nn=1 ρ1An ↑N ρ1A, weshalb ν(A) =

∑∞n=1 ν(An)

aufgrund monotoner Konvergenz (20). Also ist ν = ρµ ein Maß. — Es sei noch festgestellt, dassfρ messbar ist, weil f und ρ messbar sind. Nun besteige man die Lebesguesche Leiter.

(1) Sei f ∈ E. Dann ist f =∑ni=1 αi1Ai

mit Ai ∈ A und es folgt fρ =∑ni=1 αi ρ 1Ai

∈ E? mit∫fρ dµ =

∑ni=1 αi

∫Aiρdµ =

∑ni=1 αi ν(Ai) =

∫f dν definitionsgemaß.

(2) Als nachstes sei f ∈ E?. Dazu existiert eine Folge (un) in Emit un ↑ f. Dann folgt unρ ∈ E?,unρ ↑ fρ, weshalb ρf ∈ E? nach (19) und

∫f dν = supn

∫un dν = supn

∫unρdµ =

∫fρ dµ

wegen (1) und wegen monotoner Konvergenz (20).

(3) Jetzt sei f : Ω → R. Nach (2) ist∫f± dν =

∫(fρ)± dµ. Daher sind f± ∈ L1(ν) genau

dann, wenn (fρ)± = f±ρ ∈ L1(µ). Die Behauptungen fur f gelten daher aufgrund derDefinition (22). Ist f komplexwertig und ist ρ reellwertig, dann ist fρ komplexwertig unddie Behauptungen folgen dann aus (24), weil Re(fρ) = Re(f)ρ und Im(fρ) = Im(f)ρ.

(33) Lemma. Jede µ−Nullmenge ist auch eine ρµ−Nullmenge fur ρ ∈ E?.

54

Page 55: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Beweis. Sei N ∈ A mit µ(N) = 0. Dann ist wegen der Monotonie des Integrals ρµ(N) =∫ρ1N dµ ≤

∫ ∞1N dµ = ∞ ∫1N dµ = ∞ · 0 = 0.

(34) Satz. Seien I, J ⊂ R offene (auch unbeschrankte) Intervalle und sei g : I → J bijektiv undstetig differenzierbar mit g ′ > 0. Dann gelten

(a) g(λ1) = (g−1) ′λ1 und g(g ′λ1) = λ1.

(b) Fur ein kompaktes Intervall D ⊂ I ist W := g(D) ebenfalls ein kompaktes Intervall und esgelten g(λ1D) = (g−1) ′λ1W und g(g ′λ1D) = λ1W.

Beweis. Wir zeigen zunachst die zweite Formel in (b). Dazu sei D = [a, b]. Dann ist W =

[g(z), g(b)]. Sei f ∈ R(W). Wir formen die linke Seite der Formel um und erhalten∫f dg(g ′λ ′D)

(31)=

∫f g d(g ′λ1D)

(32)=

∫(f g) g ′dλ1D

(27)=

∫baf(g(t))g ′(t)dt.

Die rechte Seite lautet ∫fdλ1w

(27)=

∫g(b)

g(a)f(t)dt.

Nach der Substitutionsregel (9.26) ist die linke Seite gleich der rechten Seite, wenn f eineC1−Funktion ist. Wegen der Additivitat der Integrale gilt diese Ubereinstimmung daher auch,wenn f eine stuckweise C1−Funktion und damit auch, wenn f eine Treppenfunktion ist (weileinzelne Punkte das Lebesguemaß Null haben). Also stimmen die Maße g(g ′λ1D) und λ1W aufI ∩W : I ∈ I1

uberein. Wegen der Eindeutigkeit des LB–Maßes (siehe (25.19)) folgt daraus

die Gleichheit der Maße.Mit Hilfe der σ−Additivitat folgt daraus g(g ′λ1) = λ1, was die zweite Formel in (a) ist.Nun ist g−1 eine C1−Funktion mit (g−1) ′ > 0. Aus der zweiten Formel in (a) folgt zunachst

g−1(λ1) = g−1 g(g ′λ1) = g ′λ1. Man ersetze jetzt darin g durch g−1. Dann folgt g(λ1) =

(g−1) ′λ1. Das ist die erste Formel in (a). Daraus folgt sofort die erste Formel in (b).

Den folgenden wichtigen Satz der Maßtheorie zitieren wir ohne Beweis. Zur Illustration dienendie zwei nachfolgenden Beispiele, welche mit der Substitutionsformel fur das mehrdimensionaleLebesgue–Borel Maß (siehe Kap. 29) verallgemeinert werden.

(35) Satz von Radon-Nikodym. Seien µ ein σ–endliches Maß und ν ein bezuglich µ absolutstetiges Maß, in Zeichen ν µ, was ν(A) = 0 ∀A ∈ A mit µ(A) = 0 bedeutet. Dann existierteine Dichte ρ ∈ E? mit

ν = ρµ.

Dabei ist ρ µ–fast eindeutig, was µ(ρ 6= ρ) = 0 fur ρ ∈ E? mit ν = ρµ bedeutet. Die Dichte ρwird mit dν

dµ bezeichnet und heißt die Radon–Nikodym Ableitung von ν bezuglich µ.

(36) Beispiele. (a) Nach (25.31) ist das Bildmaß des LB–Maßes λd unter einer linearen Bi-jektion T : Rd → Rd ein konstantes Vielfaches von λd, namlich T(λd) = | det(T)|−1λd. Das

55

Page 56: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

bedeutet, dass die Radon–Nikodym Ableitung dT(λd)dλd = | det(T)|−11Rd konstant ist. Fur jede

λd–integrierbare Funktion f folgt daher∫f T dλd =

∫f dT(λd) =

∫fdT(λd)

dλddλd =

∫f | det(T)|−1 dλd = | det(T)|−1

∫f dλd.

(b) In der Situation von Satz (34) gilt dg(λ1)dλ1 = (g−1) ′. Wie schon in (a) gesehen, ist diese

Schreibweise in Hinblick auf die Integration bez. des Bildmaßes suggestiv, denn∫f gdλ1 =

∫f dg(λ1) =

∫fdg(λ1)

dλ1dλ1 =

∫f (g−1) ′ dλ1.

56

Page 57: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

27 Satz von Fubini

Dieses Kapitel ist weitgehend ohne Beweise. Die Begriffsbildungen und die Voraussetzungen sindjedoch streng und genau formuliert, sodass eine korrekte Anwendung der Ergebnisse moglich ist.

Seien (Ωi, Ai), i = 1, 2 zwei Messraume und Ω := Ω1 × Ω2 das kartesisches Produkt derGrundraume. Auf diesem kartesischen Produkt wird die folgende σ–Algebra eingefuhrt

A := A1 ⊗A2 := σ(A1 ×A2 : A1 ∈ A1, A2 ∈ A2).

Sie heißt das Produkt der σ−Algebren A1 und A2 und ist die kleinste σ−Algebra auf Ω,die alle ”Rechtecke“ mit messbaren Seiten enthalt. Sie ist auch die kleinste σ−Algebra auf Ω,wofur die Projektionen pi : Ω → Ωi, pi(ω1,ω2) := ωi, i = 1, 2 (A,Ai)–messbar sind, denn

p−11 (A1) = A1 ×Ω2, p−1

2 (A2) = Ω1 ×A2 und A1 ×A2 = (A1 ×Ω2) ∩ (Ω1 ×A2).

Das Produkt endlich vieler σ−Algebren wird analog definiert.

(1) Lemma. Es gilt Bd = B1 ⊗ · · · ⊗ B1︸ ︷︷ ︸d-mal

= Bd ′ ⊗ Bd ′′︸ ︷︷ ︸d ′+d ′′=d

.

Beweis. Der Beweis erfolgt analog zum Beweis der Aussage von (26.25)(a).

Nach (25.19) ist λd das einzige Maß auf Bd mit λd(B1×· · ·×Bd) = λ1(B1) · · · λ1(Bd) ∀ Bi ∈ B1.

(2) Produktmaßraum. Seien (Ωi,Ai, µi) Maßraume mit σ–endlichen Maßen µi, i = 1, 2.Dann existiert genau ein Maß µ auf dem Produktmessraum (Ω,A) := (Ω1 × Ω2,A1 ⊗ A2)derart, dass

µ(A1 ×A2) = µ1(A1)µ2(A2) ∀ Ai ∈ Ai, i = 1, 2.

Das Maß µ heißt das Produktmaß der Maße µ1 und µ2 und wird mit µ1 ⊗ µ2 bezeichnet.Es ist σ−endlich. Entsprechendes gilt fur das Produkt endlich vieler Maßraume. Demnach istλd = λ1 ⊗ · · · ⊗ λ1 = λd

′ ⊗ λd ′′.

Fur das Folgende sei an (17.3) erinnert.

(3) Schnittabbildungen. Seien X eine Menge und f : Ω1×Ω2 → X. Fur jedes ω1 ∈ Ω1 heißt

f(ω1, ·) : Ω2 → X, ω2 7→ f(ω1,ω2)

der ω1–Schnitt von f. Bei festem ω2 ∈ Ω2 heißt entsprechend f(·,ω2) : Ω1 → X, ω1 7→f(ω1,ω2) der ω2–Schnitt von f.

(4) Lemma. Seien (Ω ′,A ′) ein weiterer Messraum und f : (Ω1 × Ω2,A1 ⊗ A2) → (Ω ′,A ′)messbar. Dann sind alle ω1–Schnitte f(ω1, ·) (A2,A ′)–messbar und alle ω2–Schnitte f(·,ω2)(A1,A ′)–messbar.

57

Page 58: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Im allgemeinen gilt die Umkehrung dieser Aussage nicht, d.h. es konnen alle Schnittabbildungenmessbar sein, ohne dass die Funktion selbst messbar ist. — Anstelle von

∫fdµ schreibt man

auch∫f(ω)dµ(ω) =

∫Ω f(ω)dµ(ω). Dies dient der großerer Deutlichkeit, wenn im Folgenden

mehrere Integrationsvariablen vorkommen.

(5) Satz von Tonelli. Seien (Ωi,Ai, µi) σ–endliche Maßraume fur i = 1, 2 und sei f ∈ E?(Ω1×Ω2). Dann gelten:

(i) ω2 7→ ∫f(ω1,ω2)dµ1(ω1) ist A2–messbar und ω1 7→ ∫

f(ω1,ω2)dµ2(ω2) ist A1-messbar.

(ii)∫f d(µ1 ⊗ µ2) =

∫ (∫f(ω1,ω2)dµ1(ω1)

)dµ2(ω2) =

∫ (∫f(ω1,ω2)dµ2(ω2)

)dµ1(ω1).

Erlauterung. Nach (4) ist f(·,ω2) ∈ E?(Ω1) fur jedes festgehaltene ω2 ∈ Ω2. Daher kann uberω1 integriert werden und man erhalt die Zahl

∫f(·,ω2)dµ1 =

∫Ω1f(ω1,ω2)dµ1(ω1) in [0,∞].

Nun besagt (i), dass auch diese nichtnegative Abbildung ω2 7→ ∫f(ω1,ω2)dµ1(ω1) messbar ist.

Also existiert deren Integral. Entsprechend kann man mit allen ω1–Schnitten f(ω1, ·) verfahren.Dann besagt (ii), das dass Endergebnis in beiden Fallen das gleiche ist, d.h. auf die Integrati-onsreihenfolge kommt es nicht an, und dass man in beiden Fallen das Integral von f bezuglichdes Produktmaßes erhalt. Insbesondere sind alle drei Integrale endlich, wenn eines davon endlichist. Es sei noch erwahnt, dass die Voraussetzung der A1 ⊗A2–Messbarkeit von f wichtig ist. Esgenugt i.allg. nicht die Messbarkeit aller Schnittabbildungen.

(6) Sprechweise ”fast uberall”. Sei (Ω,A, µ) Maßraum und A(ω) bezeichne eine Aussage,die fur jedes ω ∈ Ω entweder richtig oder falsch ist. Man sagt: A gilt µ–fast uberall auf Ω, kurzµ–f.u., wenn eine µ–Nullmenge N (d.h. N ∈ A, µ(N) = 0) existiert derart, dass A(ω) richtigist fur alle ω /∈ N, oder anders ausgedruckt, dass ω ∈ Ω : A(ω) falsch enthalten ist in einerµ–Nullmenge.

(7) Beispiele.

(α) Eine Abbildung f : Ω → X ist konstant fast uberall, wenn xo ∈ X und N ∈ A mit µ(N) = 0

existieren derart, dass f(ω) = x0 ∀ ω ∈ Ω\N.

(β) Sei f ∈ E?. Dann gilt:∫fdµ = 0 ⇔ f = 0 fast uberall.

Beweis. Aus∫fdµ = 0 folgt 0 =

∫f≥ 1

n fdµ ≥1nµ(f ≥ 1

n

), weil 1f≥ 1

n f ≥1n1f≥ 1

n .

Also ist µ(f ≥ 1

n

)= 0 ∀n. Da f > 0 =

⋃n

f ≥ 1

n

, folgt schließlich µ(f > 0) =

0 nach (25.21). — Umgekehrt ist∫fdµ =

∫(1N + 1Ω\N)fdµ =

∫N fdµ +

∫Ω\N fdµ ≤∫

N∞dµ+∫Ω\N 0 dµ = ∞ · µ(N) + 0 · µ(Ω\N) = 0+ 0 = 0.

(γ) Sei f ∈ L1. Dann ist |f| < ∞ fast uberall.

Beweis. ∞ >∫

|f|dµ ≥∫

|f|=∞ |f|dµ ≥ ∞µ(|f| = ∞) ⇒ µ(|f| = ∞) = 0.

(δ) Seien f messbar und g ∈ L1 mit |f| ≤ g f.u. Dann ist f integrierbar.

Beweis. Es ist |f| ≤ g + ∞ · 1|f|>g =: g ≥ 0. Dann ist g integrierbar, denn g ist messbarund

∫gdµ =

∫gdµ+ ∞ · µ(|f| > g) < ∞ + ∞ · 0 < ∞. Daraus folgt

∫|f|dµ < ∞.

58

Page 59: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

(8) Definition. Sei f µ–f.u. auf Ω definiert, d.h. es existiert ein N ∈ A mit µ(N) = 0 derart,dass f auf Ω\N definiert ist. Dann f heißt integrierbar, wenn f|Ω\N integrierbar ist. Man setzt∫f dµ :=

∫1Ω\Nf dµ. Dies ist wohldefiniert, da das Integral uber einer Nullmenge Null ist, so

dass es auf die spezielle Wahl von N nicht ankommt.

(9) Satz von Fubini. Seien (Ωi,Ai, µi) σ–endlich, i = 1, 2, K ∈R,C

und f : Ω1×Ω2 → K

integrierbar bezuglich µ1 ⊗ µ2. Dann gelten fur i, j ∈ 1, 2, i 6= j:

(i) ωi → f(ω1,ω2) ist µi–integrierbar fur µj–fast alle ωj ∈ Ωj.

(ii) ωi 7→ ∫f(ω1,ω2)dµj(ωj) ist µj−integrierbar und es gilt (5)(ii).

Erlauterung. Die Funktionen aus (ii) sind nach (i) integrierbar im Sinne von (8). Die Funktion fist integrierbar, wenn f, wie auch in (5), messbar bez. der Produkt–σ–Algebra A1 ⊗A2 ist undwenn eines der Integrale in (5)(ii) fur |f| endlich ist.

59

Page 60: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

28 Integration in der Ebene

Der Flacheninhalt einer Borelmenge A ⊂ R2, d.h. A ∈ B2, ist definitionsgemaß das Lebes-gue Maß λ2(A) dieser Menge. Dieser Flacheninhalt wird oft auch mit F(A) bezeichnet. Diekonkrete Berechnung von λ2(A) kann fur ein allgemeines A schwierig sein. Wir erinnern, dassλ2(abzahlbare Menge) = 0 und λ2(Gerade) = 0, weil eine Gerade eine gedrehte achsenparalleleHyperebene ist. Damit ist λ2(A) = 0, wenn A enthalten ist in der Vereinigung von abzahl-bar vielen Geraden. Allgemeinere Nullmengen ergeben sich aus dem folgenden Satz. Wenn manA ∈ B2 zur Bestimmung ihrer Flache langs stuckweise regularen Kurven zerschneidet, entstehendadurch zusatzliche Randmengen, die jedoch nach (1) Nullmengen sind.

(1) Satz. Seien I ⊂ R ein allgemeines Intervall und k : I → R2 eine regulare Kurve (d.h. kstetig differenzierbar, k ′(t) 6= 0 ∀ t). Dann ist Spurk = k(I) eine λ2−Nullmenge.

Beweis. Sei k = (k1, k2). Da k ′i : I → R stetig ist, ist t ∈ I : k ′i(t) 6= 0 offen in I und daher, wieman sich uberlegt, die Vereinigung von abzahlbar vielen kompakten Intervallen Ji,n ⊂ I, i = 1, 2.Außerdem ist k ′1 6= 0 ∪ k ′2 6= 0 = I, weil k regular ist. Sei J eines dieser Intervalle Ji,n, n ∈N, i = 1, 2. Wegen (25.21) genugt es zu zeigen, dass die kompakte Menge k(J) (siehe (14.10))eine λ2−Nullmenge ist. Sei etwa k ′1(t) > 0 ∀ t ∈ J (alle ubrigen Falle sind entsprechend zubehandeln). Dann ist

λ2 (k(J)) =

∫1k(J)(x, y)dλ

2(x, y)Tonelli

=

∫ (∫1k(J)(x, y)dλ

1(y)

)dλ1(x) =

∫0 dλ1(x) = 0,

denn aufgrund der strengen Monotonie von k1 ist 1k(J)(x, y) fur jedes festgehaltene x hochstensfur ein y von Null verschieden.

Fur die Kurve k in (1) gilt nach (16.16), dass k|[a,b] rektifizierbar ist fur a, b ∈ I, a < b. Miteiner anderen Beweismethode verallgemeinern wir (1) auf solche Kurven.

(2) Satz. Seien I ⊂ R ein allgemeines Intervall und k : I → R2 eine Kurve derart, dass k|[a,b]

rektifizierbar ist fur alle a, b ∈ I, a < b. Dann ist Spurk = k(I) eine λ2−Nullmenge.

Beweis. Man uberlegt sich, dass es aufgrund von (25.21) genugt, die Behauptung fur I = [a, b]

zu beweisen. Sei a = t0 < t1 < · · · < tl−1 < tl = b eine Zerlegung von I der Feinheit δ > 0.Bezeichne L die Lange der Kurve k und Lj die der Kurve k|[tj−1,tj] und sei Uj die abgeschlosseneKreisscheibe um k(tj) mit Radius Lj fur j = 1, . . . , l. Dann ist

k(I) ⊂l⋃j=1

Uj,

weil die Gerade nach (16.14)(a) die kurzeste Verbindung zweier Punkte ist. Hieraus folgt λ2(k(I))≤

∑lj=1 πL

2j ≤ π v(δ)

∑lj=1 Lj = πL v(δ) mit v(δ) := supL(k|[r,s]) : a ≤ r < s ≤ b, s − r ≤ δ,

was fur δ → 0 wegen der gleichmaßigen Stetigkeit der Bogenlange (16.19)(a) verschwindet.

60

Page 61: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Peano Kurve. Es existiert eine stetige Abbildung f : [0, 1] → [0, 1]2, die surjektiv ist. Das istalso eine Kurve, deren Spur das gesamte Einheitsquadrat [0, 1]2 ausfullt. Eine solche Kurve istnach (2) nicht rektifizierbar.

Interpretation. Sei A ∈ B2 und sei f ∈ E?(A) ( d.h f : A → [0,∞], f−1(B) ∈ B2 ∀ B ∈ B1).Dann ist

∫A f dλ

2 definiert. Fur f = 1 ist∫A 1 dλ

2 = λ2(A) = F(A). Allgemein ist∫A f dλ

2

das Volumen des senkrecht auf der (x, y)−Ebene stehenden Zylinderabschnitts mit GrundflacheA× 0 und Deckflache

(x, y, z) ∈ R3 : (x, y) ∈ A, z = f(x, y)

.

(3) Mittelwertsatz. Seien A ⊂ R2 kompakt und zusammenhangend, f : A → R stetig. Dannexistiert (x?, y?) ∈ A mit ∫

Af dλ2 = f(x?, y?) F(A).

Beweis. Nach (14.10) und (23.37) ist f(A) kompakt und zusammenhangend, weshalb f(A) =

[m,M] ein kompaktes Intervall ist. Damit ist m1A ≤ f ≤M1A und die Monotonie des Integralsergibt mF(A) ≤

∫A f dλ

2 ≤MF(A). Sei F(A) > 0, sonst ist die Aussage trivial. Es folgt

m ≤ 1

F(A)

∫Af dλ2︸ ︷︷ ︸

Integralmittel ∈[m,M]=f(A)

≤M

und somit die Existenz von (x?, y?) ∈ A, wofur f(x?, y?) gleich dem Integralmittel ist.

Fur viele Anwendungen genugt es, spezielle A ∈ B2 zu betrachten.

(4) Regularer Bereich. Sei w eine einfach geschlossene stuckweise regulare Kuve im R2.Dann bezeichne W ⊂ R2 die offene beschrankte Wegkomponente zu w, d.h. W = (x, y) ∈R2 : ν(w, x + iy) = 1, wobei ν die Windungszahl (24.13) ist. Sind nun w0, · · · , wn einfachgeschlossene stuckweise regulare Kurven in R2 derart, dass Wi ⊂ W0 und Wi ∩ Wj = ∅ ∀ 1 ≤i, j ≤ n, i 6= j, dann heißt A := W0 \

⋃ni=1Wi ein regularer Bereich.

Vielfach lassen sich regulare Bereiche in endlich viele sogenannte Normalbereiche durch Hinzu-oder Wegnehmen von Nullmengen (wie einzelne Punkte oder Schnittlinien (vgl. (2)) zerlegen.

(5) Normalbereich. Eine Menge A ⊂ R2 heißt ein Normalbereich vom Typ I, wenn es u, o ∈C1[a, b] gibt mit u ≤ o und

A = (x, y) : a ≤ x ≤ b, u(x) ≤ y ≤ o(x)

und ein Normalbereich vom Typ II, wenn es l, r ∈ C1[c, d] gibt mit l ≤ r und

A = (x, y) : c ≤ y ≤ d, l(y) ≤ x ≤ r(y) .

(6) Integration uber Normalbereiche. Sei f ∈ L1(A), wobei A ein Normalbereich vom Typ

I ist. Dann folgt mit mit dem Satz von Fubini∫Af dλ2 =

∫ (∫1A(x, y)f(x, y)dλ1(y)

)dλ2(x) =

∫[a,b]

(∫[u(x),o(x)]

f(x, y)dλ1(y)

)dλ1(x)

61

Page 62: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

=:

∫ba

(∫o(x)u(x)

f(x, y)dy

)dx.

Letztere Schreibweise verwenden wir auch, wenn es sich bei den partiellen Funktionen nicht umRegelfunktionen handeln sollte. Entsprechend erhalt man, falls A vom Typ II,∫

Afdλ2 =

∫dc

(∫ r(y)

l(y)f(x, y)dx

)dy.

Der Vorteil ist offensichtlich: Das Integral uber eine Flache wird auf zwei nacheinander aus-zufuhrende Integrationen uber Intervalle zuruckgefuhrt.

(7) Beispiele.

Die Flache einer Ellipse A =

(x, y) ∈ R2 : x2

a2 + y2

b2 ≤ 1

ist vom Typ I, namlich A =(x, y) : −a ≤ x ≤ a, −b

√1− x2

a2 ≤ y ≤ b√1− x2

a2

. Dann ist der Flacheninhalt

F(A) = πab.

In der Tat ist F(A) =∫a

−a

(∫bq1− x2

a2

−bq1− x2

a2

1dy

)dx =

∫a−a 2b

√1− x2

a2dx = 4ba∫10

√1− t2dt =

4ab∫ π

20 cos2(ϕ)dϕ = 2ab

∫ π20 (1+ cos(2ϕ))dϕ = abπ. Dabei wurde t = sinϕ substituiert.

Sei A ⊂ R2 berandet von den Kurven y = x, xy = 1 und y = 2. Dann ist offenbarA =

(x, y) : 1 ≤ y ≤ 2, 1y ≤ x ≤ y

vom Typ II. Demgemaß folgt fur den Flacheninhalt

F(A) =

∫21

(∫y1y

1dx

)dy =

∫21(y−

1

y)dy =

3

2− ln(2).

Das Volumen des auf A× 0 stehenden Zylinderabschnitts mit Deckflache z = y2

x2 ist

V(Z) =

∫21

(∫y1y

y2

x2dx

)dy =

∫21y2

(∫y1y

1

x2dx

)dy =

∫21y2(y−

1

y)dy =

9

4.

Sei A ⊂ R2 berandet von den vier Kreisen mit Radien 1 und Mittelpunkten (√2, 0),(0,

√2),

(−√2, 0), (0,−

√2). Offenbar ist A kein Normalbereich. Aber A ist leicht in Normalbereiche

zerlegbar, z.B. in die acht Teile, die durch Zerschneiden langs der Koordinatenachsen undden Winkelhalbierenden entstehen. Ein solcher Bereich hat die Flache∫ √

22

0

∫√2−√1−y2

y1dxdy =

∫ √2

2

0

(√2−

√1− y2 − y

)dy =

3

4−

∫ √2

2

0

√1− y2dy =

1

2−π

8.

Das Ergebnis ist daher F(A) = 4− π.

(8) Weitere Anwendungen. Sei A ∈ B2 beschrankt.

62

Page 63: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

(a) Masse, Ladung. Ist µ ∈ L1(A), µ ≥ 0 die Massendichte der Platte A, dann ist M =∫A µdλ

2 =∫A µ(x, y)dλ2(x, y) =

∫ ∫A µ(x, y)dxdy die Gesamtmasse der Platte A. Analog

ist Q =∫qdλ2 die Gesamtladung der Platte A, wenn q ∈ L1(A) die Ladungsdichte auf

der Platte bezeichnet.

(b) Momente, Massenmittelpunkt. Sei µ wie in (a) und k ∈ N0. Die zwei k–ten axialenTragheitsmomente sind Mx,k :=

∫ ∫A x

kµ(x, y)dxdy, My,k :=∫ ∫

A ykµ(x, y)dxdy.. Das

k−te polare Tragheitsmoment lautet M0,k :=∫ ∫

A(x2+y2)k2µ(x, y)dxdy. Der Massenmit-

telpunkt oder Schwerpunkt S hat die Koordinaten

xS :=1

M

∫ ∫Axµ(x, y)dxdy, yS :=

1

M

∫ ∫Ayµ(x, y)dxdy.

Den geometrischen Schwerpunkt erhalt man im Fall µ = 1.

Beispiel. Ist A ein Normalbereich vom Typ I, dann lauten

xS =1

F(A)

∫ ∫Axdxdy =

1

F(A)

∫ba

(∫o(x)u(x)

xdy

)dx =

1

F(A)

∫bax(o(x) − u(x))dx,

ys =1

F(A)

∫ ∫Aydxdy =

1

F(A)

∫ba

(∫o(x)u(x)

ydy

)dx =

1

F(A)

∫ba

1

2

(o(x)2 − u(x)2

)dx.

Speziell folgt fur den Halbkreis mit Radius r, dass xS = 0 wegen der Symmetrie bez. der y–Achseund yS = 1

r2π2

∫r−r

12(r

2 − x2)dx = 4r3π .

(9) Randintegral eines Vektorfeldes. Sei A ⊂ R2 ein regularer Bereich gemaß (4). DerRand ∂A besteht aus den geschlossenen stuckweise regularen Kurven w0, w1, · · · , wn. Ihre Pa-rametrisierung sei so, dass A stets links zur Laufrichtung liegt. Ein solcher positiver Umlaufliegt vor, wenn es zum Tangentialvektor w ′

i(t0) = (α,β) an wi an der Stelle wi(t0) (dieserTangentialvektor existiert nicht an hochstens endlich vielen Stellen), ein δ > 0 gibt derart, dassτ(−β,α) +wi(t0) ∈ A\∂A ∀ 0 < τ ≤ δ. Sind D ⊂ R2 mit ∂A ⊂ D und F : D → R2 ein stetigesVektorfeld, dann heißt ∫

∂AF · dw :=

n∑i=0

∫wi

F · dw

das Integral von F langs ∂A. Zur Erinnerung sei∫w F ·dw =

∫ba < F(w(t)), w(t) > dt angegeben,

vergleiche (21.4). Ist w stuckweise regular, dann ist∫w F · dw =

∫w F‖ ‖dw‖.

(10) Satz von Green. Sei A ein regularer Bereich und ∂A werde im positiven Sinne durchlau-fen, siehe (9). Weiter seien D ⊂ R2 offen mit A ⊂ D und F : D → R2 ein stetig differenzierbaresVektorfeld. Dann gilt ∫

∂AF · dw =

∫∫A

(∂

∂xF2(x, y) −

∂yF1(x, y)

)dxdy.

63

Page 64: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Beweis. Die Existenz der Integrale ist klar. Zunachst wird der Fall einer einzigen geschlossenenstuckweise regularen Randkurve w betrachtet. Einschlusse konnen anschließend leicht behandeltwerden. Wir beginnen mit zwei Spezialfallen.

(i) Sei F2 = 0 und A = (x, y) : a ≤ x ≤ b, u(x) ≤ y ≤ o(x) ein Normalbereich vom Typ I.Dann besteht ∂A aus den Kurvenstucken

w1 : [a, b] → R2, w1(x) = (x, u(x)), w2 : [u(b), o(b)] → R2, w2(y) = (b, y)

und den entgegengesetzt zu durchlaufenden Kurvenstucken

w?3 : [a, b] → R2, w?

3 = (x, o(x)), w?4 : [u(a), o(a)], w?

4 = (a, y).

Wegen F2 = 0 und w2,1 = 0, w4,1 = 0 folgt∫∂AF · dw =

4∑i=1

∫wi

F1dx =

∫baF1(x, u(x))dx+ 0−

∫baF1(x, o(x))dx− 0

HDI= −

∫ba

(∫o(x)u(x)

∂yF1(x, y)dy

)dx =

∫ ∫A

(−∂

∂yF1(x, y)

)dxdy.

Ist F1 = 0 und A ein Normalbereich vom Typ II, so folgt mit einer analogen Rechnung∫∂AF · dw =

∫ ∫A

∂xF2(x, y)dxdy.

Ein allgemeines Vektorfeld F laßt sich als F = G + H mit G := (F1, 0) und H := (0, F2) schrei-ben. Damit sind

∫∂A F ·dv =

∫∂AG ·dw+

∫∂AH ·dw und

∫ ∫A

(∂∂xF2(x, y) − ∂

∂yF1(x, y))dxdy =∫ ∫

A∂∂xH2(x, y)dxdy+

∫ ∫A

(− ∂∂yG1(x, y)

)dxdy. Falls nun A gleichzeitig vom Typ I und Typ II

ist, dann folgt aus den obigen Spezialfallen∫∂AG ·dw =

∫ ∫A

(− ∂∂yG1(x, y)

)dxdy,

∫∂AH ·dw =∫ ∫

A

(∂∂xH2(x, y)

)dxdy, weshalb fur ein solches A der Greensche Satz gilt. Dieses Ergebnis wird

im Folgenden lediglich fur den Fall benotigt, dass A ein Dreieck ist.

(ii) Sei nun A ein Polygon mit N > 3 Ecken. Man verbinde eine Ecke E durch ein im Innerenvon A verlaufendes Geradenstuck mit einer anderen Ecke. Wenn das nicht moglich ist, dannverlauft das die zwei benachbarten Ecken von E verbindende Geradenstuck im Inneren von A. Esentstehen zwei Polygone mit hochstens N−1 Ecken. Gilt fur diese der Greensche Satz, dann auchfur A, indem man die Formeln addiert, weil die innere Linie in beiden Richtungen durchlaufenwird und eine Menge vom Maß Null ist. Durch wiederholte Anwendung dieses Schritts reduziertman die Anzahl der Ecken auf 3. Fur ein Dreieck gilt der Greensche Satz nach (i), weil es ggf.in zwei Dreiecke zerlegbar ist, die sowohl vom Typ I wie vom Typ II sind.

(iii) Zum Beweis des allgemeinen Falls ohne Einschlusse ersetzt man den Rand von A durchn Sehnenstucke wie in (16.11). Bei genugender Feinheit δ der Zerlegung entsteht ein PolygonAδ ⊂ D. Nach (ii) gilt hierfur der Greensche Satz∫

∂Aδ

F · dwδ =

∫ ∫Aδ

(∂

∂xF2(x, y) −

∂yF1(x, y)

)dxdy.

Der Grenzubergang δ → 0 liefert∫∂Aδ

F·dwδ =∫∂Aδ

F‖‖wδ‖ → ∫∂A F‖‖w‖ =

∫∂A F·dw, was man

aufgrund der Stetigkeit und Beschranktheit von F‖ mit einem Beweis wie zur Rektifizierbarkeit(16.16) zeigt. Zur Behandlung des Flachenintegrals parametrisiere man die Randkurve w von

64

Page 65: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

A durch die Bogenlange. Sei L die Gesamtlange und δ := Ln . Fur die aquidistante Zerlegung

von [0, L] gilt Spurw ⊂ Vδ :=⋃n−1i=0 Uδ(w(si)), weil die Gerade gemaß (16.14)(a) die kurzeste

Verbindung zweier Punkte ist. Daher ist A ⊂ Aδ ∪ Vδ und Aδ ⊂ A ∪ Vδ mit

λ2(Vδ) ≤n−1∑i=0

λ2 (Uδ(w(si))) = nδ2π =L2

nπ → 0

und folglich∫

|1A − 1Aδ|dλ2 = λ2(A4Aδ) → 0 fur n → ∞. Weil der Integrand stetig und

beschrankt ist, folgt∫ ∫Aδ

(∂

∂xF2 −

∂yF1

)dxdy → ∫ ∫

A

(∂

∂xF2 −

∂yF1

)dxdy.

(iv) Nun wird der allgemeine Fall bewiesen. Wegen Kompaktheit wird der Abstand der außerenRandkurve w0 zu den inneren Randkurven wi angenommen. Verbinde zwei Punkte minimalenAbstands mit einem Geradenstuck G. Es verlauft im Inneren von A. Schneide A langs G auf. Esentsteht ein regularer Bereich A ′ mit einem Einschluss weniger. Hierfur gelte nach Induktions-voraussetzung der Greensche Satz. Genauer ist G durch ein paralleles Geradenpaar G1, G2 zuersetzen, dessen Abstand gegen Null geht. Dann heben sich die Beitrage langs G1 und G2 auf,da G1 und G2 in umgekehrter Richtung durchlaufen werden. Es folgt der Greensche Satz fur A.

Bemerkung. Setzt man voraus, dass das Innere des von der außeren Randkurve eingeschlossenenGebiets ganz zu D gehort, folgt der Fall mit Einschlussen durch Substraktion der Formeln ohneEinschluss.

Wichtige spezielle Formeln folgen aus dem Satz von Green.

(11) Beispiele. Sei A ein regularer Bereich.

(a) Mit den Vektorfeldern F(x, y) = (0, x) und F(x, y) = (−y, 0) folgt fur den Flacheninhalt dieLeibniz Sektorformel

F(A) =

∫∫Adxdy =

∫∂Axdy = −

∫∂Aydx =

1

2

∫∂A

−ydx+ xdy.

(b) Mit F(x, y) = (−x2y, 0) und F(x, y) = (0, 13x3) folgen fur das zweite Moment zu µ = 1 die

Gleichheiten Mx,2 = −∫∂A x

2ydx = 13

∫∂A x

3dy. Analog erhalt man My,2 =∫∂A xy

2dy =

−13

∫∂A y

3dx.

(c) Mit F = (0, 12x2) und F = (−xy, 0) folgt xS = 1

2F(A)

∫∂A x

2dy = − 1F(A)

∫∂A xydx. Analog

erhalt man yS = 1F(A)

∫∂A xydy = − 1

2F(A)

∫y2dy.

Ub Man zeige: Der geometrische Schwerpunkt des Bereiches A, der von der Zykloide w1(t) =

a(2π− t+ sin(t), 1− cos(t)), 0 ≤ t ≤ 2π und der Strecke w2(t) = (t, 0), 0 ≤ t ≤ 2πa begrenztwird, hat die Koordinaten

xS = πa und yS = −12

∫∂A y

2dx∫∂A ydx

=a3

2

∫2π0 (1− cos(t))3dt+ 0

a2∫2π0 (1− cos(t))2dt+ 0

=5

6a.

65

Page 66: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

(12) Ebener Satz von Gauß. Seien A ein regularer Bereich, D ⊂ R2 offen mit D ⊃ A undu : D → R zweimal stetig differenzierbar. Dann gilt∫∫

A4udxdy =

∫∂A

(−∂

∂yudx+

∂xudy

)=

∫∂A〈gradu,n〉 ds =

∫∂A∂nuds

bei Parametrisierung der Randkurve mittels der Bogenlange s. (Der Normalenvektor n(s) =

(w2(s),−w1(s)) hat Lange 1 und weist nach außen.) Fur eine harmonische Funktion u istwegen 4u = 0 das Integralmittel uber die Normalableitung ∂nu langs ∂A stets Null.

Beweis. Man wende den Satz von Green auf das Vektorfeld F := (−∂u∂y ,

∂u∂x ) an.

66

Page 67: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

29 Substitutionsformel fur dasmehrdimensionale Lebesgue Maß

Die bekannte Substitutionsregel∫ba f (g(t))g

′(t)dt =∫g(b)g(a) f(x)dx (siehe (9.26), (26.34) und

(26.36)(b)) besitzt eine Verallgemeinerung im Mehrdimensionalen. Als Spezialfall erhalt mandaraus (26.36)(a) fur lineare Transformationen.

Seien U, V ⊂ Rd offen. Eine Abbildung T : U → V heißt C1–Diffeomorphismus, wenn Tbijektiv ist und T und T−1 stetig differenzierbar sind. Nach dem Satz von der lokalen Inversen(19.6) ist T : U → V ein C1–Diffeomorphismus genau dann, wenn T bijektiv und stetig diffe-renzierbar ist und die totale Ableitung DT(a) invertierbar ist an allen Stellen a ∈ U. Bezuglichder Standardbasis von Rd wird DT(a) durch die Jacobi Matrix JT (a) dargestellt. Fur die totaleAbleitung der Umkehrabbildung T−1 gelten die Beziehungen DT−1(x) =

(DT(T−1(x))

)−1 und

| detDT−1(x)| =∣∣detDT

(T−1(x)

)∣∣−1. Fortan wird T auch eine Koordinatentransformationgenannt.

(1) Substitutionsformel. Es gilt

T(λdU

)=∣∣∣detDT−1

∣∣∣ λdV ,d.h. das Bildmaß des Lebesgue Maßes auf U bez. der Koordinatentransformation T ist absolut ste-

tig bez. des Lebesgue Maßes auf dem Bild V mit Radon–Nikodym AbleitungT(λd

U)dλd

V

= | detDT−1|.

Bemerkung. Ausgeschrieben bedeutet die Substitutionsformel

λd(T−1(A)

)=

∫A

∣∣∣detDT−1∣∣∣dλd

fur alle A ∈ Bd, A ⊂ V . Dies lasst sich auch so schreiben

λdV = T(|detDT | λdU

), λd(A) =

∫T−1(A)

|detDT |dλd.

Mit Hilfe der Satze (26.31), (26.32) zur Integration bez. eines Bildmaßes bzw. eines Maßes mitDichte folgt f ∈ L1(V) ⇔ |detDT | f T ∈ L1(U) und

∫Vf(y)dλd(y) =

∫Uf(T(x)) |detDT(x)|dλd(x)

Beweis. Der Beweis erfolgt in mehreren Schritten.

(a) Behauptung: I = [a, b[∈ Id\∅, I ⊂ U ⇒ λd (T(I)) ≤ supx∈I |detDT(x)| λd(I).

Beweis. Da λd(I) > 0 existiert c ≥ 0 mit λd(T(I)) = cλd(I). — Man zerlege I(0) := I durchHalbierung jeder Seite in 2d Teilquader. Unter diesen muss es einen Teilquader I(1) geben,

67

Page 68: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

der λd(T(I(1)))≥ cλd

(I(1))

erfullt. Wiederholt man diese Konstruktion fur I(1) anstellevon I(0) und so fort, erhalt man eine Folge

(I(k))k∈N mit I(k+1) ⊂ I(k) und

λd(T(I(k)))

≥ cλd(I(k)). (?)

Da I(k) kompakt ist und die Seitenlange von I(k) gegen Null geht, existiert z0 ∈ I mit⋂k

I(k) = z0 .

Sei ε > 0. Bezeichne x(k) den Mittelpunkt von I(k). Nun wird I(k) zu I(k)ε := (1 +

ε)(I(k) − x(k)

)+ x(k) aufgeblaht. Es genugt

T(I(k))⊂ T(z0) +DT(z0)

(I(k)ε − z0

)(??)

fur ein k zu zeigen, denn mit (?) und wegen der Eigenschaften (25.27), (25.31) des Le-besgue Maßes ergibt sich daraus cλd

(I(k))≤ λd

(T(I(k)))

≤ |detDT(z0)| λd(I(k)ε

)=

(1+ ε)d| detDT(z0)|λd(I(k)), weshalb c ≤ (1+ ε)d| detDT(z0)| ∀ ε > 0, woraus (a) folgt.

Es bleibt also (??) zu zeigen. Sei dk der Durchmesser und v das von k unabhangigeVerhaltnis der Lange der kurzesten Seite zum Durchmesser von I(k). Offenbar ist I(k) +12εvdk U1(0) ⊂ I

(k)ε . Sei η > 0 so klein, dass η

vDT(z0)−1(U1(0)) ⊂ U1(0). Es folgt

I(k) +1

2εdkη DT(z0)

−1(U1(0)

)⊂ I(k)ε .

Weil T an der Stelle z0 differenzierbar ist, existiert k ∈ N mit

‖T(x) − T(z0) −DT(z0)(x− z0)‖ ≤1

2εη ‖x− z0‖ ≤

1

2εηdk ∀ x ∈ I(k).

Daraus folgt fur alle x ∈ I(k), dass T(x) ∈ T(z0)+DT(z0)(x−z0)+ 12εηdk U1(0), was enthal-

ten ist in T(z0)+DT(z0)(I(k) + 1

2εdkη DT(z0)−1(U1(0)) − z0

)⊂ T(z0)+DT(z0)

(I(k)ε − z0

).

(b) Behauptung: I ∈ Id \ ∅, I ⊂ U ⇒ λd(I) ≥∫I | detDT |−1dT−1

(λdV).

Beweis. Sei k ∈ N. Man zerlege I durch k-fache Halbierung jeder Seite in disjunkte Teil-quader Ikj ∈ Id, 1 ≤ j ≤

(2d)k. Fur die Elementarfunktion

uk :=

2kd∑j=1

µkj1Ikjmit µkj :=

(supξ∈Ikj

| detDT(ξ)|

)−1

gilt∫I ukdT

−1(λdV)

=∑j µkj λ

d (T (Ikj))(a)

≤∑j λd (Ikj) = λd(I). Weil | detDT(·)|−1 ste-

tig ist, konvergiert (uk)k punktweise auf I gegen | detDT(·)|−1. Außerdem ist |uk| ≤ µ1Imit µ := (infξ∈I | detDT(ξ)|)−1 eine integrierbare Majorante, weil µ < ∞ ist aufgrundder Stetigkeit von | detDT(·)| > 0 auf dem Kompaktum I. Mit Hilfe des Satzes von dermajorisierten Konvergenz folgt daraus die Behauptung.

68

Page 69: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

(c) Behauptung: λd(A) ≥∫A | detDT |−1dT−1

(λdV)∀ A ∈ Bd, A ⊂ U.

Beweis. Sei ε > 0. Nach Definition des LB-Maßes (25.19) existieren In ∈ Id mit⋃n In ⊃ A

und λd(A) ≥∑n λ

d(In) − ε. Man nehme zunachst an, dass In ⊂ U ∀ n. Dann folgt

ε+ λd(A) ≥∑n

λd(In)(b)

≥∑n

∫In

| detDT |−1dT−1(λdV

)=

∑n

ν(In),

wobei ν das Maß | detDT |−1T−1(λdV) bezeichnet. Hierfur gilt die σ–Subadditivitat ν(A) ≤∑n ν(In), siehe (25.21). Also ist ε+ λd(A) ≥ ν(A) ∀ ε > 0 und somit λd(A) ≥ ν(A).Weil U offen ist, ist U die Vereinigung von abzahlbar vielen Quadern Qm ∈ J n mit

Qm ⊂ U. Fur jedes n sei Hm := In ∩ Qm. Damit ist In ∩ U =⋃mHm =

⋃mH

′m mit

H ′1 := H1, H

′m := Hm \ (H1 ∪ · · · ∪Hm−1). Die Figuren H ′

m ∈ Fd sind paarweise disjunktmit H ′

m ⊂ U und nach (25.3)(γ) Vereinigung von endlich vielen paarweise disjunktenJ ∈ Id. Es folgt, dass In ∩ U die Vereinigung von abzahlbar vielen paarweise disjunktenQuadern J mit J ⊂ U ist, weshalb die Behauptung allgemein gilt.

(d) Nun erfolgt der Beweis der Substitutionsformel. Nach (c) ist λdU ≥ | detDT |−1T−1(λdV). Die-se Formel bedeutet fur T−1 anstelle von T , dass λdV ≥

∣∣detDT−1∣∣−1 T (λdU). Aus der Defini-

tion des Maßes mit Dichte (26.32) folgt∣∣detDT−1

∣∣ λdV ≥ T (λdU) und aus der Definition desBildmaßes (25.26), (26.31) folgt λdU ≤ T−1

(∣∣detDT−1∣∣ λdV) =

∣∣(detDT−1) T∣∣ T−1

(λdV)

=

|detDT |−1 T−1(λdV). Also gilt die Gleichheit uberall, insbesondere T

(λdU)

=∣∣detDT−1

∣∣ λdV .

Die Polarkoordinaten in der Ebene und die Kugelkoordinaten im Raum wurden schon in (17.23)und (19.7) eingefuhrt.

(2) Polarkoordinaten in der Ebene. Nach (19.7)(a) ist T :]0,∞[×]0, 2π[→ R2\ (x, 0) : x ≥ 0,T(r,ϕ) := (r cos(ϕ), r sin(ϕ)) ein C1–Diffeomorphismus. Sei f : R2 → R messbar und setzef(r,ϕ) := r f(r cos(ϕ), r sin(ϕ)). Dann gilt f ∈ L1(R2) ⇔ f ∈ L1(]0,∞[×]0, 2π[) und∫∞

−∞∫∞−∞ f(x, y)dxdy =

∫2π0

∫∞0f(r cos(ϕ), r sin(ϕ))rdrdϕ.

Die Integrationsreihenfolgen durfen vertauscht werden.

Beweis. Es ist JT (r,ϕ) =

(cosϕ −r sinϕsinϕ r cosϕ

)und det JT (r,ϕ) = r. Gemaß (1) sei U :=

]0,∞[×]0, 2π[, V := T(U) = R2\ (x, 0) : x ≥ 0. Da R2\V eine λ2–Nullmenge ist, gilt f ∈ L1(R2) ⇔f1V ∈ L1(V), sowie

∫R2 fdλ

2 =∫V fdλ

2. Damit folgt die Behauptung aus (1).

Beispiel. Sei f : R2 → R rotationssymmetrisch, d.h. f(x, y) = g(√x2 + y2) mit einer Funktion

g : [0,∞[→ R. Mit T aus (2) ist (f T)(r,ϕ) = g(r). Ist g integrierbar bez. λ1[0,∞[, dann folgt∫R2

fdλ2 =

∫2π0

∫∞0g(r)rdrdϕ = 2π

∫∞0g(r)rdr.

Man bearbeite explizite Beispiele als Ubung. Fur g := 1[0,R] ergibt sich Flache der Kreisscheibemit Radius R. Mit f(x, y) = e−(x2+y2) und g(r) = er

2laßt sich bekanntlich mit Hilfe obiger

Formel das Gauß Integral berechnen.

69

Page 70: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

(3) Kugelkoordinaten im Raum. Die Abbildung T : U → V mit U :=]0,∞[×]0, π[×]0, 2π[

und V := R3\ (x, 0, z) : x ≥ 0, z ∈ R und T(r, ϑ,ϕ) := (r sin ϑ cosϕ, r sin ϑ sinϕ, r cos ϑ) ist einC1–Diffeomorphismus. Sei f : R3 → R messbar und setze f(r, ϑ,ϕ) := r2 sin ϑ f(T(r, ϑ,ϕ)). Danngilt f ∈ L1(R3) ⇔ f ∈ L1(U) und∫∞

−∞∫∞−∞

∫∞−∞ f(x, y, z)dxdydz =

∫2π0

∫π0

∫∞0f(T(r, ϑ,ϕ))r2 sin ϑdrdϑdϕ.

Die Integrationsreihenfolgen durfen vertauscht werden.

Beweis. Der Beweis verlauft analog zum Beweis von (2), weil R3\V eine λ3–Nullmenge ist. Indiesem Fall ist

JT (r, ϑ,ϕ) =

sin ϑ cosϕ r cos ϑ cosϕ −r sin ϑ sinϕsin ϑ sinϕ r cos ϑ sinϕ r sin ϑ cosϕ

cos ϑ −r sin ϑ 0

mit det JT (r, ϑ,ϕ) = r2 sin ϑ.

Beispiel. Sei f : R3 → R rotationssymmetrisch, d.h. f(x, y, z) = g(√x2 + y2 + z2) mit einer

Funktion g : [0,∞[→ R. Mit T aus (3) ist (f T)(r, ϑ,ϕ) = g(r). Ist g integrierbar bez. λ1[0,∞[,dann folgt

∫R3

fdλ3 =

∫2π0

∫π0

∫∞0g(r)r2 sin ϑdrdϑdϕ = 2π

∫π0

sin ϑdϑ∫∞0g(r)r2dr = 4π

∫∞0g(r)r2dr.

Als explizite Beispiele berechne man

das Volumen der Kugel mit Radius R, indem man g = 1[0,R] integriert.

das Gravitationspotenzial u(x0) der Kugel um 0 mit Radius R bez. der rotationssymme-trischen Dichte ρ im Punkt x0 /∈ UR(0)

u(x0) = γ

∫UR(0)

ρ(‖x‖2)‖x− x0‖2

dλ3(x) =γM

‖x0‖2,

wobei M := 4π∫R0 ρ(r)r

2dr die Gesamtmasse der Kugel ist.

——————————————————————————————————————————Wiederholung Substitutionsformel

Seien U,V ⊂ Rd offen und T : U → V eine Koordinatentransformation (d.h. T bijektiv undT, T−1 stetig differenzierbar). Dann gilt ∀f ∈ L1(U):∫

Vf(y)dλd(y) =

∫Uf(T(x))| detDT(x)|dλd(x)

——————————————————————————————————————————

70

Page 71: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

30 Integration uber Flachen im Raum

In diesem Kapitel behandeln wir vornehmlich regulare Flachenstucke im R3. Hierfur werden dieOberflachenintegrale von Skalar- und Vektorfeldern, sowie das Randintegral von Vektorfelderneingefuhrt und der Satz von Stokes bewiesen. Ein kurzer Abschnitt widmet sich allgemeinenk–dimensionalen Flachenstucken im Rd.

(1) Regulares Flachenstuck. Seien A ⊂ R2 ein regularer Bereich (28.4) und U ⊂ R2 offenmit A ⊂ U. Dann heißt x ∈ C1(U,R3) mit den Komponenten x(u, v) = (x(u, v), y(u, v), z(u, v))

eine Parameterdarstellung des regularen Flachenstucks

S := x(A) =x(u, v) ∈ R3 : (u, v) ∈ A

= (x(u, v), y(u, v), z(u, v)) : (u, v) ∈ A ,

wenn

(i) x|A injektiv ist und

(ii) die partiellen Ableitung ∂∂ux und ∂

∂vx in allen Punkten von A linear unabhangig sind.

(2) Bezeichnungen und Eigenschaften. Die Variablen (u, v) heißen die Parameter derDarstellung. Die Zuordnung A → S, (u, v) 7→ x(u, v) ist bijektiv, d.h. jeder Flachenpunkt istdurch seine Parameterwerte eindeutig bezeichnet.

Im Folgenden werde die partiellen Ableitungen ∂∂ux und ∂

∂vx mit xu und xv bezeichnet:

xu(u, v) =

xu(u, v)

yu(u, v)

zu(u, v)

, xv(u, v) =

xv(u, v)

yv(u, v)

zv(u, v)

.Nach Voraussetzung sind sie an jeder Stelle (u, v) ∈ A linear unabhangig. Das bedeutet, dassan jeder Stelle (u, v) ∈ A die Jacobi Matrix Jx(u, v) = (xu(u, v) xv(u, v)) vollen Rang hat odergleichwertig, dass xu(u, v)×xv(u, v) 6= 0 ist. Geometrisch bedeutet diese Voraussetzung, dass dieFlache S an keinem Punkt zu einer Kurve entartet ist. In jedem Punkt x(u0, v0) von S existiertdaher die Tangentialebene an S. Ihre Parameterdarstellung lautet

(λ, µ) 7→ x(u0, v0) + λxu(u0, v0) + µxv(u0, v0).

Senkrecht auf der Tangentialebene an S im Punkt x(u0, v0) steht die Flachennormale

n :=1

‖xu × xv‖2xu × xv.

Zu einer Kurve [a, b] 3 t 7→ (u(t), v(t)) ∈ A im Parameterbreich gehort die Flachenkurve

[a, b] 3 t 7→ w(t) := x(u(t), v(t)),

71

Page 72: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

deren Spur im Flachenstuck S liegt. Speziell sind die Parameterlinien u 7−→ x(u, v) (bei kon-stantem v) und v 7−→ x(u, v) (bei konstantem u) Scharen von Flachenkurven auf S.

Der Tangentialvektor an die Flachenkurve w in t lautet w(t) = u(t)xu(u(t), v(t)) +

v(t)xv(u(t), v(t)). Er liegt offenbar in der oben definierten Tangentialebene an S im Punktx(u(t), v(t)). Im Folgenden wird oft kurz

w = uxu + vxv

geschrieben, wobei die t− und u, v−Abhangigkeit unterdruckt wird. Außerdem schreibt man

allgemein |a| fur die Lange ‖a‖2 =√a21 + a22 + a23 und a · b fur das euklidische Skalarprodukt

〈a,b〉 in R3. Damit ist w·w = (uxu+vxv)(uxu+vxv) = (xu · xu)︸ ︷︷ ︸=:E

u2+2 (xu · xv)︸ ︷︷ ︸=:F

uv+(xv · xv)︸ ︷︷ ︸=:G

v2,

weshalb|w|2 = Eu2 + 2Fuv+Gv2.

Die Funktionen E, F, G heißen die metrischen Fundamentalgroßen des Flachenstucks. Z. B.ist die Bogenlange gleich l(t) =

∫ta |w(t ′)|dt ′ =

∫ta

√Eu2 + 2Fuv+Gv2dt ′. Wenn in jedem Punkt

xu · xv = 0, d.h. F = 0 gilt, dann heißt die Parametrisierung orthogonal. Die Parameterlinienkreuzen sich in diesem Fall uberall senkrecht.

Besonders interessant wird im Folgenden die Große

|xu × xv| =√EG− F2

(weil |a × b|2 = |a|2|b|2 − (a · b)2) sein. Wegen |xu × xv| = |xu||xv| sin∠(xu,xv) ist diese dieFlache des von xu und xv aufgespannten Parallelogramms. Daher heißt

dO(u, v) := |xu(u, v)× xv(u, v)|dλ2(u, v)

das (Ober–)Flachenelement von S und

|xu × xv| λ2A

das Flachenmaß. Letzteres ist ein Maß mit Dichte bezuglich des Lebesgue Maßes auf A.

Der Rand eines regularen Flachenstucks ist definitionsgemaß Rand(S) := x(∂A). Doch Vorsicht,dieser ist nicht der Rand ∂S der Teilmenge S ⊂ R3 in R3, der gleich ganz S ist. Deshalb ist eineunterschiedliche Bezeichnung notig.

Eine Teilmenge S ⊂ R3, die aus mehreren regularen Flachenstucken S1, S2, · · · , Sr zusam-mengesetzt ist, von denen je zwei langs gemeinsamer Randstucke zusammenhangen, sonst aberkeine weiteren gemeinsamen Punkte haben, nennt man ein stuckweise regulares Flachenstuck.Dafur definiert man allgemeiner Rand(S) als die Vereinigung alle Randstucke, die nur einem derFlachenstucke S1, · · · , Sr angehoren. Das Flachenstuck S heißt geschlossen, wenn Rand(S) = ∅.Typischerweise sind die Oberflachen von Korpern geschlossene stuckweise regulare Flachenstucke.

(3) Beispiele fur Flachenstucke.

(a) Graphen. Seien A,U wie in (1) und f : U → R stetig differenzierbar. Setze x : U →R3, x(x, y) := (x, y, f(x, y)). Dann ist x eine Parametrisierung mit Parametern x, y des re-gularen Flachenstucks S := x(A) = Graph(f|A) =

(x, y, z) ∈ R3 : (x, y) ∈ A, z = f(x, y)

.

72

Page 73: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Beweis. Es ist x ∈ C1(U,R3) und x ist injektiv, denn: (x, y, f(x, y)) = (x ′, y ′, f(x ′, y ′)) ⇒x = x ′, y = y ′ ⇒ f(x, y) = f(x ′, y ′). Schließlich sind die partiellen Ableitungen linearunabhangig, weil

xx =

1

0

fx

,xy =

0

1

fy

, xx × xy =

−fx−fy1

6= 0,

wobei fx := ∂∂xf, fy := ∂

∂yf.

Fur die Fundamentalgroßen erhalt man E = 1+ f2x, F = fxfy, G = 1+ f2y. Die Parameter-linien sind die Schnitte mit den Ebenen (x, y, z) : x konstant bzw. (x, y, z) : y konstant.

Das Flachenmaß lautet√1+ f2x + f2y λ

2A.

(b) Niveaumengen. Seien W ⊂ R2 × R offen und F : W → R stetig differenzierbar. Weitersei (x0, y0, z0) ∈W mit F(x0, y0, z0) = 0 und Fz(x0, y0, z0) 6= 0 (wobei Fz = ∂

∂zF).Nach dem Satz uber implizite Funktionen (19.11) existieren offene Mengen U ⊂ R2 und

Z ⊂ R derart, dass (x0, y0, z0) ∈ U × Z ⊂ W und genau eine Funktion f : U → Z mitF(x, y, f(x, y)) = 0 ∀ (x, y) ∈ U. Die Funktion f ist stetig differenzierbar mit

grad f(x, y) =−1

Fz(x, y, f(x, y))(Fx(x, y, f(x, y)), Fy(x, y, f(x, y))).

Sei nun A ⊂ U ein regularer Bereich. Nach (a) ist dann

S := Graph(f|A) ⊂ (x, y, z) ∈W : F(x, y, z) = 0 = F−1 (0) = NF,0

ein regulares Flachenstuck mit Fundamentalgroßen und Flachenmaß

E = 1+

(Fx

Fz

)2, F =

FxFy

F2z, G = 1+

(Fy

Fz

)2,

√1+

(Fx

Fz

)2+

(Fy

Fz

)2λ2A.

Als konkretes Beispiel dazu betrachte manW = R3, F : R3 → R, F(x, y, z) := x2+y2+z2−1

und (x0, y0, z0) = (0, 0, 1). Offenbar ist NF,0 die Einheitssphare.Dann sind Fx(x, y, z) = 2x, Fy(x, y, z) = 2y, Fz(x, y, z) = 2z und F(0, 0, 1) = 0, Fz(0, 0, 1) =

2 6= 0. Die Auflosung von F(x, y, z) = 0 nach z ergibt

z = ±√1− x2 − y2.

Fur f : U → Z, f(x, y) :=√1− x2 − y2, mit U :=

(x, y) : x2 + y2 < 1

und Z :=]0,∞[

gilt somit (0, 0, 1) ∈ U × Z und Graph(f) ⊂ NF,0. Außerdem sind E(x, y) = 1 + x2

1−x2−y2 ,

F(x, y) = 1 + xy1−x2−y2 , G(x, y) = 1 + y2

1−x2−y2 die Fundamentalgroßen und dO(x, y) =(1− x2 − y2

)− 12 dλ2(x, y) das Oberflachenelement.

(c) Drehflachen. Eine regulare Kurve [a, b] 3 t 7→ (x(t), 0, z(t)) ∈ R3 ohne Doppelpunkteund mit x(t) > 0 ∀ t ∈ [a, b] wird um die z−Achse um den Winkel ϕ0 ∈]0, 2π[ gedreht. Esentsteht ein regulares Flachenstuck S = x(A) mit Parametrisierung x ∈ C1(U,R3), wobeiU :=]a, b[×]ϕ1 − 2π,ϕ1[ fur ein ϕ1 ∈]ϕ0, 2π[ und

x(t,ϕ) :=

cos(ϕ) − sin(ϕ) 0

sin(ϕ) cos(ϕ) 0

0 0 1

x(t)

0

z(t)

T = (x(t) cos(ϕ), x(t) sin(ϕ), z(t)).

73

Page 74: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Der regulare Bereich A ⊂ U ist dabei [t0, t1]× [0,ϕ0] mit a < t0 < t1 < b.Die Parameterlinien fur konstantes t heißen Breitenkreise und fur konstantes ϕ Me-

ridiane. Man berechnet fur die partiellen Ableitungen

xt =

x cos(ϕ)

x sin(ϕ)

z

,xϕ =

−x sin(ϕ)

x cos(ϕ)

0

, xt · xϕ = 0, xt × xϕ = x

−z cosϕ−z sinϕ

x

.Daher sind E = x2 + z2, F = 0 und G = x2. Es handelt sich um eine orthogonale Parame-trisierung, weil F = 0. Fur das Oberflachenelement erhalt man

dO(t,ϕ) = x√x2 + z2 dλ2(t,ϕ).

Man beachte, dass x > 0.Bei der vollen Umdrehung, d.h. ϕ0 = 2π, sind die Breitenkreise geschlossen und daher

ist die Drehflache S nur noch stuckweise regular, etwa S = S1 ∪ S2 mit S1 zu 0 ≤ ϕ ≤ πund S2 zu π ≤ ϕ ≤ 2π. Es ist dann

Rand(S1) = (x(t), 0, z(t)) : t0 ≤ t ≤ t1 ∪ (−x(t), 0, z(t)) : t0 ≤ t ≤ t1∪

(x(t0) cosϕ, x(t0) sin(ϕ), z(t0)) : 0 ≤ ϕ ≤ π∪(x(t1) cosϕ, x(t1) sin(ϕ), z(t1)) : 0 ≤ ϕ ≤ π

und Rand(S2) entsprechend. — Bekannte Drehflachen sind etwa die Sphare, der Torus,der Zylinderstumpf und der Kegelstumpf.

(4) Flacheninhalt. Der Flacheninhalt eines reguaren Flachenstuckes S ist definitionsgemaß

O(S) :=

∫SdO =

∫A

|xu × xv|d2λ =

∫∫|xu(u, v)× xv(u, v)|dudv.

Ist S = S1∪. . .∪Sr stuckweise regular, dann ist O(S) := O(S1)+. . .+O(Sr) sein Flacheninhalt.Offenbar kommt es nicht auf die spezielle Zerlegung in regulare Flachenstucke an.

(5) Fast uberall Parametrisierung. Sei S stuckweise regular. Seien dazu A ⊂ R2 ein re-gularer Bereich (28.4), U ⊂ R2 offen mit A ⊂ U und x ∈ C1(U,R3). Wir nennen x eine fastuberall Parametrisierung von S, wenn S = x(A) und eine λ2–Nullmenge N existiert derart, dassx|(A \N) injektiv ist und die partiellen Ableitung xu und xv in allen Punkten von A \N line-ar unabhangig sind. Im Falle einer fast uberall Parametrisierung gilt fur die Oberflache von Sweiterhin die Formel O(S) =

∫S dO =

∫A |xu × xv|d2λ.

Beweis. Seien Vn ⊂ R2 offen mit Vn ↓ N und λ2(Vn) → 0. Setze An := A\Vn und Sn := x(An).Dafur gilt O(Sn) =

∫An

|xu×xv|d2λ → ∫A |xu×xv|d2λ. Man uberlegt sich, dass auch O(Sn) →

O(S) gilt, woraus die Behauptung folgt.

(6) Beispiele. (a) Fur einen Graphen S gemaß (3)(a) gilt

O(S) =

∫∫A

√1+ f2x(x, y) + f2y(x, y)dxdy.

74

Page 75: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

(b) Fur eine Drehflache S gemaß (3)(c) gilt die erste Regel von Guldin

O(S) =

∫∫Ax(t)

√x(t)2 + z(t)2 dtdϕ = ϕ0

∫ t1t0

x(t)

√x2(t) + z2(t)dt = ϕ0

∫xxd|x| = ϕ0 L xS,

wobei L die Lange und xS := 1L

∫x xd|x| die x–Koordinate des Schwerpunkts des Kurvenstucks

ist, das rotiert wird. Fur die volle Drehflache folgt

O(S) = 2πL xS

nach (5) weil S = S1 ∪ S2 nach (3)(c) stuckweise reguar ist. Es folgen zwei konkrete Beispiele.

Sphare. Die Sphare S entsteht durch Drehung eines Halbkreises um die Achse, die den Kreishalbiert. In der Notation von (3)(c) ist x(t) = R sin t, z(t) = R cos t fur t ∈ [0, π], wobei R derRadius des Kreises ist. Durch Drehung erhalt man die Koordinaten

x(t,ϕ) = (R sin t cosϕ,R sin t sinϕ,R cos t), 0 ≤ t ≤ π, 0 ≤ ϕ ≤ 2π.

Diese sind keine Parametrisierung der Sphare, weil x wegen x(t, 0) = x(t, 2π) nicht injektivist und weil xϕ = 0 im Nord- und Sudpol. Doch ist S ein stuckweise regulares FlachenstuckS = S1 ∪ · · · ∪ S4 mit Si := x(Ri) und R1 := [ε, π − ε] × [0, π], R2 := [ε, π − ε] × [π, 2π], R3 :=

[0, ε]×[0, 2π] und R4 := [π−ε, π]×[0, 2π]. Die Kappen S3 und S4 mussen allerdings wegen xϕ = 0

an den Polen neu parametrisiert werden, etwa als Graph (x, y,±√R2 − x2 − y2) : (x, y) ∈ A

mit A := (x, y) ∈ R2 : x2+y2 ≤ R2 sin2 ε. Weil λ2(A) → 0 fur ε → 0, verschwindet der Beitragder Kappen. Daher gilt nach (5) und nach (b)

O(Sphare) = 2π

∫π0R sin t Rdt = 4πR2.

Torus. Dieser entsteht durch Drehung eines Kreises um eine außere Achse. Der Kreis mit Radiusr und Mittelpunkt (R, 0, 0), wobei r < R ist, werde durch x(t) = R + r sin t, z(t) = r cos t fur0 ≤ t ≤ 2π beschrieben. Damit folgen die Koordinaten des Torus

x(t,ϕ) = ((R+ r sin t) cosϕ, (R+ r sin t) sinϕ, r cos t)

fur 0 ≤ t ≤ 2π, 0 ≤ ϕ ≤ 2π. Der Torus ist offenbar stuckweise regular. Aus x(t) = r cos(t),z(t) = −r sin t folgt

√x(t)2 + z(t)2 = r und somit mit (5) und (b)

O(Torus) = 2π

∫2π0

(R+ r sin t)r dt = 4π2Rr.

In den Ubungen wird noch das hyperbolische Paraboloid behandelt.

(7) Oberflachenintegral einer skalaren Funktion. Sei S = x(A) ein regulares Flachenstuckmit Parametrisierung x. Ein Skalarfeld f : S → R heißt messbar bzw. integrierbar, wennf x : A → R messbar bzw. integrierbar ist. Sei f ein integrierbares Skalarfeld. Dann heißt∫

Sf dO :=

∫Sf(x)dO(x) :=

∫Af x |xu × xv|dλ2 =

∫∫Af(x(u, v)) |xu(u, v)× xv(u, v)|dudv

das (Ober-)Flachenintegral von f auf S. Ist S = S1∪. . .∪Sr stuckweise regular, dann definiertman das Flachenintegral von f als ∫

Sf dO :=

r∑i=1

∫Si

f dO.

75

Page 76: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

(8) Beispiele. (a) Fur f = 1 ist∫S 1 dO = O(S) die Oberflache von S.

(b) Ist f = ρ eine Massen– oder Ladungsbelegung von S. Dann ist∫S ρdO die Gesamtmasse

von S bzw. die Gesamtladung auf S.

(c) Fur ρ wie in (b) ist∫Sρ(x)‖x−a‖ dO(x) das Gravitationspotenzial bzw. elektrostatisches Po-

tential in a ∈ R3. Mit der Notation x = (x1, x2, x3) sind Mi,k :=∫S xki ρ(x)dO(x) die k-ten

Momente undxi,S :=

1

M

∫Sxiρ(x)dO(x)

die Koordinaten des Massenmittelpunktes, wobei M ist Gesamtmasse bezeichnet.

(d) Als konkretes Beispiel werde das Tragheitsmoment Iz =∫S(x

2 + y2) M4πR2 dO(x) der Ku-

gelschale S =x2 + y2 + z2 = R2

bez. der z−Achse bei homogener Massendichte und

Gesamtmasse M berechnet. — Fur die Koordinaten x(t,ϕ) der Sphare aus (6) gilt

xt = R

cos t cosϕcos t sinϕ

− sin t

, xϕ = R

− sin t sinϕsin t cosϕ

0

, xt × xϕ = R2

sin2 t cosϕsin2 t sinϕcos t sin t

.Weil |xt × xϕ|2 = R2 sin2 t, ist das Oberflachenelement dO = R2 sin t dtdϕ und damit

Iz =M

4πR2

∫2π0

∫π0R2 sin2 t R2 sin t dt dϕ =

2

3MR2.

Allgemeines k-dimensionales Flachenstuck in Rd

(9) Definition. Seien k, d ∈ N mit k ≤ d. Weiter seien A ⊂ Rk kompakt und U ⊂ Rk offenmit A ⊂ U. Dann heißt x ∈ C1(U,Rd) eine Parameterdarstellung des Flachenstucks S := x(A),wenn

(i) x|A injektiv ist und

(ii) die partiellen Ableitungen xui= ∂ui

x, i = 1, . . . , k in allen Punkten u = (u1, . . . , uk) ∈ Alinear unabhangig sind.

Die Bedingung (ii) bedeutet, dass die Jacobi Matrix Jx(u) = (xu1(u) . . . xuk

(u)) in allen Punk-ten u ∈ A vollen Rang k hat. Aus der Jacobi Matrix gewinnt man die quadratische positiveGram Matrix

G(u) := Jx(u)T Jx(u) ∈ Rk,k.

Sie wird auch metrischer Tensor genannt. Da

G = JTxJx =

xTu1...

xTuk

(xu1· · ·xuk

) =(⟨

xui,xuj

⟩)1≤i,j≤k ,

76

Page 77: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

sind die Matrixelemente von G die euklidischen Skalarprodukte im Rd der Tangentialvektorenan die Parameterlinien.

Mit Hilfe der Gram Determinante g(u) := detG(u) > 0 definiert man das (Ober–)Flachen-element und das Flachenmaß

dO(u) :=√g(u)dλk(u),

√gλkA

von S. Letzteres ist ein Maß mit Dichte√g bezuglich des Lebesgue Maßes auf A. Weiter werden

Messbarkeit und Integrierbarkeit eines skalaren Feldes f : S → R wortlich wie in (7) definiert.Ist f ein integrierbares Skalarfeld auf S, dann ist∫Sf dO =

∫Sf(x)dO(x) =

∫Af x

√gdλk =

∫. . .

∫Af(x(u1, . . . , uk))

√g(u1, . . . , uk)du1 . . . duk

das Oberflachenintegral von f auf S. Der letzte Ausdruck ist ein k-faches iteriertes Integral.

(10) Bekannte Spezialfalle von (9).

(a) Seien k = 1, d ≥ 2 und A = [a, b]. Dann ist x|A ist C1–Kurve in Rd und S ihre Spur.Der Parameter heiße t. Damit ist G(t) = 〈x(t), x(t)〉, weshalb

√g(t) = ‖x(t)‖2. Daher ist

dO(t) = ‖x(t)‖2 dt und∫SfdO =

∫xf ‖dx‖ =

∫baf(x(t)) ‖x(t)‖2 dt

das Kurvenintegral eines skalaren Feldes.

(b) Seien k = 2, d = 3. Dann ist x(A) ein Flachenstuck in R3. Die Parameter seien u, v.Damit ist

G =

(〈xu,xu〉 〈xu,xv〉〈xv,xu〉 〈xv,xv〉

)und detG = EG − F2 = |xu × xv|2. Daher ist

√gdλ2A das Flachenmaß aus (2) und es gilt

die Integralformel aus (7).

(c) Sei k = d ≥ 1. In diesem Fall ist die Jacobi Determinante det(Jx(u, v)) 6= 0 an jeder Stelle(u, v) ∈ A. Aus Stetigkeitsgrunden existiert daher eine offene Menge U ′ ⊂ U mit A ⊂ U ′,worauf die Jacobi Determinante nicht verschwindet. Aus dem Satz von der lokalen Inversen(19.6) folgt, dass T := x|U ′ ein C1−Diffeomorphismus auf das Bild ist. Da G = JTxJx, ist√g = |detDx| = | detDT |. Es folgt die Substitutionsformel (29.1).

(11) Parametertransformation. Sei S = x(A) ein k–dimensionales Flachenstuck gemaß (9).Sei U ⊂ Rk offen und T : U → U ein C1−Diffeomorphismus. Setze A := T−1(A). Man nenntT eine Parametertransformation und x := x T : U → Rd die neue Parameterdarstellung desFlachenstucks S = x(A) = x(A). Dann ist∫

Sf dO =

∫Sf(x)dO(x) =

∫Sf(x)dO(x),

d.h. das Oberflachenintegral ist unabhangig von der Parametrisierung.

77

Page 78: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Beweis. Seien u ∈ U die neuen und u = T(u) ∈ U die alten Parameter. Mit der Kettenregel folgtJx(u) = Jx(T(u))JT (u) = Jx(u)JT (u). Daher ist G(u) = Jx(u)T Jx(u) = JT (u)T Jx(u)T Jx(u)JT (u) =

JT (u)TG(u)JT (u). Es folgt√g(u) =

√g(u) |det JT (u)| =

√g(u) |det JT−1(u)|−1 .

Daher ist∫S f(x)dO(x) =

∫A fx(u)

√g(u)dλk(u) =

∫A(fx)(T(u))

√g(T(u)) |det JT (u)|dλk(u),

was gemaß der Substitutionsformel (29.1) gleich∫A(f x)(u)

√g(u)dkλ(u) =

∫S f(x)dO(x) ist.

Also ist∫S fdO invariant unter einer Parametertransformation.

Wir wenden uns wieder regularen Flachenstucken im R3 zu.

(12) Oberflachenintegral eines Vektorfeldes im R3. Sei S = x(A) ein regulares Flachenstuckim R3 mit Parametrisierung x und Flachennormalen n = 1

|xu×xv|xu × xv. Weiter sei F : S → R3

ein integrierbares Vektorfeld, d.h. die Komponenten Fi von F = (F1, F2, F3) seien integrierbargemaß (7). Dann heißt das Flachenintegral (7) der Normalkomponente F · n = 〈F,n〉 von F∫

SF · dO :=

∫SF · ndO =

∫A(F x) · (xu × xv)dλ2 =

∫A

[F x,xu,xv]dλ2

das Oberflachenintegral von F auf S. Es heißt auch der Fluss von F durch S. Man nennt

dO := ndO = xu × xv dλ2

das vektorielle Flachenelement von S. Falls S stuckweise regular ist, setzt man∫SF · dO =∑r

i=1

∫Si

F · dO.

(13) Bedeutung. Das Spatprodukt

[F x,xu,xv] = det

F1 x xu xvF2 x yu yvF3 x zu zv

gibt das vorzeichenbehaftete Volumen des von den drei Vektoren aufgespannten Spats (Prismas)an. Interpretiert man F als das Geschwindigkeitsfeld einer stationaren, d.h. zeitlich unveranderli-chen Flussigkeitsstromung, dann ist F·dO das Volumen der Flussigkeit, die pro Zeiteinheit durchdie Oberflache dO fließt. Diese ist positiv, falls ∠(F, n) spitz ist, sonst negativ. Dementsprechendist

∫SF · dO das Gesamtvolumen der Flussigkeit, die pro Zeiteinheit durch den Querschnitt S

hindurchstromt.

(14) Beispiele.

(a) Im Fall, dass S ein Graph ist wie in (3)(a) beschrieben, ist xx × xy = (−fx,−fy, 1)T und

somit [F,xx,xy] = −F1fx − F2fy + F3. Daher folgt∫SF·dO =

∫∫A

[ −F1(x, y, f(x, y))fx(x, y) − F2(x, y, f(x, y))fy(x, y) + F3(x, y, f(x, y)) ]dxdy.

78

Page 79: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

(b) Als konkretes Beispiel berechnen wir den Fluss des Feldes F(x, y, z) = (2z, x+y, 0) durch dieSphare

(x, y, z) : x2 + y2 + z2 = R2

von innen nach außen. Wir benutzen die ubliche fast

uberall Parametrisierung x(ϑ,ϕ) = (R sin ϑ cosϕ,R sin ϑ sinϕ,R cos ϑ), 0 ≤ ϑ ≤ π, 0 ≤ϕ ≤ 2π der Sphare. Die Flachennormale n(ϑ,ϕ) = (sin ϑ cosϕ, sin ϑ sinϕ, cos ϑ) ist gleichdem normierter Ortsvektor und das Oberflachenelement lautet dO = R2 sin ϑdϑdϕ. Damitergibt sich

∫SF · dO =

∫π0

∫2π0

2R cos ϑR sin ϑ(sinϕ+ cosϕ)

0

·

sin ϑ cosϕsin ϑ sinϕ

cos ϑ

dϕR2 sin ϑdϑ =

= R3∫π0

(∫2π0

sin2 ϑ sin2ϕdϕ)

sin ϑdϑ =4

3πR3.

(15) Randintegral eines Vektorfeldes in R3. Sei S = x(A) ein regulares Flachenstuckgemaß (1). Der Rand ∂A des regularen Bereichs A ⊂ R2 bestehe aus den stuckweise regularengeschlossenen Kurven w0, . . . , wn und werde positiv umlaufen (siehe (28.9)). Rand(S) = x(∂A)

besteht daher aus den geschlossenen stuckweise regularen Kurven x w0, . . . ,x wn in R3. SeiF ein stetiges Vektorfeld auf S. Dann heißt das Kurvenintegral (21.4) von F langs Rand (S)∫

Rand(S)F · dx :=

n∑i=0

∫xwi

F · d(x wi)

das Randintegral von F bez. S.

(16) Lemma. Fur das Hilfsvektorfeld F in R2 auf A mit F(u, v) := Dx(u, v)T (F x)(u, v) =

(〈xu(u, v),F(x(u, v))〉, 〈xv(u, v),F(x(u, v))〉)T gilt∫Rand(S)

F · dx =

∫∂AF · dw.

Beweis.∫xwi

F·d(xwi) =∫bi

aiF(xwi(t))· ddt(xwi(t))dt =

∫bi

ai(Fx)(wi(t))·Dx(wi(t))wi(t)dt =∫bi

aiDx(wi(t))

T (Fx)(wi(t)) ·wi(t)dt =∫wiF ·dwi. Die Summation uber i ergibt

∫∂A F ·dw.

(17) Satz von Stokes im R3. Sei S = x(A) ein regulares Flachenstuck. Die Parametrisierungx : U → R3 sei 2–mal stetig differenzierbar. Weiter sei V ⊂ R3 offen mit S ⊂ V und F : V → R3ein stetig differenzierbares Vektorfeld. Dann gilt∫

Rand(S)F · dx =

∫S(rotF) · dO.

Beweis. Mit (16) und dem Satz von Green (28.10) folgt∫Rand(S)

F · dx =

∫∂AF · dw =

∫A

(∂

∂uF2 −

∂vF1

)dλ2

79

Page 80: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

und ∂uF2(u, v) − ∂vF1(u, v) = 〈∂u∂vx(u, v),F(x(u, v))〉 + 〈∂vx(u, v), DF(x(u, v))∂ux(u, v)〉 −

〈∂v∂ux(u, v),F(x(u, v))〉−〈∂ux(u, v), DF(x(u, v))∂vx(u, v)〉 = 〈xv(u, v), DF(x(u, v))xu(u, v)〉−〈xu(u, v), DF(x(u, v))xv(u, v)〉 = 〈rotF(x(u, v)),xu(u, v)× xv(u, v)〉. Dabei besteht das letzteGleichheitszeichen, weil fur jedes A ∈ R3,3 und dazu a := (a32 − a23, a13 − a31, a21 − a12) diealgebraische Identitat

〈x,Ay〉− 〈y,Ax〉 = 〈a,x× y〉 ∀ x, y ∈ R3

gilt. Es folgt die Behauptung nach Definition von∫S(rotF) · dO.

Obige Identitat sieht man wie folgt ein. Offenbar ist die linke Seite gleich 〈(AT −A)x, y〉 und das Spatpro-dukt gleich 〈a× x, y〉. Es bleibt nachzuprufen, dass fur jedes schiefsymmetrische B ∈ R3,3 die BeziehungBx = b× x mit b := (b32, b13, b21) gilt.

(18) Orientierbarkeit. Im Satz von Stokes (17) ist das regulares Flachenstuck S = x(A) imfolgenden Sinn positiv orientiert. Blickt man auf die Oberseite des Flachenstucks, d.h. inGegenrichtung zur Flachennormalen n = 1

xu×xvxu × xv, dann wird der Rand so durchlaufen,

dass S links liegt.

Der Satz von Stokes gilt allgemein fur stuckweise regulare Flachenstucke S = S1∪. . .∪Sr (sie-he (30.2)), wenn Rand(S) aus einfach geschlossenen disjunkten Kurven besteht, die regularenFlachenstucke Si positiv orientiert sind und wenn gemeinsame Randstucke in entgegengesetztenRichtungen durchlaufen werden. Dies laßt sich auch kurz so beschreiben: Man denke sich dieKanten von S abgerundet. Dann ist n ein stetiges Vektorfeld auf S und RandS wird positivdurchlaufen. — Der Beweis des Satzes von Stokes in dieser Situation ergibt sich einfach durchAddieren der Beitrage aller regularen Teilflachenstucke.

Nicht orientierbar ist z.B. das Mobiusband. Dies ist ein ebenes Band, was einmal verdrehtwird und dessen Enden danach verbunden werden. Es ist ein stuckweise regulares Flachenstuckmit zwei ringformigen disjunkten Randkurven.

Ub Das positiv orientierte regulares Flachenstuck S = x(A) soll so umparametrisiert werden(siehe (11)), dass bei positiver Orientierung Rand (S) in umgekehrter Richtung durchlaufenwird.Losung. Gesucht ist offenbar eine Parametrisierung x derart, dass S = x(A) und n(u, v) =

−n(u, v) ist. Naheliegend ist T : R2 → R2, T(u, v) := (v, u) und A := T−1(A), x := x T .Dafur ist Dx(u, v) = Dx(T(u, v)) T (weil T linear ist) = Dx(u, v) T . Das bedeutet (xu xv) =

(xu xv)(0 1

1 0

)= (xv xu). Daher ist xu × xv = xv × xu = −xu × xv wie gewunscht.

Ub Aus dem Satz von Stokes in der Ebene leite man den Satz von Green ab, gewinne dieSubstitutionsformel fur λ2 und erhalte eine Sektorformel (vgl. (28.11)(a)).Losung. Sei S eben, d.h. o.E. x(u, v) = (x(u, v), y(u, v), 0) und xu×xv = (0, 0, xuyv−xvyu) mitxuyv−xvyu > 0. In diesem Fall ist Rand (S) = ∂S, n = (0, 0, 1), xuyv−xvyu = | detD(x, y)| und(rotF) · dO = (rotF) · ndO = (rotF)3 dO = (∂xF2 − ∂yF1)dO = (∂xF2 x − ∂yF1 x)(xuyv −

xvyu)dλ2. Der Satz von Stokes besagt dann

∫∂S(F1, F2) · d(x, y) =

∫S(∂xF2 − ∂yF1)dO, wobei

F1 und F2 hier nur noch von zwei Variablen abhangen. Daraus folgt der Satz von Green (28.10),indem man x(u, v) := u und y(u, v) := v wahlt. — Fur die Vektorfelder F(x1, x2) = (−x2, 0)

80

Page 81: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

oder (0, x1) gilt ∂1F2 − ∂2F1 = 1. Somit folgt nach Stokes

O(S) =

∫SdO =

∫A

| detD(x, y)|dλ2 und O(S) = −

∫∂Sx2 dx1 =

∫∂Sx1 dx2.

Explizit bedeutet z. B. das letzte Integral∫∂S x1 dx2 =

∑ni=0

∫bi

aix(wi(t))

ddty(wi(t))dt.

(19) Beispiel. Das Vektorfeld F(x, y, z) = (−y3, x3,−z3) stelle das Geschwindigkeitsfeld ei-ner Stromung in dem Zylinder

(x, y, z) : x2 + y2 = 1

dar. Wir berechnen das Kurvenintegral∫

Rand(S) F · dx von F langs der Schnittkurve Rand(S) des Zylinders mit der Ebene (x, y, z) :

x+ y+ z = 1.1. Methode. Man parametrisiert die Schnittkurve Rand (S) durch x = cos t, y = sin t undz = 1− sin t− cos t fur 0 ≤ t ≤ 2π. Damit folgt

∫Rand(S)

F · dx =

∫2π0

F(w(t)) · w(t)dt =

∫2π0

− sin3 tcos3 t

−(1− sin t− cos t)3

·

− sin tcos t

− cos t+ sin t

dt=

∫2π0

[sin4 t+ cos4 t− (1− sin t− cos t)3(− cos t+ sin t)]dt = . . .

2. Methode. Man wende den Satz von Stokes an. Danach ist∫

Rand(S) F ·dx =∫S rotF ·dO. Dazu

wird S wie folgt parametrisiert: A :=(x, y) : x2 + y2 ≤ 1

, x(x, y) := (x, y, 1 − x − y). Dafur

ist

xx =

1

0

−1

, xy =

0

1

−1

, xx × xy =

1

1

1

, rotF(x, y, z) =

0

0

3x2 + 3y2

.Hiermit erhalt man fur das Spatprodukt [(rotF) x · (xx × xy)](x, y) = 3(x2 + y2) und∫

Rand(S)F · dx = 3

∫∫A(x2 + y2)dxdy = 3

∫10

∫2π0r2rdϕdr =

3

2π.

Man beachte: Offenbar kann die Flache S durch jedes in Rand(S) eingespannte regulare Flachenstuckersetzt werden.

(20) Deutung der Rotation. Seien S und F wie im Satz von Stokes, s ∈ S, r > 0, Sr :=

S ∩ Ur(s) und Rand(Sr) die entsprechend orientierte Randkurve. Dann ist nach dem Satz vonStokes ∫

Rand(Sr)F · dx =

∫Sr

rotF · dO =

∫Sr

(rotF · n)dOMWS= (rotF · n)(s?)O(Sr)

fur ein geeignetes s? ∈ Sr, wobei O(Sr) die Oberflache von Sr ist . Es folgt

(rotF · n)(s) = limr→0 1

O(Sr)

∫Rand(Sr)

F · dx.

Die Wirbelstarke von F in s um n ist also gleich der Zirkulation um s pro Flacheneinheit.

81

Page 82: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

31 Integration uber 3-dimensionale Bereiche

Das Volumen einer Borelmenge B ⊂ R3, d.h. B ∈ B3, ist definitionsgemaß das Lebesgue Maßλ3(B) dieser Menge. Das Volumen wird oft auch mit V(B) bezeichnet. Wir erinnern an (25.19)

λ3(B) = inf

∞∑n=1

λ(In) : In ∈ J 3,⋃n

In ⊃ B

.

Die Bestimmung des Infimums ist fur ein allgemeines B oftmals schwierig. Aufgrund von (25.22),(25.21) und (25.31) ist λ3(B) = 0, falls B enthalten ist in der Vereinigung von abzahlbar vielenEbenen. Allgemeinere Nullmengen ergeben sich aus dem folgenden Satz. Wenn man B ∈ B3 zurBestimmung seines Volumens langs stuckweise regularen Flachenstucken zerschneidet, entstehendadurch zusatzliche Randmengen, die jedoch nach (1) Nullmengen sind.

(1) Satz. Sei S ⊂ R3 ein stuckweise regulares Flachenstuck. Dann ist λ3(S) = 0.

Beweis. Offenbar genugt es, ein regulares S = x(A) zu betrachten. Nach Definition einer Para-metrisierung existiert eine offene Menge W ⊃ A derart, dass xu × xv 6= 0 uberall auf W. Sei(u0, v0) ∈ A fest. Mit n0 := n(u0, v0) bilde die differenzierbare Abbildung

T : W×] − 1, 1[→ R3, T(u, v, t) := x(u, v) + tn0.

Ihre Jacobi Matrix ist JT = (xu xv n0) mit det JT = [xu,xv,n0]. Insbesondere ist det JT (u0, v0, 0) =

|xu(u0, v0) × xv(u0, v0)| > 0. Nach dem Satz von der lokalen Inversen (19.6) gibt es eine abge-schlosssene Kreisscheibe K0 ⊂ W um (u0, v0) und 0 < ε0 < 1 derart, dass T auf einer offenenUmgebung von K0× [−ε0, ε0] ein C1–Diffeomorphismus auf das Bild ist. Außerdem ist det JT alsstetige Funktion auf der kompakten Menge K0 × [−ε0, ε0] durch ein c ∈]0,∞[ beschrankt. Nunwerden die Substitutionsformel und der Satz von Fubini angewendet. Es folgt

λ3(T(K0 × [−ε0, ε0])) =

∫ε0

−ε0

(∫K0

det JT (u, v, t)dλ2)dt ≤ 2ε0c λ2(K0).

Weiter ist x(K0) ⊂ T(K0 × [−ε, ε]) fur jedes 0 < ε ≤ ε0. Mit c ′ := 2c λ2(K0) folgt λ3(x(K0)) ≤εc ′ ∀ ε > 0 und daher λ3(x(K0)) = 0. Das gilt fur jeden Punkt (u0, v0) der kompakten MengeA. Endlich viele K0 uberdecken bereits A. Daraus folgt λ3(x(A)) = 0.

(2) Messbarer Normalbereich. Seien A ∈ B2 und u, o : A → R messbar mit u(x, y) ≤o(x, y) ∀ (x, y) ∈ A. Dann heißt

B :=

(x, y, z) ∈ R3 : (x, y) ∈ A : u(x, y) ≤ z ≤ o(x, y)

ein messbarer Normalbereich. (Es ist B ∈ B3, weil h, k : A × R → R, h(x, y, z) := z −

u(x, y), k(x, y, z) := o(x, y) − z messbar sind und B = h ≥ 0 ∩ k ≥ 0 gilt.) Fur f ∈ L1(λ3B)

82

Page 83: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

gilt nach dem Satz von Fubini∫Bfd3λ =

∫A

(∫o(x,y)

u(x,y)f(x, y, z)dλ1(z)

)dλ2(x, y).

Ist auch A ⊂ R2 ein messbarer Normalbereich, etwa A = (x, y) : a ≤ x ≤ b, p(x) ≤ y ≤ q(x),wobei p und q messbar sind mit p ≤ q, dann gilt nach dem Satz von Fubini∫

Bfdλ3 =

∫ba

(∫q(x)

p(x)

(∫o(x,y)

u(x,y)f(x, y, z)dz

)dy

)dx.

Anmerkung: Wir haben hier die naheliegende Notation fur Regelintegrale ubernommen. So istetwa

∫o(x,y)u(x,y) f(x, y, z)dz :=

∫[u(x,y),o(x,y)] f(x, y, ·)dλ

1.

(3) Beispiel. Sei B ⊂ R3 der Bereich, der vom Ellipsoid E =x2

a2 + y2

b2 + z2

c2 = 1

und vom

Kegel K =x2

a2 + y2

b2 = z2

c2

begrenzt wird und im Halbraum z ≥ 0 liegt.

Mit h(x, y) := x2

a2 + y2

b2 ist E ∩ K =

(x, y, z) : h(x, y) = 12 ,z2

c2 = h(x, y)

und

B =

(x, y, z) : h(x, y) ≤ 1

2,√h(x, y) ≤ z

c≤√1− h(x, y)

ein Normalbereich. Sein Volumen ist V(B) =∫B 1dλ

3 =∫h≤1

2

(∫c√1−h(x,y)

c√h(x,y)

1dz

)dλ2(x, y) =

c∫

h≤12

(√1− h(x, y) −

√h(x, y)

)dλ2(x, y). Zur weiteren Berechnung fuhren wir elliptische

Koordinaten x = ρa cosϕ,y = ρb sinϕ fur 0 ≤ ρ ≤ 1√2, 0 ≤ ϕ ≤ 2π ein. Hierfur ist die

Funktionaldeterminante gleich abρ und h(x, y) = h(ρa cosϕ, ρb sinϕ) = ρ2. Es folgt V(B) =

c∫ 1√

2

0

(∫2π0

(√1− ρ2 − ρ

)abρdϕ

)dρ = 2πabc

∫ 1√2

0

(ρ√1− ρ2 − ρ2

)dρ = π

3abc(2−√2).

Wir berechnen noch die Koordinaten des geometrischen Schwerpunkts. Aus Symmetrie-grunden sind xS = yS = 0. Weiter ist V(B)zS =

∫B zdλ

3(x, y, z) =∫h≤1

2

(∫c√1−hc√h

zdz)dλ2

=∫h≤1

2 12c2(1−h−h)dλ2, was in elliptischen Koordinaten

∫ 1√2

0

(∫2π0

12c2(1− 2ρ2)abρdϕ

)dρ =

2π12c2ab

∫ 1√2

0 (ρ− 2ρ3)dρ = 18πc

2ab ergibt. Es folgt zS = 316(2−

√2)c.

(4) Volumen eines Drehkorpers. Der rotationssymmetrische Bereich B ∈ B3 entsteht durchDrehung um die z−Achse der in der Halbebene y = 0, x > 0 gelegenen Menge A ∈ B2. Es giltdie zweite Regel von Guldin

V(B) = 2π r0 F(A),

wobei r0 der Drehachsenabstand des Flachenschwerpunkts ist.

Beweis. In Zylinderkoordinaten x = r cosϕ,y = r sinϕ, z = z, wofur die Funktionaldeter-minante gleich r ist, ist B = (ϕ, r, z) : 0 ≤ ϕ ≤ 2π, (r, z) ∈ A ein Normalbereich. Es folgtV(B) =

∫B 1dλ

3 =∫2π0

(∫A rdλ

2(r, z))dϕ = 2π r0 F(A).

83

Page 84: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

(5) Vorbereitung Divergenzsatz von Gauß. Seien S = x(A) ein regulares Flachenstuck

(30.1) und x(u0, v0) ∈ S\ RandS fur (u0, v0) ∈A= A\∂A ein sog. regularer Flachenpunkt.

(α) Dann existieren eine offene Umgebung U0 ⊂A von (u0, v0), ein offenes Rechteck R ⊂ R2

und eine stetig differenzierbare Abbildung h : R → R derart, dass x(U0) = Graphh. D.h.lokal um jeden regularen Flachenpunkt ist S der Graph einer C1−Funktion, vgl. (30.3)(a).

(β) Seien I =]a, b[ ein Intervall mit h(R) ⊂ I, Q := R× I, C := (ξ, η, ζ) ∈ Q : ζ ≤ h(ξ, η). IstF : R3 → R3 ein C1–Vektorfeld mit F|R3 \Q = 0, dann gilt der Divergenzsatz von Gauß∫

∂CF · dO =

∫C(div F)dλ3.

Beweis. (α) Die Funktionalmatrix Jx(u0, v0) = (xu(u0, v0) xv(u0, v0)) hat maximalen Rang 2.Damit gibt es zwei linear unabhangige Zeilen. Nach etwaiger Umbenennung der Koordinatenx, y, z seien dies die ersten beiden Zeilen. Damit ist

J(x,y)(u0, v0) =

(xu(u0, v0) xv(u0, v0)

yu(u0, v0) yv(u0, v0)

)invertierbar. Nach dem Satz von der lokalen Inversen (19.6) existiert eine offene Umgebung U0 ⊂A von (u0, v0) derart, dass (x, y)(U0) =: R ⊂ R2 ein offenes Rechteck ist und U0 → R, (u, v) 7→(x(u, v), y(u, v)) ein C1−Diffeomorphismus ist. Dann ist h : R → R, h(ξ, η) := z((x, y)−1(ξ, η))

stetig differenzierbar und (ξ, η, ζ) : (ξ, η) ∈ R, ζ = h(ξ, η) = (x(u, v), y(u, v), z(u, v)) : (u, v) ∈U0, was Graphh = x(U0) bedeutet.

(β) Zunachst ist∫∂C

F · dO =

∫R

[−F1(ξ, η, h(ξ, η))hξ(ξ, η) − F2(ξ, η, h(ξ, η))hη(ξ, η) + F3(ξ, η, h(ξ, η))]dξdη

nach (30.14)(a), wobei nur die Deckflache beitragt, weil F|R3\Q = 0. — Das Raumintegral uberdiv F = ∂1F1 + ∂2F2 + ∂3F3 liefert demgemaß drei Beitrage. Fur∫

C∂3F3d

3λ =

∫R

(∫h(ξ,η)

a∂3F3(ξ, η, ζ)dζ

)dξdη =

∫R

[F3(ξ, η, h(ξ, η)) − F3(ξ, η, a)]dξdη

erhalt man den letzten Ausdruck des obigen Randintegrals, weil F3(ξ, η, a) = 0 wegen F|R3\Q =

0. Es bleibt ∫C∂1F1dλ

3 = −

∫RF1(ξ, η, h(ξ, η))hξ(ξ, η)dξdη

und in gleicher Weise den entsprechenden Ausdruck fur∫C ∂2F2dλ

3 zu zeigen. Zunachst ist∫C∂1F1dλ

3 =

∫R

(∫h(ξ,η)

a∂1F1(ξ, η, ζ)dζ

)dξdη.

Mit R =]α,β[×]γ, δ[ ist∫R =

∫δγ

∫βα. Wir werden im Folgenden nur das Integral

∫βα betrachten

brauchen. Sei G eine Stammfunktion von F1(ξ, η, ζ) bezuglich ζ, d.h. ∂3G(ξ, η, ζ) = F1(ξ, η, ζ).Vertauscht man die partiellen Ableitungen, so folgt mit dem HDI

84

Page 85: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

∫βα

(∫h(ξ,η)

a∂1F1(ξ, η, ζ)dζ

)dξ =

∫βα

(∫h(ξ,η)

a∂3(∂1G)(ξ, η, ζ)dζ

)dξ =

=

∫βα

(∂1G)(ξ, η, h(ξ, η))dξ−

∫βα

(∂1G)(ξ, η, a)dξ.

Da ddξG(ξ, η, h(ξ, η)) = (∂1G)(ξ, η, h(ξ, η)) + ∂3G(ξ, η, h(ξ, η))hξ(ξ, η) = (∂1G)(ξ, η, h(ξ, η)) +

F1(ξ, η, h(ξ, η))hξ(ξ, η), bleibt damit nur noch zu verifizieren, dass∫βαddξG(ξ, η, h(ξ, η))dξ =∫β

α(∂1G)(ξ, η, a)dξ. Wertet man die Integrale aus, ergibt sich die Gleichung G(β, η, h(β, η)) −

G(α, η, h(α, η)) = G(β, η, a) − G(α, η, a), die in der Tat zutrifft, weil F1(β, η, ζ) = 0 ∀ ζ unddaher G(β, η, h(β, η)) = G(β, η, a) und G(α, η, h(α, η)) = G(α, η, a) gelten.

(6) Divergenzsatz von Gauß. Sei B ⊂ R3 kompakt derart, dass ∂B aus endlich vielen paar-weise disjunkten geschlossenen stuckweise regularen orientierbaren Flachenstucken besteht. Furjeden regularen Flachenpunkt x ∈ ∂B sei n(x) die nach außen weisende Normale (d.h. fur hin-reichend kleines t > 0 gilt x+ tn(x) ∈ R3\B und x− tn(x) ∈ B\∂B) und dO = ndO bezeichnedas vektorielle Oberflachenelement (siehe (30.12)). Seien U ⊃ B offen und F : U → R3 ein stetigdifferenzierbares Vektorfeld. Dann gilt∫

Bdiv Fdλ3 =

∫∂B

F · dO.

Beweisplan. (i) Nach (5) besitzt jeder regulare Flachenpunkt des Randes ∂B eine offene Qua-derumgebung Q derart, dass der Divergenzsatz fur jedes stetig differenzierbares VektorfeldF mit F|R3\Q = 0 gilt.

(ii) Man zeigt den Divergenzsatz fur jedes C1–Vektorfeld F, was außerhalb einer kompaktenMenge verschwindet, die keine singularen Flachenpunkte enthalt. Dies geschieht durchRuckfuhrung auf (i) mittels einer Zerlegung der Eins.

(iii) Der allgemeine Fall folgt dann durch kompakte Ausschopfung.

Zu Einzelheiten des Beweises und fur eine noch allgemeinere Version des Divergenzsatzes sieheman K. Konigsberger Analysis 2, Springer, 12.4, 12.5.

(7) Bemerkungen. (a) Der Divergenzsatz von Gauß gilt sinngemaß fur kompakte TeilmengenB ⊂ Rd, d ≥ 2.

(b) Der Satz von Green (28.10) und der Divergenzsatzes von Gauß (6) fur d = 2 sindaquivalente Formulierungen des gleichen Sachverhalts. In der Tat gehen wir vom Satz von Greenaus und wahlen in (6) fur d = 2 die Bezeichnungen A ⊂ R2 fur B ⊂ R2 und G fur dasVektorfeld F. Zunachst ist

∫∂AG ·dO =

∫∂AG ·ndO, wobei n = 1

‖x‖(y,−x) und dO = ‖x‖dλ1

nach (30.10)(a). Wir setzen jetzt F := (−G2, G1). Dafur gilt F · (x, y) = G · (y,−x) und somit∫∂AG · dO =

∫∂AF · dx. Daher folgt aus dem Satz von Green∫

∂AG ·dO =

∫∂A

F ·dx =

∫∫A

(∂

∂xF2 −

∂yF1

)dλ2 =

∫∫A

(∂

∂xG1 +

∂yG2

)dλ2 =

∫A

div Gdλ2.

Ebenso folgt der Satz von Green aus dem Divergenzsatz von Gauß.

85

Page 86: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

(8) Deutung der Divergenz. Seien B, F wie in (6), x ∈B, Br := Ur(x) ⊂

B und Sr die Ober-

flache von Br. Dann ist nach dem Mittelwertsatz∫Sr

F · dO =∫Br

(div F)dλd = div F(x?)V(Br)

mit einem geeignetem x? ∈ Br. Es folgt

div F(x) = limr→0 1

V(Br)

∫Sr

F · dO,

wobei auf der rechten Seite der aus der Volumeneinheit heraustretende Fluss, d.h. die Quell-dichte von F in x steht. Man nennt x eine Quelle, falls div F(x) > 0 bzw. eine Senke, wenndiv F(x) < 0. Das Vektorfeld F heißt quellenfrei, wenn div F(x) = 0∀ x.

(9) Beispiele.

(a) Seien B := U1(0) ⊂ Rd und F(x) := x. Dann sind ∂B die Einheitssphare, div F = d und∫div Fdλd = dVd, wobei Vd das Volumen der Einheitskugel im Rd ist. Weiter ist

∫∂BF ·

dO =∫∂B n · ndO = Od die Oberflache der Einheitskugel im Rd. Aus dem Divergenzsatz

folgtdVd = Od.

Zum Beispiel gilt fur die Einheitskreisscheibe d = 2 und V2 = π, O2 = 2π und fur dieEinheitskugel d = 3, V3 = 4

3π, O3 = 4π.

(b) Seien B ⊂ Rd entsprechend wie B in (6), a ∈ Rd\∂B, und F(x) := x−a‖x−a‖d

2

fur x ∈ Rd \ a.

Weiter sei Od die Oberflache der Einheitskugel im Rd. Dann gilt∫∂B

F · dO =

0 falls a /∈ B0d falls a ∈

B

Beweis. ∂iFi(x) = ∂ixi−ai

(∑

j(xj−aj)2)d2

=‖x−a‖d

2 −(xi−ai)d2‖x−a‖d−2

2 2(xi−ai)

‖x−a‖2d2

= ‖x− a‖−d2

(1− d

(xi−ai)2

‖x−a‖22

),

weshalb div F(x) =∑di=1 ∂iFi(x) = ‖x− a‖−d

2

(d− d

∑di=1

(xi−ai)2

‖x−a‖22

)= ‖x− a‖−d

2 (d − d) = 0

∀x 6= a. Daraus folgt die Behauptung nach (6) falls a /∈ B. — Sei nun a ∈B. Dazu sei Ur(a) ⊂

B

und setze Ba := B\Ur(a). Wendet man den Divergenzsatz auf Ba an, so folgt aus dem ebenBewiesenem 0 =

∫∂Ba

F · dO =∫∂BF · dO +

∫∂Ur(a) F · dO. Die außere Flachennormale na(x)

im Punkt x ∈ ∂Ur(a) ist −1r (x− a). Daher ist∫

∂Ur(a)F · dO =

∫∂Ur(a)

F · na dO =

∫∂Ur(a)

−1r ‖x− a‖22‖x− a‖d2

dO = −1

rr2−d(Odr

d−1) = −Od.

(c) Gaußsches Gesetz der Elektrostatik. Die Ladungen q1, · · · , qn in den Punkten a1, · · · , an ∈R3 erzeugen in x ∈ R3 \ a1, . . . , an das elektrisches Feld

E(x) =

n∑k=1

qkx− ak

‖x− ak‖3.

Sei B ⊂ R3 wie in (6) derart, dass ak /∈ ∂B ∀ k. Aus (b) folgt∫∂B

E · dO = 4π∑ak∈B

qk = 4π · Gesamtladung in B.

86

Page 87: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

(10) Greensche Formeln. Seien B,U ⊂ Rd entsprechend wie B und U in (6) und f ∈C1(U), g ∈ C2(U) skalare Felder. Dann gelten:

(a) ∫Bf∆gdλd = −

∫B∇f · ∇gdλd +

∫∂Bf∂ngdO,

wobei ∆ =∑dk=1 ∂

2k den Laplace Operator, ∇ = grad den Gradienten, ∂ng = (gradg) · n

die Ableitung von g in Normalenrichtung (17.2), (18.1) und · das euklidische Skalarproduktim Rd bezeichnen.

(b) ∫B∆gdλd =

∫∂B∂ngdO.

(c) Ist auch f ∈ C2(U), dann gilt∫B(f∆g− g∆f)dλd =

∫∂B

(f∂ng− g∂nf)dO.

Beweis. (a) Fur F : U → Rd, F := f∇g ist F·n = f∂ng und damit div F = ∇f·∇g+fdiv gradg =

∇f · ∇g + f∆g, siehe (17.14), (17.15). Die Behauptung folgt mit (6). — (b) Wahle f = 1 in (a).— (c) Wende (a) auf f und g mit vertauschten Rollen an.

87

Page 88: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

32 Hilbertraume

Der Hilbertraum ist eine Verallgemeinerung des euklidischen und unitaren Raums Rd bzw.Cd auf unendlich viele Dimensionen. Die Hilbertraume sind die wichtigsten Banachraume unddie Funktionalanalysis ist besonders ergebnisreich auf Hilbertraumen. Die entscheidende Ei-genschaft, die die Geometrie des Hilbertraums bestimmt, ist die Existenz der orthogonalenProjektion auf einen abgeschlossenen Untervektorraum und als Folge davon die Existenz einerOrthonormalbasis. Im Folgenden sei K ∈ C,R.

(1) Skalarprodukt. Sei V ein Vektorraum uber K. Die Abbildung

V × V → K, (x, y) 7→ 〈x, y〉

heißt ein Skalarprodukt auf V , wenn

〈 , 〉 linear im zweiten Argument ist, d.h. 〈x, y+ λz〉 = 〈x, y〉+ λ 〈x, z〉 ∀x, y, z ∈ V, λ ∈ K.

〈 , 〉 antisymmetrisch ist, d.h. 〈y, x〉 = 〈x, y〉 ∀ x, y ∈ V .

〈 , 〉 positiv definit ist, d.h. 〈x, x〉 > 0 ∀ x ∈ V\ 0.

(2) Bemerkung. Aus den definierenden Eigenschaften des Skalarprodukts 〈 , 〉 ergeben sichleicht die folgenden weiteren Eigenschaften.

(a) 〈x, 0〉 = 〈0, x〉 = 0 ∀ x ∈ V .

(b) 〈 , 〉 ist antilinear im ersten Argument, denn 〈x+ λy, z〉 = 〈z, x+ λy〉 = 〈z, x〉+ λ 〈z, y〉 =

〈z, x〉+ λ 〈z, y〉 = 〈x, z〉+ λ 〈y, z〉 ∀x, y, z ∈ V, λ ∈ K.

(c)⟨∑n

i=1 αixi,∑mj=1 βjyj

⟩=

∑ni=1

∑mj=1 αiβj 〈xi, yj〉 ∀ αi, βj ∈ K, xi, yj ∈ V .

(d) Im Fall K = R ist 〈 , 〉 bilinear und symmetrisch.

Statt antisymmetrisch und antilinear sagt man auch konjugiert symmetrisch bzw. konjugiertlinear.

(3) Ungleichung von Cauchy-Bunjakowski-Schwarz. Fur alle x, y ∈ V gilt

| 〈x, y〉 |2 ≤ 〈x, x〉 〈y, y〉 .

Beweis. Falls y = 0, dann ist 〈x, y〉 = 0 nach (2)(a) und die Behauptung gilt. Sei daher y 6= 0.Mit (2)(c) folgt 0 ≤ 〈x+ λy, x+ λy〉 = 〈x, x〉 + 2Re(λ 〈x, y〉) + |λ|2 〈y, y〉. Setzt man hierin

λ := −〈x,y〉〈y,y〉 , so ist

0 ≤ 〈x, x〉− 2| 〈x, y〉 |2

〈y, y〉+

| 〈x, y〉 |2

(〈y, y〉)2〈y, y〉 ,

woraus die Behauptung folgt.

88

Page 89: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

(4) Zugeordnete Norm. Sei (V, 〈·, ·〉) ein Vektorraum mit Skalarprodukt. Man setzt ‖x‖ :=√〈x, x〉 ∀ x ∈ V. Dann ist ‖·‖ eine Norm auf V (vgl. (9.3)). Die Cauchy–Schwarz Ungleichung

lautet| 〈x, y〉 | ≤ ‖x‖ ‖y‖ .

Beweis. Weil 〈x, x〉 > 0 fur x 6= 0 und 〈0, 0〉 = 0 ist ‖ · ‖ positiv definit. — Weil ‖λx‖ =√〈λx, λx〉 =

√λλ 〈x, x〉 =

√|λ|2 〈x, x〉 = |λ|

√〈x, x〉 = |λ| ‖x‖, ist ‖ · ‖ homogen. — Es bleibt die

Dreiecksungleichung nachzuweisen. Mit Hilfe der Cauchy–Schwarz Ungleichung folgt ‖x+ y‖2 =

〈x+ y, x+ y〉 = 〈x, x〉+ 〈x, y〉+ 〈y, x〉+ 〈y, y〉 ≤ ‖x‖2 + 2 ‖x‖ ‖y‖+ ‖y‖2 = (‖x‖+ ‖y‖)2.

(5) Bemerkung. Ein Vektorraum mit Skalarprodukt wird stets als normierter Raum gemaß(4) und damit insbesondere als metrischer Raum mit der Metrik (x, y) 7→ ‖x− y‖ aufgefasst.

Ub Sei V ein normierter Raum und M ⊂ V ein Untervektorraum. Man zeige, dass M einUntervektorraum von V ist.

(6) Satz. Seien x, y ∈ V. Dann sind x 7→ 〈y, x〉 und x 7→ 〈x, y〉 als Abbildungen von V in KLipschitz stetig. Weiter ist das Skalarprodukt 〈 , 〉 als Abbildung von V × V in K stetig.

Beweis. Mit (3) folgt |〈y, x〉 − 〈y, x ′〉| = |〈y, x − x ′〉 ≤ ‖y‖‖x − x ′‖. Ebenso folgt die LipschitzStetigkeit von x → 〈x, y〉. — Ahnlich beweist man die Stetigkeit des Skalarprodukts: | 〈x, y〉 −

〈x ′, y ′〉 | ≤ | 〈x, y〉− 〈x ′, y〉 | + | 〈x ′, y〉− 〈x ′, y ′〉 | = | 〈x− x ′, y〉 | + | 〈x ′, y− y ′〉 | ≤ ‖x− x ′‖ ‖y‖+

‖x ′‖ ‖y− y ′‖ ≤ ‖x− x ′‖ ‖y‖+ (‖x− x ′‖+ ‖x‖) ‖y− y ′‖ → 0 fur x ′ → x, y ′ → y.

(7) Skalarprodukt im Fall dimV < ∞. Im Folgenden wird erlautert, wie man jedes Skalar-produkt auf einem endlich dimensionalen Vektorraum V mit Hilfe einer Basis und einer positivhermiteschen Matrix aus dem Standardprodukt auf Kn gewinnt.

(a) Bekanntlich versieht man Kn mit dem Standardskalarprodukt 〈x, y〉 :=∑ni=1 xiyi. Im

Fall K = R heißt es das euklidische Skalarprodukt.

(b) Sei A = (aij) eine positive hermitesche Matrix. Dann ist 〈x, y〉 :=∑ni,j=1 aijxiyj ein Skalar-

produkt auf Kn. Dies ist leicht zu verifizieren. Offensichtlich ist die Linearitat im zweitenArgument. Die Antisymmetrie gilt, weil aji = aij. Die positive Definitheit entspricht genauder Positivitat von A.

(c) Sei V ein endlich dimensionaler Vektorraum mit Skalarprodukt und sei a1, . . . , an eineBasis von V . Fur x und y ∈ V seien x =

∑ni=1 xiai, y =

∑ni=1 yiai die Entwicklungen

nach der Basis. Dann ist

〈x, y〉 =

⟨n∑i=1

xiai,

n∑j=1

yjaj

⟩=

n∑i,j=1

〈ai, aj〉 xiyj,

wobei die Gramsche Matrix (〈ai, aj〉) offensichtlich hermitesch und positiv ist, vgl. (b).

89

Page 90: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

(8) Satz. Sei (V, 〈, 〉) ein Vektorraum mit Skalarprodukt. Dann gelten die

(a) Polaridentitat des Skalarprodukts. Mit W := 1,−1, i,−i im Fall K = C und W :=

1,−1 im Fall K = R ist

〈x, y〉 =1

4

∑ζ∈W

ζ ‖ζx+ y‖2 .

Das Skalarprodukt ist also durch Norm bestimmt.

(b) Parallelogrammgleichung

‖x+ y‖2 + ‖x− y‖2 = 2 ‖x‖2 + 2 ‖y‖2 .

Wie man zeigen kann, zeichnet sie diejenigen Normen auf einem Vektorraum aus, die voneinem Skalarprodukt herruhren.

Beweis. Der Beweis erfolgt durch einfaches Nachrechnen.

(9) Beispiel. Sei U ⊂ Rd offen und beschrankt. Dann definiert

〈f, g〉 :=

∫fg dλdU

ein Skalarprodukt auf dem Vektorraum Cb(U) := f : U → C : f stetig und beschrankt uber C.

Beweis. Offenbar ist fg stetig und beschrankt und somit Lebesgue integrierbar uber U. Weiterist 〈·, ·〉 linear im zweiten Argument, denn

∫f(g + λg ′)dλdU =

∫(fg + λfg ′)dλdU =

∫fg dλdU +

λ∫fg ′ dλdU = 〈f, g〉 + λ 〈f, g ′〉, und antisymmetrisch, denn 〈f, g〉 =

∫fg dλdU =

∫fg dλdU =∫

gf dλdU = 〈g, f〉. Es bleibt die positive Definitheit zu zeigen: Sei f 6= 0. Dann existiert x0 ∈ Umit f(x0) 6= 0. Weil f stetig ist, existiert δ > 0 mit |f(x)| ≥ 1

2 |f(x0)| =: β ∀ x ∈ Uδ(x0), vgl. (7.4).Damit folgt 〈f, f〉 =

∫U ffdλ

d ≥∫Uδ(x0) |f(x)|2 dλd(x) ≥

∫Uδ(x0) β

2dλd = β2λd(Uδ(x0)) > 0.

(10) Orthogonalitat. Sei (V, 〈, 〉) ein Vektorraum mit Skalarprodukt.

x, y ∈ V heißen orthogonal, wenn 〈x, y〉 = 0. Allgemeiner heißen zwei Teilmengen A,B ⊂ Vorthogonal, wenn 〈a, b〉 = 0 ∀a ∈ A, b ∈ B.

A ⊂ V heißt eine orthogonale bzw. orthonormale Menge, wenn 〈a, a ′〉 = ‖a‖2δaa ′ bzw.zusatzlich ‖a‖ = 1 ∀a, a ′ ∈ A gelten. Entsprechend heißt eine Familie (insbesondere Folge)(xι)ι∈I orthogonal bzw. orthonormal, wenn 〈xι, xκ〉 = ‖xι‖2δικ bzw. zusatzlich ‖xι‖ =

1 ∀ι, κ ∈ I gelten.

Fur A ⊂ V heißt A⊥ := x ∈ V : 〈x, a〉 = 0 ∀ a ∈ A das orthogonale Komplement von A.Man setzt ∅⊥ := V .

90

Page 91: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

(11) Satz von Pythagoras. Seien x1, · · · , xn ⊂ V eine orthogonale Menge und α1, · · · , αn ∈K. Dann gilt ∥∥∥∥∥

n∑i=1

αixi

∥∥∥∥∥2

=

n∑i=1

|αi|2 ‖xi‖2 .

Beweis. ‖∑ni=1 αixi‖

2=⟨∑n

i=1 αixi,∑nj=1 αjxj

⟩=

∑ni=1

∑nj=1 αiαj 〈xi, xj〉 =

∑ni=1 |αi|

2 ‖xi‖2,weil 〈xi, xj〉 = ‖xi‖2δij.

(12) Lineare Hulle. Seien V ein Vektorraum und A ⊂ V . Dann heißt

Span(A) :=

n∑i=1

αiai : ai ∈ A,αi ∈ K, i = 1, · · · , n und n ∈ N

die lineare Hulle von A. Offenbar ist Span(A) der kleinste Untervektorraum von V , der A enthalt.Daher ist A = Span(A) genau dann, wenn A ein Untervektorraum ist.

(13) Lemma. Sei (V, 〈, 〉) ein Vektorraum mit Skalarprodukt. Dann gelten

0⊥ = V, V⊥ = 0.

A ⊂ V ⇒ A ∩A⊥ ⊂ 0.

A,B ⊂ V mit A ⊂ B ⇒ B⊥ ⊂ A⊥.

A ⊂ V ⇒ A⊥ ist ein abgeschlossener Untervektorraum von V.

A ⊂ V ⇒ A ⊂ (A⊥)⊥.

A ⊂ V ⇒ A⊥ = Span(A)⊥ = Span(A)⊥.

Beweis. Wir zeigen den vierten und den letzten Punkt. Das orthogonale Komplement A⊥ ist einUntervektorraum von V , denn fur alle x, y ∈ A⊥ und λ ∈ K, a ∈ A gilt: 〈x+ λy, a〉 = 〈x, a〉 +

λ 〈y, a〉 = 0 ⇒ x+λy ∈ A⊥. Seien nun (xn) eine Folge in A⊥ mit xn → x ∈ V und a ∈ A. Es folgt0 = 〈xn, a〉

n→∞→ 〈x, a〉 nach (6), weshalb 〈x, a〉 = 0, d.h. x ∈ A⊥. Damit ist A⊥ abgeschlossen.— Nun wird der letzte Punkt bewiesen. Zunachst folgt aus A ⊂ SpanA, dass Span(A)

⊥ ⊂ A⊥nach dem dritten Punkt. Sei nun x ∈ A⊥ und y ∈ Span(A). Zu zeigen bleibt 〈x, y〉 = 0. Seienyn ∈ Span(A) mit yn → y. Dann ist 〈x, yn〉 = 0 ∀ n, weil yn eine Linearkombination vonElementen aus A und somit orthogonal zu x ist. Daher folgt 0 = 〈x, yn〉

n→0→ 〈x, y〉, weshalb〈x, y〉 = 0.

Ub Man beweise die restlichen Punkte von (13).

(14) Hilbertraum. Seien H ein Vektorraum uber K, 〈 , 〉 ein Skalarprodukt auf H und ‖·‖ diezugehorige Norm (vgl. (4)). Dann heißt (H, 〈, 〉) ein Hilbertraum, wenn (H, ‖·‖) ein Banachraum,d.h. vollstandig ist. Siehe (10.4).

91

Page 92: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Es folgt ein zentraler Satz der Hilbertraumtheorie.

(15) Projektionssatz. Seien H ein Hilbertraum, V ein abgeschlossener Untervektorraum vonH und x ∈ H. Dann gelten

(a) Es existiert genau ein y ∈ V mit x − y ∈ V⊥. Man nennt y =: PV x die orthogonaleProjektion von x auf V .

(b) Es existiert genau ein y ∈ V mit ‖x− y‖ = infv∈V ‖x− v‖. Man nennt y ist die Bestap-proximation von x aus V .

(c) Es ist y = y.

Beweis. Zunachst wird die Eindeutigkeit in (a) bewiesen. Seien y, y ′ ∈ V mit x − y ∈ V⊥ undx− y ′ ∈ V⊥. Es folgt

∥∥y− y ′∥∥2 =

⟨y− x︸ ︷︷ ︸∈V⊥

+ x− y ′︸ ︷︷ ︸∈V⊥

, y− y ′︸ ︷︷ ︸∈V

⟩= 0 ⇒ y = y ′.

Nun wird die Existenz in (b) gezeigt. Sei d := infv∈V ‖x− v‖ ≥ 0. Dazu existiert eine Folge(vn) in V mit limn→∞ ‖x− vn‖ = d. Es wird jetzt gezeigt, dass (vn) eine Cauchy Folge ist. DieParallelogrammgleichung (8)(b) ‖a+ b‖2+‖a− b‖2 = 2(‖a‖2+‖b‖2) fur a = x−vm, b = x−vnergibt

‖vn − vm‖2 = 2(‖x− vm‖2 + ‖x− vn‖2

)− 4

∥∥∥∥x−1

2(vm + vn)

∥∥∥∥2 .Weil 12(vm + vn) ∈ V , ist

∥∥x− 12(vm + vn)

∥∥2 ≥ d2. Sei ε > 0 und N ∈ N mit ‖x− vn‖2 ≤d2+ε ∀ n ≥ N. Dann gilt ∀n,m ≥ N : ‖vm − vn‖2 ≤ 2(d2+ε+d2+ε)−4d2 = 4ε. Als CauchyFolge konvergiert (vn). Damit existiert y ∈ V mit vn → y. Dafur gilt ‖x− y‖ = d.

Es bleibt x − y ∈ V⊥ zu zeigen. Angenommen es existiert ein v ∈ V mit 〈x− y, v〉 6= 0. Furjedes λ ∈ K ist d2 = ‖x− y‖2 ≤ ‖x− y− λv‖2 = ‖x− y‖2 + |λ|2 ‖v‖2 − 2Re(λ 〈x− y, v〉). Furλ = ε 〈v, x− y〉mit ε > 0 folgt 0 ≤ ε2 | 〈v, x− y〉 |2 ‖v‖2−2ε| 〈v, x− y〉 |2 und somit 0 ≤ ε ‖v‖2−2,was einen Widerspruch ergibt.

(16) Totale Menge. Seien V ein normierter Raum und A ⊂ V . Man nennt A eine totaleMenge, wenn Span (A) = V ist.

(17) Korollar. Seien H ein Hilbertraum und A ⊂ H. Es folgt

(α) (A⊥)⊥ = Span (A).

(β) A total ⇔ A⊥ = 0.

92

Page 93: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Beweis. (α) Nach (13) drittletzter und vorletzter Punkt ist (A⊥)⊥ ein abgeschlossener Unter-vektorraum, der A enthalt. Damit ist M := Span(A) ⊂ (A⊥)⊥. Sei nun x ∈ (A⊥)⊥. Nach(15) existiert y ∈ M mit x − y ∈ M⊥. Nach (13) letzter Punkt ist M⊥ = A⊥ und somit(M⊥)⊥ = (A⊥)⊥. Es folgt

‖x− y‖2 =

⟨x− y︸ ︷︷ ︸∈M⊥

, x︸︷︷︸∈(M⊥)⊥

− y︸︷︷︸∈M

⟩= 0 =⇒ x = y ∈M.

(β) Nach (13) letzter Punkt gilt A⊥ = Span(A)⊥. Wenn also A total ist, ist A⊥ = H⊥, was

nach (13) erster Punkt gleich 0 ist. Ist umgekehrt A⊥ = 0, dann ist (A⊥)⊥ = 0⊥ = H nach(13) erster Punkt und A ist total nach (α).

Ub Seien H ein Hilbertraum und A ⊂ H. Man zeige:

(A⊥)⊥ = A ⇔ A abgeschlossener Untervektorraum.

((A⊥)⊥)⊥ = A⊥.

Losung. Nach (17)(α) gilt (A⊥)⊥ = Span (A), was ein abgeschlossener Untervektorraum ist. Fureinen abgeschlossenen Untervektorraum M von H gilt offensichtlich M = Span (M). Damit folgtdie erste Behauptung. — Wendet man (17)(α) auf den abgeschlossenen Untervektorraum A⊥

(siehe (13) vierter Punkt) an, so folgt ((A⊥)⊥)⊥ = Span (A⊥) = A⊥.

(18) Orthogonale Summe. Seien H ein Hilbertraum und V, W zwei abgeschlossene Unter-vektorraume, die orthogonal zueinander seien, in Zeichen V ⊥W. Dann heißt

V ©⊥ W := x ∈ H : x = v+w mit v ∈ V, w ∈W

die orthogonale Summe von V und W. Sie ist ein abgeschlossener Untervektorraum von H. Furx ∈ V ©⊥ W ist die Summe x = v+w mit v ∈ V, w ∈W eindeutig und es gilt wegen (11)

‖x‖2 = ‖v‖2 + ‖w‖2 .

Beweis. Zur Eindeutigkeit der Darstellung sei x = v+w = v ′+w ′ mit v, v ′ ∈ V und w, w ′ ∈W.Dann ist v−v ′ = w ′−w ∈ V ∩W ⊂ V ∩V⊥ = 0. Es folgt v = v ′ und w = w ′. — Offensichtlichist V©⊥W ein Untervektorraum. Er ist abgeschlossen, denn sei (xn) eine gegen x ∈ H konvergenteFolge aus V ©⊥ W. Fur xn = vn +wn folgt ‖vn − vm‖2 + ‖wn −wm‖2 = ‖xn − xm‖2

n,m→∞→ 0,weshalb insbesondere (vn) eine Cauchy Folge in V ist. Wegen (13.25)(ii) existiert dann v ∈ Vmit vn → v. Ebenso folgt wn → w ∈ W. Weil ‖xn − (v+w)‖2 = ‖vn − v‖2 + ‖wn −w‖2 → 0,gilt xn → v+w. Somit ist x = v+w ∈ V ©⊥ W.

(19) Orthogonale Zerlegung. Sei V ein abgeschlossener Untervektorraum des HilbertraumsH. Dann gilt

H = V ©⊥ V⊥.

93

Page 94: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Beweis. Es ist lediglich H ⊂ V + V⊥ zu zeigen. Sei x ∈ H. Mit der orthogonalen Projektionv := PVx von x auf V gemaß (15) lasst sich x darstellen als x = v︸︷︷︸

∈V

+ x− v︸ ︷︷ ︸∈V⊥

.

(20) Linearform. Eine lineare Abbildung f : H → K heißt Linearform auf H.

Nach (13.38) ist eine Linearform f genau dann stetig, wenn f beschrankt ist, d.h. wenn c ≥ 0

existiert mit |f(x)| ≤ c ‖x‖ ∀ x ∈ H. — Sei x0 ∈ H. Dann ist f : H → K, f(x) := 〈x0, x〉 einestetige Linearform, denn f ist linear, weil das Skalarprodukt im zweiten Argument linear ist,und beschrankt, weil gemaß der Cauchy–Schwarz Ungleichung

|f(x)| = | 〈x0, x〉 | ≤ ‖x0‖ ‖x‖ .

(21) Darstellungssatz von Riesz. Seien H ein Hilbertraum und f : H → K eine stetigeLinearform. Dann existiert genau ein x0 ∈ H mit f(x) = 〈x0, x〉 ∀ x ∈ H.

Beweis. Zur Eindeutigkeit sei 〈x0, x〉 = 〈x1, x〉 ∀ x ∈ H. Dann ist 0 = 〈x0, x〉 − 〈x1, x〉= 〈x0 − x1, x〉 ∀ x ∈ H. Es folgt insbesondere 〈x0 − x1, x0 − x1〉 = 0, d.h. ‖x0 − x1‖ = 0,was x0 = x1 bedeutet.

Zur Existenz betrachte den NullraumN := f−1(0), der offensichtlich ein Untervektorraumist. Er ist abgeschlossen, weil 0 abgeschlossen und f stetig ist, siehe (13.40)(iii). WennN = H, dann ist f = 0 und f hat die Darstellung f(x) = 〈0, x〉 ∀ x, d.h. x0 = 0. Sei nunN 6= H. Nach (19) ist dann H = N©⊥ N⊥ mit N⊥ 6= 0. Daher existiert z ∈ N⊥ mit‖z‖ = 1. Dafur ist α := f(z) 6= 0. Fur x ∈ H gilt

x =f(x)

αz+

(x−

f(x)

αz

).

Weil f(x−

f(x)α z)

= f(x)+ f(−f(x)α z)

= f(x)−f(x)α f(z) = f(x)− f(x) = 0, ist x−

f(x)α z ∈ N

und daher 0 =⟨z, x−

f(x)α z⟩

= 〈z, x〉 −f(x)α 〈z, z〉 = 〈z, x〉 −

f(x)α . Daraus folgt f(x) =

α 〈z, x〉 = 〈αz, x〉 ∀ x ∈ H, d.h. x0 = αz.

(22) Separabilitat. Ein metrischer Raum X heißt separabel, wenn es eine abzahlbare dichteTeilmenge D in X gibt, d.i. eine abzahlbare Teilmenge D mit D = X. Dann ist Kn separabel, dennQn ⊂ Rn bzw. (Q+ iQ)n ⊂ Cn ist abzahlbar und dicht. Es folgt, dass jeder endlich dimensionaleVektorraum uber K separabel ist.

(23) Satz. Ein normierter Raum V ist genau dann separabel, wenn er eine abzahlbare totaleTeilmenge A besitzt.

Beweis. Sei A ⊂ V abzahlbar und total. Die Menge aller Linearkombinationen von Vektorenaus A mit Koeffizienten aus Q bzw. Q+ iQ sei mit SpanQ(A) bezeichnet. Offenbar ist SpanQ(A)

abzahlbar und erfullt SpanQ(A) ⊃ Span(A) ⊃ SpanQ(A). Daher folgt SpanQ(A) = Span(A) = V .Also ist V separabel. — Die Umkehrung gilt offensichtlich.

94

Page 95: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

(24) Orthonormale Mengen. Seien H ein Hilbertraum, A ⊂ H orthonormal, V := Span(A).

(i) Sei (an) eine Folge in A derart, dass an 6= am fur n 6= m. Weiter sei (αn) eine Folge in K.Dann konvergiert

∑∞n=1 αnan genau dann, wenn

∑∞n=1 |αn|2 < ∞. Falls

∑∞n=1 |αn|2 < ∞,

dann ist ‖∑∞n=1 αnan‖2 =

∑∞n=1 |αn|2 und die Summe ist fur jede Umordnung (vgl. (6.13))

gleich, d.h.∑∞n=1 αnan =

∑∞n=1 απ(n)aπ(n) fur jede Bijektion π : N → N. (I. allg. liegt

keine absolute Konvergenz von∑∞n=1 αnan vor!)

(ii) Sei x ∈ H. Dann ist Ax := a ∈ A : 〈a, x〉 6= 0 abzahlbar und∑a∈A

| 〈a, x〉 |2 :=∑a∈Ax

| 〈a, x〉 |2 < ∞.Nach (i) existiert daher die Summe

∑a∈A 〈a, x〉a :=

∑a∈Ax

〈a, x〉a. Sie ergibt

PV x =∑a∈A

〈a, x〉a

die orthogonale Projektion von x auf V. Insbesondere gilt die Bessel Ungleichung ‖x‖2 ≥∑a∈A |〈a, x〉|2.

(iii) Sei x ∈ H. Dann gilt

x ∈ V ⇔ x =∑a∈A

〈a, x〉a ⇔ Parseval Gleichung ‖x‖2 =∑a∈A

| 〈a, x〉 |2.

Beweis. (i) Nach (11) ist ‖∑Nn=M αnan‖2 =

∑Nn=M |αn|2 ∀ N,M ∈ N,M ≤ N. Daher existiert

s :=∑∞n=1 αnan genau dann, wenn

∑∞n=1 |αn|2 < ∞, siehe (10.6), (6.6).

Es bleibt s =∑∞n=1 απ(n)aπ(n) zu zeigen. Setze bk := αkak. Sei ε > 0 und M ∈ N so groß,

dass ‖∑m>M bm‖2 =

∑m>M |αm|2 < ε2

4 . Da π surjektiv ist, existiert N ∈ N mit 1, · · · ,M ⊂π(1), · · · , π(N). Fur n > N und In := π(1), · · · , π(n) \ 1, · · · ,M folgt

‖n∑j=1

bπ(j) − s‖ ≤ ‖n∑j=1

bπ(j) −

M∑m=1

bm‖+ ‖M∑m=1

bm − s‖ = ‖∑m∈In

bm‖+ ‖∑m>M

bm‖,

was wegen (11) durch 2 ‖∑m>M bm‖ < 2

ε2 = ε abgeschatzt wird.

(ii) Seien B ⊂ A endlich und αa ∈ K fur a ∈ B. Dann ist∥∥x−

∑a∈B αaa

∥∥2 = ‖x‖2 +∑a∈B |〈a, x〉− αa|

2 −∑a∈B |〈a, x〉|2, weil

∥∥∑a∈B αaa

∥∥2 =∑a∈B |αa|

2 nach (11), und somit∥∥∥∥∥x−∑a∈B

αaa

∥∥∥∥∥2

≥ ‖x‖2 −∑a∈B

|〈a, x〉|2 =

∥∥∥∥∥x−∑a∈B

〈a, x〉a

∥∥∥∥∥2

. (?)

Das bedeutet insbesondere, dass∑a∈B 〈a, x〉a die Bestapproximation an x aus SpanB ist. An-

genommen Ax ⊂ A ist uberabzahlbar. Dann existiert k ∈ N derart, dass a ∈ A : |〈a, x〉|2 > 1k

uberabzahlbar ist. Wahle B ⊂a ∈ A : | 〈a, x〉 |2 ≥ 1

k

mit mehr als k ‖x‖2 Elementen. Dafur ist

‖x‖2 −∑a∈B | 〈a, x〉 |2 < 0, was ein Widerspruch zu (?) ist.

Aus (?) folgt damit sofort die Bessel Ungleichung und, weil∑a∈A 〈a, x〉a nach (i) exis-

tiert,∥∥x−

∑a∈B αaa

∥∥2 ≥ ∥∥x−∑a∈A 〈a, x〉a

∥∥2. Da nun∑a∈B αaa ein beliebiges Element aus

Span(A) ist, ergibt sich mit dem Projektionssatz (15)(c) der Rest der Behauptung.

(iii) Folgt aus PVx = x genau fur x ∈ V und der Gleichung in (ii)(?) fur A anstelle von B.

95

Page 96: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

(25) Orthonormalbasis. Sei (V, 〈·, ·〉) ein Vektorraum mit Skalarprodukt. Dann heißt E ⊂ Veine Orthonormalbasis (ONB) von V , wenn E orthonormiert und total ist.

In der Linearen Algebra versteht man unter einer orthonormalen Vektorraumbasis von V eineTeilmenge E ⊂ V , die orthonormal ist und SpanE = V erfullt. Ist V als Vektorraum endlich-dimensional, dann stimmen beide Basisbegriffe uberein. Ist hingegen V vollstandig (d.h. einHilbertraum) und nicht endlichdimensional, dann ist eine ONB obiger Definition keine Vektor-raumbasis.

(26) Basissatz. Sei H ein Hilbertraum.

(i) Ist A ⊂ H, A 6= ∅ orthonormal, dann existiert eine ONB E von H mit A ⊂ E (Basis-erganzungssatz). Jeder Hilbertraum H 6= 0 besitzt eine ONB (Basisexistenzsatz).

(ii) Sind E, F zwei ONB von H, dann ist cardE = card F (d.h. E und F sind bijektiv aufeinanderabbildbar).

(iii) H ist genau dann separabel, wenn jede ONB E von H abzahlbar ist.

(iv) Sei H als Vektorraum m–dimensional fur ein m ∈ N. Dann ist m = cardE fur jede ONBE von H.

Beweis. (i) wird mit Hilfe des Zornschen Lemmas1 bewiesen. Die Menge F := L ⊂ H :

L orthonormal, L ⊃ A werde durch die Mengeninklusion partiell geordnet. Weil A ∈ F , istF 6= ∅. Sei K ⊂ F eine Kette, d.h. total geordnet. Dann ist K :=

⋃L∈K L eine obere Schranke

von K, denn

• x, x ′ ∈ K ⇒ ∃ L, L ′ ∈ K mit x ∈ L und x ′ ∈ L ′ und o.E. L ⊂ L ′ ⇒ x, x ′ ∈ L ′ ⇒ 〈x, x ′〉 = δxx ′

weil L ′ orthonormal ⇒ K orthonormal.

• A ⊂ K.

• L ⊂ K ∀ L ∈ K.

Daher existiert ein maximales Element E ∈ F . Dieses ist eine ONB. Dazu bleibt zu zeigen, dassE total ist. Angenommen E ist nicht total. Nach (19) gibt es ein x ∈ E⊥ mit ‖x‖ = 1. Dann istE ′ := E ∪ x ∈ F mit E ⊂ E ′, aber E 6= E ′, was ein Widerspruch zur Maximalitat von E ist. —Ist H 6= 0, dann existiert x ∈ H mit ‖x‖ = 1 und A := x ist orthonormiert. Darauf wendeman nun obiges Ergebnis an.

(ii) Wenn E endlich ist, dann ist cardE = card F ein Ergebnis aus der Linearen Algebra. Seialso E nicht endlich. Fur jedes f ∈ F ist Ef = e ∈ E : 〈e, f〉 6= 0 abzahlbar nach (24)(ii). Es giltE =

⋃f∈F Ef, da sonst ein e0 ∈ E existiert derart, dass 〈e0, f〉 = 0 ∀ f ∈ F, was zum Widerspruch

e0 ∈ F⊥ = 0 fuhrt. Hieraus folgt cardE ≤ card F card N = card F. Ebenso folgt card F ≤ cardE.

(iii) Sei H separabel und E eine ONB. Dann existiert eine abzahlbare dichte Teilmenge D. Wieim Beweis von (ii) folgt E ⊂

⋃y∈D Ey, weshalb E abzahlbar ist. — Sei nun E eine abzahlbare

ONB. Dann ist SpanQ(E) abzahlbar und dicht, vgl. den Beweis zu (23).

(iv) Diese Aussage wird in der Linearen Algebra bewiesen.1Eine nichtleere halbgeordnete Menge, in der jede Kette eine obere Schranke besitzt, hat ein maximales Element.

96

Page 97: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

(27) Dimension. Unter der Dimension dimH eines Hilbertraum H versteht man die Kardina-litat cardE einer seiner ONB E. In den Anwendungen sind die Hilbertraume meist separabel.Diese sind abzahlbar dimensional.

(28) ONB Eigenschaften. Seien H ein Hilbertraum und E ⊂ H orthonormal. Dann sindaquivalent:

(i) E ist eine ONB.

(ii) E⊥ = 0 (E ist total).

(iii) F orthonormal, E ⊂ F ⇒ E = F (E ist maximal).

(iv) ∀x ∈ H : x =∑e∈E 〈e, x〉 e Entwicklung nach der Basis (E ist vollstandig).

(v) ∀x ∈ H : ‖x‖2 =∑e∈E |〈e, x〉|2 Parseval Gleichung.

(vi) ∀x, y ∈ H : 〈x, y〉 =∑e∈E 〈x, e〉 〈e, y〉 Parseval Gleichung.

Beweis. (i) ⇔ (ii) ⇔ (iii) ist klar. — (i) ⇔ (iv) ⇔ (v) gilt nach (24)(iii). — (v) folgt aus (vi),indem man x = y setzt. — (iv) ⇒ (vi): Weil das Skalarprodukt nach (6) stetig ist, folgt ausx =

∑e∈E 〈e, x〉 e, dass 〈x, y〉 =

⟨∑e∈E 〈e, x〉 e, y

⟩=

∑e∈E 〈〈e, x〉 e, y〉 =

∑e∈E 〈x, e〉 〈e, y〉.

(29) Gram–Schmidt Orthogonalisierungsverfahren. Seien V ein Vektorraum mit Skalar-produkt und (xn) eine endliche oder unendliche Folge linear unabhangiger Vektoren in V. Esgibt eine Orthonormalfolge (en) mit der Eigenschaft

Span(e1, . . . en) = Span(x1, . . . , xn) ∀n = 1, 2, . . .

und daher mit Span(e1, e2, . . .) = Span(x1, x2, . . .). Sie wird wie folgt konstruiert:

y1 := x1, e1 :=1

‖y1‖y1

y2 := x2 − 〈e1, x2〉 e1, e2 :=1

‖y2‖y2

...

yn := xn −

n−1∑k=1

〈ek, xn〉 ek, en :=1

‖yn‖yn

...

Beweis. Der Beweis erfolgt durch Induktion nach n. Zunachst ist y1 6= 0 wegen der linearenUnabhangigkeit der xn. Daher ist e1 wohldefiniert mit ‖e1‖ = 1. — Es folgt der Induktions-schluss n → n + 1. Ware yn+1 = 0, dann ware xn+1 =

∑nk=1 〈ek, xn〉 ek und somit xn+1 ∈

Span(e1, · · · , en) = Span(x1, · · · , xn) nach Induktionsvoraussetzung, was der linearen Un-abhangigkeit der xn widerspricht. Damit ist en+1 wohldefiniert und normiert. Fur j ≤ n gilt dann‖yn+1‖ 〈en+1, ej〉 = 〈xn+1 −

∑nk=1 〈ek, xn+1〉 ek, ej〉 = 〈xn+1, ej〉 −

∑nk=1 〈ek, xn+1〉 〈ek, ej〉 =

〈xn+1, ej〉 − 〈xn+1, ej〉 = 0 wegen 〈ek, ej〉 = δkj nach Induktionsvoraussetzung. Schließlich istoffensichtlich Span(e1, . . . , en, en+1) = Span(e1, . . . , en, xn+1) = Span(x1, . . . , xn, xn+1).

97

Page 98: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Sei Vn := Span(x1, . . . , xn). Das Gram-Schmidt Verfahren basiert auf dem Projektionssatz undder Formel aus (24)(ii) fur PVn , denn yn = xn − PVn−1

xn und PVnx =∑nk=1〈ek, x〉ek.

(30) Eindeutigkeit Gram–Schmidt Verfahren. Seien (en), (fn) Orthonormalfolgen mitSpan(e1, . . . , en) = Span(f1, . . . , fn) ∀ n = 1, 2, . . . . Dann ist fn = 〈en, fn〉 en und |〈en, fn〉| =1, d.h. es gilt ”Eindeutigkeit bis auf eine Phase“.

Beweis. Da fn ∈ Span (f1, · · · , fn) = Span (e1, · · · , en) ist fn =∑nk=1 〈ek, fn〉 ek. Weiter ist

fn orthogonal zu Span (f1, · · · , fn−1) = Span (e1, · · · , en−1), weshalb 〈fn, ek〉 = 0 fur 1 ≤ k ≤n−1, falls n > 1. Es folgt fn = 〈en, fn〉 en und damit 1 = ‖fn‖ = | 〈en, fn〉 | ‖en‖ = | 〈en, fn〉 |.

(31) Satz. Jeder separable Vektorraum (V, 〈·, ·〉) mit Skalarprodukt besitzt eine ONB.

Beweis. Sei xn : n ∈ N eine abzahlbare totale Teilmenge von V . Man fuhre mit (xn) –obwohlxn : n ∈ N nicht notwendig linear unabhangig ist– das Gram–Schmidt Verfahren durch, wobeiimmer wenn yn = 0 ist, xn weggelassen und zu xn+1 ubergegangen wird. Die orthonormale Folge(en) ergibt eine Orthonormalbasis von V , weil Span(e1, e2, . . .) = Span(xn : n ∈ N) gilt.

Ub Legendre Polynome. Seien V := C[−1, 1] und 〈f, g〉 :=∫1

−1 f(x)g(x)dx2 fur alle f, g ∈ V.

Man zeige, dass (V, 〈·, ·〉) ein Vektorraum mit Skalarprodukt ist.

Losung. Dies zeigt man wie in (9).

Man zeige, dass die Legendre Polynome Pn(x) = 12nn!

dn

(dx)n

[(x2 − 1)n

], n = 0, 1, 2, . . . eine

orthogonale Folge bilden mit gradPn = n, Leitkoeffizienten ln =(2n)!2n(n!)2 und

〈Pn, Pm〉 =1

2n+ 1δnm.

Losung. Zunachst ist Pn in der Tat ein Polynom n–ten Grades mit dem angegebenen Leit-koeffizienten, weil es bis auf den konstanten Faktor 1

2nn! die n–te Ableitung des PolynomsR(x) := (x2 − 1)n vom Grad 2n ist. — Die Orthogonalitat folgt offenbar aus der allgemeinerenAussage 〈xj, R(k)〉 = 0 fur k ∈ 1, . . . , n und j < k, die jetzt durch Induktion nach k gezeigt wird.Fur k = 1 ist j = 0 und 〈1, R ′〉 = 1

2R|1−1 = 0. Der Schluss k−1 → k folgt durch partielle Integration〈xj, R(k)〉 = 1

2xjR(k−1)|1−1 −j〈xj−1, R(k−1)〉. Der zweite Summand ist nach Induktionsvoraussetzung

gleich Null und der erste verschwindet, weil R(k−1) eine (n−(k−1))–fache Nullstelle bei 1 und −1

hat. — Ganz entsprechend erhalt man durch wiederholte partielle Integration, wobei die Rand-terme verschwinden, (2nn!)2〈Pn, Pn〉 = 〈R(n), R(n)〉 = 〈R, R(2n)〉 = (2n)!〈R, 1〉 = (2n)!

4n(n!)2

(2n+1)! ,

was 〈Pn, Pn〉 = 12n+1 ergibt.

Sei fn : [−1, 1] → C mit fn(x) := xn, n = 0, 1, 2, . . . . Man zeige: Wendet man das Gram–Schmidt Verfahren auf (fn) an, erhalt man eine Folge von Polynomen Qn mit gradQn = n

und positiven Leitkoeffizienten, die mit Q0 = 1,Q1 =√3x die Dreitermrekursion

n+ 1√4(n+ 1)2 − 1

Qn+1 = xQn −n√

4n2 − 1Qn−1 (?)

98

Page 99: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

fur n = 1, 2, · · · erfullen. Es gilt die Beziehung Qn =√2n+ 1Pn. Die Legendre Polynome

erfullen die Dreitermrekursion (n+ 1)Pn+1 = (2n+ 1)xPn − nPn−1.

Losung. Man rechnet schnell Q0 = 1, Q1 =√3x, Q2 =

√52 (3x2−1) aus. Aus der Nullpunktsym-

metrie des Maßes folgt Q2n(−x) = Q2n(x), Q2n+1(−x) = −Q2n+1(x), denn Q2n(x) := Q2n(−x)

und Q2n+1(x) := −Q2n+1(−x) bilden auch eine orthonormale Folge von Polynomen mit gleichenGraden und gleichen Leitkoeffizienten, weshalb Qn = Qn nach (30).

Gemaß dem Gram-Schmidt Verfahren ist generell Qn+1 bis auf Normierung gleich xn+1 −∑nk=0

⟨Qk, x

n+1⟩Qk. Das gilt daher auch, wenn man statt xn+1 das Polynom gleichen Grades

xQn verwendet. Damit ist βnQn+1 = xQn −∑nk=0 〈Qk, xQn〉Qk mit dem Normierungsfaktor

βn > 0. Es ist 〈Qk, xQn〉 = 〈xQk,Qn〉 = 0 fur k ≤ n − 2, weil Qn ⊥ Span (Q0, · · · ,Qn−1) =

Span(1, x, · · · , xn−1

). Weiter ist 〈Qn, xQn〉 =

∫1−1 xQ

2ndx2 = 0, weil der Integrand ungerade

ist. Daher ist βnQn+1 = xQn − αn−1Qn−1 mit αn−1 := 〈Qn−1, xQn〉. Weiter gilt αn = βn. Inder Tat ist αn−1 = 〈Qn−1, xQn〉 = 〈xQn−1,Qn〉 = 〈βn−1Qn + αn−2Qn−2,Qn〉 = βn−1 = βn−1.Damit gilt schließlich fur n = 1, 2, . . .

βnQn+1 = xQn − βn−1Qn−1. (??)

Sei nun Pn :=√2n+ 1Pn fur n = 0, 1, 2 . . . . Nach obigem ist auch (Pn) eine orthonormale

Folge von Polynomen mit grad Pn = n und positiven Leitkoeffizienten. Nach (30) ist daherPn = Qn. Also gilt βnPn+1 = xPn − βn−1Pn−1. Daraus folgt βn

√2n+ 3ln+1 =

√2n+ 1ln,

was βn = n+1√4(n+1)2−1

ergibt. Geht man hiermit in die Dreitermrekursion fur (Pn) folgt die

behauptete Rekursion fur (Pn).

Man zeige, dass fur jedes x ∈ [−1, 1] die Funktion F(t) := 1√1−2xt+t2

in ] − 13 ,13 [ die

Taylorentwicklung 1√1−2xt+t2

=∑∞n=0 Pn(t)tn mit obigen Legendre Polynomen Pn hat.

99

Page 100: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

33 Lp–Raume, speziell der Hilbertraum L2

Zu den wichtigsten Funktionenraumen in Theorie und Anwendung gehoren die Lp–Raume. Sei(Ω,A, µ) irgendein Maßraum, wie zum Beispiel (Rd,Bd, λd) oder allgemeiner (M,BdM, λ

dM) fur

M ∈ Bd nach (26.26), oder (Ω,P(Ω), µ) und µ ein gewichtetes Abzahlmaß. Außerdem seizunachst p ∈]0,∞[.

(1) Lp–Raum. Sei Lp(µ) :=f : Ω → C : f messbar,

∫|f(ω)|pdµ(ω) < ∞

der Raum der p–fach integrierbaren Funktionen auf Ω. Fur p = 1 siehe (26.25).

Zunachst ist Lp ein Vektorraum. Denn seien f, g ∈ Lp, α ∈ C. Dann ist bekanntlich f+αgmessbar. Weiter gilt die Abschatzung |f(ω)+αg(ω)|p ≤ ((1+ |α|)max |f(ω)|, |g(ω)|)p =

(1 + |α|)pmax |f(ω)|p, |g(ω)|p ≤ (1 + |α|)p (|f(ω)|p + |g(ω)|p), weshalb∫

|f + αg|pdµ ≤(1+ |α|)p

(∫|f|pdµ+

∫|g|pdµ

)< ∞.

N := f : Ω → C : f messbar, f = 0 µ− fast uberall heißt der Raum der Nullfunktionen.Dabei bedeutet f = 0 µ−fast uberall, dass µ(f 6= 0) = 0, siehe (27.6). Offensichtlich istN ein Untervektorraum von Lp. Fur f ∈ Lp gilt nach (27.7)(β): f ∈ N ⇔ ∫

|f|pdµ = 0.

Im Folgenden spielt der Quotientenraum

Lp(µ) := Lp(µ)/N

von Lp(µ) nach dem Nullraum die zentrale Rolle. Er besteht aus allen Nebenklassen[f] = f + N = f + n : n ∈ N mit f ∈ Lp. Die Nebenklasse [f] ist die Menge allerFunktionen aus Lp, die sich von f jeweils nur auf einer Nullmenge unterscheiden. Wieaus der Linearen Algebra bekannt, ist ein Quotientenraum ein Vektorraum, wobei dieVektorraumoperationen reprasentantenweise erfolgen. Fur [f], [g] ∈ Lp ist also

[f] + α[g] = [f+ αg]

wohldefiniert. Weil offenbar∫

|f(ω) + n(ω)|pdµ(ω) =∫

|f(ω)|pdµ(ω), ist auch

‖[f]‖p :=

(∫|f(ω)|pdµ(ω)

) 1p

< ∞wohldefiniert auf Lp, da reprasentantenunabhangig.

Ab jetzt gilt stets p ≥ 1.

(2) Lp–Norm. Sei p ∈ [1,∞[. Dann ist ‖·‖p eine Norm auf Lp.

Beweis. Offenbar gilt: ‖[f]‖p = 0 ⇔ f ∈ N ⇔ [f] = 0 ∈ Lp. Daher ist ‖·‖p positiv definit.Die Homogenitat ist klar. Es bleibt die Dreiecksungleichung zu zeigen, die hier die MinkowskiUngleichung ‖[f] + [g]‖p ≤ ‖[f]‖p + ‖[g]‖p genannt wird. Vgl. (11.6) fur den Spezialfall Cn 'Lp(α) bez. des Abzahlmaßes α auf 1, . . . , n. Wegen |f(ω) + g(ω)|p ≤ (|f(ω)| + |g(ω)|)p ∀ ω istder Fall p = 1 klar. Außerdem ist es keine Einschrankung f, g ≥ 0 anzunehmen. Daher folgt dieBehauptung aus (3).

100

Page 101: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

(3) Satz. Seien h, k ≥ 0 messbar (d.h. h, k ∈ E?) und p, q ∈]1,∞[ mit 1p + 1q = 1. Dann gelten

(a)∫hkdµ ≤

(∫hpdµ

) 1p(∫kqdµ

) 1q die Holder Ungleichung.

(b)(∫

(h+ k)pdµ) 1

p ≤(∫hpdµ

) 1p +

(∫kpdµ

) 1p die Minkowski Ungleichung.

Man beachte, dass die Integrale in (a),(b) auch unendlich sein konnen.

Beweis. (a) Ist(∫hpdµ

) 1p = 0, dann ist h = 0 µ–f.u. und somit auch hk = 0 µ–f.u., weshalb in

diesem Fall (a) gilt. Sei daher die rechte Seite von (a) positiv und o.E. endlich. Aus der YoungUngleichung xy ≤ xp

p + yp

q fur x, y ≥ 0 folgt

h(ω)(∫hpdµ

) 1p

k(ω)(∫kqdµ

) 1q

≤ 1

p

h(ω)p∫hpdµ

+1

q

k(ω)q∫kqdµ

fur jedes ω ∈ Ω. Integration uber Ω liefert∫hkdµ

(∫hpdµ)

1p (

∫kqdµ)

1q≤ 1p + 1

q = 1, was (a) beweist.

(b) (h+ k)p = h(h+ k)p−1 + k(h+ k)p−1 (a)⇒ ∫(h+ k)pdµ ≤

(∫hpdµ

) 1p(∫

(h+ k)(p−1)qdµ) 1

q +(∫kpdµ

) 1p(∫

(h+ k)(p−1)qdµ) 1

q =((∫

hpdµ) 1

p +(∫kpdµ

) 1p

) (∫(h+ k)pdµ

) 1q wegen (p−1)q =

p. Daraus folgt (b) wegen 1p = 1 − 1

q , falls 0 <∫(h + k)pdµ < ∞. Der Fall, dass das Integral

null ist, ist trivial. Falls es unendlich ist, gilt die Behauptung wegen (h+ k)p ≤ (2 sup k, h)p =

2p sup hp, kp ≤ 2p(hp + kp).

(4) L∞–Raum. Sei L∞(µ) := f : Ω → C : f messbar, ∃ c > 0 mit |f(ω)| ≤ c µ–f.u. der Raumder wesentlich beschrankten Funktionen auf Ω. Offensichtlich ist L∞ ein Vektorraum und Nein Untervektorraum. Wieder betrachtet man den Quotientenraum L∞(µ) := L∞(µ)/N . Fur[f] ∈ L∞ nennt man

‖[f]‖∞ := infc ≥ 0 : |f(ω)| ≤ c µ–f.u.

das wesentliche Supremum.

(5) L∞–Norm. Das wesentliche Supremum ‖·‖∞ ist reprasentantenunabhangig und definierteine Norm auf L∞(µ). Außerdem gelten

∀ [f] ∈ L∞ ∃ µ–Nullmenge N ⊂ Ω: ‖[f]‖∞ = supω∈Ω\N |f(ω)|.

∀ [f] ∈ L∞, [g] ∈ L1: ‖[fg]‖1 ≤ ‖[f]‖∞ ‖[g]‖1.

Beweis. Die Reprasentantenunabhangigkeit von ‖·‖∞ ist offensichtlich. — Zum Beweis des ers-ten Punktes seien Nn µ–Nullmengen mit supω∈Ω\Nn

|f(ω)| ≤ ‖[f]‖∞ + 1n . Dann ist N :=

⋃nNn

eine µ–Nullmenge, die die Behauptung erfullt. — Sei [f] ∈ L∞ mit ‖[f]‖∞ = 0. Nach dem erstenPunkt existiert eine µ–Nullmenge mit 0 = ‖[f]‖∞ = supω∈Ω\N |f(ω)|. Also ist f = 0 µ–f.u. Dasbeweist, dass ‖·‖∞ positiv definit ist. Die Homogenitat ist offensichtlich. Zum Nachweis der Drei-ecksungleichung sei N eine µ–Nullmenge derart, dass ‖[f]‖∞ = supω∈Ω\N |f(ω)| und ‖[g]‖∞ =

supω∈Ω\N |g(ω)|. Dann folgt ‖[f] + [g]‖∞ ≤ supω∈Ω\N |f(ω) + g(ω)| ≤ supω∈Ω\N |f(ω)| +

supω∈Ω\N |g(ω)| = ‖[f]‖∞ +‖[g]‖∞. — Da∫

|fg|dµ =∫Ω\N |fg|dµ ≤ (supω∈Ω\N |f(ω)|)

∫|g|dµ

mit N gemaß dem ersten Punkt, gilt der zweite Punkt.

101

Page 102: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Es ist ublich – sofern nicht missverstandlich – die Nebenklassenklammern fur Elemente aus Lp

wegzulassen.

(6) Satz von Riesz–Fischer. Fur 1 ≤ p ≤ ∞ ist Lp(µ) ein Banachraum.

Beweis. Der Fall p = ∞ wird separat bewiesen. Sei (fn) eine CF in L∞. Nach (5) existierenNullmengen Nn mit supω/∈Nn

|fn(ω)| = ‖fn‖∞. Dann ist N :=⋃nNn eine Nullmenge mit

‖fn‖∞ = supω/∈N |fn(ω)|. Daher ist (1Ω\Nfn) eine CF im Banachraum (B(Ω), ‖·‖s), siehe (10.5).Also existiert f ∈ B(Ω) mit ‖1Ω\Nfn − f‖s → 0. Damit ist f ∈ L∞ mit ‖fn − f‖∞ → 0.

Sei jetzt p < ∞. Zur CF (fn) in Lp existiert eine Teilfolge (nk) mit∥∥fnk+1

− fnk

∥∥p≤ 2−k.

(Dazu geht man wie folgt vor: ∃ n1 ∈ N : ‖fn1− fn‖p ≤ 2−1 ∀ n ≥ n1; ∃n2 > n1 ∈ N :

‖fn2− fn‖p ≤ 2

−2 ∀ n ≥ n2 usw.). Hiermit definiert man

gk := fnk+1− fnk

∀k ∈ N und ρ(ω) :=

∞∑k=1

|gk(ω)| ∀ω ∈ Ω.

Fur die n–ten Partialsummen sn :=∑nk=1 |gk(·)| gelten ‖sn‖p ≤

∑nk=1 ‖gk‖p ≤

∑nk=1 2

−k ≤ 1

und sn(ω)p ↑n ρ(ω)p. Daher folgt aus dem Satz von der monotonen Konvergenz, dass ‖sn‖pp ↑‖ρ‖pp. Da weiterhin

∫ρpdµ = ‖ρ‖pp ≤ 1 folgt schließlich nach (27.7)(γ), dass ρ < ∞ µ-f.u.

Wenn ρ(ω) < ∞, dann konvergiert∑∞k=1 gk(ω), denn |

∑nk=m gk(ω)| ≤

∑nk=m |gk(ω)| → 0

fur n > m → ∞. Also konvergiert∑∞k=1 gk µ−f.u.

Nun ist fnk+1= fn1

+ g1 + g2 + · · · + gk und daher |fnk+1(ω)| ≤ |fn1

(ω)| + ρ(ω). Damitexistiert der Grenzwert limk→∞ fnk

(ω) =: f(ω) µ−f.u., sogar uberall bei geeigneter Wahl derReprasentanten von [fnk

]. Es folgt, dass f messbar ist mit |f| ≤ |fn1|+ρ. Daher ist f ∈ Lp. Weiter

folgt∫

|f(ω)− fnk(ω)|pdµ(ω) → 0 fur k → ∞ nach dem Satz von der majorisierten Konvergenz

(26.29), denn |f − fnk| ≤ |f| + |fn1

| + ρ ∈ Lp. Das zeigt ‖fnk− f‖p → 0. Daher ist (fn) eine CF

mit einer gegen f konvergenten Teilfolge, weshalb fn → f in Lp nach (14.4)(iv).

Der Beweis von (6) zeigt auch die folgende Aussage.

(7) Lp– und punktweise Konvergenz. Sei p ∈ [1,∞] und (fn) eine Cauchy Folge in Lp.Dann existiert f ∈ Lp mit ‖fn− f‖p → 0 und es existiert eine Teilfolge (nk) mit fnk

→ f µ−f.u.

Ub Man finde ein Beispiel zu (7), in dem (fn(ω)) fur kein ω ∈ Ω konvergiert.

(8) Hilbertraum L2. L2(µ) ist ein Hilbertraum bez. des Skalarprodukts 〈f, g〉 :=∫fgdµ.

Beweis. Nach (3)(a) ist∫

|fg|dµ =∫

|f||g|dµ ≤ (∫

|f|2dµ)12 (

∫|g|2dµ)

12 < ∞ ∀ f, g ∈ L2. Also

existiert 〈f, g〉 fur die Reprasentanten f, g und ist auch unabhangig von der Reprasentantenwahl,denn fur n,m ∈ N ist (f+ n)(g+m) = fg µ–f.u. Offenbar ist 〈 , 〉 linear im zweiten Argumentund antisymmetrisch. Schließlich ist in der Tat ‖f‖2 =

√〈f, f〉.

102

Page 103: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Bei der Behandlung von Operatoren auf Funktionenraumen ist oftmals die Methode der Tren-nung der Variablen erfolgreich. Sie findet Anwendung, wenn es gelingt, den zu untersuchendenOperator so umzuformen, dass er sich als eine Summe von Produkten von Operatoren darstellenlaßt, die jeweils auf Funktionen einer Variablen wirken. Es stellt sich dann die Frage nach derVollstandigkeit der betrachteten Funktionenklasse. Der folgende Satz im Fall von L2–Raumengehort in diesen Zusammenhang.

(9) Faktorisierende Funktion. Seien Ωi, i = 1, . . . , d nichtleere Mengen und f : Ω1 × · · · ×Ωd → C eine Funktion. Man sagt, dass f (tensiorell) faktorisiert, wenn Funktionen fi : Ωi → Cderart existieren, dass

f(ω1, . . . ,ωd) = f1(ω1) . . . fd(ωd) ∀ωi ∈ Ωi, i = 1, . . . , d.

Man schreibt f = f1 × · · · × fd.

(10) Beispiel. Jede Polynomfunktion in d Variablen von Cd in C ist eine Linearkombinationvon faktorisierenden Funktionen.

(11) Tensorprodukt von L2–Raumen. Seien (Ωi,Ai, µi) Maßraume mit σ–endlichen Ma-ßen µi, i = 1, 2 und (Ω,A, µ) := (Ω1 × Ω2,A1 ⊗ A2, µ1 ⊗ µ2) der Produktmaßraum gemaß(27.2). Dann gelten

fi ∈ L2(µi), i = 1, 2 ⇔ f1 × f2 ∈ L2(µ).

fi, gi ∈ L2(µi), i = 1, 2 ⇒ 〈f1 × f2, g1 × g2〉 = 〈f1, f2〉〈g1, g2〉.

Mi ⊂ L2(µi) total fur i = 1, 2 ⇔ M := ϕ×ψ : ϕ ∈M1, ψ ∈M2 ⊂ L2(µ) total.

Ist Ei eine ONB in L2(µi) fur i = 1, 2, dann ist E := ϕ×ψ : ϕ ∈ E1, ψ ∈ E2 eine ONBin L2(µ).

Man nennt L2(µ) ein Tensorprodukt von L2(µ1) und L2(µ2) und schreibt L2(µ) ' L2(µ1)⊗L2(µ2).

Proof. Der erste Punkt folgt sofort aus dem Satz von Tonelli, weil |f1 × f2|2 = |f1|2 × |f2|

2 =(|f1|

2 pr1)(|f2|2 pr2)

messbar ist. Damit gilt der zweite Punkt nach dem Satz von Fubini. Dervierte Punkt ist wegen (32.28)(i)(ii) eine unmittelbare Folge von Punkt zwei und drei.

Es bleibt, den dritten Punkt zu beweisen. Zum Nachweis der Vorwartsrichtung sei f ∈ L2(µ)

und 〈ϕ×ψ, f〉 = 0 ∀ ϕ×ψ ∈M. Hieraus folgt 〈χ, f〉 = 0 ∀ χ ∈ V , wobei V die lineare Hulle allerfaktorisierenden Funktionen in L2(µ) bezeichnet. Weil namlich L2(µ1) = SpanM1, folgt durchlineare und anschließend stetige Fortsetzung aufgrund von Punkt zwei, dass 〈ϕ × ψ, f〉 = 0 ∀ϕ ∈ L2(µ1). Anschließend erfolgt analog aufgrund von Punkt eins die Ausdehnung auf V .

Fur ϕ = 1A1und ψ = 1A2

mit Ai ∈ Ai, µi(Ai) < ∞ fur i = 1, 2 folgt∫A f dµ = 0 fur

A = A1 × A2. Sei C := B ∈ A : B ⊂ A,∫B f dµ = 0. Weil ∅ ∈ C, A \ B ∈ C fur B ∈ C und⋃

n Bn ∈ C fur Bn ∈ C ∀ n, ist C eine σ–Algebra auf A. Sie enthalt alle messbaren Rechtecke inA. Nach Definition der Produkt–σ–Algebra (siehe Kap. 27) ist daher C = B ∈ A : B ⊂ A. Esfolgt

∫B f dµ = 0 fur alle B ∈ A mit µ(B) < ∞. Das bedeutet f = 0.

Zur Ruckrichtung sei f1 ∈ L2(µ1) mit 〈ϕ, f1〉 = 0 ∀ ϕ ∈ M1. Sei ψ0 ∈ M2 \ 0. Dann ist〈ϕ × ψ, f1 × ψ0〉 = 〈ϕ, f1〉〈ψ,ψ0〉 = 0 ∀ ϕ × ψ ∈ M. Weil M total ist, folgt f1 × ψ0 = 0. Dasbedeutet 0 = ‖f1 ×ψ0‖ = ‖f1‖‖ψ0‖, weshalb ‖f1‖ = 0, d.h. f1 = 0. Analog folgt, dass M2 totalist.

103

Page 104: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Ist X ein metrischer Raum und f : X → C stetig, dann nennt man Tr (f) := x ∈ X : f(x) 6= 0 denTrager von f.

(12) Spezialfall Lebesgue Maß. Seien p ∈ [1,∞] und (Ω,A, µ) = (Rd,Bd, λd). Sind [f] =

[g] ∈ Lp(λd) mit f, g stetig, dann gilt f(x) = g(x) ∀x ∈ Rd. Das ist die Eindeutigkeit stetigerReprasentanten. Der Vektorraum der C∞−Funktionen mit kompaktem Trager

C∞c (Rd) :=

f : Rd → C : f beliebig oft differenzierbar, Tr(f) kompakt

ist (mittels der Einbettung f → [f]) ein Untervektorraum von Lp(λd). Im Fall p < ∞ liegtC∞c (Rd) dicht in Lp(λd), d.h.

∀ f ∈ Lp ∀ ε > 0 ∃ g ∈ C∞c : ‖f− g‖p < ε

oder anders ausgedruckt, zu jedem f ∈ Lp existiert eine Folge (gn) in C∞c mit ‖f− gn‖p → 0.

Beweis. Zum Nachweis der Eindeutigkeit stetiger Reprasentanten nehme man an, dass f(x0) 6=g(x0) fur ein x0 ∈ Rd. Dann ist aufgrund der Stetigkeit |f(x) − g(x)| > 0 fur alle x aus eineroffenen Umgebung U von x0. Aber U ist keine Lebesgue Nullmenge und daher f − g /∈ N . —Weil stetige Funktionen mit kompaktem Trager beschrankt sind und außerhalb einer Mengeendlichen Maßes verschwinden, ist C∞

c ⊂ Lp. — Sei nun p < ∞. Der Nachweis der Dichtheit vonC∞c (Rd) in Lp(Rd) erfolgt in drei Schritten.

(I) Behauptung. A ∈ Bd, ε > 0 ⇒ ∃ U offen, C abgeschlossen mit C ⊂ A ⊂ U und λd(U\C) < ε.

Beweis. Sei zunachst λd(A) < ∞. Nach (25.19) existieren In ∈ Id mit⋃n In ⊃ A und λd(A) >∑

n λ(In)− ε4 . Jedes In wird ersetzt durch einen offenen QuaderQn ⊃ In mit λd(Qn\In) < ε

42−n.

Dann ist U :=⋃nQn offen mit U ⊃ A und λd(U\A) < ε

2 . Im allgemeinen Fall wahle nach obigemUk ⊃ Ak := A∩Uk(0) offen mit λd(Uk\Ak) < ε

22−k. Wieder gilt λd(U\A) < ε

2 fur U :=⋃kUk.

Jetzt wahle V offen mit V ⊃ Rd\A und λd(A\(Rd\V)) = λd(V\(Rd\A)) < ε2 . Setze C := Rd\V .

(II) Reduktion auf den Fall f = 1K mit K ⊂ Rd kompakt.

Beweis. Sei f ∈ Lp. Dann ist f = (Re f)+ −(Re f)− + i(Im f)+ − i(Im f)− eine Linearkombinationvon vier nichtnegativen messbaren Funktionen ≤ |f|, die daher in Lp liegen. Es genugt jede ein-zelne durch Funktionen aus C∞

c zu approximieren. Daher darf bereits f ≥ 0 angenommen werden.Nach (26.17) existiert eine Folge (un) von Elementarfunktionen mit un ↑ f, weshalb un ∈ Lpund ‖f− un‖p → 0 aufgrund majorisierter Konvergenz. Es genugt also Elementarfunktionenf =

∑ni=1 αi1Ai

mit αi > 0 zu approximieren. Da αi1Ai≤ f, ist 1Ai

∈ Lp, was λd(Ai) < ∞bedeutet. Man kann sich somit auf die Approximation von f = 1A mit λd(A) < ∞ beschranken.Weil An := A∩Un(0) beschrankt ist und 1An ↑ 1A, erreicht man hiermit die weitere Reduktionauf f = 1A mit beschranktem A. Gemaß dem Schritt (I) existiert zu ε > 0 ein abgeschlossenesund damit kompaktes K ⊂ A mit λd(A\K) < εp. Letzteres ergibt ‖1A − 1K‖p < ε, womit dieReduktion auf f = 1K erreicht ist.

(III) Friedrichs Glattung.

Sei f = 1K mit K ⊂ Rd kompakt und sei ε > 0. Nach Schritt (I) existiert eine offene MengeU ⊂ Rd mit U ⊃ K und λd(U\K) < εp. Dann ist C := Rd\U abgeschlossen mit C∩K = ∅, weshalbα := inf |b− a| : b ∈ C, a ∈ K > 0. Sei δ := α

3 . Setze Kδ :=y ∈ Rd : ∃a ∈ K mit |y− a| ≤ δ

und ebenso K2δ. Es ist K2δ ⊂ U, denn zu x ∈ K2δ und b ∈ C existiert a ∈ K mit |x − b| ≥

104

Page 105: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

|b − a| − |a − x| ≥ α − 2δ = δ, weshalb x /∈ C, was x ∈ U heißt. Nun wird eine C∞–Funktionh : Rd → R mit folgenden Eigenschaften konstruiert:

h(Rd) ⊂ [0, 1]

h|K = 1

h|(Rd\K2δ) = 0.

Fur diese gilt dann 1K ≤ h ≤ 1U und ‖h− 1K‖pp =∫

(h− 1K)p dλd ≤∫(1U − 1K)pdλd =∫

1U\Kdλd = λd(U\K) < εp wie gewunscht.

Zur Konstruktion von h sei ρ ∈ C∞(Rd) mit ρ ≥ 0, ρ(x) = 0 ∀ |x| ≥ 1 und∫ρdλd = 1,

z.B. ρ(x) = β exp((|x|2 − 1)−1

)fur |x| < 1 mit β > 0 die Normierungskonstante. Setze ρδ(x) :=

δ−dρ(1δx) fur x ∈ Rd und δ > 0. Dann hat die Friedrichs Glattung von 1Kδ

h(x) :=

∫1Kδ

(y)ρδ(x− y)dλd(y)

die gewunschten Eigenschaften. Zunachst ist die Existenz des Integrals klar, weil y → ρδ(x− y)

stetig ist und Kδ kompakt ist. Weiter ist offensichtlich h(x) ≥ 0 und h(x) ≤∫ρδ(x−y)dλd(y) =∫

ρδ(y)dλd(y) = 1 ∀x wegen der Translations- und Spiegelungsinvarianz des Lebesgue Maßes.

Fur a ∈ K ist h(a) =∫ρδ(a − y)dλd(y) = 1, weil ρδ(x) = 0 fur |x| ≥ δ und |a − y| > δ fur

y /∈ Kδ. Fur x ∈ Rd\K2δ ist h(x) = 0, denn fur y ∈ Kδ ist |x− y| ≥ |x− a| − |a− y| > 2δ− δ = δ

mit geeignetem a ∈ K, weshalb ρδ(x−y) = 0. Schließlich ist h ∈ C∞ mit ∂vh(x) =∫Kδ

(∂vρδ)(x−

y)dλd(y) in der Notation von (18.4). Die Vertauschbarkeit von Integration und Differenziationfolgt wie im Beweis zu (20.3)(b) bei Induktion nach |ν|.

(13) Lemma. Sei 1 ≤ p < ∞. Sind W ⊂ Rd offen, f ∈ Lp mit f(x) 6= 0 ⊂ W und ε > 0,dann existiert g ∈ C∞

c mit Trg ⊂W und ‖f− g‖p < ε.

Beweis. Die Aussage folgt aus dem Beweis von (12) II, III.

(14) Dichtheit von C∞c . Seien 1 ≤ p < ∞ und (Ω,A, µ) = (M,BdM, λdM) mit M ∈ Bd gemaß

(26.26). Ist M = W ∪N, wobei W ⊂ Rd offen und N eine λd–Nullmenge ist, dann liegt C∞c (W)

dicht in Lp(λdM).

Beweis. Mit (27.8) sind Lp(λdM) und Lp(λdW) offensichtlich identifizierbar. Die Behauptung folgtdamit aus (13).

Ub Man zeige, dass die Menge der C∞c –Funktionen auf Rd, welche faktorisieren, total in Lp(Rd)

fur 1 ≤ p < ∞ ist.

(15) Spezialfall Gewichteter Familienraum. Seien µω ∈ ]0,∞[ fur ω ∈ Ω. Man betrachtetauf Ω die σ–Algebra A := P(Ω) und darauf das gewichtete Abzahlmaß µ mit µ(A) :=

∑ω∈A µω.

Sei 1 ≤ p ≤ ∞. Dann heißt `p(µ) := Lp(µ) der gewichtete Familienraum. Es sind im Fall p < ∞105

Page 106: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

`p(µ) =

x = (xω)ω∈Ω : xω ∈ C,

∑ω∈Ω

µω|xω|p < ∞und ‖x‖p =

(∑ω∈Ω

µω|xω|p

) 1p

,

wobei∑ω∈Ω µω|xω|p := sup

∑ω∈F µω|xω|p : F ⊂ Ω, F endlich

, und im Fall p = ∞

`∞(Ω) =

x = (xω)ω∈Ω ⊂ C : sup

ω∈Ω|xω| < ∞

und ‖x‖∞ = supω∈Ω

|xω|.

Alle diese Raume haben den gemeinsamen Untervektorraum der abbrechenden Familien

`c := x = (xω)ω∈Ω : xω ∈ C, ω ∈ Ω : xω 6= 0 endlich .

Spezielle abbrechende Familien sind eι fur ι ∈ Ω mit eιω := (µι)− 1

p διω. Sei E := eι : ι ∈ Ω. Esgelten

`c = Span E.

`c ist dicht in `p(µ) fur 1 ≤ p < ∞.

E ist total in `p(µ) fur 1 ≤ p < ∞.

E ist eine ONB in `2(µ).

Beweis. Der erste Punkt ist offensichtlich. — Zu x ∈ `p(µ) und ε > 0 existiert nach Definition derSumme eine endliche Teilmenge F ⊂ Ω mit εp +

∑ω∈F µω|xω|p >

∑ω∈Ω µω|xω|p. Setze xω :=

xω furω ∈ F und xω := 0 sonst. Es folgt x := (xω) ∈ lc(Ω) und ‖x− x‖pp =∑ω∈Ω µω |xω − xω|p

=∑ω∈Ω\F µω|xω|p < εp, d.h. ‖x− x‖p < ε. Das zeigt den zweiten Punkt. — Der dritte

Punkt folgt sofort aus den beiden ersten. — Schließlich bleibt zu zeigen, dass E orthonormal ist:〈eι, eι ′〉 =

∑ω∈Ω µω eιω eι ′ω = διι ′µι |eιι|

2 = διι ′ .

(16) Spezialfall Hilbertscher Folgenraum. Im Fall, dass µ das Abzahlmaß auf N ist, d.h.µn = 1 ∀ n ∈ N, schreibt man `p := `p(µ). Der Hilbertraum `2 heißt der Hilbertscher Folgenraumoder Klein-`-2-Raum.

Ub Gemaß (15) ist E = ek : k ∈ N eine ONB von `2. Fur t ∈]0, 1[ sei xt := (t, t2, t3, . . . ). Manzeige

SpanE 6= `2. Damit ist E keine Vektorraumbasis von `2.

xt ∈ `2 ∀ t ∈ ]0, 1[.

xt : t ∈]0, 1[ ist linear unabhangig.

`c∩Spanxt : t ∈]0, 1[ = 0. Insbesondere ist xt : t ∈]0, 1[ keine Vektorraumbasis von `2.

106

Page 107: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

Losung. Nach (15) ist SpanE = `c und ( 1n)n ∈ `2\`c. Das zeigt den ersten Punkt. —∑∞n=1 x

2t,n =∑∞

n=1 t2n = t2

1−t2< ∞, was den zweiten Punkt zeigt. — Zum dritten Punkt seien t1, . . . , tm

paarweise verschieden und∑mj=1 αj xtj = 0. Letzteres bedeutet

∑mj=1 αj t

ij = 0 fur jedes i ∈ N. Die

m×m Vandermonde Matrix V := (tij)ij ist bekanntlich invertierbar, woraus α1 = · · · = αm = 0

folgt. — Zum letzten Punkt sei a = (a1, . . . , ak, 0, 0, . . . ) ∈ `c ∩ Spanxt : t ∈]0, 1[ . Dannexistieren α1, . . . , αm ∈ C mit

∑mj=1 αj xtj = a. Daraus folgt

∑mj=1 αj t

k+ij = 0 fur jedes i ∈ N.

Auch diem×mMatrix (tk+ij )ij ist invertierbar, da ihre Determinante gleich (t1 · · · tm)k detV 6= 0

ist. Es folgt α1 = · · · = αm = 0 und damit a = 0.

(17) Anordnung der `p–Raume. Seien 0 < r ≤ s und an ≥ 0 mit∑n a

rn < ∞. Dann gilt

(∑n a

sn)

1s ≤ (

∑n a

rn)

1r (Spezialfall der Jensen Ungleichung). Wegen ‖·‖s ≤ ‖·‖r ist lr ⊂ ls und,

im Fall r ≥ 1, die identische Einbettung lr → ls ist stetig.

Beweis. O.E. sei∑n a

rn =: c > 0. Dann gilt:

∑n

(an

c1r

)r= 1 ⇒ an

c1r≤ 1 ⇒ (an

c1r)s ≤ (an

c1r)r ⇒∑

n(an

c1r)s ≤ 1 ⇒ (

∑n a

sn)

1s ≤ c

1r = (

∑n a

rn)

1r .

(18) Anordnung der Lp–Raume. Sei 1 ≤ r ≤ s. Sei (Ω,A, µ) ein Maßraum mit endlichemMaß µ. Dann gilt

Ls(µ) ⊂ Lr(µ)

mit ‖f‖r ≤ µ(Ω)( 1r− 1

s) ‖f‖s. Damit ist die identische Einbettung Ls(µ) → Lr(µ) stetig. Die

Aussagen gelten auch fur s = ∞ mit 1∞ := 0.

Beweis. O. E. sei s > r. Man setze t := rss−r . Dann ist p := s

r > 1 und 1p + 1

q = 1 furq := t

r . Man wendet nun die Holder Ungleichung (3)(a) auf |f|r · 1 an. Es folgt∫

|f|r · 1 dµ ≤(∫|f|rpdµ

) 1p(∫1qdµ

) 1q =

(∫|f|sdµ

) rs µ(Ω)

rt , was die Behauptung ergibt. Der Fall s = ∞ ist

leicht zu zeigen.

Erganzung zu Fourierreihen

Die Erganzung bezieht sich auf das Kapitel 12, wo die Fourierreihen fur Regelfunktionen unter-sucht werden. Fur f ∈ R[0, 2π] ist

Sf(x) =

∞∑k=−∞ fke

ikx

die Fourierreihe von f an der Stelle x ∈ [0, 2π]. Die k–ten Fourierkoeffizienten lauten

fk =

∫2π0e−ikx f(x)

dx

2π.

Fur ν := 12πλ

1[0,2π] steht uns inzwischen der Raum L1(ν) = f : [0, 2π] → C : f ν–integrierbar

zur Verfugung. Da |e−ikxf(x)| = |f(x)|, sind die Fourierkoeffizienten fk, k ∈ Z und somit dieFourierreihe Sf auch fur f ∈ L1(ν) definiert. Es gelten die Inklusionen

R[0, 2π] ⊂ L∞(ν) ⊂ L2(ν) ⊂ L1(ν),

107

Page 108: Analysis 3 f¨ur Physiker - TUM M7/Analysis - WebHome

weil R[0, 2π] ⊂ B(0, 2π) nach der Bemerkung zu (9.11) und R[0, 2π] ⊂ L1(ν) nach (26.27), weilL∞(ν) ⊂ L2(ν), da ν endlich ist, und schließlich L2(ν) ⊂ L1(ν) nach (18).

Die Fourierkoeffizienten sind fur alle Funktionen einer Nebenklasse gleich, d.h. fk = gk ∀ g ∈[f] ∈ L1(ν). Daher ist die Fourierreihe fur Elemente aus L1(ν) definiert.

Im Hilbertraum L2(ν) ist (ek)k∈Z mit ek(x) = eikx fur x ∈ [0, 2π], k ∈ Z eine orthonormaleFamilie, d.h. 〈ek, el〉 = δkl ∀ k, l ∈ Z, und die Fourierkoeffizienten fur f ∈ L2(ν)

fk = 〈ek, f〉

sind die Entwicklungskoeffizienten bez. dieses Orthonormalsystems. Daher ist das N–te zu fgehorige trigonometrisches Polynom (12.3)

SNf =

N∑k=−N

fkek

die orthogonale Projektion PTNf von f auf den (2N+ 1)–dimensionalen Untervektorraum

TN := Span e−N, · · · , eN .

Insbesondere gilt ‖f‖22 = ‖SNf‖22 + ‖f− SNf‖22 und ‖SNf‖2 ≤ ‖f‖2 ∀ f ∈ L2(ν).

(19) Fourierreihe fur L2–Funktionen. Die Menge ek : k ∈ Z ist eine ONB von L2(ν). Furf ∈ L2(ν) gilt daher ‖SNf − f‖2 → 0 fur N → ∞ und die Fouriereihe

∑∞k=−∞ fkek ist die

Entwicklung von f nach dieser Basis.

Beweis. Sei zunachst f stetig und 2π–periodisch. Dann gilt ‖f− σN−1f‖22 =∫

|f − σN+1f|2dν ≤

‖f− σN+1f‖2s ·1N→∞→ 0 nach dem Satz von Fejer (12.9)(b). Sei nun f ∈ L2(ν) beliebig und ε > 0.

Nach (14) existiert eine C∞–Funktion g mit Trager in ]0, 2π[ und ‖f− g‖2 < ε. Weil σN+1g ∈ TNund weil g 2π–periodisch stetig fortgesetzt werden kann, gilt ‖SNg− g‖2 ≤ ‖σN+1g− g‖2 < εfur alle N ∈ N groß genug. Weiter ist ‖SNg− SNf‖2 = ‖PTN

(g − f)‖2 ≤ ‖g − f‖2 < ε. Damitfolgt

‖f− SNf‖2 ≤ ‖f− g‖2 + ‖g− SNg‖2 + ‖SNg− SNf‖2 < 3ε.

Schließlich ist ‖f‖22 = ‖SNf‖22 + ‖f− SNf‖22, weshalb ‖SNf‖22 =∑Nk=−N | 〈ek, f〉 |2

N→∞→ ‖f‖22.Damit gilt die Parseval Gleichung und ek : k ∈ Z ist eine ONB nach (32.28).

(20) Korollar. ϕ : L2(ν) → `2(Z), f 7→ (fk)k∈N ist ein Hilbertraumisomorphismus, d.h. ϕ istlinear, bijektiv und 〈ϕ(f), ϕ(g)〉`2 = 〈f, g〉L2 ∀ f, g ∈ L2(ν).

108