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Analysis für Physiker Doz.Dr. Koksch Sommersemester 2004

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Analysis für Physiker

Doz.Dr. Koksch

Sommersemester 2004

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1 Mengen und Abbildungen

1.1 Grundbegriffe der mathematischen Logik

1.1.1 Aussagenlogische Ausdrücke

EineAussageA ist ein sinnvolles sprachliches Gebilde, das die Eigenschaft hat, entwederwahr oder falsch zu sein (Prinzip vom ausgeschlossenem Dritten). Man nennt „wahr“ bzw.„falsch“ denWahrheitswertW(A) der AussageA. Die Wahrheitswerte werden üblicherwei-se mitw (wahr) bzw. f (falsch) bezeichnet.

Beispiel 1.1.1.1) „5 ist eine Primzahl.“ (Aussage, wahr)2) „3 ist Teiler von 7.“ (Aussage, falsch)3) „Daniel ist krank.“ (keine Aussage, Daniel ist nicht festgelegt.)4) „a2 +b2 = c2“ (keine Aussage, was sinda, b, c?) ♦

Die letzten beiden Beispiele sind keine Aussagen, aberAussageformenoderaussagenlo-gische Ausdrücke, die einen Wahrheitswert erhalten durch Belegung derAussagevariablenDaniel, a, b, c,

Sind A1 und A2 Aussagen, so lassen sich durch sprachliche Verbindung neue Aussagengewinnen:

Neue Aussage Symbol Name

„nicht A1“ ¬A1 Negation„A1 undA2“ A1∧A2 Konjunktion„A1 oderA2“ (im Sinne von „oderauch“)

A1∨A2 Disjunktion

„wennA1 soA2“, „aus A1 folgtA2“, „ A1 ist hinreichend fürA2“,„A1 impliziert A2“, „ A2 ergibt sichausA1“

A1 ⇒ A2 Implikation

„A1 genau dann, wennA2“, „ A1 giltdann und nur dann, wennA2“, „ A1

ist äquivalent zuA2“

A1 ⇔ A2 Äquivalenz

¬, ∧, ∨,⇒,⇔ heißenJunktoren. Die Wahrheitswerte sind wie folgt definiert:

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1 Mengen und Abbildungen

A1 ¬w ff w

und

A1 A2 ∧ ∨ ⇒ ⇔w w w w w ww f f w f ff w f w w ff f f f w w

Elementarausdrücke sind die Konstantenw und f . Durch Zusammensetzen lassen sich nachfolgendenRegelnweitere aussagenlogische Ausdrücke bilden:

1. Jede Zeichenreihe, die nur aus einer Aussagevariablen oder aus einer Konstanten be-steht, ist ein Ausdruck.

2. SindA1 undA2 Ausdrücke, so sind auch¬A1, (A1∧A2), (A1∨A2), (A1⇒A2), (A1⇔A2) Ausdrücke.

3. Eine Zeichenreihe ist nur dann Ausdruck, wenn dies auf Grund von 1. oder 2. derFall ist.

Damit ist sind zum Beispiel((A1 ⇒¬A2)∧¬A3)

ein Ausdruck,((A1 ⇒¬A2)∧⇒ A3)

dagegen nicht.

Wie bei arithmetischen Ausdrücken führt man Abkürzungen ein, indem man festlegt: JederJunktor trennt stärker als jeder in der Folge

⇔ ,⇒ ,∨ ,∧ ,¬ .

Außerdem wird fürA1∧A2 kurz A1A2 und für¬A1 auchA1 geschrieben. Damit könnenKlammern eingespart werden:

((A1 ⇒ A2)∧¬A3) ist kurz(A1 ⇒ A2)A3 .

1.1.2 Äquivalenz von aussagenlogischen Ausdrücken

Zwei AusdrückeA1, A2 heißenäquivalentbzw.werteverlaufsgleich(in ZeichenA1 = A2),wenn für jede Belegungφ der Variablen sich jeweils die gleichen Wahrheitswerte ergeben:

W(φ(A1)) = W(φ(A2)) .

Wichtige Äquivalenzen sind:

w∧A1 = A1 , f ∧A1 = f , w∨A1 = w , f ∨A1 = A1 ,

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1.1 Grundbegriffe der mathematischen Logik

A1∧A1 = A1 , A1∧A1 = f , A1∨A1 = A1 , A1∨A1 = w ,

A1 = A1 , A1 ⇒ A1 = w , A1 ⇔ A1 = w .

Kommutativität:A1∧A2 = A2∧A1 , A1∨A2 = A2∨A1 .

Assoziativität:

(A1∧A2)∧A3 = A1∧ (A2∧A3) , (A1∨A2)∨A3 = A1∨ (A2∨A3) .

Distributivität:(A1∧A2)∨A3 = (A1∨A3)∧ (A2∨A3) ,

(A1∨A2)∧A3 = (A1∧A3)∨ (A2∧A3) .

Konjunktion und Disjunktion verhalten sich also formal so wie Multiplikation und Addition.

Ersetzung der Implikation und Äquivalenz:

A1 ⇒ A2 = A1∨A2 , A1 ⇔ A2 = (A1∨A2)∧ (A2∨A1) .

de Morgansche Regeln:

A1∧A2 = A1∨A2 , A1∨A2 = A1∧A2 .

Satz 1.1.2.Jeder aussagenlogische Ausdruck A(p1, . . . , pn) ist äquivalent zu aussagenlogi-schen Ausdrücken K(p1, . . . , pn) bzw. D(p1, . . . , pn), die als Junktoren nur die Negation undKonjunktion bzw. Disjunktion enthalten.

Als Junktoren sind daher¬ und∧ bzw.∨ ausreichend. Zum Vergleich komplizierterer Aus-drücke kann man nun versuchen, die Ausdrücke auf solche Normalformen zurückzuführen.

Beispiel 1.1.3.Der AusdruckA(p1, . . . , p4) soll für die Belegungen

( f , f ,w,w) , ( f ,w, f ,w) , ( f ,w,w, f ) , (w, f , f ,w) , (w, f ,w, f ) , (w,w, f , f )

den Wertw und sonstf besitzen. Dann

A(p1, . . . , pn) = p1p2p3p4∨ p1p2p3p4∨ p1p2p3p4∨ p1p2p3p4∨ p1p2p3p4∨ p1p2p3p4 .

Beispiel 1.1.4.Wir betrachten die Negation vonA⇒ B: A⇒ B ist genau dann wahr, wennA wahr undB falsch ist. Damit

A⇒ B = A∧B. ♦

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1 Mengen und Abbildungen

1.1.3 Prädikative Ausdrücke, Quantifikatoren

Die in der Mathematik verwendeten Aussagen sind Aussagen über die Eigenschaften derbetrachteten Objekte: „3 ist eine Primzahl“, „7 ist Teiler von 343“. „ist Teiler von 343“ isteineinstufiges Prädikat, „ist Teiler von“ einzweistufiges Prädikat.

Ist P z.B. ein einstufiges Prädikat und istx eine Variable, so istxP ein (nullstufiger)prädi-kativer Ausdruck.

xPwird auch alsx : P geschrieben uns als „x mit P“ gesprochen.

Beispiel 1.1.5.„x > 3“ oder „x ist größer als 3“: Variablex, PrädikatP = „ist größer als 3“„7|5“ oder „7 ist Teiler von 5“: Variable (Konstante) 7, PrädikatP = „ist Teiler von 5“ ♦

Die genannten Möglichkeiten zur Bildung neuer Aussageformen aus gegebenen reichennoch nicht aus, um z.B. die Aussage „Die Gleichungx+ 3 = 8 besitzt eine Lösung“ zubilden. Man betrachtet daher noch Quantifikatoren. Hier die beiden wichtigsten:

∧oder∀ („für jedes“)

und

∨oder∃ („es gibt ein“) ,

die auchGeneralisatorundPartikularisator genannt werden.

Bilden wir nun das einstufige PrädikatP= „ist Lösung vonx+3= 8“, so können wir obigesProblem als∃xP schreiben (zu lesen: „es existiert einx mit der EigenschaftP), oder in dermathematische Umgangssprache

∃x(x+3 = 8) .

Die Aussage∀x(x2 ≥ 0)

mit der Bedeutung „Für jedesx gilt x2 ≥ 0“ ist falsch (z.B. fürx = i), wenn wir uns nichtauf speziellex beschränken. Wahr wäre hingegen

∀x(x∈ R⇒ x2 ≥ 0) .

Um solche Ausdrücke kürzer schreiben zu können, definieren wirrestringierte Quantifika-torendurch

∀x∈M P(x) := ∀x(x∈M ⇒ P(x))

und∃x∈M P(x) := ∃x(x∈M∧P(x)) .

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1.1 Grundbegriffe der mathematischen Logik

Häufig muß man Negationen von Quantifikatoren bilden. Es gelten folgende Äquivalenzen:

∃xP= ∀xP, ∀xP= ∃xP.

Weiter gelten folgende Vertauschungssätze gelten:

∀x∀yP(x,y) ⇔∀y∀xP(x,y)⇔: ∀x,yP(x,y) ,

∃x∃yP(x,y) ⇔∃y∃xP(x,y)⇔: ∃x,yP(x,y) .

Beachte, daß im Gegensatz dazu im folgenden Fall nur die Implikation gilt:

∃x∀yP(x,y) ⇒∀y∃xP(x,y) .

Ferner gilt∀xP(x)⇒ P(y) , P(y)⇒∃xP(x) .

Manchmal wollen wir auch die Existenz genau eines bzw. höchstens eines Individuums be-schreiben. Dazu nutzen wir∃=1 bzw.∃≤1. Analog ist die Bildung weiterer Quantifikatoren.Bemerke:

∃= ∃≥1 .

Eine Variable in einem AusdruckA heißtgebunden, wenn sie nach einem Quantifikatorauftritt. Sie heißtvollfrei in A, wenn sie nirgends inA gebunden ist. Eine Variable außerhalbdes Wirkungsbereiches eines sie bindenden Quantifikators heißtfrei. So ist in

(∃x(x > y))∨x > 0

die Variablex gebunden und damit nicht vollfrei, an der dritten Stelle aber frei. Die Variabley ist vollfrei.

Da Variablen nur stellvertretend stehen, können sie nach folgenden Regeln umbenannt wer-den:

1. Gebundene Umbenennung:Eine im AusdruckA gebunden vorkommende Variablekann unmittelbar hinter dem sie bindenden Quantifikator in eine im Ausdruck nochnicht vorkommende Variable umbenannt werden und muß dann in allen Stellen imWirkungsbereich des Quantifikators in gleicher Weise umbenannt werden.

2. Freie Umbenennung:Eine im AusdruckA frei vorkommende Variable kann an allenStellen, an denen sie frei ist, in eine im Ausdruck noch nicht vorkommende Variableumbenannt werden.

Bei der Bezeichnung von Variablen gibt es keine Beschränkung:

∃Stephan : Stephan+3 = 8.

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1 Mengen und Abbildungen

1.1.4 Mathematische Aussagen

In der Mathematik haben wahre Aussagen meist eine besondere Bezeichnung:

Hauptsatzbzw.Theorem,Satz,

Hilfssatzbzw.Lemma,Behauptung,Folgerung,

wobei die obige Reihenfolge (mit Ausnahme der Folgerung) auch eine Reihenfolge in fal-lender Bedeutung sind: Hauptsatz, Theorem und Satz sind wichtige mathematische (wahre)Aussagen, Hilfssätze und Lemmas sind normalerweise mathematische (wahre) Aussagenvon lokaler Bedeutung (z.B. für die Herleitung oder den Beweis eines Satzes). Eine Folge-rung ist eine wahre mathematische Aussage, die sich ohne größeren weiteren Aufwand auseiner vorhergehenden Aussage oder aus ihrem Beweis ergibt.

Oberbegriff für alle wahren mathematischen Aussagen ist „Satz“.

Das Problem besteht nun darin, solche Aussagen zu vermuten und dann unter Anwendunglogischer Regeln nachzuweisen, d.h. zu beweisen, daß sie den Wahrheitswertw haben.

Umgangssprachlich gibt es mehrere Beweismethoden:

• Beweis durch Aufzählung einzelner Beispiele.

• Beweis durch Abstimmung.

• Beweis mit zunehmender Lautstärke.

• Beweis durch Diffamierung.

Diese sind natürlich in der Mathematik nicht zulässig.

Zulässige Beweise sind:

• Der direkte Beweisdurch Herleitung der Aussage aus bekannten (bewiesenen, wah-ren) Aussagen.

• Der indirekte Beweis(Widerspruchsbeweis) durch Annahme der Negation der Aus-sage und Ableitung eines Widerspruchs.

Die Beweise basieren auf folgenden Regeln:

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1.2 Grundbegriffe der Mengenlehre

Satz vom ausgeschlossenen Dritten: A∨¬ASatz vom Widerspruch: ¬(A∧¬A)Satz von der doppelten Verneinung: ¬(¬A)⇔ AKontrapositionssatz: (A⇒ B)⇔ (¬B⇒¬A)Satz vom modus ponens: ((A⇒ B)∧A)⇒ BSatz vom modus tollens: ((A⇒ B)∧¬B)⇒¬ASatz vom modus barbara: ((A⇒ B)∧ (B⇒C))⇒ (A⇒C)

In beiden Fällen müssen aber Grundaussagen vorausgesetzt werden, die als wahr angenom-men werden, die aber nicht aus vorherigen Aussagen abgeleitet werden können. SolcheAussagen heißenAxiome. Die Axiome werden dann zuAxiomensystemenzusammenge-faßt (z.B. dem Axiomensystem der euklidischen Geometrie aus 5 Axiomen).

Man ist nun einerseits bestrebt, ein Axiomensystems klein und widerspruchsfrei zu halten,und andererseits möglichst viele Aussagen daraus abzuleiten, d.h. eineTheoriezu bilden.

1.2 Grundbegriffe der Mengenlehre

1.2.1 Menge, Elemente

Mengen und die Elementbeziehung sind die wichtigste Grundlage der Mathematik.

Unter einerMengeversteht man (naiv!) die Zusammenfassung gewisser, wohlunterscheid-barer Dinge zu einem neuen Ganzen; die dabei zusammengefaßten Dinge heißen dieEle-menteder betroffenen Menge. Ista ein Element der MengeM so schreibt mana∈M; ist anicht Element vonM, so schreibt mana 6∈M.

Zwei MengenA undB heißengleich, wenn sie dieselben Elemente enthalten:

A = B⇔∀x(x∈ A⇔ x∈ B) .

Häufig werden Mengen beschrieben als Teil einer Grundgesamtheit indem man eine Eigen-schaft (Prädikat) für die Elemente zur Charakterisierung angibt:

Grundgesamtheit sei die Menge der natürlichen Zahlen. Die Menge der geraden natürlichenZahlen kann dann durch

x∈ N : 2 ist Teiler vonx

oderx∈ N : ∃y∈ N(x = 2y)

beschrieben werden.

Eine besondere Menge ist dieleere Menge/0, das ist die Menge, die keine Elemente enthält:

/0 := = x : x 6= x .

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1 Mengen und Abbildungen

Bemerke, daß es genau eine leere Menge gibt. Wären nämlich /01 und /02 zwei verschiedeneleere Mengen, dann hätten sie die gleichen Elemente (nämlich keine) und somit wäre /01 =/02. Damit wäre ein Widerspruch gefunden, d.h., es gibt keine zwei verschiedenen leereMengen.

1.2.2 Teilmengen

SindA undB Mengen und gilt

∀x(x∈ A⇒ x∈ B) ,

d.h., ist jedes Element vonA auch Element vonB, dann nennt manA Teilmengevon B undschreibt

A⊆ B.

Gilt nebenA⊆ B auchA 6= B, dann heißtA auchechte TeilmengevonB und man schreibt

A⊂ B.

Für MengenA, B, C gelten:

1. Reflexivität:

A⊆ A,

2. Antisymmetrie:

A⊆ B∧B⊆ A⇒ A = B,

3. Transitivität:

A⊆ B∧B⊆C⇒ A⊆C , A⊂ B∧B⊂C⇒ A⊂C

sowie

A 6⊂ A, A⊂ B⇒ A⊆ B, A⊂ B⇔ A⊆ B∧A 6= B,

Daraus ergibt sich ein wichtiges Beweisprinzip für die Gleichheit von Mengen:

A = B⇔ A⊆ B∧B⊆ A.

Um A = B zu zeigen, zeigt man, daßA Teilmenge vonB und gleichzeitigB Teilmenge vonA ist.

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1.2 Grundbegriffe der Mengenlehre

1.2.3 Operationen mit Mengen

SeienA undB zwei Mengen.

Die VereinigungA∪B ist die Menge, die aus allen Elementen vonA und allen ElementenvonB besteht:

A∪B := x : x∈ A∨x∈ B .

DerDurchschnittA∩B ist die Menge, die aus allen Elementen besteht, die sowohl zuA alsauch zuB gehören:

A∩B := x : x∈ A∧x∈ B .

Die DifferenzA\B ist die Menge, die aus allen Elementen vonA besteht, die nicht ElementvonB sind:

A\B := x : x∈ A∧x 6∈ B .

Zwei Mengen heißendisjunkt, wenn ihr Durchschnitt die leere Menge /0 ist, d.h.,

A∩B = /0.

Die symmetrische DifferenzA4B ist die Menge, die aus allen Elementen vonA besteht,die nicht Element vonB sind und aus allen Elementen vonB besteht, die nicht Element vonA sind:

A4B = A\B∪B\A.

Sei nunΩ eine gegebene Menge undA⊆ Ω . Die MengeΩ \A wird alsKomplementvonA bezüglichΩ bezeichnet:

CΩ A := Ω \A.

WennΩ durch den Kontext festgelegt ist, werden auch die Kurzbezeichnungen

CA oderAc

verwendet.

Für MengenA, B, C gelten u.a. folgendeEigenschaften:

A∩B⊆ A⊆ A∪B, A∪ /0 = A, A∩ /0 = /0, A∪A = A∩A = A.

Sei∗ ∈ ∩,∪,4. Dann gelten:

Kommutativität:A∗B = B∗A.

Assoziativität:A∗ (B∗C) = (A∗B)∗C .

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1 Mengen und Abbildungen

Distributivität:

A∪ (B∩C) = (A∪B)∩ (A∪C) , A∩ (B∪C) = (A∩B)∪ (A∩C) .

Für die Differenz gilt zum Beispiel:

A\ (B∪C) = (A\B)∩ (A\C) , A\ (B∩C) = (A\B)∪ (A\C) .

De Morgansche Regeln:

CΩ (A∩B) = CΩ A∪CΩ B, CΩ (A∪B) = CΩ A∩CΩ B.

Der Beweis dieser Eigenschaften erfolgt durch direktes Überprüfen der Teilmengenbezie-hungen durch Umformung der Prädikate unter Verwendung der logischen Umformungsre-geln, z.B.:

A∪B = x: (x∈ A∨x∈ B)= x: (x∈ B∨x∈ A)= B∪A.

Eine andere, anschauliche Variante ist die Verwendung vonEuler-Venn-Diagrammen: Da-zu repräsentiert man die Mengen durch Gebiete in der Ebene. Als Beispiel betrachten wir

A∩ (B∪C) .

B

A

C

Man kann nun direkt ablesen:

A∩ (B∪C) = (A∩B)∪ (A∩C) .

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1.2 Grundbegriffe der Mengenlehre

1.2.4 Spezielle Mengenbildungsprinzipien

Kartesisches Produkt (Direktes Produkt):

Unter demgeordnetem Paar(a,b) zweier Elemente versteht man die Menge

(a,b) := a,a,b .

Es gilt für beliebige Elementea, b, c, d:

(a,b) = (c,d)⇔ a = c∧b = d .

Im allgemeinen gilt(a,b) 6= (b,a) .

Statt nur zwei Elemente zu einem geordnetem Paar zusammenzufassen, kann man allgemeinauchn Elementea1, . . . ,an zu einemgeordnetemn-Tupel (a1, . . . ,an) zusammenfassen:Dies wird rekursiv erklärt durch:

(a1, . . . ,an) :=

a1 , falls n = 1,(a1,a2) , falls n = 2,((a1, . . . ,an−1),an) , falls n > 2.

Es gilt wiederum

(a1, . . . ,an) = (b1, . . . ,bn)⇔ a1 = b1∧·· ·∧an = bn .

Sind nunA1, . . . ,An Mengen, so definieren wir daskartesische Produkt×ni=1Ai durch

×ni=1Ai = A1×·· ·×An := (a1, . . . ,an) : a1 ∈ A1∧·· ·∧an ∈ An .

Nach Konstruktion ist×ni=1Ai wieder eine Menge und zwar die Menge der entsprechenden

n-Tupel.

Im Spezialfall haben wir

A×B = (a,b) : a∈ A∧b∈ B .

Mengensysteme

Unter einemMengensystemversteht man eine Menge, deren Elemente wieder Mengen sind.Ist M ein solches Mengensystem definiert man dieVereinigungbzw.Durchschnitt durch⋃

M := x: ∃A(A∈M∧x∈ A) ,⋂

M := x: ∀A(A∈M ⇒ x∈ A) .

Sie sind also wieder Mengen. Im Spezialfall haben wir⋃A,B= A∪B,

⋂A,B= A∩B,

die Definition ist also konsistent mit der Definition von Vereinigung und Durchschnitt vonMengen.

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1 Mengen und Abbildungen

Potenzmengen

Sei M eine Menge. Unter derPotenzmengeP(M) = 2M verstehen wir die Menge allerTeilmengen vonM:

2M = x: x⊆M .

Für M = 1,2,3 haben wir

2M = /0,1,2,3,1,2,1,3,2,3,1,2,3 .

Man bemerke, daß diese Menge genau 8= 23 Elemente bei der 3-elementigen MengeMhat. Dies isteinHinweis für das etwas eigentümliche Symbol für die Potenzmenge.

1.2.5 Paradoxien

Wie das folgendeParadoxonzeigt, ist der Mengenbegriff eigentlich genauer zu fassen:

Alle Männer in Sevilla rasieren sich selbst oder lassen sich vom Barbier inSevilla rasieren. Der Barbier rasiert aber nur die Männer, die sich nicht selbstrasieren. Wer rasiert den Barbier?

SeiM die Menge der Männer in Sevilla,Rdie Menge der sich selbst rasierenden Männer,Bdie Menge der Männer, die sich durch den Barbier rasieren lassen. Dann gilt

M = R∪B, R∩B = /0.

Das Problem besteht nun darin, daß die Unterteilung inR und B durch eine Eigenschaftbezüglich eines Elementes vonM (dem Barbier) getroffen wird und damit selbstbezüglichist.

Ein anderes Paradoxon ist:

SeiM die Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten. IstM ElementvonM?

Zur Vermeidung der Parodoxien gibt es mehrere Möglichkeiten. Z.B.

• Axiomatische Mengenlehre.

• Einführung allgemeinerer Begriffe (Klassen), Mengen sind dann Klassen, die Ele-ment einer anderen Klasse sind.

• Ausgehend von der leeren Menge werden alle für die Mathematik wichtigen Mengenkonstruiert und nur diese zur Betrachtung zugelassen.

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1.3 Relationen und Abbildungen

1.3 Relationen und Abbildungen

1.3.1 Relationen

Anschaulich versteht man unter einer Relation zwischen zwei MengenA und B eine Be-ziehung, die zwischen den Elementen vonA und besteht. Mathematisch nennen wir eineTeilmengeR von A×B eine (2-stellige)Relation zwischenA und B. Relationen treten inder Mathematik sehr häufig auf. Relationen mit bestimmten Eigenschaften haben besondereBezeichnungen.

Da Relationen Mengen sind, können die Mengenoperationen auch auf Relationen angewen-det werden.

SindR undS Relationen, so heißtR Teilrelation von S, wennR⊆ S. Weiter heißenR∪SundR∩SSummebzw. (absolutes) ProduktvonRundS.

Die inverse RelationR−1 ist definiert durch

R−1 := (x,y) : (y,x) ∈ R .

VorbereichVbRundNachbereichNbReiner RelationRsind wie folgt definiert:

VbR := x: ∃y((x,y) ∈ R) , NbR := y: ∃x((x,y) ∈ R) .

Anstelle von(x,y) ∈ Rschreibt man auch kurz

xRy.

Häufig untersuchte Eigenschaften vonbinären RelationenR in A (d.h.,R⊆ A×A) sind inder folgenden Tabelle zusammengefaßt:

Eigenschaft Charakterisierung

Reflexivität ∀a∈ A(aRa)Transitivität ∀a,b,c∈ A(aRb∧bRc⇒ aRc)Symmetrie ∀a,b∈ A(aRb⇒ bRa)Antisymmetrie ∀a,b∈ A(aRb∧bRa⇒ a = b)

1.3.2 Ordnungsrelationen

Definition 1.3.1. Eine binäre RelationR in M heißtOrdungsrelationoderHalbordnung,wennR reflexiv, transitiv und antisymmetrisch ist. AnstelleaRbschreibt man dann auch

a≤R b. ♦

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1 Mengen und Abbildungen

Beispiel 1.3.2.In den ganzen Zahlen definieren wir eine Ordnungsrelation≤ durch

a≤ b :⇔ b−a∈ N .

Dies ist dann die übliche Ordnung. ♦

Beispiel 1.3.3.SeiN eine Menge und seiM = 2N. Die RelationR in M werde durch

BRC :⇐⇒ B⊆C

definiert. Dann istReine Halbordnung aufM. ♦

Bemerkung 1.3.4.Die Relation< definiert durch

x < y :⇔ x≤ y∧x 6= y

(echt kleiner) ist keine Halbordnung! ♦

Definition 1.3.5. Eine Ordnungsrelation≤ in M heißt linear (oder total oder konnex),wenn für je zwei Elementx undy vonM stetsx≤ y odery≤ x gilt. ♦

In Beispiel1.3.2ist Reine totale Ordung, in1.3.3aber nicht.

Bezeichnung:Ist≤ eine Halbordnung inM, sindN⊆M unda∈M, so setzen wir

N≥a := x∈ N : x≥ a .

Analog werdenN≤a, N>a , N<a definiert.

1.3.3 Abbildungen

Seien zwei MengenX undY gegeben. Eine Relationf ⊆X×Y heißtrechtseindeutig, wenn

∀x∈ X, y,z∈Y (x f y∧x f z⇒ y = z) .

Eine rechtseindeutige Relationf ⊆ X×Y heißtAbbildung ausX in Y.

Ist (x,y) ∈ f , so nennt many dasBild vonx unter f und schreibt

y = f (x) .

f (x) wird Wert von f an der Stellex genannt. Beachte

f 6= f (x) .

Man nenntf dieVorschrift, X denUrbildbereich,

domf = D( f ) := Vb f = x∈ X : ∃y∈Y(y = f (x))

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1.3 Relationen und Abbildungen

denDefinitionsbereich(Urbildmenge), Y denBildbereichoderWertebereichund

W( f ) := im f := Nb f = y∈Y : ∃x∈ X(y = f (x))

dieBildmenge.

Als Schreibweise sind dafür

(X,Y, f ) oder f : D( f )⊆ X →Y

üblich.

Für y∈Y heißt die Mengex∈ X : f (x) = y

dasUrbild vony unter f und wird mit

f−1(y)

bezeichnet.

Für eine MengeM ⊆ X heißt

f [M] := y∈Y : ∃x∈M(y = f (x))

Bild der MengeM unter f . Analog heißt

f−1[N] := x∈ X : ∃y∈ N(y = f (x))

dasUrbild der MengeN unter f .

Man beachte nunW( f ) = f [X] und D( f ) = f−1[Y] .

Die Abbildung f : D( f )⊆ X →Y heißtlinkstotal bzw.Abbildung von, wenn

D( f ) = X ,

sie heißtrechtstotal, surjektivoderAbbildung auf, wenn

W( f ) = Y .

Beispiel 1.3.6.Wir definieren die Relationf ⊆ R×R durch

f := (x,x−2) : x∈ R\0 . (1.3.1)

Dann ist Vbf = R \ 0, Nbf = R>0. Seien(x,y) ∈ f und (x,z) ∈ f . Dann gelteny =x−2 und z= x−2, alsoy = z. Somit ist f rechtseindeutig und damit eine Abbildung. DerDefinitionsbereich istD( f ) = R \ 0, die BildmengeW( f ) = R>0. Somit ist f eine nichtsurjektive AbbildungausR in R.

Definieren wir hingegenf ∈R\0×R>0 durch (1.3.1), so ist f eine AbbildungvonR\0auf R>0. ♦

17

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1 Mengen und Abbildungen

Die Mengegraph( f ) := (x, f (x)) : x∈ D( f )

heißtGraph von (X,Y, f ). Ist die Abbildung(X,Y, f ) links- und rechtstotal, so wird sievollständig durch seinen Graphen, d.h., die Relationf beschrieben.

Man nennt eine Abbildungf : D( f ) ⊆ X → Y injektiv odereineindeutig, wenn sie auchlinkseindeutigist, d.h., wenn

∀x,y∈ X(x 6= y⇒ f (x) 6= f (y)) . (1.3.2)

Äquivalent dazu ist (Kontrapositionssatz!)

∀x,y∈ X( f (x) = f (y)⇒ x = y) . (1.3.3)

Eine injektive und surjektive Abbildung heißtbijektiv.

Beispiel 1.3.7.1. Die Menge aller Autos in Deutschland wird in die Menge aller zulässigenAutonummern abgebildet: injektiv aber nicht surjektiv.

2. Die Menge aller Einwohner in DD wird in die Menge aller Wohnadressen abgebildet:Keine Abbildung, da nicht rechtseindeutig. ♦

Satz 1.3.8.Sei f: D( f )⊆ X →Y eine Abbildung.1. Die inverse Relation f−1 ist genau dann eine Abbildung aus Y in X, wenn f injektiv ist.

2. Sei D( f ) = X. Die inverse Relation f−1ist genau dann eine Abbildung von Y auf X, wennf bijektiv ist.

Beweis.1. Sei f injektiv, d.h., linkseindeutig. Dann istf−1 rechtseindeutig und somit eineAbbildung ausY in X. Sei nun die inverse Relationf−1 eine Abbildung ausY in X. Dannist f−1 rechtseindeutig, d.h.,f ist linkseindeutig, d.h., injektiv.

2. Sei f bijektiv. Nach 1. istf−1 eine Abbildung ausY in X. DaD( f ) = X und f surjektiv,ist f links- und rechtstotal. Somit istf−1 rechts- und linkstotal, d.h., eine Abbildung vonY auf X. Sei nunf−1 eine Abbildung vonY auf X. Dann ist f eine Abbildung aufY, alsosurjektiv.

Abbildungen werden auch alsFunktion oderOperatorbezeichnet. Im engeren Sinne isteine Funktion eine Abbildung aus den reellen (oder komplexen) Zahlen in die reellen (oderkomplexen) Zahlen.

Definition 1.3.9. Seien f : D( f ) ⊆ X → Y und g: D(g) ⊆ Y → Z Abbildungen. Dannversteht man unter derVerknüpfung h = g f (lies g verknüpft mit f ) die Abbildungh: D(h)⊆ X → Z mit

D(h) = f−1[D(g)]⊆ D( f ) , h(x) = g( f (x)) für x∈ D(h) . ♦

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1.3 Relationen und Abbildungen

Bemerkung 1.3.10.Im allgemeinen giltf g 6= g f . Betrachte zum Beispielf : R → Rmit f (x) = sinx undg : R>0 → R mit g(x) = lnx. Dann gilt

(g f )(x) = ln(sinx) für x∈ D(g f ) =⋃k∈Z

]2kπ,(2k+1)π[

und( f g)(x) = sin(lnx) für x∈ D( f g) = R>0 ♦

1.3.4 Exkurs: Die natürlichen Zahlen

Axiom 1.3.11 (Peano-Axiome).Die natürlichen Zahlen bilden eine MengeN, in der einElement 0 ausgezeichnet ist und für die es eine Abbildungν : N→N\0 gibt mit folgen-den Eigenschaften:

1. (Axiome zu Nachfolger und Vorgänger)ν ist bijektiv.

2. (Induktionsaxiom) Enthält eine TeilmengeN von N das Element 0 und mitn auchν(n), so giltN = N:

(N⊆ N)∧ (0∈ N)∧ (∀n∈ N(ν(n) ∈ N)) ⇒ N = N .

Bemerkung 1.3.12.1. Fürn∈ N heißtν(n) Nachfolgervonn.

2. 0 ist die einzige natürliche Zahl, die nicht Nachfolger einer natürlichen Zahl ist, das heißt,ν ist surjektiv.

Beweis.SeiN := n∈ N : ∃m∈ N(ν(m) = n)∪0 .

Für n∈ N gilt ν(n) ∈W(ν)⊆ N. Wegen 0∈ N folgt N = N aus dem Induktionsaxiom. DaW(ν)⊆ N\0, folgt W(ν) = N\0.

3. Statt 0,ν(0),ν(ν(0)),ν(ν(ν(0))), . . . schreibt man üblicherweise 0,1,2,3, . . ..

4. Durchn+ 1 := ν(n) kann die Addition mit den üblichen Kommutativ- und Assoziativ-gesetzen eingeführt werden. Anschließend kann auch die Multiplikation mit Kommutativ-,Assoziativ- und Distributivgesetz eingeführt werden.

5. Bei axiomatischer Einführung der Mengenlehre kann man auch auch Modelle für natürli-che Zahlen angeben: Man nennt eine MengeM induktiv, wenn sie /0 enthält und mitm∈Mauchm. Man nimmt nun dasUnendlichkeitsaxiom(Existenz von induktiven Mengen) anund setzt

N :=⋂M : M ist induktive Menge .

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1 Mengen und Abbildungen

Setzt man nun 0 := /0 und definiertν(n) := n∪ n, so kann man beweisen, daß die sokonstruierten natürlichen Zahlen den Peano-Axiomen genügen. Man hat also

0 = /0 und n+1 = 0, . . . ,n .

6. Man kann im Rahmen einer axiomatischen Mengenlehre zeigen, daß die natürlichenZahlen in einem gewissen Sinn eindeutig bestimmt sind und man daher vondennatürlichenZahlen sprechen kann.

7. Das Induktionsaxiom ist die Grundlage für das Beweisprinzip dervollständigen Induk-tion. ♦

Satz 1.3.13 (Induktionsprinzip). Es sei n0 ∈ N, und für jedes n∈ N≥n0 sei A(n) eine Aus-sage. Ferner gelte:

1. (Induktionsanfang) A(n0) ist eine wahre Aussage.

2. (Induktionsschritt) Für jedes n∈N≥n0 gilt: Wenn A(n) eine wahre Aussage ist, dannist auch A(n+1) eine wahre Aussage.

Dann gilt A(n) für alle n∈ N≥n0.

Beweis.Wir setzenN := n ∈ N : A(n+ n0) ist wahr. Aus dem Induktionsaxiom folgtsofortN = N.

Ausgehend vonN werden dann dieganzen ZahlenZ, dierationalen ZahlenQ, diereellenZahlen R, die komplexen ZahlenC sowie alle für die Analysis wichtigen Mengen vonFunktionen konstruiert.

Teile dieser Konstruktionen sind schon durchgeführt oder werden später noch durchgeführt.

Bemerkung 1.3.14.DieMenge aller AbbildungenvonA in Bwird auch mitBA bezeichnet.Sei nun zum BeispielB = 2 = 0,1. Dann ist jede Abbildung ausBA gerade dadurchcharakterisiert, welche Teilmenge vonA auf 1 abgebildet wird. Somit kann0,1A = 2A mitder Potenzmenge vonA identifiziert werden und wir erhalten hier eine weitere Begründungfür die Bezeichnung 2A für die Potenzmenge vonA. ♦

1.3.5 Spezielle Abbildungen

Folgen

Eine Abbildungf : N→Y oder f : Z→Y heißtFolgeausY.

Konstante Abbildung

Seic∈ Y und f : D( f ) ⊆ X → Y mit f (x) = c für alle x∈ D( f ). Dann heißtf konstanteAbbildung.

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1.3 Relationen und Abbildungen

Charakteristische Funktion

Sei /06= A⊆ X. Die AbbildungχA : X → R werde definiert durch

χA(x) =

1, falls x∈ A,0, falls x 6∈ A.

Sie heißtcharakteristische FunktionoderIndikator(funktion) der MengeA in X.

1.3.6 Äquivalenzrelationen

Definition 1.3.15. Eine binäre RelationR in einer MengeM heißtÄquivalenzrelation, fallsR reflexiv, transitiv und symmetrisch ist. ♦

Ist Reine Äquivalenzrelation inM und sinda,b∈M, so schreibt man stattaRbauch

a∼R b; gelesena ist äquivalent zub bzgl.R.

Äquivalenzrelation sind Grundlage für den Abstraktionsprozess. Mathematisch beschriebenwird dies durch die Restklassenbildung: Man nennt

[a]R := b∈M : a∼R b

dieÄquivalenzklasseoderRestklassevona bezüglichR. a heißtRepräsentantdieser Rest-klasse. Die Menge

M/R := [a]R: a∈M

aller Restklassen vonM bezüglichR heißtFaktormengeoder auchQuotientvon M bezüg-lich R.

Für derartige Restklassen gilt:

a∈ [a]R 6= /0, [a]R = [b]R⇔ a∼R b, a 6∼R b⇒ [a]R∩ [b]R = /0,

d.h.,M/R ist ein Mengensystem aus paarweise disjunkten, nichtleeren Mengen mit Verei-nigungM. Ein solches Mengensystem wird auchZerlegunggenannt.

Ist nun eine ZerlegungZ vonM gegeben, können wir eine binäre RelationS in M in folgen-der Weise definieren:

aSb⇔∃X(X ∈ Z∧a,b∈ X) .

S ist dann wieder eine Äquivalenzrelation.

Beispiel 1.3.16.Wir betrachten dieKonstruktion der ganzen Zahlen: Wir definieren eineÄquivalenzrelationG in N×N durch

(n,m)G(p,q) :⇔ n+q = p+m.

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1 Mengen und Abbildungen

Die MengeZ der ganzen Zahlen wird nunidentifiziert mit der Menge(N×N)/G, d.h.,

Z := (N×N)/G.

Schreiben wir nun die Äquivalenzklasse[(n,m)]G zum Representanten(n,m) als

n−m := [(n,m)]G ,

so können wir uns die Äquivalenzklassen als formale Differenz von Paaren natürlicher Zah-len vorstellen, bei denen „gleiche“ Differenzen identifiziert werden: 0−1 und 1−2 sindzum Beispiel die gleiche ganze Zahl.

Wir definieren die Addition und Multiplikation durch

(n−m)+Z (p−q) = [(n,m)]G +Z [(p,q)]G := [(n+ p,m+q)]G = (n+ p)− (m+q)

und

(n−m) ·Z (p−q) = [(n,m)]G ·Z [(p,q)]G:= [(np+mq,nq+mp)]G = (np+mq)− (nq+mp)

für m,n, p,q ∈ N. Offensichtlich ist[(m,n)]G = m−n das bezüglich der Addition inverseElement der ganzen Zahl[(n,m)]G = n−m. [(0,0)]G = 0−0 und[(1,0)]G = 1−0 sind dieneutralen Elemente bezüglich Addition bzw. Multiplikation.

Identifiziert man die natürliche Zahln mit der ganzen Zahl[(n,0)]G = n−0, so erhält manN⊂ Z und Addition und Multiplikation sind die Fortsetzung der entsprechenden Operatio-nen von den natürlichen Zahlen zu den ganzen Zahlen, die nun wieder mit+ und· bezeich-net werden. Weiter kann man nun

−n := 0−n = [(0,n)]G

setzen, und man erhältZ = N∪−n : n∈ N . ♦

Beispiel 1.3.17.Wir betrachten dieKonstruktion der rationalen Zahlen : Wir definierenin eine ÄquivalenzrelationR in Z×Z\0 durch

(p,q)R(r,s) :⇔ ps= qr

und setzenQ := (Z× (Z\0))/R.

Schreiben wir die Äquivalenzklasse[(p,q)]R zum Representanten(p,q) als

pq

:= [(p,q)]R ,

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1.3 Relationen und Abbildungen

so besagt die ÄquivalenzrelationR gerade, daß z.B.23 und 46 als die gleiche rationale Zahl

betrachtet werden:

Q =

pq

: p∈ Z, q∈ Z\0

.

Wir definieren die Addition und Multiplikation durch

pq

+Qrs

= [(p,q)]R+Q [(r,s)]R := [(ps+qr,qs)]R =ps+qr

qs

und pq·Q

rs

= [(p,q)]R ·Q [(r,s)]R := [(pr,qs)]R =prqs

für p, r ∈ Z, q,s∈ Z \ 0. [(0,1)]R = 01 und [(1,1)]R = 1

1 sind die neutralen Elementebezüglich Addition bzw. Multiplikation. Offensichtlich ist[(q, p)]R = q

p das bezüglich der

Multiplikation inverse Element der rationalen Zahlpq , wenn p

q 6=01, d.h. p 6= 0.

Identifiziert manp1 mit der ganzen Zahlp, so erhält manZ⊂Q. ♦

1.3.7 Exkurs: Binomische Formel

Bevor wir uns im nächsten Kapitel intensiv mit reellen Zahlen beschäftigen, wollen wirhier zum Ende dieses Kapitels noch einige elementare Resultate zu Binomialkoeffizientenzusammenfassen.

Definition 1.3.18. Seienn,k∈ N. Die Zahl

n! :=

1, für n = 0,1·2· · · · ·n, für n≥ 1

heißtFakultät n! von n. Die Zahl

Ckn =

(nk

):=

n!k!(n−k)!

, n≥ k ,

heißtBinomialkoeffizientvonn überk. ♦

Lemma 1.3.19.Die Binomialkoeffizienten haben folgende Eigenschaften:

1.

(nk

)=(

nn−k

)für alle n∈ N, k∈ 0,1, . . . ,n.

2.

(n0

)=(

nn

)= 1 für alle n∈ N.

3.

(n1

)=(

nn−1

)= n für alle n∈ N≥1.

23

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1 Mengen und Abbildungen

4. n

(n−1

k

)= (k+1)

(n

k+1

)für alle n∈ N≥1, k∈ N≤n−1.

5.

(nk

)+(

nk−1

)=(

n+1k

)für alle n∈ N≥1, k∈ 1, . . . ,n−1.

6. Es giltn

∑k=0

(nk

)= 2n für alle n∈ N.

7. Es giltn

∑k=0

(−1)k(

nk

)= 0 für alle n∈ N>0.

8. Für alle k,n∈ N gilt

(nn

)+(

n+1n

)+ · · ·+

(n+k

n

)=(

n+k+1n+1

).

Beweis.Die ersten drei Eigenschaften ergeben sich unmittelbar aus der Definition. Dievierte Eigenschaft bestätigt man durch Ausrechnen, etwa

(k+1)(

nk+1

)= (k+1)

n!(k+1)![n− (k+1)]!

=(k+1)n(n−1)!

(k+1)k![(n−1)−k]!

= n(n−1)!

k![(n−1)−k]!= n

(n−1

k

),

während man die fünfte folgendermaßen erhält:(nk

)+(

nk−1

)=

n!k!(n−k)!

+n!

(k−1)!(n−k−1)!

=n!

(k−1)!(n−k)!

(1k

+1

n−k+1

)=

(n+1)!k!(n−k+1)!

=(

n+1k

).

Definition 1.3.20. Für a ∈ Q und n ∈ N definieren wir diePotenzenan mit natürlichemExponentenn iterativ durch

a0 := 1, ak+1 := a·ak für k∈ N . ♦

Satz 1.3.21 (Binomische Lehrsatz).Für zwei beliebige Zahlen a,b∈Q und eine beliebigenatürliche Zahl n∈ N gilt

(a+b)n =n

∑k=0

(nk

)akbn−k .

Beweis.Beweis kann durch vollständige Induktion geführt werden.

Bemerkung 1.3.22.Satz1.3.21gilt natürlich auch füra,b∈ R, wir führenR aber erst imfolgenden Kapitel ein.

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2 Die reellen Zahlen

Von der Schule her sind die reellen Zahlen als Dezimalbrüche bekannt.

Im folgenden stellen wir die charakterisierenden Eigenschaften der rationalen und der re-ellen Zahlen als Axiome des angeordneten Körpers auf. Im Unterschied zu den rationalenZahlen fordern wir für die reellen Zahlen zusätzlich ein Vollständigkeitsaxiom. In einemspäteren Exkurs deuten wir dann an, daß die reellen Zahlen tatsächlich mit den Mitteln derMengenlehre aus den rationalen Zahlen konstruiert werden können.

2.1 Gemeinsame Eigenschaften der rationalen und derreellen Zahlen

2.1.1 Die Körperaxiome

Definition 2.1.1. Ein Tripel (K,+, ·) mit einer MengeK und Abbildungen

+ : K×K→K und · : K×K→K

heißtKörper, wenn die folgenden 3 Gruppen von Axiomen erfüllt sind:

1. Addition

Mitx+y := +(x,y) für x,y∈K

gelten die folgenden Axiome:

(A1) ∀x,y∈K(x+y = y+x) (Kommutativgesetz)(A2) ∀x,y,z∈K(x+(y+z) = (x+y)+z) (Assoziativgesetz)(A3) ∃=10∈K∀x∈K(x+0 = x) (Neutrales Element bzgl. Addition)(A4) ∀x∈K∃=1−x∈K(x+(−x) = 0) (Inverses Element bzgl. Addition).

(K,+) bildet also einekommutative Gruppe.

Die Abbildung+ wird alsAddition bezeichnet,x+y heißtSummevonx undy.

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2 Die reellen Zahlen

2. Multiplikation

Mitx ·y := ·(x,y) für x,y∈K

gelten die folgenden Axiome:

(M1) ∀x,y∈K(x ·y = y·x) (Kommutativgesetz)(M2) ∀x,y,z∈K(x · (y·z) = (x ·y) ·z) (Assoziativgesetz)(M3) ∃=11∈K\0∀x∈K(x ·1 = x) (Neutr. Element bzgl. Multiplikation)(M4) ∀x∈K\0∃=1x−1 ∈K(x ·x−1 = 1) (Inverses Element bzgl. Multiplikation).

(K\0, ·) bildet also ebenfalls einekommutative Gruppe.

Die Abbildung· wird alsMultiplikation bezeichnet,x ·y heißtProdukt vonx undy.

3. Verknüpfung von Addition und Multiplikation

Die Verknüpfung von Addition und Multiplikation unterliegt dem Axiom

(AM) ∀x,y,z∈K(x · (y+z) = x ·y+x ·z) (Distributivgesetz). ♦

Aus Addition und Multiplikation kann man die OperationenSubtraktion− : K×K → KundDivision÷ : K×K6=0 →K ableiten:

x−y :=−(x,y) := x+(−y) für allex,y∈K

undx÷y :=÷(x,y) := x ·y−1 für allex∈K,y∈K6=0 .

Die Elemente eines Körpers werdenZahlengenannt.

Man kann zeigen und es sollte aus der Schule bekannt sein, daß(Q,+, ·) ein Körper ist.

2.1.2 Die Anordnungsaxiome

Definition 2.1.2. Ein Quadrupel(K,+, ·,≤) mit einer MengeK, Abbildungen

+ : K×K→K und · : K×K→K

und einer Ordungsrelation≤⊂K×K

heißt total angeordneter Körper, wenn(K,+, ·) ein Körper bildet und zusätzlich die fol-genden Axiome mit

<⊂K×K definiert durch x < y := x≤ y∧x 6= y

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2.2 Das Vollständigkeitsaxiom der reellen Zahlen

erfüllt sind:

(O1) ∀x,y∈K(x≤ y∨y≤ x) (totale Ordnung)(O2) (x,y∈K∧x < y)⇒∃u∈K(x < u < y) (Dichte)(O3) ∀x,y,z∈K(x < y⇔ x+z< y+z) (Verträglichkeit mit Addition)(O4) ∀x,y,z∈K(z> 0⇒ (x < y⇔ x ·z< y·z)) (Verträglichkeit mit Mult.)

Die beiden letzten Eigenschaften charakterisieren die Verträglichkeit der Ordnungsrelationmit den algebraischen Operationen aufK.

Ausgehend von der Ordnungsrelation≤ und der Relation< werden die Relationen≥, >für x,y∈K definiert durch

x≥ y :⇔ y≤ x , x > y :⇔ y < x .

Damit gilt dieTrichotomie-Eigenschaft, daß für je zwei Zahlenx,y∈K genau eine der dreiBeziehungen

x < y, x = y, x > y

gilt.

Eine Zahlx∈ K heißtpositiv, nichtnegativ, nichtpositivbzw. negativ, wennx > 0, x≥ 0,x≤ 0 bzw.x < 0.

Man kann zeigen, daß(Q,+, ·,≤) ein total angeordneter Körper ist.

Satz 2.1.3 (Archimedes, rational).Für alle x,y∈Q mit x> 0 existiert ein n∈N mit nx>y.

Beweis.Seienx,y∈Q mit x > 0. Gilt y≤ 0, so folgtx > y und wir könnenn = 1 wählen.Seien nunx undy positiv. Dann existierenp,q, r,s∈ N>0 mit x = p

q , y = rs. Sein := rq+1.

Wegen

n = rq+1 >rs

qp

= y/x

gilt nx> y.

2.2 Das Vollständigkeitsaxiom der reellen Zahlen

2.2.1 Schranken und Extrema

Sei(K,+, ·,≤) ein total angeordneter Körper.

Definition 2.2.1. SeiM ⊆K. Eine ZahlS∈K mit der Eigenschaftx≤ S für ∀x∈M heißtobere Schrankeder MengeM in K. Eine Zahls∈K mit der Eigenschafts≤ x für ∀x∈Mheißtuntere Schrankeder MengeM in K. Eine MengeM ⊆K heißtvon oben beschränkt,wenn eine obere Schranke fürM existiert. Eine MengeM ⊆K heißtvon unten beschränkt,wenn eine untere Schranke fürM existiert. Schließlich heißt eine MengeM⊆K beschränkt,wenn sie sowohl von oben als auch von unten beschränkt ist. ♦

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2 Die reellen Zahlen

Eine MengeM ⊆ K ist folglich beschränkt, wenn es zwei Zahlens,S∈ K mit der Eigen-schaft

∀x∈M(s≤ x≤ S)

gibt.

Besitzt eine MengeM eine obere Schranke, etwaS, dann ist jede ZahlS′ ≥ Sebenfalls eineobere Schranke vonM. Analog ist jede Zahls′ ≤ seine untere Schranke vonM, falls seinesolche ist. Eine beschränkte Menge besitzt also unendlich viele untere und obere Schranken.

Beispiel 2.2.2.Die Menge aller rationalen Zahlen zwischen 0 und 1 ist beschränkt. UntereSchranken sind beispielsweise alle negativen rationalen Zahlen und 0. ♦

Beispiel 2.2.3.Die Menge der natürlichen ZahlenN ist von unten beschränkt aber, nachSatz2.1.3, nicht von oben beschränkt inQ. ♦

Beispiel 2.2.4.Die MengeZ ist unbeschränkt inQ. ♦

Sei M eine nichtleere Menge ausK. Unter allen oberen Schranken vonM ist die kleinstei.a. die wichtigste.

Definition 2.2.5. Eine Zahlm∈ K heißtMaximum von M in K, wennm obere Schrankevon M ist undm∈ M. Eine ZahlS∈ K heißtkleinste obere Schrankeoderobere Grenzeoder Supremumvon M, wennS eine obere Schranke vonM ist und wenn keine obereSchrankeS′ < S in K von M existiert. Das Maximum bzw. Supremum vonM wird mitmaxM bzw. supM bezeichnet.

Analog definiert man dasMinimum minM und diegrößte untere SchrankeoderuntereGrenzeoder dasInfimum inf M einer MengeM. ♦

Zur Rechtfertigung der Definition betrachten wir folgenden Satz:

Satz 2.2.6.Wenn ein Supremum von M inK existiert, dann ist es eindeutig bestimmt.

Beweis.Angenommen,S1 6= S2 sind zwei Suprema der MengeM in K. O.B.d.A. seiS1 <S2. Dann istS1 eine kleinere obere Schranke vonM alsS2 im Widerspruch zur Definitiondes Supremums.

Satz 2.2.7.Wenn ein Maximum von M inK existiert, dann ist es gleich dem Supremum vonM in K und daher auch eindeutig bestimmt.

Beweis.Sei m ein Maximum vonM in K. Damit istm eine obere Schranke vonM in K.Angenommen,m 6= supM. Dann existiert eine obere SchrankeS∈K vonM mit S< m. Dam∈M folgt der Widerspruchm≤ S.

Satz 2.2.8.Die folgenden Aussagen sind äquivalent:

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2.2 Das Vollständigkeitsaxiom der reellen Zahlen

1. S= supM.

2. S ist obere Schranke von M und für alle S′ ∈ K mit S′ < S existiert ein x∈ M mitS′ < x.

3. S ist obere Schranke von M und für alleε ∈ K mit ε > 0 existiert ein x∈ M mitS− ε < x.

Beweis.1.⇒ 2.: SeiS= supM und seiS′ < S. Nach Definition des Supremums istS′ keineobere Schranke vonM, das heißt es existiert einx∈M mit x > S′.

2. ⇒ 1. S ist obere Schranke und seiS′ ∈ K mit S′ < Sbeliebig. Dann existiert einx∈ Mmit x > S′. S′ ist also keine obere Schranke vonM. Nach Definition istS= supM.

2.⇔ 3.: SetzeS′ = S− ε bzw.ε = S−S′.

Analoge Aussagen gelten für Minimum minM und Infimum infM vonM.

Die Frage ist nun, ob maxM und supM überhaupt existieren und, wenn ja, für welcheMengen.

2.2.2 Existenz des Supremums und Definition der reellen Zahlen

Beispiel 2.2.9.Sei K = Q und seiM = x ∈ Q : x≥ 0∧ x2 ≤ 2. Dann ist 2 eine obereSchranke vonM: Angenommen, 2 ist keine oberere Schranke vonM. Dann gibt es einx∈M mit x > 2. Dann gilt aberx·x > 2·x > 2·2 = 4. Offensichtlich ist 0 untere Schrankevon M. Daher gilt minM = inf M = 0. Angenommen,S∈ Q ist Supremum vonM. Danngilt S≤ 2. Da 1∈M gilt S> 1.

Angenommen, es giltS2 > 2. Seiε ∈ Q beliebig mit 0< ε < S2−21+2S. Dann giltε < 1. Für

allex > S− ε gilt

x2 ≥(S− ε)2 = S2−2Sε + ε2 > S2− ε(2S+1)

>S2−S2 +2 = 2.

Damit gibt es keinx ∈ M mit x > S− ε. Nach Satz2.2.8 kann S nicht das Supremumgewesen sein.

Sei nunS2 < 2. Seiε ∈Q beliebig mit 0< ε < 2−S2

1+2S. Dann giltε < 1 und

(S+ ε)2 = S2 +2Sε + ε2 < S2 + ε(2S+1) < 2,

das heißtS+ ε ∈M im Widerspruch dazu, daßS= supM und damit auchS+ ε ≤ Sgeltenmuß.

WennM also ein SupremumSbesitzt, mußS2 = 2 gelten. Dies erfüllt aber keine rationaleZahl.

Somit besitztM kein Supremum inQ. ♦

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2 Die reellen Zahlen

Nach obigen Beispiel existieren also beschränkte Teilmengen vonQ, die kein Supremumbesitzen.

Definition 2.2.10. Ein total angeordneter Körper(K,+, ·,≤) heißtvollständiger, total an-geordneter Körper, wenn er folgendemVollständigkeits-Axiomgenügt:

(V) Jede nichtleere, von oben beschränkte Teilmenge vonK besitzt ein Supremum inK. ♦

(Q,+, ·,≤) ist also kein vollständiger, total angeordneter Körper.

Definition 2.2.11. Unter einemKörper der reellen Zahlen(R,+, ·,≤) verstehen wir einenvollständigen, total angeordneten Körper. ♦

Im Sinne der Axiomatik nehmen wir nun die Existenz eines solchen Körpers an. Späterwerden wir in einem Exkurs andeuten, wie man Modelle für reelle Zahlen tatsächlich kon-struieren kann.

Ein in der Schule verwendetes Modell der Darstellung reeller Zahlen ist die VerwendungvonDezimalbrüchen. Zu klärende Fragen wären aber:

• Was für ein mathematisches Objekt ist eigentlich ein Dezimalbruch?

• Sind sie eindeutig definiert?

• Wie definiert man Addition, Multiplikation und Ordnungsrelation?

Die MengeM in Beispiel2.2.9 ist nichtleer und von oben beschränkt. Nach Axiom (V)besitzt sie also ein SupremumS∈ R. Wie oben gezeigt, giltS2 = 2.

2.2.3 Exkurs: R enthält Q

In diesem Abschnitt wollen wir klären, obR überhaupt die natürlichen Zahlen (und da-mit wegen den Körperaxiomen auch die ganzen und die rationalen Zahlen) enthält und inwelchem SinneR eindeutig bestimmt ist.

Sei(R,+, ·,≤) ein vollständiger, angeordneter Körper.

Eine MengeM heißtinduktiv, wenn 0∈M und wenn mitx∈M auchx+1∈M ist. Offen-sichtlich istR induktiv. Sei nun

N :=⋂M ⊆ R : M ist induktiv .

Dann istN die kleinste induktive Teilmenge vonR: Offensichtlich gilt 0∈ N. Wennx∈ N,dann istx Element aller induktiven Teilmengen vonR und somit auchx+1. Also folgt ausx∈ N auchx+1∈ N. Damit istN eine induktive Menge. Aufgrund der Durchschnittsbil-dung gibt es keine echte Teilmenge vonN, die auch eine induktive Menge ist.

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2.3 Folgerungen aus den Axiomen

Da N die kleinste induktive Teilmenge vonR ist, erfüllt N die Peano-Axiome mitν(x) =x+ 1. Zu zeigen bleibt dazu nur das Induktionsaxiom: SeiK eine Teilmenge vonN mit0∈ N undx+1∈ N wennx∈ N. Dann istK nach Definition eine induktive Teilmenge vonR und damit gleichN.

N ist damit eine Teilmenge vonR, die als Menge der natürlichen Zahlen bezeichnet werdenkann.

WegenN⊂ R, folgt Q⊂ R.

Man kann zeigen, daß die reellen Zahlen als vollständiger, total angeordneter Körper ingewissen Sinne eindeutig definiert sind: Seien(R,+, ·,≤) und (R′,+′, ·′,≤′) zwei solcheKörper. Dann kann man zeigen, daß es eine BijektionI (Isomorphismus genannt) vonRaufR′ gibt, die mit der algebraischen Struktur und der Ordnungsstruktur der beiden Körperverträglich ist: Es gelten

I(0) = 0′ , I(1) = 1′

und

∀x,y∈ R : I(x+y) = I(x)+′ I(y) , I(xy) = I(x) ·′ I(y) , x≤ y⇒ I(x)≤′ I(y)

sowie die entspechenden Beziehungen fürI−1.

In diesem Sinne können wir vonden reellen (natürlichen, ganzen, rationalen) Zahlen spre-chen.

2.3 Folgerungen aus den Axiomen

2.3.1 Beträge, Intervalle und spezielle Ungleichungen

Ungleichungen

Als Folgerung aus dem Vollständigkeitsaxiom (V) erhalten wir:

Satz 2.3.1 (Archimedes).Zu r > 0 existiert eine natürliche Zahl mit n> r, das heißt,N istnicht von oben beschränkt inR.

Beweis.Angenommen, es existiert eine positive reelle Zahlr mit n≤ r für allen∈N. Dannist N von oben beschränkt inR. Damit existiertS= supN in R. SeiS′ = S− 1

2. Dann mußein n∈ N existieren mitS′ < n, das heißt,S− 1

2 < n und daherS< n+ 12 < n+ 1∈ N im

Widerspruch zur Supremums-Eigenschaft vonS.

Folgerung 2.3.2 (Eudoxos).Für jedesε > 0 existiert ein m∈ N>0 mit 1m < ε.

Beweis.Angenommen, es gibt einε > 0 mit 1m ≥ ε für allem∈N>0. Dann folgt1

ε> m für

allem∈ N im Widerspruch zu Satz2.3.1.

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2 Die reellen Zahlen

Lemma 2.3.3. Es gilt

∀a,b,c,d ∈ R(a < b∧c < d⇒ a+c < b+d) .

Beweis.Aus (O3) folgt a+ c < b+ c undb+ c < b+d. Mit (O1) ergibt sich die Behaup-tung.

Lemma 2.3.4 (Bernoulli). Für x∈ R≥−1 und alle n∈ N gilt

(1+x)n ≥ 1+nx. (2.3.1)

Beweis.Seix≥−1. Fürn = 0 gilt (1+x)0 = 1 = 1+0x. Sei die Ungleichung (2.3.1) nunrichtig für eink∈ N. Dann gilt

(1+x)k+1 = (1+x)(1+x)k ≥ (1+x)(1+kx) = 1+(k+1)x+kx2 ≥ 1+(k+1)x .

Nach dem Induktionsprinzip gilt (2.3.1) damit für allen∈ N.

Absolute Beträge

Seir ∈ R. Wir definieren

|r| :=

r , falls r ≥ 0,−r , falls r < 0

und nennen|r| denBetragvon r.

Lemma 2.3.5. Für alle r,s, t ∈ R gelten:

1. |r| ≥ 0, |r|= 0⇔ r = 0 (positive Definitheit).

2. |r|= |− r|.

3. r ≤ |r|.

4. |rs|= |r| · |s| (Multiplikativität).

5. |r +s| ≤ |r|+ |s| (Dreiecksungleichung).

6. | rs|=|r||s| , wenn s6= 0.

7. ||r|− |s|| ≤ |r−s|.

8. |r|< t ⇔−t < r < t.

9. |r−s|< t ⇔ s− t < r < s+ t.

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2.3 Folgerungen aus den Axiomen

Beweis.1. trivial.

2. |− r|=−r , falls r ≤ 0,r , falls r > 0

=−r , falls r < 0,r , falls r ≥ 0

= |r|.

3. und 4. ÜA mit Fallunterscheidung.

5. Aus 3. ergibt sichr ≤ |r| unds≤ |s| und somit

r +s≤ |r|+ |s| .

Andererseits haben wir wegen 2. auch−r ≤ |r| und−s≤ |s| und somit

−(r +s)≤ |r|+ |s| .

Nach Definition ist eine der beiden Zahlenr +s und−(r +s) gleich |r +s| und somit folgtdie Behauptung.

6. Fürs 6= 0 gilt wegen 4.|r|= |s· rs|= |s| · | rs| und daher| rs|=

|r||s| .

7. Wegenr = (r−s)+s folgt nach 5.|r| ≤ |r−s|+ |s| und damit

|r|− |s| ≤ |r−s| .

Analog folgt aus 5. unds= (s− r)+ r folgt nach 5.|s| ≤ |r−s|+ |r| und damit

|s|− |r| ≤ |r−s| .

Somit folgt||r|− |s|| ≤ |r−s| .

8. „⇒“ Aus |r|< t folgt −t <−|r| ≤ |r|< t. Da r = |r| oderr =−|r| folgt −t < r < t.

„⇐“ Aus −t < r < t folgt −t < r und daher−r < t. Mit r < t folgt |r|< t.

9. ist triviale Folgerung aus 8.

Intervalle

Definition 2.3.6. Seiena,b∈ R. Dann heißt

• [a,b] := x∈ R : a≤ x≤ b dasabgeschlossene Intervall,

• ]a,b[ := x∈ R : a < x < b dasoffene Intervall,

• ]a,b] := x∈ R : a < x≤ b daslinksseitig halboffene Intervall,

• [a,b[ := x∈ R : a≤ x < b dasrechtsseitig halboffene Intervall

mit denEndpunktena undb. Wennb≥ a, dann heißtL := b−a dieLängedes Intervalles.♦

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2 Die reellen Zahlen

2.3.2 Die Dichtheit der rationalen Zahlen in R

Seiena,b∈K mit K ∈ Q,R unda < b . Dann gilt

a+a < a+b < b+b

und daher

a <a+b

2< b

mit a+b2 ∈K. Damit haben wir:

Lemma 2.3.7. Zwischen zwei verschiedenen reellen (rationalen) Zahlen liegt stets eine wei-tere reelle (rationale) Zahl.

Die Frage ist nun, wieQ in R liegt.

Lemma 2.3.8. Jede nichtleere Teilmenge M vonN hat ein kleinstes Element.

Beweis.Sei m∈ M. Dann gibt esm+ 1 natürliche Zahlen inN≤m und somit nur endlichviele natürliche Zahlen inM∩N≤m. Von diesen endlich vielen Zahlen ist eine die kleinstevonM∩N≤m und damit auch vonM.

Satz 2.3.9.Die rationalen ZahlenQ liegendicht in R, d.h., für alle r∈ R und alleε > 0existiert ein q∈Q mit |q− r|< ε, d.h., r− ε < q < r + ε und q− ε < r < q+ ε.

Beweis.O.B.d.A. seir ≥ 0. Nach Folgerung2.3.2existiert einm∈N mit m> 1ε. Es genügt,

q∈ Q∩ [r − 1m, r + 1

m] zu suchen. Nach Satz2.3.1existiertn∈ N mit n > mr. Die Mengealler dieser natürlichen Zahlenmhat ein kleinstes Elementn0. Damit gilt n0−1≤mr≤ n0.Setze nunq = n0

m . Dann giltq− 1m ≤ r ≤ q und daherr ≤ q≤ r + 1

m.

Weitere Aussagen zum Vergleich zwischen rationalen und reellen Zahlen werden späterunter anderem in Abschnitt3.6(Abzählbarkeit und Überabzählbarkeit) getroffen.

2.4 Potenzen reeller Zahlen

2.4.1 Potenzen mit rationalen Exponenten

Für a∈ R undn∈ N haben wiran schon definiert. Das Ziel besteht nun in der Definitionvonab für a∈ R>0 undb∈Q.

Satz 2.4.1.Ist a∈ R≥0 und n∈ N>0, so besitzt die Gleichung xn = a genau eine Lösung inR≥0.

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2.4 Potenzen reeller Zahlen

Beweis.Durch vollständige Induktion zeigt man

xm−ym = (x−y) · (xm−1 +xm−2y+ · · ·+xym−2 +ym−1) .

Damit gilt∀x,y∈ R≥0∀m∈ N>0 : x < y ⇔ xm < ym . (2.4.1)

Zeigen wir nun zuerst dieEindeutigkeitder Lösung. Dies ist wie häufig in der Mathematikder einfachere Teil: Angenommen, es existieren zwei verschiedene Lösungenx,y ∈ R≥0

der Gleichung. O.B.d.A. seix < y. Dann erhalten wir den Widersprucha = xn < yn = a zu(2.4.1).

Nun zurExistenzder Lösung. Fürn = 1 istx = a Lösung. Sei nunn∈N>1. Wir betrachtendie Menge

M = y∈ R : y≥ 0∧yn ≤ a .

Da 0∈M, ist M nichtleer. Aus der Bernoulli-Ungleichung (2.3.1) folgt

∀y∈M : (1+a)n > 1+na> a≥ yn .

Nach (2.4.1) ist M damit von oben beschränkt. Nach Vollständigkeits-Axiom (V) existiert

z := supM .

Wir zeigen nunzn = a. Angenommen,zn < a. Für beliebigesm∈ N>0 gilt nach dembinomischen Lehrsatz1.3.21

∀m∈ N>0 :

(z+

1m

)n

= zn +1m

(n1

)zn−1 + · · ·+ 1

mn

(nn

)≤ zn +

cm

(2.4.2)

mit

c :=(

n1

)zn−1 + · · ·+

(nn

).

Wegena−zn > 0 undc> 0, folgt ca−zn > 0. Nach Satz2.3.1existiert eink∈N mit k> c

a−zn .Daraus folgtzn + c

k < a. Mit (2.4.2) folgt(z+

1k

)n

≤ zn +ck

< a

und daherz+ 1k ∈M im Widerspruch zur Definition vonz.

Analog zeigt man, daß auch die Annahmezn > a zu einem Widerspruch führt. Also giltzn = a.

Definition 2.4.2. Für a∈ R≥0 undn∈ N>0 definieren wira1n als die nichtnegative Lösung

der Gleichungxn = a und nennena1n n-te Wurzelvona. ♦

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2 Die reellen Zahlen

Bezeichnungen:Folgende Bezeichnungen sind üblich:

n√

a := a1n ,

√a := 2

√a.

Definition 2.4.3. Für a∈ R>0 undr = pq , p,q∈ N>0, definieren wir

ar := q√

ap , a−r :=(

q√

ap)−1

. ♦

Bemerkung 2.4.4.1. Man müßte die Definition rechtfertigen, nämlich zeigen, daßar un-abhängig von der Dartstellung vonr = p

q = st ist.

2. Die Aufgabe, n√

a zu definieren oder zu berechnen, ist streng zu unterscheiden von derAufgabe, alle (reellen) Lösungen der Gleichungxn = a zu finden. Füra > 0 und geradesnist n√

a die positive und− n√

a die negative Lösung vonxn = a.

3. Ist a < 0, so ist n√

a nicht definiert. Jedoch kannxn = a reelle Lösungen besitzen. Fürungeradesn ist− n

√−a Lösung vonxn = a.

4. Test zum Verständnis der Wurzeldefinition:( n√

a)n = a gilt stets füra≥ 0. n√

an = a giltauch nur füra≥ 0, denn zum Beispiel

√(−1)2 6=−1. ♦

2.4.2 Exkurs: Potenzen mit reellem Exponenten und Logarithmen

Das Ziel besteht nun in der Definition vonab für a∈ R>0 undb∈ R.

Definition 2.4.5. Für a∈ R>0 undb∈ R definieren wir

ab :=

supar : r ∈Q≤b für a≥ 1,((

a−1)b)−1

für a∈ ]0,1[ .

Zu zeigen wären nun noch diePotenzgesetze: ♦

Satz 2.4.6.Für a,b∈ R>0 und c,d ∈ R gilt:

acad = ac+d ,ac

ad = ac−d , acbc = (ab)c ,ac

bc =(a

b

)c, (ac)d = acd .

Für alleb∈R>0 und für beliebige, fixierte Basisa∈R>0\1 wollen wir nun auf ähnlicheWeise eine Zahlx mit ax = b definieren.

Seia > 1. Daax > ay für x > y, gibt es höchstens eine Lösung vonax = b. Wir zeigen, daßdas Supremum der Menge

M(a,b) = x∈ R : ax ≤ bexistiert und die gesuchte Lösung darstellt: Nach Satz von Archimedes2.3.1existiert einn∈ N mit

b−1−1≤ n(a−1) .

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2.4 Potenzen reeller Zahlen

Mit der Bernoulli-Ungleichung (2.3.1) folgt

b−1 ≤ 1+n(a−1)≤ an ,

d.h.,a−n ≤ b.

Damit istM(a,b) nichtleer. Weiter existiert einm∈ N mit

b≤ 1+m(a−1)≤ am .

Daar ≥ am für r ≥m, istmeine obere Schranke vonM(a,b). Somit existiertS= supM(a,b)für a > 1 undb > 0.

Angenommen, es giltaS> b. Dann istaSb−1 > 1. Nach Satz von Archimedes2.3.1existierteinn∈ N mit

a < n(aSb−1−1) .

Mit der Bernoulli-Ungleichung (2.3.1) folgt

a < (aSb−1)n

und damita

1n < aSb−1 .

Somit existiert einε > 0 mit aε < aSb−1. Für allex≥ S− ε folgt

ax ≥ aS−ε = aSa−ε > aSa−Sb = b.

Damit kannS nicht das Supremum vonM sein. Analog zeigt man, daß auchaS < b nichtgelten kann und somitaS = b sein muß.

In ähnlicher Weise zeigt man, daß auchS= supM(a,b) für a∈ ]0,1[ undb> 0 existiert unddie Gleichungax = b löst.

Wir nennen supM(a,b) denLogarithmus vonb zur Basisa und schreiben

logab := supM(a,b) .

Damit gilt∀a∈ R>0\1∀b∈ R>0 : b = alogab . (2.4.3)

Die Logarithmengesetzeergeben sich aus den Potenzgesetzen und (2.4.3):

• Es existierenα,β ∈ R mit α = logab, β = logba. Damit gilt aα = b und bβ = a.Wegen(aα)β = aαβ , folgt αβ = 1, d.h.

∀a,b∈ R>0\1 : logab· logba = 1. (2.4.4)

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2 Die reellen Zahlen

• Seienx,y∈R>0 undz= xy. Es existierenu= logax, v= logay, w= logazund es gilt

aw = z= xy= auav = au+v ,

so daß∀a∈ R>0\1∀x,y > 0 : loga(xy) = logax+ logay (2.4.5)

folgt.

• Seix∈ R>0, v∈ R undu = logax. Dann giltxv = (au)v = auv, d.h.

∀a∈ R>0\1∀x∈ R>0∀v∈ R : loga(xv) = vlogax . (2.4.6)

• Schließlich folgt die Umrechnungsformel

∀a,b∈ R>0\1∀x∈ R>0 : logbx = logax · logba (2.4.7)

aus (2.4.3) und (2.4.6), da

logbx = logb

(alogax

)= logax · logba.

2.5 Die Symbole +∞ und −∞

In gewissen Situationen ist es sinnvoll,R um zwei Symbole−∞ und∞ = +∞ zu ergänzen.Mit diesen Symbolen wird wie folgt gerechnet:

1. Für allex∈ R setzen wir−∞ < x , x < ∞,

x+∞ = ∞ , x−∞ =−∞ , ∞+x = ∞ , −∞+x =−∞und x

∞=

x−∞

= 0.

2. Für x > 0 wird gesetzt:

x ·∞ = ∞ ·x = ∞ , x · (−∞) = (−∞)x =−∞ .

3. Für x < 0 wird gesetzt:

x ·∞ = ∞ ·x =−∞ , x · (−∞) = (−∞)x = ∞ .

4. Weiter setzt man:

∞+∞ = ∞ , (−∞)+(−∞) =−∞ , (−∞)−∞ =−∞ , ∞− (−∞) = ∞und

∞ ·∞ = ∞ , (−∞) · (−∞) = ∞ , (−∞) ·∞ =−∞ , ∞ · (−∞) =−∞ .

R∪−∞,∞ kann nicht unter Erhaltung der Körperaxiome von(R,+, ·) zu einem Körperfortgesetzt werden: Wenn(R∪−∞,∞,+, ·) ein Körper wäre, würde zum Beispiel aus∞+∞ = ∞ die Gleichung 2= 1 folgen.

Schließlich setzen wirinf /0 := +∞ und sup /0 :=−∞ .

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2.6 Komplexe Zahlen

2.6 Komplexe Zahlen

Wir betrachten die MengeR2 = R×R der Paare reeller Zahlen. Wir definieren inR2 eineAddition + in natürlicherweise durch

(a,b)+(c,d) := (a+c,b+d) für a,b,c,d ∈ R . (2.6.1)

Offensichtlich erfüllt diese Addition die Eigenschaften (A1) bis (A4) mit dem additiv-neutralenElement(0,0) und dem zu(a,b) additiv-inversen Element(−a,−b). Weiter definieren wir

(a,b) · (c,d) = (ac−bd,ad+bc) . (2.6.2)

Leicht sieht man (M1), (M2). Die Gleichung

(a,b)(x,y) = (1,0)

hat für(a,b) ∈ R2 mit (a,b) 6= (0,0) die einzige Lösung

(x,y) = (a,b)−1 =(

aa2 +b2 ,

−ba2 +b2

)für (a,b) 6= 0.

Damit ist (R2,+, ·) mit der durch (2.6.1) definierten Addition und der durch (2.6.2) defi-nierten Multiplikation ein Zahlenkörper. Insbesondere haben wir

(c,d) : (a,b) =(

ac+bda2 +b2 ,

ad−bca2 +b2

)für (a,b) 6= 0. (2.6.3)

Definition 2.6.1. Der Zahlenkörper(R2,+, ·) mit der durch (2.6.1) definierten Addition undder durch (2.6.2) definierten Multiplikation heißtKörper der komplexen Zahlenund wirdmit C bezeichnet. ♦

2.7 Reelle und komplexe Funktionen

2.7.1 Grundbegriffe

Abbildungenf : D( f )⊆Kn1→Km

2 mit Ki ∈R,Cwerden auch als Funktionen bezeichnet.

Spezialfälle:

m= n = 1 Reell- bzw. komplexwertige Funktion einer reellen bzw. komplexen Variablen.Beispiel: f : R→ R mit f (x) = x2 +3x+1.

m> 1, n = 1 Vektorfunktion einer reellen bzw. komplexen Variablen. Beispiel:f : D( f )⊆

R→ R2 mit D( f ) = [0,2π[ und f (t) =(

r costr sint

)mit fixiertemr > 0 ergibt Kreislinie.

m= 1, n > 1 Reell- bzw. komplexwertige Funktion vonn reellen bzw. komplexen Varia-blen.

m> 1, n > 1 Vektorfunktion vonn reellen bzw. komplexen Variablen.

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2 Die reellen Zahlen

Darstellung von Funktionen:

Explizit (durch eine Formel oder Vorschrift):

• f (x) =√

4−x aufD( f ) = R≥4 mit W( f ) = R≥0.

• f (x) =

x x≥ 02+sinx x< 0

aufD( f ) = R mit W( f ) = R≥0.

• f (x) =

−x x≥ 02+sinx x< 0

aufD( f ) = R mit W( f ) = R≤0∪ [1,3].

Implizit: x2 +y2 = 1. Wo kanny als Funktion vonx dargestellt werden?

2.7.2 Operationen unter reellen und komplexen Funktionen

Basierend auf den algebraischen und ordnungstheoretischen Eigenschaften der reellen Zah-len kann man gewisse Operationen mit reellen Funktionen ausführen.

Seienf undg reelle Funktionen mit DefinitionsbereichenD( f ) bzw.D(g). Man setzt

D( f ±g) = D( f g) = D( f ∨g) = D( f ∧g) := D( f )∩D(g) , D(| f |) = D(λ f ) := D( f )

sowie

D(1f) := x∈ D( f ) : f (x) 6= 0 , D(

gf) := D(g)∩D(

1f)

und definiert die Funktionenf ±g, f g, f ∨g, f ∧g, | f |, 1f , f

g wie folgt:

( f ±g)(x) := f (x)+g(x) für x∈ D( f ±g) Summebzw. Differenz,( f g)(x) := f (x)g(x) für x∈ D( f g) Produkt,(λ f )(x) := λ f (x) für x∈ D(λ f ) Vielfaches,

( f ∨g)(x) := max f (x),g(x) für x∈ D( f ∨g) Maximum,( f ∧g)(x) := min f (x),g(x) für x∈ D( f ∧g) Minimum,

| f |(x) := | f (x)| für x∈ D( f ) Betrag,( 1

f )(x) := 1f (x) für x∈ D( 1

f )

( gf )(x) := g(x)

f (x) für x∈ D( gf ) Quotient.

Für beliebige reelleλ1, . . . ,λN und reelle Funktionenf1, . . . , fN nennt man die Funktion

λ1 f1 + · · ·+λN fN

Linearkombinationder Funktionenf1, . . . , fN.

Bemerken wir noch, daß diese Operationen mit Ausnahme von Maximum und Minimumauch für komplexe Funktionen undλ ∈ C Sinn haben.

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2.7 Reelle und komplexe Funktionen

2.7.3 Spezielle Funktionen

Definition 2.7.1. Eine Abbildungp: K → K mit p(x) = anxn + · · ·+ a1x+ a0 undai ∈ Kbei K ∈ R,C heißtreellesbzw.komplexes Polynom. Gilt an 6= 0, so heißt degp = n derGrad des Polynoms. ♦

Zwei Polynomep und q mit p(x) = ∑Ni=1aixi , q(x) = ∑M

i=1bixi sind gleich, wenn degp =degq undai = bi für i = 0, . . . ,degp = degq.

Addition, Multiplikation mit einer Zahl, Produkt und Division werden wie üblich definiert.Dabei gilt deg(p+q)≤maxdegp,degq, deg(pq) = degp+degq.

Definition 2.7.2. Eine FunktionR: D(R) ⊆ K → K heißtgebrochen-rationale Funktion,wenn Polynomep undq existieren mitR(x) = p(x)

q(x) für allex∈ D(R). Rheißtecht (unecht)gebrochen, falls degp < degq (degp≥ degq). ♦

In 2.4haben wir für allea> 0 und alleb∈R die Potenzenab eingeführt. Daraus erhält manzwei Klassen von Funktionen:

Fixieren des Exponenten:Seib∈R fixiert. Dann kann man jedemx∈ ]0,∞[ die Potenzxb

zuordnen. Die so entstehende Funktion potb : R>0 → R>0 nennt manPotenzfunktionmitExponentb.

Fixieren der Basis: Sei a ∈ ]0,∞[ fixiert. Dann kann man jedemx ∈ R die Potenzax

zuordnen. Die so entstehende Funktion expa : R → R>0 nennt manExponentialfunktionzur Basisa.

Es gilt:

D(potb) = R>0 , W(potb) =

R>0 , für b 6= 0,1 , für b = 0.

und

D(expa) = R , W(expa) =

R>0 , für a 6= 1,1 , für a = 1.

Aus den Potenzgesetzen inR ergeben sich die folgenden Eigenschaften:

∀x,y∈ D(potb) = R>0 : potb(x) ·potb(y) = xbyb = (xy)b = potb(xy)

und∀s, t ∈ D(expa) = R : expa(t +s) = at+s = atas = expa(t)expa(s) .

Für positivex und fixierte Basisa∈ ]0,∞[\1 haben wir in2.4den Logarithmus vonx zurBasisa eingeführt. Dies führt zurLogarithmusfunktion loga mit D(loga) = R>0. Aus denLogarithmengesetzen ergibt sich

∀x,y∈ D(loga) = R>0 : loga(xy) = loga(x)+ loga(y) .

41

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2 Die reellen Zahlen

Bemerkung 2.7.3.1. expa(x) und expax bzw. loga(x) und logax werden gleichberechtigtverwendet.

2. Anstelle von potb bzw. expa wird meist (nicht korrekt)xb bzw.ax geschrieben.

3. Füra = e setzt man exp := expe und ln := loge und nennt ln dennatürlichen Logarith-mus. ♦

Als spezielle Linearkombinationen von Exponentialfunktionen erhält man dieHyperbel-funktionen

cosh :R→ R mit cosh(x) =12

(ex +e−x)

mit W(cosh) = [1,∞[, genanntHyperbelcosinusoderCosinus hyperbolicus, und

sinh : R→ R mit sinh(x) =12

(ex−e−x)

mit W(sinh) = R, genanntHyperbelsinusoderSinus hyperbolicus.

Weitere „elementare“ Funktionen sind dietrigonometrischenFunktion sin, cos und darausabgeleitete Funktionen (wie z.B. tan). Diese werden erst später über Potenzreihen oder alsLösung einer speziellen Differentialgleichung (Schwingungsgleichung) definiert.

42

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3 Grenzwerttheorie

3.1 Metrische und normierte Räume

3.1.1 Der metrische Raum

In der Analysis hat man häufig die folgende Situation: Seix0 ein fixierter Punkt in einerMengeX. Man benötigt Punktex, die in der „Nähe“ oder „Umgebung“ vonx0 liegen.Eventuell muß man sogar den Abstand zwischen zwei Punkten zahlenmäßig angeben.

In der MengeX benötigt man dazu eine gewisse Struktur, die die Entfernung zweier belie-biger Punktex,y∈ X angeben kann.

Eine Menge mit einer zusätzlichen Struktur wird in der MathematikRaumgenannt.

Definition 3.1.1. Sei X eine Menge undρ : X×X → R eine Funktion. Die FunktionρheißtMetrik aufX, wenn die folgenden drei Bedingungen erfüllt sind:

(M1) ∀x,y∈ X : ρ(x,y)≥ 0∧ (ρ(x,y) = 0⇔ x = y) (pos. Definitheit),

(M2) ∀x,y∈ X : ρ(x,y) = ρ(y,x) (Symmetrie),

(M3) ∀x,y,z∈ X : ρ(x,y)≤ ρ(x,z)+ρ(z,y) (Dreiecksungleichung).

Ist ρ Metrik auf X und sindx,y∈ X, so heißtρ(x,y) Entfernung oderAbstandvon x zu y.Das Paar(X,ρ) heißt metrischer Raum. ♦

Beispiel 3.1.2.Sei X eine Menge mit mindestens zwei Elementen. Die Funktionρ mitρ(x,y) = 0, fallsx = y, undρ(x,y) = 1, fallsx 6= y, ist eine Metrik aufX. ♦

Beispiel 3.1.3.X = R1, ρ(x,y) = |x−y|. ♦

Beispiel 3.1.4.X = C, ρ(z,w) = |z−w|=√

(ℜ(z−w))2 +(ℑ(z−w))2. ♦

3.1.2 Der euklidische Raum

Sein∈ N>0. Wir betrachten die Menge

X = Rn = Xni=1R

43

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3 Grenzwerttheorie

der reellenn-Tupel. InX definiert man die Addition von Elementenx = (x1, . . . ,xn), y =(y1, . . . ,yn) und die Multiplikation mit einem Skalarλ ∈ R durch

x+y = (x1 +y1, . . . ,xn +yn) und λx = (λx1, . . . ,λxn) .

In der linearen Algebra wird gezeigt, daß derRn mit diesen Operationen zu einemVektor-raum (Rn,+, ·) oderlinearen Raum(über den KörperR) wird.

Spezielle Vektoren sind derNullvektor 0 = (0, . . . ,0) und der i-te Einheitsvektor ei =(0, . . . ,0,1,0, . . . ,0), bei dem genau an deri-ten Stelle eine 1 steht. Ist dannx = (x1, . . . ,xn)ein Vektor ausRn, so kann man ihn als

x = x1e1 +x2e2 + . . .+xnen

darstellen.e1, . . . ,en heißt dann eineBasisvon x undx1, . . . , xn heißen dieKoordinatenvonx.

Jedem Vektorx∈ Rn ordnet man eine Zahl

‖x‖=√

(x1)2 + · · ·+(xn)2 (3.1.1)

zu, die wirLängedes Vektorsx nennen wollen.

Bemerken wir nun einige wichtige Eigenschaften der Länge:

(L1) ∀x∈ Rn : ‖x‖ ≥ 0∧ (‖x‖= 0⇔ x = 0).(L2) ∀x∈ Rn∀λ ∈ R : ‖λx‖= |λ | · ‖x‖.(L3) ∀x,y∈ Rn : ‖x+y‖ ≤ ‖x‖+‖y‖.(L1) und (L2) sind offensichtlich. Wir wollen (L3) zeigen. Zu diesem Zweck beweisen wirzwei Ungleichungen:

∀ai ,bi ∈ R :

(m

∑i=1

aibi

)2

(m

∑i=1

a2i

)(m

∑i=1

b2i

)(3.1.2)

und

∀ai ,bi ∈ R :

√m

∑i=1

(ai +bi)2 ≤

√m

∑i=1

a2i +

√m

∑i=1

b2i . (3.1.3)

Zu (3.1.2). Sei

φ(λ ) =m

∑i=1

(aiλ +bi)2 = λ2

m

∑i=1

a2i︸ ︷︷ ︸

A

+2λ

m

∑i=1

aibi︸ ︷︷ ︸B

+m

∑i=1

b2i︸ ︷︷ ︸

C

.

Dann istφ(λ ) nichtnegativ für alleλ ∈R. Der AusdruckAλ 2+2Bλ +C mit A≥ 0 ist abergenau dann für alleλ ∈ R nichtnegativ, wenn die DiskriminanteB2−AC nichtpositiv ist.Damit folgt (3.1.2).

44

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3.1 Metrische und normierte Räume

Zu (3.1.3). Wegen (3.1.2) gilt

m

∑i=1

(ai +bi)2 =

m

∑i=1

a2i +2

m

∑i=1

aibi +m

∑i=1

b2i

≤m

∑i=1

a2i +2

√m

∑i=1

a2i

√m

∑i=1

b2i +

m

∑i=1

b2i

=

(√m

∑i=1

a2i +

√m

∑i=1

b2i

)2

.

Damit haben wir√(x1 +y1)2 + · · ·+(xn +yn)2 ≤

√(x1)2 + · · ·+(xn)2 +

√(y1)2 + · · ·+(yn)2 ,

d.h.,‖x+y‖ ≤ ‖x‖+‖y‖

für allex,y∈ Rn.

Der Vektorraum(Rn,+, ·) ausgestattet mit der Länge‖ · ‖ definiert durch (3.1.1) heißteu-klidischer Raum.

Im euklidischen Raum können wir eine Metrikρ durch

ρ(x,y) := ‖x−y‖ für allex,y∈ Rn

definieren. Diese Metrik heißteuklidische Metrik, der Abstand heißteuklidischer Abstand.

3.1.3 Der normierte Raum

Den Begriff des euklidischen Räumen können wir zum Begriff des normierten Raumes ver-allgemeinern:

Definition 3.1.5. SeiX ein linearer Raum (d.h. Vektorraum) und‖ · ‖ : X → R eine Abbil-dung mit den folgenden Eigenschaften(N1) ∀x∈ X : ‖x‖ ≥ 0∧ (‖x‖= 0⇔ x = 0),(N2) ∀x∈ X ∀λ ∈ R : ‖λx‖= |λ | · ‖x‖,(N3) ∀x,y∈ X : ‖x+y‖ ≤ ‖x‖+‖y‖.

Dann heißt‖ · ‖ Norm aufX und(X,‖ · ‖) heißtnormierter Raum. ♦

Jeder euklidische Raum ist also ein normierter Raum, die Länge ist eine Norm, dann aucheuklidische Normgenannt. In jedem normiertem Raum(X,‖ · ‖) kann eine Metrikρ durch

ρ(x,y) := ‖x−y‖ für allex,y∈ X

45

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3 Grenzwerttheorie

eingeführt werden.

Durch| · |p, | · |∞ : Rn×Rn → R, p≥ 1, mit

|x|p = p

√n

∑i=1

(xi)p , |x|∞ = maxi∈1,...,n

|xi |

sind weitere Normen inRn gegeben.| · |2 ist die bekannte euklidische Norm.

3.1.4 Umgebungen

Im folgenden sei(X,ρ) stets ein metrischer Raum. Seix0 ∈ X und r ≥ 0. Wir bezeichnenmit

B(x0, r) := x∈ X : ρ(x,x0) < r bzw. B(x0, r) := x∈ X : ρ(x,x0)≤ r

dieoffenebzw.abgeschlossene Kugel mit Zentrumx0 und Radiusr.

Definition 3.1.6. Eine TeilmengeU ⊆ X heißtUmgebung des Punktesx0 ∈ X, wenn einr > 0 existiert mitB(x0, r)⊆U . ♦

Zum Beispiel seiX = R2, ρ(x,y) =√

(x1−y1)2 +(x2−y2)2, x0 = (0,0). Dann istU =x: |xi | ≤ 1

2 eine Umgebung vonx0 undx1 = (13,−1

3).

Definition 3.1.7. SeiA⊆ X, x0 ∈ A.a) x0 heißtinnerer Punkt von A, wennx0 mit einer ganzen Umgebung zuA gehört, d.h., esexistiert eine UmgebungU vonx0 mit U ⊆ A.b) Die MengeA heißtoffen, wenn sie nur aus inneren Punkt besteht. ♦

Beispiel 3.1.8.

1. Jede offene Kugel (in einem metrischen Raum) ist eine offene Menge.

2. X = R, x0 ∈ R, ε > 0. Dann

B(x0,ε) = x∈ R : |x−x0|< ε= ]x0− ε,x0 + ε[ .

3. a,b∈ R. ]a,b[ ist offene Menge, sogar offene Kugel:

]a,b[ = B

(a+b

2,b−a

2

), wennb > a.

4. a,b∈ R. [a,b] ist abgeschlossene Kugel:

[a,b] = B

(a+b

2,b−a

2

), wennb > a.

5. Die leere Menge ist offen.

6. X selbst ist offen. ♦

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3.2 Folgen und Grenzwerte von Folgen

3.2 Folgen und Grenzwerte von Folgen

3.2.1 Folgen

Definition 3.2.1. SeiX eine Menge und seiM ⊆N. Eine Abbildungx: M → X heißtFolge(von Elementen) inX. ♦

Bezeichnung:x, (xn)n∈M, (xn)∞n=0 (wennM = N) oder(xn).

Beispiel 3.2.2. ♦

1. X = R, (xn)n∈N>0 =(

2+ (−1)n

n

)n∈N>0

.

2. X = C, (zn)n∈N>0 =(1+ 1

ni)

n∈N>0.

3. X = R3, (xn)n∈N>0 =((n, 1

n2 ,1n))

n∈N>0

.

4. X als Menge aller Polynome auf[0,1], (xn)n∈N = (potn)n∈N = (t 7→ tn)n∈N.

Bemerkung 3.2.3.Sei M ⊆ N unbeschränkt. Wir definierenm: N → M iterativ durchm(0) = minM, m(n+1) = minM>m(n). Dann istmeine streng monoton wachsende, bijekti-ve Abbildung vonN aufM. Istx= (xn)n∈M eine Folge inX, so isty= xm= (xmn)n∈N, d.h.,yn = xmn für n∈ N, eine (umnummerierte) Folge mit IndexmengeN. Ohne Beschränkungder Allgemeinheit bräuchte man damit nur Folgen mit IndexmengeN betrachten. ♦

3.2.2 Grenzwerte

Sei(X,ρ) ein metrischer Raum,M ⊆ N unbeschränkt und(xn)n∈M eine Folge inX.

Definition 3.2.4. Der Punkta∈ X heißtGrenzwertder Folge(xn)n∈M, wenn für jede Um-gebungU vona eine ZahlN ∈M existiert, so daßxn ∈U für allen∈M≥N:

∀ Umg.U vona∃N ∈M∀n∈M≥N : xn ∈U .

Man sagt dann auch, daß die Folge(xn)n∈M gegena konvergiert. Eine Folge heißtdivergent,wenn sie nicht konvergiert. ♦

Bezeichnung:a= lim x, a= limn→∞ xn, xnn→∞−→ a, xn→ a für n→∞, manchmal limn→∞ xn =

x∞.

Bemerkung 3.2.5.a = lim x ist äquivalent zu:

∀ε > 0∃N ∈ N∀n∈M≥N : xn ∈ B(a,ε) . ♦

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3 Grenzwerttheorie

Warnung! Definition 3.2.4bedeutet nicht (nur), daß in jeder beliebigen Umgebung vona unendlich viele Glieder der Folge liegen, sondern Definition3.2.4besagt: Alle (bis aufendlich viele) Glieder der Folge(xn)n∈M liegen inU .

Satz 3.2.6 (Eindeutigkeit des Grenzwertes).Wenn xnn→∞−→ a und xn

n→∞−→ b, dann a= b.

Beweis.Indirekt. Angenommen, es gilta 6= b. Dann gilt ε := ρ(a,b) > 0. Die KugelnKa = B(a, ε

3) undKb = B(b, ε

3) sind Umgebungen vona bzw.b. Damit existierenNa undNb

mit∀n∈M≥Na : xn ∈ Ka und ∀n∈M≥Nb : xn ∈ Kb .

SeiN = maxNa,Nb. Für n∈M≥N erhalten wir den Widerspruch

0 < ε = ρ(a,b)≤ ρ(a,xn)+ρ(xn,b) <ε

3+

ε

3< ε .

Satz 3.2.7.Der Punkt a∈ X ist genau dann Grenzwert der Folge(xn)n∈M, wenn der Ab-standρ(xn,a) in R gegen0 konvergiert:

a = lim x ⇔ limn→∞

ρ(xn,a) = 0.

Beweis.ÜA.

3.2.3 Beschränkte Mengen

Definition 3.2.8. Eine TeilmengeAeines metrischen Raumes(X,ρ) heißtbeschränkt, wennes eine Kugel gibt, dieA enthält:

∃x0 ∈ X∃r > 0: A⊆ B(x0, r) . ♦

Satz 3.2.9.Sei(X,ρ) ein metrischer Raum und sei(xn)n∈M eine konvergente Folge in X.Dann istxn : n∈M eine beschränkte Menge.

Beweis.Zu zeigen ist die Existenz einer KugelK in X mit xn ∈ K für alle n∈M. Aus derKonvergenz folgt die Existenz des Grenzwertesx∞. Es existiert einN mit xn ∈ B(x∞,1) fürallen∈M≥N. Sei

r = 1+maxρ(xn,x∞) : n∈M<N .

Dannxn ∈ B(x∞, r) für allen∈M.

Ist xn : n∈M eine beschränkte Menge, so nennen wir(xn)n∈M einebeschränkte Folge.

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3.2 Folgen und Grenzwerte von Folgen

3.2.4 Teilfolgen

Definition 3.2.10. Sei x = (xn)n∈M ein Folge in einem metrischen Raum(X,ρ). Sein =(nk)k∈N eine streng monoton wachsende Folge von Zahlen ausM, d.h.,nk+1 > nk für k∈N.Dann heißt

xn = (xnk)k∈N

Teilfolgevonx. ♦

Selbstverständlich gibt es viele Möglichkeiten, aus einer gegebenen Folge Teilfolgen aus-zuwählen.

Satz 3.2.11.Sei(xn)n∈M eine konvergente Folge im metrischen Raum(X,ρ) mit Grenzwertx∞. Dann ist jede ihrer Teilfolgen konvergent mit dem Grenzwert x∞.

Beweis.Sei (xnk)k∈N beliebige Teilfolge von(xn)n∈M. Seiε > 0 beliebig. Dann existiertein N ∈M mit xn ∈ B(x∞,ε) für alle n∈M≥N. Dank : k∈ N nicht von oben beschränktist, existiert einK ∈ N mit nk ≥ N für allek≥ K. Damitxnk ∈ B(x∞,ε) für allek≥ K.

Bemerkung 3.2.12.Die Konvergenz der Ausgangsfolge ist wesentlich. Für divergente Fol-gen ist alles möglich: SeiX = R, (xn)n∈N = ((−1)n)n∈N. (x5n)n∈N ist divergent,(x2n)n∈Nist konvergent gegen 1 und(x2n+1)n∈N ist konvergent gegen−1.

Die Folge(xn)n∈N =(n2)

n∈N besitzt keine konvergenten Teilfolgen. ♦

3.2.5 Zahlenfolgen

Zahlenfolgensind Folgen inX = R oderX = C.

Beispiel 3.2.13.SeiX = R.

1. Seixn = 1n für n∈ N>0. Vermutungxn → 0 für n→ ∞. Sei dazuε > 0 beliebig. Wir

haben|xn−0|< ε für allen ab einem geeignetenN zu zeigen. Wegen|xn−0|= |xn|=1n benötigen wirN ∈ N mit n > 1

εfür n≥ N. Wir können daherN ∈ N> 1

ε

wählen.

2. Seixn = 2+ (−1)n

n für n∈N>0. Vermutungxn→ 2 für n→∞. Sei dazuε > 0 beliebig.Zu zeigen ist die Existenz einesN ∈ N>0 mit |xn−2| < ε für n≥ N. Damit ist einN ∈ N zu finden mit|xn−2|= 1

n < ε für allen≥ N. WähleN ∈ N> 1ε

.

3. Seixn = (−1)n. Die Folge ist divergent. ♦

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3 Grenzwerttheorie

3.3 Eigenschaften des Grenzwertes

3.3.1 Reelle Folgen

SeiX = R.

Lemma 3.3.1. Sei(xn)n∈N eine konvergente Folge inR mit Grenzwert x∞.

1. Sei p< x∞. Dann existiert ein N∈ N mit xn > p für n≥ N.

2. Sei q> x∞. Dann existiert ein N∈ N mit xn < q für n≥ N.

Beweis.Setzeε = x∞− p. Dannε > 0 und es existiert einN ∈ N mit x∞− ε = p < xn <x∞ + ε. Analog wird die zweite Aussage bewiesen.

Folgerung 3.3.2.Falls x∞ > 0, dann sind alle Folgenglieder (bis auf endlich viele) positiv.

Lemma 3.3.3 (Grenzübergang in Ungleichungen).Seien(xn)n∈N und(yn)n∈N konvergen-te Folgen inR mit Grenzwert x∞ bzw. y∞. Existiert ein N∈ N mit xn ≤ yn für n≥ N, danngilt x∞ ≤ y∞.

Beweis.Indirekt. Angenommen, es giltx∞ > y∞. Sei p = q = x∞+y∞2 . Wenden wir die erste

Aussage von Lemma3.3.1auf (xn)n∈N und die zweite Aussage auf(yn)n∈N an, erhalten wirdie Existenz einesN ∈N mit yn < q = p < xn für allen≥N. Dies steht in Widerspruch zurVoraussetzung.

Bemerkung 3.3.4.Selbst wenn ab einer StelleN die strenge Ungleichungxn < yn gilt, kannman lediglichx∞ ≤ y∞ folgern: Wähle z.B.xn = 0, yn = 1

n+1. ♦

Satz 3.3.5 (Prinzip der zwei Milizionäre). Seien Folgen(xn)n∈N, (yn)n∈N und (zn)n∈N inR gegeben. Es gelte

a) (xn)n∈N und(zn)n∈N konvergieren gegen a.

b) Es existiert ein N0 mit xn ≤ yn ≤ zn für alle n≥ N0.

Dann konvergiert auch(yn)n∈N gegen a.

Beweis.Seiε > 0 beliebig. Es existiert einN ∈ N≥N0 mit a− ε < xn < a+ ε unda− ε <zn < a+ ε für n≥ N. Damit gilt

a− ε < xn ≤ yn ≤ zn < a+ ε

für allen≥ N, d.h., wir haben|yn−a|< ε für n≥ N.

Folgerung 3.3.6.Sei0≤ yn ≤ zn und zn → 0. Dann yn → 0.

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3.3 Eigenschaften des Grenzwertes

Definition 3.3.7. Sei(xn)n∈N eine Folge inR. Gilt

∀K > 0∃N ∈ N∀n≥ N : xn ≥ K ,

so nennt man die Folgedivergent gegen+∞ oder (uneigentlich) konvergent gegen+∞.Gilt

∀K > 0∃N ∈ N∀n≥ N : xn ≤−K ,

so nennt man die Folgedivergent gegen−∞ oder(uneigentlich) konvergent gegen−∞.

In beiden Fällen heißtx bestimmt divergent. ♦

Bemerkung 3.3.8.Satz3.2.11, Lemma3.3.3und Lemma3.3.5gelten auch für limxn = amit a = +∞ odera =−∞. ♦

3.3.2 Folgen in Rp

Lemma 3.3.9. Sei x= (x1, . . . ,xp) ∈ Rp. Dann gilt

∀i ∈ 1, . . . , p : |xi | ≤ ‖x‖ ≤ |x1|+ · · ·+ |xp| .

Beweis.Es gilt(xi)2 ≤ ∑p

k=1

(xk)2

und somit|xi | ≤ ‖x‖. Weiter gilt

‖x‖2 =p

∑k=1

(xk)2≤

p

∑k=1

(xk)2

+2p

∑k=1,l<k

|xk| · |xl |=(|x1|+ · · ·+ |xp|

)2.

Satz 3.3.10.Für die Konvergenz einer Folge(xn)n∈N in Rp zu einem Punkt x∞ ist hinrei-chend und notwendig, daß xi

n → xi∞ für jedes i∈ 1, . . . , p.

Beweis.Notwendigkeit.Seixn → x∞. Seii ∈ 1, . . . , p beliebig. Dann gilt

|xin−xi

∞| ≤ ‖xn−x∞‖ .

Wegen‖xn−x∞‖→ 0 folgt |xin−xi

∞| → 0 mit Satz3.3.5, d.h.,(xin)n∈N konvergiert.

Hinlänglichkeit.Für allei ∈ 1, . . . , pmögen jetzt die Folgen(xin)n∈N gegenxi

∞ konvergie-ren. Seiε > 0. Dann existiert einN ∈ N mit

∀i ∈ 1, . . . , p∀n≥ N : |xin−xi

∞|<ε

p.

Damit gilt‖xn−x∞‖ ≤ |x1

n−x1∞|+ · · ·+ |xp

n−xp∞|< ε

für n≥ N.

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3 Grenzwerttheorie

3.3.3 Rechnen mit konvergenten Zahlenfolgen

Satz 3.3.11.Sei X∈ R,C und es seien x= (xn)n∈N und y= (yn)n∈N konvergente Folgenin X. Dann gilt:

1. lim(λx) = λ lim x für λ ∈ X.

2. lim(x+y) = lim x+ lim y.

3. lim(xy) = lim x · lim y.

4. Falls lim y 6= 0, dannlim xy = lim x

lim y.

Wir wollen nur 4. beweisen. Dazu benötigen wir das folgende Lemma:

Lemma 3.3.12.Wennlim y 6= 0, dann ist 1|yn| : n∈ N∧yn 6= 0 beschränkt.

Beweis.Sei y∞ = lim y. Aus y∞ 6= 0 folgt |y∞|2 = ε > 0. Damit existiert einN ∈ N mit

yn∈B(y∞,ε) für n≥N, also|yn−y∞|< |y∞|2 für n≥N. Damit gilt yn∈ ]y∞− |y∞|

2 ,y∞ + |y∞|2 [,

d.h.,|yn| ≥ |y∞|2 und deswegen1

|yn| ≤2|y∞| für n≥ N.

Beweis.(Von Satz3.3.11, 4.). Seiyn → y∞ 6= 0. Nach Lemma3.3.12existierenC ∈ R>0

undN ∈ N mit 1/|yn| ≤C für n≥ N. Fürn≥ N gilt

|xn

yn− x∞

y∞|= | 1

yny∞(y∞xn−x∞yn)| ≤

C|y∞|

|y∞xn−x∞yn| .

Nach den ersten beiden Aussagen des Satzes konvergierty∞xn−x∞yn gegen 0. Mit Lemma3.3.5folgt |xn

yn− x∞

y∞| → 0, d.h.,xn

yn→ x∞

y∞.

3.3.4 Monotone Folgen reeller Zahlen

SeiX = R.

Definition 3.3.13. Die Folgex = (xn)n∈N heißt monoton wachsend(im weiteren Sinne)odermonoton nichtfallend(in Zeichenxn ↑), wennxn+1≥ xn für allen∈N. Analog werdenstreng monoton wachsend, monoton fallend(in Zeichenxn ↓) undstreng monoton fallenddefiniert. ♦

Satz 3.3.14 (Monotone Folgen).Sei(xn)n∈N eine monoton wachsende Folge.

1. Wenn x[N] = xn : n∈ N von oben beschränkt ist, dann besitzt sie einen (endlichen)Grenzwert.

2. Wenn x[N] = xn : n∈ N nicht von oben beschränkt ist, dann xn → ∞.

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3.3 Eigenschaften des Grenzwertes

Beweis.1. Die Mengex[N] = xn : n ∈ N ist nach Voraussetzung von oben beschränktund besitzt somit nach Vollständigkeitsaxiom ein SupremumM∗ = supx[N]. Wir vermutenxn→M∗. Dazu seiε > 0 beliebig. Die ZahlM∗−ε ist keine obere Schranke vonx[N], d.h.,es existiert einN ∈ N mit M∗− ε < xN ≤M∗. Wennn≥ N, dannM∗− ε < xN ≤ xn≤M∗ ,also|xn−M∗|< ε für n≥ N.

2. SeiK > 0 beliebig. Dax[N] nicht von oben beschränkt ist, existiert einN ∈ N mitxn ≥ xN ≥ K für n≥ N. Dies bedeutet aberxn → ∞.

Bemerkung 3.3.15.

1. lim xn = supx[N] für jede monoton wachsende Folgex. (Falls x nach oben unbe-schränkt ist, vereinbaren wir supx[N] = ∞.)

2. lim xn = inf x[N] für jede monoton fallende Folgex. (Fallsx nach unten unbeschränktist, vereinbaren wir infx[N] =−∞.)

3. Der Satz ist eine reine Existenzaussage für den Grenzwert (ohne ihn berechnet zuhaben oder ihn zu kennen).

4. xn x∞ bedeutetxn ↑ undxn → x∞. xn ∞ bedeutetxn ↓ undx unbeschränkt. ♦

Satz 3.3.16 (Theorem of the two meeting sequences).Seien x= (xn)n∈N und y= (yn)n∈Nzwei reelle Folgen mit xn ↑ und yn ↓. Es gelte

1. xn ≤ yn mindestens ab einem Index N∈ N.

2. yn−xn → 0.

Dann existiert ein c∈ R mit xn c und yn c.

Beweis.Wegen der Monotonie vonx und 1. istx[N] von oben beschränkt. Satz3.3.14impliziert die Existenz vonx∞ = limn→∞ xn. Analog zeigt man die Konvergenz vony gegenein y∞ ∈ R. Damit konvergiertx−y gegenx∞−y∞. Nach 2. istx∞−y∞ = 0, alsoc = x∞ =y∞.

3.3.5 Die Zahl e

Als Anwendung von Satz3.3.14zeigen wir die Existenz einer speziellen Zahl.

Wir zeigen zuerst die Konvergenz von

yn =(

1+1n

)n+1

.

53

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3 Grenzwerttheorie

Offensichtlich giltyn ≥ 1 für allen≥ 1. Damit isty von unten beschränkt. Wir zeigen nun,daßy nichtwachsend ist:

yn−1

yn=

(1+ 1

n−1

)n(1+ 1

n

)n+1 =

(n−1+1

n−1

)n(n+1

n

)n+1 =n2n+1

(n−1)n(n+1)n+1

=(n−1)n2n+2

n[(n−1)(n+1)]n+1 =n−1

n

(n2

n2−1

)n+1

=n−1

n

(1+

1n2−1

)n+1

>n−1

n

(1+(n+1)

1n2−1

)=

n−1n

(1+

1n−1

)=

n−1n

nn−1

= 1,

daß heißtyn < yn−1 für alle n≥ 2. Nach Satz3.3.14konvergierty von oben gegen einy∞ ∈ R.

Nun zeigen wir die Konvergenz von

xn =(

1+1n

)n

.

Offensichtlich giltxn = yn1

1+ 1n. Der erste Faktor konvergiert gegeny∞, der zweite gegen 1.

Nach Satz3.3.11konvergiertxn auch gegeny∞.

Definition 3.3.17. Der Grenzwert der Folge((

1+ 1n

)n)n∈N≥1

wird mit e bezeichnet (Eu-

lersche Zahl),

e= limn→∞

(1+

1n

)n

≈ 2.718281828459045.♦

3.3.6 Weitere wichtige Beispiele für Grenzwerte

1. Es gilt

limn→∞

1p√

n= 0 für p > 0.

Beweis.Sei ε > 0 gegeben. Da1n → 0, existiert einn0 ∈ N>0 mit 1n < ε p für alle

n∈ N≥n0. Damit gilt 1p√n < ε für allen∈ N≥n0.

2. Es gilt

limn→∞

1ns = 0 für s∈Q>0 .

54

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3.3 Eigenschaften des Grenzwertes

Beweis.Seis= q/p mit p,q∈ N>0. Dann gilt

1p√

nq=

1

( p√

n)q → 0

nach 1. und Produktregel.

3. Es giltlimn→∞

n√

a = 1 für a > 0.

Beweis.Fallunterscheidung.a = 1 ist trivial.

Seia > 1. Setzexn := n√

a−1≥ 0. Dann gilt

a = (1+xn)n ≥ 1+nxn .

Weiter gilt

0≤ xn <an→ 0

und mit Satz3.3.5folgt xn → 0.

Seia < 1. Es giltn√

a =1

n√

1/a

mit 1a > 1.

4. Es giltlimn→∞

|q|n = 0 für q∈ C mit |q|< 1.

Beweis.Der Fallq = 0 ist trivial. Seiq 6= 0 unda := 1−|q||q| > 0. Dann gilt|q|= 1

1+a.Damit

0≤ |qn−0|= |q|n =1

(1+a)n ≤1

1+na<

1na→ 0.

5. Es giltlimn→∞

n√

n = 1.

Beweis.ÜA.

6. Es gilt

limn→∞

nk

zn = 0 für k∈ N, z∈ Cmit |z|> 1.

Beweis.ÜA. (etwas schwieriger).

55

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3 Grenzwerttheorie

3.3.7 Der Intervallschachtelungssatz und der Satz vonBolzano-Weierstraß

Satz 3.3.18 (Intervallschachtelung).Sei([an,bn])n∈N eine Folge von abgeschlossenen In-tervallen mit folgenden Eigenschaften:

1. ∀n∈ N : [an+1,bn+1]⊆ [an,bn].

2. bn−an → 0.

Dann besteht der Durchschnitt aller Intervalle aus genau einem Punkt. Dieser ist Grenzwertder monoton wachsenden Folge a und der monoton fallenden Folge b.

Beweis.1. Existenz. Mit Satz3.3.16folgt die Existenz einesc mit an c undbn c. Ausc∈ [an,bn] für allen∈ N folgt c∈

⋂n∈N[an,bn].

2. Seienc,d ∈⋂

n∈N[an,bn]. Wenden wir Satz3.3.5mit der konstanten Folge(d)n∈N alsmittlere Folge an, so folgtd = c.

Bemerkung 3.3.19.Abgeschlossenheit der Intervalle ist wesentlich. Es gilt z.B.

⋂n∈N>0

]0,1n] = /0.

Satz 3.3.20 (Bolzano (1782-1848), Weierstraß (1815-1897)).Jede beschränkte reelle Fol-ge besitzt wenigstens eine konvergente Teilfolge.

Beweis.Sei(xn)n∈N beschränkt. Dann existierena0 undb0 mit a0≤ xn≤ b0 für allen∈N.

Wir konstruieren eine Folge von ineinander geschachtelten Teilintervallen([an,bn])n∈N, diejeweils unendlich viele Glieder der Folgex enthalten, durch das folgende Verfahren: Sei[an,bn] so konstruiert, daß dieses Intervall unendlich viele Glieder der Folgex enthält. We-nigstens in einem der Teilintervalle[an,

an+bn2 ] und[an+bn

2 ,bn] liegen unendlich viele Folgen-glieder vonx. Sei dann[an+1,bn+1] ein solches Intervall.

Nach Konstruktion giltbn−an = (b0−a0)2−n → 0. Nach Satz3.3.18gilt⋂

n∈N[an,bn] =c.

Wir zeigen nun, daßc Grenzwert einer Teilfolge ist. Dazu konstruieren wir eine strengmonoton wachsende Folge(nk) in N durch das folgende Verfahren: Sein0 = 0. Weiter seink+1 > nk gewählt mitxnk+1 ∈ [ak+1,bk+1]. Dann giltak ≤ xnk ≤ bk und mit Satz3.3.5folgtxnk → c.

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3.4 Weitere topologische Begriffe in metrischen Räumen

3.4 Weitere topologische Begriffe in metrischen Räumen

3.4.1 Cauchy-Folgen und Vollständigkeit

Bisher haben wir eine Zahl als Grenzwert vermutet und dann gezeigt, daß sie tatsächlichGrenzwert ist.

Kann man einer Folgex ansehen, ob sie einen Grenzwert besitzt oder nicht?

Definition 3.4.1. Sei (X,d) ein metrischer Raum. Eine Folge(xn)n∈N in X heißtCauchy-Folge, Fundamentalfolgeoder in sich konvergente Folgein (X,d), wenn die Cauchy-Bedingung

∀ε > 0∃N∀m,n≥ N : d(xn,xm) < ε

erfüllt ist. ♦

Satz 3.4.2.

1. Jede konvergente Folge ist eine Cauchy-Folge.

2. Jede Cauchy-Folge ist beschränkt.

3. Enthält eine Cauchy-Folge eine konvergente Teilfolge, dann konvergiert die Folgeselbst (und besitzt als Grenzwert den Grenzwert der Teilfolge).

Beweis.Zu 1. Seiε > 0. Dann existiert einN > 0 mit d(xn,x∞) < ε

2 für n≥ N. Damitd(xn,xm)≤ d(xn,x∞)+d(x∞,xm) < ε für n,m≥ N.

Zu 2. Wir fixierenε = 1. Dann gibt es einN mit d(xn,xm) < 1 für alle n,m≥ N. Somitd(xn,xN)≤ 1 für allen≥ N. Seir = 1+maxd(xk,xN) : k∈ N<N. Dannxn ∈ B(xN, r) fürallen∈ N.

Zu 3. Sei(xn)n∈N eine Cauchy-Folge und sei(xnk)k∈N eine konvergente Teilfolge mitxnk →x∞. Für jedesε > 0 existierenN undK mit

∀m,n≥ N : d(xn,xm) <ε

2

und∀k≥ K : d(xnk,x∞) <

ε

2.

Seik0 fixiert mit k0 ≥ K undnk0 ≥ N. Dann gilt

∀n≥ N : d(xn,x∞)≤ d(xn,xnk0)+d(xnk0

,x∞) <ε

2+

ε

2= ε ,

d.h.,xn → x∞.

Es entsteht nun die Frage, ob jede Cauchy-Folge konvergiert. Daß dies im allgemeinen nichtgilt, zeigt das folgende Beispiel:

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3 Grenzwerttheorie

Beispiel 3.4.3.SeiX = x∈ R2 : (x1)2 +(x2)2 < 1 und sei

d(x,y) =√

(x1−y1)2 +(x2−y2)2

für x,y∈ X. Wir betrachten die Folge(xn)n∈N in X definiert durchxn = (0,1− 1n). Seiε > 0

beliebig undN ∈ N mit 2N < ε. Dann gilt

∀n,m≥ N : d(xn,xm) = |1n− 1

m| ≤ 1

n+

1m≤ 2

N< ε .

Also ist (xn)n∈N eine Cauchy-Folge. Offensichtlich konvergiert sie aber nicht inX. ♦

Es gibt jedoch auch Situationen, wo die Cauchy-Bedingung hinreichend für Konvergenz ist.

Satz 3.4.4.Eine Folge reeller Zahlen konvergiert (bzgl. der Betragsmetrik) genau dann,wenn sie eine Cauchy-Folge ist.

Beweis.Wegen Satz3.4.2haben wir nur noch die Hinlänglichkeit zu zeigen. Sei dazux eineCauchy-Folge reeller Zahlen. Nach Aussage 2 von Satz3.4.2ist x beschränkt. Nach Satzvon Bolzano-Weierstraß (Satz3.3.20) existiert eine konvergente Teilfolge. Nach Aussage 3von Satz3.4.2konvergiertx.

In vielen Gebieten der Mathematik und ihren Anwendungen sind metrische Räume vonbesonderem Interesse, in denen die Cauchy-Bedingung hinreichend für die Konvergenz ist.

Definition 3.4.5. Ein metrischer Raum(X,d) heißtvollständig, wenn in ihm jede Cauchy-Folge konvergiert. Ein vollständiger, normierter Raum(X,‖ · ‖) heißtBanach-Raum. ♦

Nach Satz3.4.4ist (R,d) mit d(x,y) = |x− y| ein vollständiger metrischer Raum. DurchAnwendung von Satz3.3.10folgt die Vollständigkeit von(Rn,d) mit d(x,y) = ‖x−y‖ undspeziell von(C,d) mit d(x,y) = |x−y|.

Beispiel 3.4.6.Sei dQ : Q×Q → R definiert durchdQ(x,y) = |x− y| für x,y ∈ Q. Dermetrische Raum(Q,dQ) ist nicht vollständig: Seix0 = 2 und

xn+1 =12

(xn +

2xn

)für n ∈ N. Da (xn) in (R,d) mit d(x,y) = |x− y| gegen

√2 konvergiert (Babylonisches

Wurzelziehen), ist(xn) eine Cauchyfolge in(R,d) und daxn ∈ Q für alle n ∈ N auch in(Q,dQ). In (Q,dQ) konvergiert sie jedoch nicht. ♦

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3.4 Weitere topologische Begriffe in metrischen Räumen

3.4.2 Banachscher Fixpunktsatz

Sei(X,d) ein metrischer Raum und seif : X → X. Eine Lösunga der Gleichungx = f (x)nennen wirFixpunkt von f . Wir nennenf kontraktiv, wenn einq∈ [0,1[ existiert mit

∀x,y∈ X : d( f (x), f (y))≤ qd(x,y) . (3.4.1)

Als Folge der sukzessiven Approximationbezeichnen wir eine Folge(xn)n∈N in X mitxn+1 = f (xn) für n∈ N.

Satz 3.4.7 (Banachscher Fixpunktsatz).Sei(X,d) ein vollständiger metrischer Raum undsei f : X → X kontraktiv. Dann gelten folgende Aussagen:

1. f hat genau einen Fixpunkt a.

2. Die Folgen der sukzessiven Approximation konvergieren für jedes x0 ∈ X gegen a.

3. Ist q eine Kontraktionskonstante für f , so gilt die Fehlerabschätzung

∀n∈ N>0 : d(xn,a)≤ qn

1−qd(x1,x0) .

Beweis.Eindeutigkeit:Es seiena undb zwei verschiedene Fixpunkte vonf . Aus (3.4.1)folgt

d(a,b) = d( f (a), f (b))≤ qd(a,b)

und damitd(a,b) = 0, das heißta = b.

Existenz und Konvergenz:Seix0 ∈ X undxn+1 = f (xn) für n∈ N. Dann gilt

∀n∈ N>0 : d(xn+1,xn) = d( f (xn), f (xn−1))≤ qd(xn,xn−1) .

Induktiv folgt hieraus

∀k∈ N∀n∈ N≥k : d(xn+1,xn)≤ qn−kd(xk+1,xk) .

Für natürlichen > k≥ 0 ergibt sich

d(xn,xk)≤ d(xn,xn−1)+d(xn−1,xn−2)+ · · ·+d(xk+1,xk)

≤(

qn−k−1 +qn−k−2 + · · ·+1)

d(xk+1,xk)

=1−qn−k

1−qd(xk+1,xk) .

Mitd( f (xk),xk) = d(xk+1,xk)≤ qkd(x1,x0) (3.4.2)

folgt

∀k∈ N∀n∈ N≥k : d(xn,xk)≤qk−qn

1−qd(x1,x0)≤

qk

1−qd(x1,x0) . (3.4.3)

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3 Grenzwerttheorie

Somit ist(xn)n∈N eine Cauchy-Folge im vollständigen, metrischen RaumX und konvergiertdaher gegen eina∈X. Da( f (xn))n∈N eine Teilfolge von(xn)n∈N ist, konvergiert( f (xn))n∈Nauch gegena. Aus

d( f (xn), f (a))≤ qd(xn,a)

folgt daher durch Grenzübergangd(a, f (a)) = 0, d.h.a = f (a).

Fehlerabschätzung:Da die Folge gegena konvergiert, können wir in (3.4.3) den Grenz-übergangn→ ∞ durchführen und erhalten die behauptete Abschätzung.

3.4.3 Häufungspunkte und abgeschlossene Mengen

Definition 3.4.8. Sei(X,ρ) ein metrischer Raum,A eine Teilmenge vonX undx0 ein Ele-ment vonX. Der Punktx0 heißt

• äußerer PunktvonA, wennx0 innerer Punkt vonX \A ist;

• RandpunktvonA, wennx0 weder innerer noch äußerer Punkt vonA ist;

• BerührungspunktvonA, wenn für jede UmgebungU vonx0 stetsU ∩A 6= /0 gilt;

• HäufungspunktvonA, wenn für jede UmgebungU vonx0 stets(U ∩A)\x0 6= /0;

• isolierter PunktvonA, wenn es eine UmgebungU vonx0 gibt mit U ∩A = x0. ♦

Bemerkung 3.4.9.Eine Umgebung umx0 kann stets durch eine offene Kugel umx0 ersetztwerden.

1. Randpunkt: Für jede UmgebungU von x0 gilt U ∩A 6= /0 undU ∩ (X \A) 6= /0, dasheißt in Umgebung vonx0 liegen sowohl Punkte vonA als auch vom KomplementvonA.

2. Berührungspunkt: Es sindx0 ∈ A undx0 6∈ A möglich. Jeder Punkt vonA ist Berüh-rungspunkt vonA.

3. Häufungspunkt: Jede UmgebungU von x0 enthält wenigstens einen vonx0 verschie-denen Punkt vonA. Jeder Häufungspunkt vonA ist Berührungspunkt vonA, aber nichtjeder Berührungspunkt vonA ist Häufungspunkt vonA. SeiA =]0,1[∪2. Dann ist2 Berührungspunkt vonA aber nicht Häufungspunkt vonA. 1 ist Häufungspunkt vonA, gehört aber nicht zuA. 1

2ist Häufungspunkt vonA und gehört zuA.

4. Isolierter Punkt: Ein isolierter Punkt vonA gehört stets zuA. ♦

Definition 3.4.10. Die Menge aller inneren Punkte vonA heißtoffener KernoderInneres

von A und wird mitA bezeichnet. Die Menge aller Berührungspunkte vonA heißtabge-

schlossene HülleoderAbschließungvonA und wird mitA bezeichnet. ♦

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3.4 Weitere topologische Begriffe in metrischen Räumen

Definition 3.4.11. Eine MengeA⊆ X heißtabgeschlossen, wennA = A. ♦

WegenA⊆ A, bedeutet Abgeschlossenheit einer MengeA: A⊆ A, d.h.,A enthält alle Be-rührungspunkte. Es gilt

A = A.

Beispiel 3.4.12.1) A = [0,1[∪ ]1,2], dannA = [0,2].

2) A = [0,1[∪2, dannA = [0,1]∪2.

In beiden Fällen istA weder abgeschlossen noch offen. ♦

Bemerkung 3.4.13.Die Mengen /0 undX sind stets abgeschlossene und offene Teilmengendes metrischen Raumes(X,ρ). ♦

Lemma 3.4.14 (Charakterisierung von Häufungspunkten).Sei(X,ρ) ein metrischer Raum,A⊆ X, x0 ∈ X. Dann

x0 ist HP von A ⇐⇒ ∃(an) in A\x0 : an → x0.

Beweis.=⇒ Seix0 Häufungspunkt vonA. Es gilt(A∩B(x0,

1n))\x0 6= /0.

Damit existiert für jedesn ein an ∈ A\ x0 mit an ∈ B(x0,1n). Sei ε > 0 beliebig und

N ∈ N≥ 1ε

. Dann

∀n≥ N : |x0−an|<1n≤ ε ,

das heißtan → x0.

⇐= Sei(an) eine Folge ausA\x0 mit an → x0. SeiU eine beliebige Umgebung vonx0.O.B.d.A. seiU = B(x0,ε) mit ε > 0. Wegenan → x0 gibt es einN mit an ∈ B(x0,ε) fürn≥ N. Wegenan ∈ A\x0 gilt

an ∈ (B(x0,ε)∩A)\x0,

das heißtx0 ist HP vonA.

Bemerkung 3.4.15.In einer Umgebung eines HPx0 von A liegen sogar unendlich vielePunkte vonA. ♦

Lemma 3.4.16 (Charakterisierung von Berührungspunkten).Sei(X,ρ) ein metrischerRaum, A⊆ X, x0 ∈ X. Dann

x0 ist BP von A ⇐⇒ ∃(an) in A: an → x0.

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3 Grenzwerttheorie

Hier ist alsoan = x0 nicht ausgeschlossen, z.B. fallsx0 isolierter Punkt vonA ist.

Beweis.ÜA

Lemma 3.4.17 (Charakterisierung abgeschlossener Mengen).Sei(X,ρ) ein metrischerRaum und A⊆ X. Folgende Aussagen sind äquivalent:

1. A ist abgeschlossen, das heißt A= A.

2. Das Komplement X\A von A ist offen.

3. Ist (an)n∈N eine Folge in A, die in X gegen a∞ konvergiert, dann gilt a∞ ∈ A.

Beweis.1. ⇒ 2.: Seib∈ X \A beliebig. Dann ist (wegenA = A) b 6∈ A, also istb kein BPvonA. Letzteres heißt, es gibt eine UmgebungU vonb mit U ∩A = /0. Diese UmgebungUvonb ist also inX \A. Damit istX \A offen.

2. ⇒ 3.: Sei(an)n∈N eine Folge inA, die inX gegena∞ konvergiert. Indirekt: Seia∞ 6∈ A,danna∞ ∈X \A. DaX \A offen ist, ista∞ innerer Punkt vonX \A. Damit existiert einε > 0mit B(a∞,ε)⊆X\A. Wegen der Konvergenz von(an) gibt es einN mit an∈A∩B(x0,ε) = /0für allen≥ N. Damit wurde ein Widerspruch erhalten.

3. ⇒ 1.: Da stetsA⊆ A gilt, brauchen wir nur nochA⊆ A zu zeigen. Seia∞ ∈ A beliebig,d.h., seia∞ ein BP vonA. Nach Lemma3.4.16existiert eine Folge(an)n∈N in A mit an→ a∞.Nach Voraussetzung ista∞ ∈ A, alsoA⊆ A.

3.4.4 Kompaktheit

Sei(X,d) ein metrischer Raum.

Definition 3.4.18. Ein MengensystemOi ⊆ X : i ∈ I heißtÜberdeckungder MengeK ⊆X, wennK ⊆

⋃i∈I Oi . Die Überdeckung heißtoffen, wenn alleOi offen sind. Ein Teilsystem

einer Überdeckung heißtendliche Teilüberdeckung, wenn sie eine Überdeckung ist und nuraus endlich vielen Mengen besteht. ♦

Definition 3.4.19. Eine TeilmengeK von X heißtkompakt, falls jede offene Überdeckungvon K eine endliche Teilüberdeckung besitzt. Eine TeilmengeK von X heißt folgenkom-pakt, falls jede Folge inK eine inK konvergente Teilfolge besitzt. ♦

Beispiel 3.4.20.1. Sei(xn)n∈N eine konvergente Folge in(X,d) mit Grenzwertx∞. Dannist K = xn : n∈ N∪x∞ kompakt: Es seiOi ⊆ X : i ∈ I eine offene Überdeckung vonK. Dann gibt es eini∞ ∈ I mit x∞ ∈ Oi∞ und einN ∈ N mit xn ∈ Oi∞ für n≥ N. Fürn < Ngibt es Indizesin mit xn ∈Oin für n < N. DamitK ⊂

⋃n<N Oin∪Oi∞ .

2. Die Menge der natürlichen Zahlen ist nicht kompakt inR: Sei On = ]n− 13,n+ 1

3[ fürn∈ N. Dann istOn : n∈ N eine offene Überdeckung vonN, die keine endliche Teilüber-deckung besitzt. ♦

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3.5 Exkurs: Konstruktion reeller Zahlen

Lemma 3.4.21.Jede folgenkompakte Menge K⊆ X ist abgeschlossen und beschränkt.

Beweis.Sei K folgenkompakt und seix∞ ein beliebiger Berührungspunkt vonK. NachLemma3.4.16existiert eine Folge(xn)n∈N in K mit Grenzwertx∞. Damit gibt es eine inKkonvergente Teilfolge. Da die Folge selbst konvergiert, liegt ihr Grenzwertx∞ in K. SomitenthältK alle Berührungspunkte, ist also abgeschlossen.

Angenommen,K ist folgenkompakt und unbeschränkt. Seix0 ∈ K fixiert. Wir konstruiereneine Folge(xn)n∈N durch die Eigenschaft, daßxn+1 ∈ K so gewählt sei, daßd(xn+1,x0) >1+ d(xn,x0). Dann gilt d(xn,xm) > 1 für alle n,m∈ N mit n 6= m, d.h., es kann keinekonvergente Teilfolge geben.

Satz 3.4.22.Eine Teilmenge desRn ist genau dann folgenkompakt, wenn sie abgeschlossenund beschränkt ist.

Beweis.Sei K eine folgenkompakte Teilmenge vonRn. Nach Lemma3.4.21ist K abge-schlossen und beschränkt. Sei nunK abgeschlossen und beschränkt. Sei(xn) eine beliebigeFolge inK. Nach Satz3.3.10und dem Satz von Bolzano-Weierstraß (Satz3.3.20) existierteine inRn konvergente Teilfolge gegen einx∞ ∈ RN. Nach Lemma3.4.16ist x∞ Berüh-rungspunkt vonK, gehört wegen der Abgeschlossenheit vonK also zuK. Damit hat(xn)eine inK konvergente Teilfolge undK ist folgenkompakt.

Satz 3.4.23.Eine Teilmenge K eines metrischen Raumes(X,d) ist genau dann kompakt,wenn sie folgenkompakt ist.

Beweis.Siehe z.B. Amann-Escher.

Als Folgerung aus den Sätzen3.4.22und3.4.23erhalten wir:

Satz 3.4.24 (Heine-Borel).Eine Teilmenge desRn ist genau dann kompakt, wenn sie ab-geschlossen und beschränkt ist.

3.5 Exkurs: Konstruktion reeller Zahlen

Im Folgenden geben wir nur die Grundideen an. Zum genaueren Nachlesen (auch der feh-lenden Beweise) sei auf das Springerlehrbuch „Zahlen“ von Ebbinghaus et al. verwiesen.

3.5.1 Dedekind-Schnitte

Definition 3.5.1. Ein Dedekindscher Schnittist ein Paar(A,B) =: A|B von TeilmengenA(„Untermenge“) undB („Obermenge“) vonQ mit folgenden Eigenschaften:

1. A∩B = /0, A∪B = Q, A 6= /0, B 6= /0.

63

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3 Grenzwerttheorie

2. ∀a∈ A∀b∈ b: a≤ b.

3. B hat kein Minimum. ♦

Definition 3.5.2. Die MengeR ist die Menge aller Dedekindschen Schnitte. ♦

Jede rationale Zahls bestimmt den SchnittA|B mit A = r ∈ Q : r ≤ s undB = Q \A. Indiesem Sinne sind die rationalen Zahlen inR enthalten.

Die Addition und die Ordungsrelation werden wie folgt definiert:

A|B+C|D := E|F mit E = r +s: r ∈ A,s∈C , F = Q\E

undA|B≤C|D :⇐⇒ A⊆C .

SindA|B≥ 0 undC|D≥ 0 so definiert man

A|B·C|D := E|F mit E = rs: r ∈ A,s∈C , F = Q\E .

Man kann nun nachweisen, daß die so konstruierten reellen Zahlen(R,+, ·,≤) den Axio-men des total angeordneten Körpers und dem Vollständigkeitsaxiom genügen.

3.5.2 Fundamentalfolgen

Definition 3.5.3. Eine rationale Folge(rn)n∈N heißtNullfolge, wenn limn→∞ rn = 0. Einerationale Folge(rn)n∈N heißtpositiv, wenn einε > 0 existiert mitrn ≥ ε für alle (bis aufendliche viele)n∈ N. ♦

Zunächst bemerkt man, daß nach Satz3.3.11Summe und Produkt von rationalen Nullfolgenwieder rationale Nullfolgen sind.

Sei F die Menge aller rationalen Fundamentalfolgen (Cauchy-Folgen). AufF führen wireine ÄquivalenzrelationN ein durch

r ∼N s :⇐⇒ r−s ist Nullfolge.

Nach Cantor definiert man nunR := F/N ,

d.h., eine reelle Zahl ist eine Äquivalenzklasse[r]N von Cauchy-Folgen rationaler Zahlen.Addition und Multiplikation werden definiert durch

[r]N +[s]N := [r +s]N, [r]N · [s]N := [rs]N .

64

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3.5 Exkurs: Konstruktion reeller Zahlen

Nullelement und Einselement sind[(0)n∈N]N und [(1)n∈N]N. Eine rationale Zahlr wird mitder Restklasse[(r)n∈N]N identifiziert.

SeiP die Menge aller positiven rationalen Fundamentalfolgen. Damit definieren wir

[r]N < [s]N :⇐⇒ s− r ∈ P

und[r]N ≤ [s]N :⇐⇒ [r]N < [s]N∨ [r]N = [s]N .

Man kann nun wieder zeigen, daß(R,+, ·,≤) den Axiomen des total angeordneten Körpersund dem Vollständigkeitsaxiom genügt.

Diese Idee der Vervollständigung der rationalen Zahlen zu den reellen Zahlen kann auchallgemein zur Vervollständigung metrischer Räume verwandt werden.

Spezielle Repräsentaten (d.h., Cauchy-Folgen rationaler Zahlen) für reelle Zahlen stellenDezimalbrüche dar: Seib ∈ N≥2 und sei(an) ein Folge inZ mit an ∈ 0, . . . ,b− 1 fürn≥ 1. Damit definieren wir die Folge(rn)n∈N durch

rn =n

∑i=0

aib−i für a0 ≥ 0 und rn = a0−

n

∑i=1

aib−i für a0 < 0.

Offensichtlich ist dann(rn) eine Cauchy-Folge und somit Repräsentant für eine reelle Zahl.Sei nun noch

|a0|=m

∑i=0

cibi ,

so enthält das Symbol

cm· · ·c0.a1 · · ·an für a0 ≥ 0 und −cm· · ·c0.a1 · · ·an für a0 < 0

bei fixiertemb die volle Information überrn, kann daher mitrn identifiziert werden, undheißtb-adische Entwicklungvon rn. b heißtBasis des Zahlensystems. Wichtige Spezial-fälle sindb = 10 undb = 2, für die wir die Darstellung alsendliche Dezimalbrüchebzw.endliche Dualbrücheerhalten.

Beispiel 3.5.4.Die Folge(1,1.4,1.41,1.414,1.4142, . . .) ist (bei b = 10 und bei entspre-chender Fortsetzung) ein Repräsentant für

√2. ♦

Eine(unendlicher) Dezimalbruchist somit als Folge endlicher Dezimalbrüche zu interpre-tieren.

3.5.3 Intervallschachtelungen

Definition 3.5.5. Eine rationale Intervallschachtelung(In)n ist eine Folge abgeschlosse-ner, rationaler Intervalle[rn,sn] = x ∈ Q : rn ≤ x ≤ sn mit rn,sn ∈ Q, In+1 ⊆ In und

65

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3 Grenzwerttheorie

limn→∞(sn− rn) = 0. Eine Intervallschachtelung(Jn) heißtfeiner als eine Intervallschach-telung(In), wennJn ⊆ In für alle n∈ N. Man nennt(In) und(Jn) äquivalent, wenn es eineIntervallschachtelung(Kn) gibt, die feiner als(In) und(Jn) ist. Als reelle Zahlendefiniertman nun die dadurch entstehenden Äquivalenzklassen von Intervallschachtelungen.♦

Beispiel 3.5.6.Sei In = [(1+ 1n)n,(1+ 1

n)n+1]. Dann istIn eine Intervallschachtelung undsie ist ein Representant der reellen Zahl e. ♦

3.6 Endliche und unendliche Mengen

3.6.1 Endliche Mengen

Lemma 3.6.1. Jede injektive Selbstabbildungψ : N<n → N<n ist bijektiv.

Beweis.(durch vollständige Induktion). Offensichtlich gilt die Behauptung fürn = 0 undn= 1. Sei die Behauptung richtig fürn∈N und seiψ : N<n+1→N<n+1 eine Injektion. Seik = ψ(n). Betrachte nun

γ( j) :=

n für j = k

k für j = n

j sonst

und κ := γ ψ .

Dann istγ bijektiv und somitκ mindestens injektiv. Es giltκ(n) = γ(ψ(n)) = γ(k) = n.Somit ist κ

∣∣N<n

: N<n → N<n eine Injektion, welche nach Induktionsvoraussetzung eine

Surjektion ist. Damit istκ eine Bijektion vonN<n+1 auf N<n+1. Folglich ist γ−1 κ =γ−1 γ ψ ebenfalls eine Bijektion.

Definition 3.6.2. Eine MengeM heißtendlich, falls einn∈ N und eine Bijektionφ : M →N<n vonM aufN<n existieren. Die Zahln heißt dann dieAnzahl#M der ElementevonM.Ist M nicht endlich, heißtM unendlichund es wird #M := ∞ gesetzt. ♦

Bemerkung 3.6.3.1. Die Anzahl der Elemente einer endlichen Menge ist wegen Lemma3.6.1wohldefiniert.

2. Es gilt z.B. #(0,1) = 2.

3. WennM leer ist, dann gibt es eine Bijektionφ : M → N<0 = /0. Die leere Menge ist alsoendlich und hat 0 Elemente.

4. Teilmengen einer endlichen Menge sind endlich.

5. Die Vereinigung endlicher Mengen ist endlich.

6. Die Potenzmenge einer endlichen Menge ist endlich. ♦

Satz 3.6.4.N ist unendlich.

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3.6 Endliche und unendliche Mengen

Beweis.Angenommen,N ist endlich. Dann gibt es einm∈ N und eine Bijektionφ : N→N<m. Somit istψ = φ

∣∣N<0

: N<m→ N<m eine Injektion in sich, welche nach Lemma3.6.1eine Bijektion ist. Daφ(m) ∈ N<m, gibt es wegen der Surjektivität vonψ ein n∈ N<mmitψ(n) = φ(m). Da n < m gilt ψ(n) = φ(n) und wir erhaltenφ(n) = φ(m) mit n 6= m imWiderspruch zur Injektivität.

3.6.2 Gleichmächtigkeit von Mengen

Endliche Mengen sind (neben der Mengeninklusion) durch die Anzahl ihrer Elemente ver-gleichbar. Wir wollen dies nun auf unendliche Mengen in einer Weise übertragen, die ingewissem Sinne eine Größenvergleich erlauben.

Konkret steht die Frage obR, Q, Z mehr Elemente alsN hat.

Definition 3.6.5. Zwei MengenM undN heißengleichmächtig, M ∼ N, wenn es eine Bi-jektionb: M → N vonM aufN gibt. ♦

Bemerkung 3.6.6.Die Gleichmächtigkeit ist eine „Äquivalenzrelation auf der Klasse allerMengen“. ♦

Beispiel 3.6.7.1. Die MengenM = A,B,C undN = I , II , III sind gleichmächtig: Wäh-le b: M → N mit b(A) = I , b(B) = II , b(C) = III .

2. Die MengenM = A,B,C undN = I , II sind nicht gleichmächtig: Istb: M →N einesurjektive Abbildung, dann hatI oderII zwei Urbilder,b ist also nicht injektiv.

3. Endliche Mengen sind genau dann gleichmächtig, wenn sie die gleiche Anzahl vonElementen haben. ♦

Bemerkung 3.6.8.Die angepaßte Erweiterung von „gleichviele Elemente“ ist „gleichmäch-tig“. Es treten aber Widersprüche zu den aus dem Endlichen gewohnten auf: ♦

Beispiel 3.6.9.ObwohlN⊂ Z, sindN undZ gleichmächtig: Wähleb: N→ Z mit b(2k) =k, b(2k+1) =−k für k∈ N. ♦

Allgemein gilt:

Satz 3.6.10.Eine Menge M ist genau dann endlich, wenn sie zu keiner echten Teilmengegleichmächtig ist.

Beweis.Nicht trivial.

Definition 3.6.11. Eine MengeM heißtabzählbar unendlich, wennM ∼ N. Eine unendli-che Menge heißtüberabzählbar unendlich, wennM unendlich aberM 6∼ N. Eine MengeM heißthöchstens abzählbar unendlich, wenn sie endlich oder abzählbar unendlich ist.♦

Bemerkung 3.6.12.Ist M ∼ N, so ist wegen Satz3.6.4 auchM unendlich. Abzählbarunendliche Mengen sind also tatsächlich unendlich. Wir haben also eine Dreiteilung derKlasse aller Mengen in die endlichen Mengen, die abzählbar unendlichen Mengen und dieüberabzählbar unendlichen Mengen. ♦

67

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3 Grenzwerttheorie

3.6.3 Die Mächtigkeit von Q , R und 2M

Cantorsches Quadratseitenverfahren Wir ordnen die positiven rationalen Zahlen ent-sprechend folgendem Schema an (waagerecht – wachsender Zähler, senkrecht – wachsenderNenner).

· · ·

· · ·

· · ·

· · ·

· · ·

· · ·

· · ·

· · ·...

......

......

......

...

11

21

31

41

51

61

71

81

12

22

32

42

52

62

72

82

13

23

33

43

53

63

73

83

14

24

34

44

54

64

74

84

15

25

35

45

55

65

75

85

16

17

18

26

36

46

56

66

76

86

27

37

47

57

67

77

87

28

38

48

58

68

78

88

entlang der Pfeile und unter Auslassung der ungekürzten (wiederholten) Brüche erhaltenwir eine eineindeutige Abbildungf : N → Q>0 von N auf Q>0 mit f (1) = 1, f (2) = 2,f (3) = 1

2, f (4) = 3, f (5) = 32, f (6) = 2

3, f (7) = 13, . . . .

Damit erhalten wir:

Satz 3.6.13.Die Menge der positiven rationalen ZahlenQ>0 ist gleichmächtig zur Mengeder natürlichen ZahlenN.

Folgerung 3.6.14.Z, Q> undQ sind wie jede andere unendliche Teilmenge vonQ abzähl-bar.

Cantorsches Diagonalverfahren Angenommen, die reellen Zahlen in]0,1[ wären ab-zählbar, d.h., es gäbe eine Aufzählung(r i)i∈N der reellen Zahlen,r[N] = ]0,1[. Wir stellendie r i als Dezimalbruch ohne Neuner-Periode eindeutig dar,

r i =∞

∑k=0

r i,k10−k−1 , r i,k ∈ 0,1, . . . ,9 ,

Sei

ρ =∞

∑k=0

ρk10−k−1 mit ρk =

1, falls rk,k 6= 1,

2, falls rk,k = 1.

68

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3.6 Endliche und unendliche Mengen

Dann ist die reelle Zahlρ ∈ ]0,1[ von allen reellen Zahlenr i verschieden. Wir erhalten alsoden Widerspruch

]0,1[3 ρ 6∈ r[N] = ]0,1[ .

Satz 3.6.15.Das Intervall]0,1[ ist nicht gleichmächtig zuN, d.h.,]0,1[ ist überabzählbar.

Durch Konstruktion einer geeigneten Bijektion folgt, daß alle Intervalle]a,b[, a < b, undsogarR gleichmächtig zu]0,1[ sind.

Satz 3.6.16.Das Intervall]0,1[ und das Quadrat]0,1[× ]0,1[ sind gleichmächtig.

Beweis.Betrachte die Abbildungb: ]0,1[× ]0,1[→ ]0,1[, welche das Paar

(0.a1a2a3 . . . ,0.b1b2b3 . . .)

auf0.a1b1a2b2a3b3 . . .

abbildet.

Folgerung 3.6.17.R und alleRk, k∈N>0, (und somit auchC) sind gleichmächtig zu]0,1[und damit überabzählbar.

Diagonalverfahren für Potenzmengen

Satz 3.6.18.Ist M eine Menge, so sind M und2M nicht gleichmächtig. Insbesondere ist2N

überabzählbar.

Beweis.Angenommen,M und 2M wären gleichmächtig undφ : M → 2M wäre eine Bijek-tion. Sei

Ω = x∈M : x 6∈ φ(x) .

Dann istΩ ∈ 2M, es existiert also einω ∈M mit φ(ω) = Ω . Nach Definition vonΩ folgtausω ∈ φ(ω) bzw. ω 6∈ φ(ω) jeweils ein Widerspruch.

Folgerung 3.6.19.Die Menge F aller Folgen in0,1 ist überabzählbar.

Beweis.2N kann mit der Menge der 0-1-Folgen identifiziert werden.

3.6.4 Exkurs: Kardinalzahlen

Bisher haben wir bei unendlichen Mengen nur zwischen abzählbaren und überabzählbarenMengen unterschieden. Die Gleichmächtigkeit erlaubt aber noch weitere Differenzierun-gen.

69

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3 Grenzwerttheorie

Definition 3.6.20. SeiM eine Menge. Dann heißt Menge

card(M) = |M|= N : M ∼ N

aller zuM gelichmächtigen Mengen dieKardinalzahl vonM.

Die Kardinalzahl vonN bzw. R heißenℵ0 bzw. c. (ℵ, gesprochen Aleph, ist der ersteBuchstabe im hebräischen Alphabet.).

Kardinalzahlen unendlicher Mengen heißentransfinite Kardinalzahlen. ♦

Bemerkung 3.6.21.1. Die MengeN der Kardinalzahlen endlicher Mengen ist eine Mengenatürlicher Zahlen: Durchb: N→ N mit b(n) = card(N<n) ist eine Bijektion vonN auf Ngegeben, welche die Nachfolgerabbildung überträgt.

2. Die Objekten, 0,1, . . . ,n−1= N<n und card(0,1, . . . ,n−1) können somit mitein-ander identifiziert werden.

3. WegenZ∼ N und card(N) = ℵ0 gilt card(Z) = ℵ0.

4. Es gilt card(Rk) = card(R) = card(2N) = c für allek∈ N>0. ♦

Für Kardinalzahlena undb sei

a≤ b :⇔ ∃A∈ a,B∈ b, φ : A→ B : φ ist injektiv ;

a < b :⇔ a≤ b∧a 6= b.

Satz 3.6.22.Für Kardinalzahlen a, b gilt

Schröder-Bernstein: (a≤ b∧b≤ a)⇒ a = b;

a≤ b∨b≤ a.

Beweis.Nicht trivial.

Aufgrund von Satz3.6.18und3.6.22gilt

card(N) < card(2N) < card(22N) < · · · .

Es gibt also viele transfinite Kardinalzahlen.

3.7 Oberer und unterer Limes

Im folgenden wenden wir uns der Struktur nicht notwendig konvergenter Folgen zu.

Mit Satz3.2.11haben wir gezeigt, daß alle Teilfolgen einer konvergenten Folge gegen den-selben Grenzwert konvergieren. Andererseits haben wir auch gesehen, daß divergente Fol-gen konvergente Teilfolgen besitzen können.

70

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3.7 Oberer und unterer Limes

Beispiel 3.7.1.Betrachte die Folgen: ♦

1. (an)n∈N mit a2n = 0, a2n+1 = 1.

2. (an)n∈N als Durchnummerierung der rationalen Zahlen in]0,1[.

3. (an)n∈N = (n)n∈N.

4. (an)n∈N = (−n)n∈N.

5. (an)n∈N mit a2n = n unda2n+1 = 0.

6. (an)n∈N als Durchnummerierung der positiven rationalen Zahlen.

7. (an)n∈N als Durchnummerierung der rationalen Zahlen.

Definition 3.7.2. Die Grenzwerte von Teilfolgen einer Folge nennt manLimeswerteoderHäufungswertedieser Folge. Die Menge aller Limeswerte einer Folge heißtLimesmengeder Folge. ♦

Bezeichnung:H(a) ist Menge der Limespunkte der Folgea = (an)n∈N.

Sei(xn)n∈N eine reelle Folge.

Wir definieren die Zahlen

mk := infxi : i ≥ k undMk := supxi : i ≥ k .

Dann gelten

1. ∀k∈ N : −∞≤mk ≤ xk ≤Mk ≤ ∞;

2. ∀k, l ∈ N : mk ≤Ml ;

3. ∀k∈ N : mk ≤mk+1, Mk+1 ≤Mk.

Wennx

von oben beschränkt,von unten beschränkt,beschränkt,

dann sind alle

Mk

mk

mk undMk

endlich.

Seix von unten beschränkt. Dann sind allemk endlich und die Zahl

ξ = limk→∞

mk = supmk : k∈ N= limk→∞

infxi : i ≥ k=: liminfn→∞

xn

existiert inR∪+∞.Ist x nicht von unten beschränkt, dann giltmk =−∞ für allek∈ N und wir setzen

liminfn→∞

xn :=−∞ .

71

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3 Grenzwerttheorie

Seix von oben beschränkt. Dann sind alleMk endlich und die Zahl

η = limk→∞

Mk = infMk : k∈ N= limk→∞

supxi : i ≥ k=: limsupn→∞

xn

existiert inR∪−∞. Ist x nicht von oben beschränkt, dann giltMk = ∞ für allek∈ N undwir setzen

limsupn→∞

xn := ∞ .

Die so definierten Zahlen liminfn→∞ xn und limsupn→∞ xn heißenLimes inferior (untererGrenzwert) bzw.Limes superior(oberer Grenzwert) der Folge.

Offenbar gilt

ξ = liminfn→∞

xn ≤ limsupn→∞

xn = η und ξ ,η ∈ [−∞,∞] .

Satz 3.7.3.Sei(xn)n∈N eine reelle Folge undξ = liminfn→∞ xn, η = limsupn→∞ xn. Danngelten:

1. ξ undη sind (eventuell uneigentliche) Grenzwerte von Teilfolgen von(xn)n∈N.

2. Ist (xnk)k∈N eine beliebige (eigentlich oder uneigentlich) konvergente Teilfolge von(xn)n∈N mit Grenzwert a, dann giltξ ≤ a≤ η .

3. Die Folge(xn)n∈N ist (eigentlich oder uneigentlich) konvergent genau dann, wenn

liminfn→∞

xn = limsupn→∞

xn .

Betrachten wir nun Beispiel3.7.1.

Bei 1. sind 0 und 1 Limespunkte, liminfn→∞ an = 0, limsupn→∞ an = 1.

Bei 2. gilt H(a) = [0,1], liminfn→∞ an = 0, limsupn→∞ an = 1.

Bei 3. gilt H(a) = /0 aber liminfn→∞ an = limsupn→∞ an = ∞.

Bei 4. gilt H(a) = /0 und liminfn→∞ an = limsupn→∞ an =−∞.

Bei 5. gilt H(a) = 0 und liminfn→∞ an = 0, limsupn→∞ an = ∞.

Bei 6. gilt H(a) = R≥0 und liminfn→∞ an = 0, limsupn→∞ an = ∞.

Bei 7. gilt H(a) = R und liminfn→∞ an =−∞, limsupn→∞ an = ∞..

Bemerkung 3.7.4.Bezeichnen wir die Menge aller eigentlichen oder uneigentlichen Grenz-werte der Teilfolgen einer reellen Folgex mit Huneig(x), so gilt

1. Huneig(x) 6= /0,

2. H(x) = Huneig(x), wennx beschränkt ist,

3. liminfn→∞ xn = inf Huneig(x) und limsupn→∞ xn = supHuneig(x).

72

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4 Unendliche Reihen

4.1 Konvergenz von Zahlenreihen

4.1.1 Definition

Definition 4.1.1. Seiz= (zn)n∈N eine Folge inC. Seis= (sn)n∈N mit

sn :=n

∑i=0

zi

die n-te Partialsumme. Die Folge der Partialsummens heißtunendliche Reiheund wirdmit ∑∞

i=0zi bezeichnet. ♦

Bemerkung 4.1.2.1. Es gilt also

∑i=0

zi =

(n

∑i=0

zi

)n∈N

.

2. Die Bezeichnung ist in folgender Hinsicht gerechtfertig: Ists eine gegebene Folge inC,dann ist sie die Partialsummenfolge der eindeutig bestimmten Folgezmit z0 = s0 und weiterzn+1 = sn+1−sn.

3. Konvergenzbegriff und -kriterien übertragen sich somit von Folgen auf Reihen, ande-rerseits ergeben neue Konvergenzkriterien für Reihen auch weitere Konvergenzkriterien fürFolgen! ♦

Da eine unendliche Reihe auch nur eine Folge ist, haben wir:

Definition 4.1.3. Die Reihe∑∞i=0zi heißtkonvergent, wenn die Folges= (∑n

i=0zi)n∈N ihrerPartialsummen konvergiert. Der Grenzwerts heißtSumme der Reiheund wird ebenfallsmit ∑∞

i=0zi bezeichnet. Die Reihe∑∞i=0zi heißtdivergent, wenn die Folge(∑n

i=0zi)n∈N di-vergiert. ♦

Bemerkung 4.1.4.Die Reihes= ∑∞i=0zi = (∑n

i=0zi)n∈N und ihr Grenzwerts= ∑∞i=0zi wer-

den also mit dem gleichem Symbol bezeichnet. Je nach Kontext ist also zu unterscheiden,ob die Reihe, ihr Grenzwert oder beide gemeint sind. ♦

73

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4 Unendliche Reihen

4.1.2 Allgemeine Konvergenzkriterien

Satz 4.1.5 (Cauchy-Konvergenzkriterium für Reihen).Die Reihe∑∞i=0zi konvergiert ge-

nau dann, wenn

∀ε > 0∃N ∈ N∀m≥ n≥ N : |m

∑i=n

zi |< ε .

Beweis.Für die Partialsummensn gilt

|sn−sm|= |m

∑i=n+1

zi | .

Folgerung 4.1.6 (Notwendige Bedingung ).Ist ∑∞i=0zi konvergent, dann zn → 0.

Beweis.Wähle in Cauchy-Bedingungm= n.

Bemerkung 4.1.7.zn → 0 ist nicht hinreichend für die Konvergenz! Betrachte z.B.∑∞i=0zi

mit z0 = 0, zn = 1√n für n > 0, d.h.,∑∞

i=11√i. Dann giltzn → 0 aber

sn =1√1

+1√2

+ · · ·+ 1√n

> n· 1√n

=√

n→ ∞ .♦

Satz 4.1.8.

1. Seien∑∞i=0zi und ∑∞

i=0wi konvergente Reihen mit den Grenzwerten Z und W. Danngilt:

a) ∑∞i=0(zi +wi) ist eine konvergente Reihe mit dem Grenzwert Z+W.

b) Für jedes c∈ C konvergiert∑∞i=0(czi) gegen cZ.

2. Wenn man in einer Reihe eine beliebige endliche Anzahl von Gliedern wegläßt, ersetztoder beifügt, dann bleibt ihre Konvergenz (oder Divergenz) erhalten.

Beweis.ÜA

4.2 Spezielle Reihen

4.2.1 Geometrische Reihen

Definition 4.2.1. Die Reihe∑∞n=0an heißtpositiv, wennan ∈ R≥0 für n∈ N. ♦

74

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4.2 Spezielle Reihen

Die Folge der Partialsummen einer positiven Reihe ist monoton wachsend. Damit erhältman aus Satz3.3.14sofort:

Satz 4.2.2.Eine positive Reihe konvergiert genau dann, wenn die Folge der Partialsummenbeschränkt ist.

Definition 4.2.3. Seiq∈ C. Dann heißt∑∞n=0qn geometrische Reihe. ♦

Lemma 4.2.4. Die geometrische Reihe∑∞n=0qn konvergiert genau dann, wenn|q|< 1.

Beweis.a) Sei|q|< 1. Dann gilt fürsn = ∑ni=0qi

(1−q)sn = (1−q)(1+q+q2 + · · ·+qn)

= 1+q+q2 + · · ·+qn−q−q2−·· ·−qn+1

= 1−qn+1 ,

d.h.,

sn =1−qn+1

1−q=

11−q

− qn+1

1−q→ 1

1−qfür n→ ∞ .

b) Sei |q| ≥ 1. Dann ist|qi | = |q|i ≥ 1, d.h.,(qi)∞i=1 ist keine Nullfolge. Nach Folgerung

4.1.6kann die Reihe also nicht konvergieren.

4.2.2 Harmonische Reihen

Definition 4.2.5. Seiα > 0. Dann heißt∑∞n=1

1nα harmonische Reihe. ♦

Offenbar ist die notwendige Bedingung wegen1nα → 0 stets erfüllt.

Lemma 4.2.6. Die harmonische Reihe∑∞n=1

1nα konvergiert genau dann, wennα > 1.

Beweis.Seiα > 1. Nach Satz4.2.2genügt es zu zeigen, daßsn = ∑ni=1

1iα beschränkt ist.

Sein∈ N und seim∈ N mit n≤ 2m. Es gilt

sn ≤ s2m =(

1+1

)+(

13α

+1

)︸ ︷︷ ︸<2· 1

2α = 12α−1

+(

15α

+1

6α+

17α

+1

)︸ ︷︷ ︸

<4· 14α = 1

(22)α−1

+ · · ·

+(

1(2m−1 +1)α

+ · · ·+ 1(2m)α

)︸ ︷︷ ︸

<2m−1 1(2m−1)α

= 1(2m−1)α−1

.

Damit

sn ≤(

1+1

)+

12α−1 + · · ·+ 1

(2m−1)α−1 =1

2α+

m−1

∑i=0

(21−α)i .

75

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4 Unendliche Reihen

Da 21−α < 1, stehen auf der rechten Seite die Partialsummen einer konvergenten geometri-schen Reihe. Damit ist(sn) beschränkt und nach Satz4.2.2ist die Reihe konvergent.

Seiα = 1. Wir betrachten

s2m =(

1+12

)+(

13

+14

)︸ ︷︷ ︸

>2· 14= 12

+(

15

+16

+17

+18

)︸ ︷︷ ︸

>4· 18= 12

+ · · ·+(

12m−1 +1

+ · · ·+ 12m

)︸ ︷︷ ︸

>2m−1 12m= 1

2

>m12→ ∞ für m→ ∞ .

Damit ist die Folge der Partialsummen (bestimmt) divergent.

Seiα < 1. Dann gilt 1nα > 1

n für n∈ N>1. Damit giltn

∑i=1

1iα

>n

∑i=1

1i→ ∞ für n→ ∞ .

4.3 Weitere Konvergenzsätze

4.3.1 Vergleichskriterien

Satz 4.3.1 (Majoranten- oder Vergleichskriterium ). 1. Sei a: N → C eine Folge inC. Dann gilt:

a) Die Konvergenz der Reihe∑∞n=0 |an| impliziert die Konvergenz von∑∞

n=0an.

b) Die Divergenz der Reihe∑∞n=0an impliziert die Divergenz von∑∞

n=0 |an|.

2. Seien a,b: N→ R Folgen inR und sei c> 0 mit 0≤ an ≤ cbn für n≥ N. Dann gilt:

a) Die Konvergenz von∑∞n=0bn impliziert die Konvergenz von∑∞

n=0an.

b) Die Divergenz von∑∞n=0an impliziert die Divergenz von∑∞

n=0bn.

Beweis.1.a) Seiε > 0. Aus der Konvergenz von∑∞n=0 |an| folgt die Existenz einesN ∈ N,

so daß|am|+ |am+1|+ · · ·+ |an| ≤ ε

für allen > m≥ N. Wegen

|am+am+1 + · · ·+an| ≤ |am|+ |am+1|+ · · ·+ |an| ≤ ε

für allen > m≥ N, folgt die Konvergenz von∑∞n=0an aus Satz4.1.5.

1.b) Folgt direkt aus 1.a).

2.a) Seiensn = ∑ni=0ai und tn = ∑n

i=0cbi . Dann gilt 0≤ sn ≤ tn (eventuell nach Änderungendlich vieler Summanden). Wenn(tn) konvergiert, dann ist(sn) beschränkt und konvergiertnach Satz4.2.2.

2.b) Folgt direkt aus 2.a).

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4.3 Weitere Konvergenzsätze

4.3.2 Exkurs: Weitere Vergleichskriterien

Satz 4.3.2.Seien a,b: N→ R≥0 Folgen inR≥0 und es existiere der (uneigentliche) Grenz-wert lim an

bn= L.

1. Falls 0 < L < ∞, dann konvergiert∑∞n=0an genau dann, wenn∑∞

n=0bn konvergiert.

2. Falls L = 0, dann impliziert die Konvergenz von∑∞n=0bn diejenige von∑∞

n=0an.

3. Falls L = ∞, dann impliziert die Konvergenz von∑∞n=0an diejenige von∑∞

n=0bn.

Beweis.1. Aus 0< L < ∞ folgt die Existenz einesN ∈ N mit 12L < an

bn< 2L für n≥ N.

Somit gelten 0< an < 2Lbn und 0< 12Lbn < an für n≥ N. Durch Anwendung von Satz

4.3.1folgt die Behauptung.

2. SeiL = 0. Dann existiert einN ∈ N mit 0 < an ≤ bn für n≥ N. Die Behauptung folgtnun aus Satz4.3.1.

3. SeiL = ∞. Dann existiert einN ∈ N mit 0 < bn ≤ an für n≥ N. Die Behauptung folgtwieder aus Satz4.3.1.

Beispiel 4.3.3.1. Wir betrachten∑∞n=1

n−3n2+2. Da

limn→∞

n−3n2+2

1n

= limn→∞

n2−3nn2 +2

= 1 = L

folgt die Divergenz der Reihe aus der Divergenz der harmonischen Reihe∑∞n=1

1n (Lemma

4.2.6).

2. Wir betrachten∑∞n=1

7n+1n3+2n

. Da

limn→∞

7n+1n3 +2n

1n2

= limn→∞

7n3 +n2

n3 +2n= 7 = L

folgt die Konvergenz der Reihe aus der Konvergenz der harmonischen Reihe∑∞n=1

1n2 (Lem-

ma4.2.6). ♦

Satz 4.3.4.Seien(an) und(bn) Folgen inR≥0 mit an+1an

≤ bn+1bn

für alle n≥ N. Dann impli-ziert die Konvergenz von∑∞

n=0bn diejenige von∑∞n=0an.

Beweis.O.b.d.A. seiN = 0. Es gilt

a1

a0· a2

a1· · · · · an

an−1≤ b1

b0· b2

b1· · · · · bn

bn−1

und damitan ≤ a0b0

bn. Mit Satz4.3.1folgt die Behauptung.

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4 Unendliche Reihen

4.3.3 Alternierende Reihen

Definition 4.3.5. Seic: N→ R≥0 eine Folge inR≥0. Dann heißen

∑n=0

(−1)ncn und∞

∑n=0

(−1)n+1cn

alternierende Reihen. ♦

Seicn 0. Für die Partialsummensn = ∑ni=0(−1)ici einer alternierenden Reihe∑∞

i=0(−1)ici

gilt

b2n+1 := b2n+2 :=2n+1

∑i=0

(−1)ici = s2n+1 ≤ s2n+2 ≤ s2n =2n

∑i=0

(−1)ici =: a2n =: a2n+1 ≤ c0,

mit0≤ c0−c1 ≤ b2n ≤ b2n+1 = b2n+2 ≤ s2n+2 ≤ a2n+2 ≤ a2n+1 = a2n ≤ c0 .

Ist c eine Nullfolge, dann giltbn−an→ 0 und nach Satz3.3.16und3.3.5konvergierena, sundb gegen den gleichen Grenzwert. Ists die Summe der Reihe, dann gilt

s2n+1 = s2n−c2n+1 ≤ s≤ s2n .

Da∞

∑n=0

(−1)n+1cn =−∞

∑n=0

(−1)ncn ,

können wir diese Ergebnisse auch auf∑∞n=0(−1)n+1cn übertragen.

Es gilt somit

Satz 4.3.6 (Leibnitz-Kriterium für alternierende Reihen). Wenn c: N → R≥0 eine mo-noton fallende Nullfolge inR≥0 ist, dann konvergieren∑∞

n=0(−1)ncn und ∑∞n=0(−1)n+1cn

und für ihre Summe s gilt

2n+1

∑i=0

(−1)ici = s2n+1 ≤ s≤ s2n =2n

∑i=0

(−1)ici

beziehungsweise

2n

∑i=0

(−1)i+1ci = s2n ≤ s≤ s2n+1 =2n+1

∑i=0

(−1)i+1ci .

Damit ist die Summe einer alterniernden Reihe durch dien-the Partialsumme bis auf einenFehler von höchstenscn bestimmt.

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4.4 Absolute und unbedingte Konvergenz

Beispiel 4.3.7.Wir betrachtenc0 = 0 undcn = 1n für n∈ N>0 und damit die Reihe

∑n=1

(−1)n+11n

.

Dacn 0 konvergiert die Reihe nach dem Leibnitzkriterien. Weiter haben wir die Abschät-zungen

1− 12

=12≤ 1− 1

2+

13− 1

4=

712≤

∑n=1

(−1)n+11n≤ 1− 1

2+

13

=56≤ 1.

Später werden wir zeigen∞

∑n=1

(−1)n+11n

= ln2.♦

4.3.4 Reihen mit beliebigen Gliedern

Satz 4.3.8.Seien a,b: N→ R Folgen inR. Wenn

1. a konvergiert monoton gegen0;

2. Die Mengeβn : n∈ N der Partialsummenβn = ∑ni=0bi ist beschränkt;

dann konvergiert∑∞i=0aibi .

Das Leibnitzkriterium ist Spezialfall mitbi = (−1)i . Mit Hilfe des Satzes erhält manbeispielsweise die Konvergenz von∑∞

n=0ancos(nx) und ∑∞n=0ansin(nx) mit an 0 für

x 6= π

2 +kπ bzw.x 6= kπ, k∈ Z.

4.4 Absolute und unbedingte Konvergenz

4.4.1 Definition

Definition 4.4.1. Seia: N→ C eine Folge inC. Die Reihe∑∞n=0an heißtabsolut konver-

gent, wenn∑∞n=0 |an| konvergiert. ♦

Nach Satz4.3.1gilt:

Absolute Konvergenz=⇒ Konvergenz.

Aber es istAbsolute Konvergenz6⇐= Konvergenz,

wie z.B. die Reihe∑∞n=1

(−1)n

n zeigt.

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4 Unendliche Reihen

Lemma 4.4.2. Eine positive Reihe ist genau dann absolut konvergent, wenn sie konvergentist.

Definition 4.4.3. Seia: N→ C eine Folge inC. Die Reihe∑∞n=0an heißtbedingt konver-

gent, wenn sie konvergent aber nicht absolut konvergent ist. ♦

Die Reihe∑∞n=1

(−1)n

n ist also bedingt konvergent.

4.4.2 Quotienten- und Wurzelkriterium

Auf dem Vergleich mit der geometrischen Reihe basieren die beiden folgenden Kriterien.Als Spezialfall enthalten sie Konvergenzaussagen für positive Reihen.

Satz 4.4.4 (Cauchysches Wurzelkriterium).Sei a: N→ C eine Folge inC und es sei

R= limsupn→∞

n√|an| .

Dann gilt:

1. Falls R< 1, dann konvergiert∑∞n=1an absolut.

2. Falls R> 1, dann divergiert∑∞n=1an.

3. Bei R= 1 sind Divergenz und Konvergenz möglich.

Beweis.1. SeiR< 1. Wähleq mit R< q < 1. Dann existiert einN ∈ N mit n√|an|< q und

damit |an| < qn für n≥ N. Die Konvergenz folgt mit dem Majorantenkriterium Satz4.3.1und der Konvergenz der geometrischen Reihe (Lemma4.2.4).

2. SeiR> 1. Dann existiert eine Teilfolge(ank)k∈N und einK ∈N mit n√|an|> 1 und damit

|ank| > 1 für k≥ K. Damit kanna keine Nullfolge sein und mit Folgerung4.1.6folgt dieDivergenz.

3. Für( 1n2)n≥1 und(1

n)n≥1 ergibt sichR= 1, ∑∞n=1

1n2 konvergiert und∑∞

n=11n divergiert.

Beispiel 4.4.5.Betrachte∑∞n=1

(1− 1

n

)(n2). Dann

n

√(1− 1

n

)(n2)

=(

1− 1n

)n

=1(

1+ 1n−1

)n → 1e

< 1.

Damit konvergiert die Reihe. ♦

Leichter zu handhaben als das Wurzelkriterium aber nicht so weitreichend ist

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4.4 Absolute und unbedingte Konvergenz

Satz 4.4.6 (D’Alambertsches Quotientenkriterium).Sei a: N→C eine Folge inC. Danngilt:

1. Falls Q= limsupn→∞ |an+1an|< 1, dann konvergiert∑∞

n=0an absolut.

2. Falls |an+1an| ≥ 1 für n≥ N, dann divergiert∑∞

n=0an.

Bemerkung 4.4.7. Insbesondere istQ = limsupn→∞ |an+1an| > 1 hinreichend für die Diver-

genz. ♦

Beweis.1. SeiQ < 1. Wähleq mit Q < q < 1. Dann existiert einN ∈ N mit |an+1an|< q und

damit |an| < |aN|q−Nqn für n≥ N. Die Konvergenz folgt mit dem Majorantenssatz4.3.1und der Konvergenz der geometrischen Reihe (Lemma4.2.4).

2. Wegen|an+1an| ≥ 1 für n≥N, gilt |an| ≥ |aN|> 0 für n≥N. Damit kanna keine Nullfolge

sein und mit Folgerung4.1.6folgt die Divergenz.

Beispiel 4.4.8.Betrachte∑∞n=0

zn

n! für fixiertesz∈ C. Wegen

|z|n+1

(n+1)!|z|n

n!

=|z|

n+1→Q = 0 < 1

konvergiert∑∞n=0

zn

n! absolut. ♦

4.4.3 Umordnung einer unendlichen Reihe

Definition 4.4.9. Seiφ : N→N eine bijektive Abbildung. Dann heißt∑∞n=0aφ(n) eineUm-

ordnungder Reihe∑∞n=0an. ♦

Definition 4.4.10. Die Reihe∑∞n=0an heißtunbedingt konvergent, wenn jede Umordnung

zur gleichen Summe konvergiert. ♦

Satz 4.4.11.Eine konvergente Reihe ist genau dann unbedingt konvergent, wenn sie absolutkonvergent ist.

Satz 4.4.12 (Riemannscher Umordnungssatz).Ist ∑∞n=0an eine bedingt konvergente Rei-

he inR, dann gibt es für jedes s∈ R eine Umordnungφ mit s= ∑∞n=0aφ(n).

Beweis.Seien

a+k :=

ak + |ak|2

=

ak , falls ak > 0,0, falls ak ≤ 0

und a−k :=ak−|ak|

2=

0, falls ak ≥ 0,ak , falls ak < 0.

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4 Unendliche Reihen

Dann gilt ak = a+k + a−k . Wegen der Konvergenz der Reihe∑∞

k=0ak müssen∑∞k=0a+

k und∑∞

k=0a−k entweder beide konvergieren oder beide divergieren. Konvergieren sie beide, dannist ∑∞

k=0ak im Gegensatz zur Voraussetzung absolut konvergent. Also divergieren sie beide.

Zur Folge(ak) bilden wir die Teilfolgen(pk), (nk) der positiven bzw. negativen Glieder.

Seis∈ R beliebig. Seik0 die kleinste natürliche Zahl mit

k0

∑i=0

pi > s.

Dann wählen wirk1 als kleinste natürliche Zahl mit

k0

∑i=0

pi +k1

∑i=0

ni < s.

Danach bestimmen wirk2 als kleinste natürliche Zahl mit

k0

∑i=0

pi +k1

∑i=0

ni +k2

∑i=k0+1

pi > s.

Durch Fortsetzung dieses Verfahrens erhalten wir eine Umordung der Reihe. Nach Kon-struktion der Umordnung unterscheiden sich die zugehörigen Partialsummen voni = k2m

bis k2m+ k2m+1 mit m∈ N höchstens umpk2m und voni = k2m+1 bis k2m+1 + k2m+2 höch-stens umnk2m+1 vons. Da(pi) und(ni) Nullfolgen sind, folgt die Konvergenz gegens.

4.4.4 Produktreihen

Definition 4.4.13. Sei φ : N → N×N eine Bijektion. Dann heißt∑∞n=0aφ1(n)bφ2(n) eine

Produktreihevon ∑∞n=0an und∑∞

n=0bn. ♦

In einer Produkreihe werden also alle Produkteakbi in einer (durchφ ) vorgegebenen Rei-hefolge „aufsummiert“.

Satz 4.4.14 (Multiplikationssatz). Die Reihen∑∞n=0an und∑∞

n=0bn seien absolut konver-gent. Dann konvergiert jede ihrer Produktreihen gegen die gleiche Summe.

Bemerkung 4.4.15.1. Unter den Voraussetzungen des Satzes wird der Grenzwert einerProduktreihe mit (

∑n=0

an

(∞

∑n=0

bn

)oder

∑m,n=0

ambn

bezeichnet.

2. Unter den Produktreihen spielt dieCauchysche Produktreiheeine besondere Rolle:(∞

∑n=0

an

(∞

∑n=0

bn

)=

∑n=0

(n

∑k=0

akbn−k

).

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5 Grenzwerte und Stetigkeit beiAbbildungen

5.1 Grenzwerte

5.1.1 Der Grenzwert einer Abbildung in einem Punkt

Seien(X,ρ), (Y,d) metrische Räume,F : D⊆ X →Y eine Abbildung unda ein Häufungs-punkt vonD.

Definition 5.1.1. Ein Punkty0 ∈Y heißtGrenzwert der AbbildungF im Punkta, wenn fürjede UmgebungV des Punktesy0 (in Y) eine UmgebungU vona (in X) existiert, so daß dasBild von (U ∩D)\a unterF in V liegt:

∀Umg.V vony0 ∃Umg. U vona∀x∈ (U ∩D)\a : F(x) ∈V . (5.1.1)♦

Bezeichnung:y0 = limaF odery0 = limx→aF(x).

Da man Umgebungen durch Kugeln ersetzen kann, kann man den Sachverhalt auch wiefolgt beschreiben:

∀ε > 0∃δ > 0∀x∈ D\a mit ρ(x,a) < δ : d(F(x),y0) < ε .

Spezialfall: Sei (X,ρ) = (Y,d) = (R1,d) mit euklidischer Metrik,D ⊆ R1, a HP vonD,f : D→ R1. Dann

y0 = lima

f ⇔ ∀ε > 0∃δ > 0∀x∈ D\a mit |x−a|< δ : | f (x)−y0|< ε .

Satz 5.1.2 (Charakterisierung des Grenzwertes durch Folgen).Seien(X,ρ), (Y,d) me-trische Räume. Die Abbildung F: D⊆ X →Y besitzt im HP a von D den Grenzwert y0 ge-nau dann, wenn für jede beliebige Folge(xn)n∈N in D\amit xn→ a die Folge(F(xn))n∈Ngegen y0 konvergiert.

Beweis.⇒ Seiy0 Grenzwert vonF an der Stellea. Wir betrachten nun eine beliebige Folge(xn)n∈N in D \ a mit xn → a und habenF(xn)→ y0 zu zeigen. Dazu seiε > 0 beliebig.Dann existiert einδ > 0 mit d(F(x),y0) < ε für alle x ∈ D \ a mit ρ(x,a) < δ . Weiterexistiert einN ∈ N mit ρ(xn,a) < δ für n≥ N. Damitd(F(xn),y0) < ε für n≥ N.

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5 Grenzwerte und Stetigkeit bei Abbildungen

⇐ Sei nunF(xn)→ y0 für jede Folge(xn)n∈N in D\a mit xn → a. Angenommen,y0 istnicht Grenzwert vonF beia. Dann

∃ε > 0∀δ > 0∃x∈ D\a mit ρ(x,a) < δ : d(F(x),y0)≥ ε .

Seiε > 0 mit dieser Eigenschaft. Für allen∈ N>0 finden wir also Punktexn ∈ D\a mitρ(xn,a) < δ = 1

n undd(F(xn),y0)≥ ε. Die Folge(xn)n∈N konvergiert dann gegena, F(xn)konvergiert aber, im Widerspruch zur Voraussetzung, nicht gegeny0.

Folgerung 5.1.3.Der Grenzwert einer Abbildung in einem Punkt ist eindeutig.

Beweis.Seieny0 und y1 Grenzwert vonF bei a. Dann gilt nach Satz5.1.2F(xn) → y0

und F(xn) → y1 für jede Folge(xn)n∈N in D \ a mit xn → a. Aus der Eindeutigkeit desGrenzwertes von Folgen folgty0 = y1.

Beispiel 5.1.4.1. f (x) = sgn(x) =

−1, x < 00, x = 01, x > 0

aufD = R1. Dann existiert kein Grenz-

wert von f bei 0, obwohlf (0) = 0 existiert.

2. f (x) = x2−1x+1 auf D = R \ −1. a = −1 ist HP vonD und−2 ist Grenzwert vonf bei

−1. Beachte:f 6= g mit g(x) = x−1 aufD(g) = R 6= D( f ).

3. f (x) = (x1)2+(x2)2

2(x1+x2) auf D = R2 \ x: x1 + x2 = 0. Als HP vonD wählen wira = 0. Sei

xn = (1n, 1

nα) mit α 6= −1. Dannxn → a und f (xn) = 1+α2

2n(1+α) = 0. Seixn = (1n, 1

n(α

n −1))

mit α 6= 0. Dannxn → a und f (xn) = 1+( α

n−1)2

2α→ 1

α6= 0. Damit kannf nach Satz5.1.2

keinen Grenzwert bei 0 besitzen. ♦

5.1.2 Eigenschaften des Grenzwertes reellwertiger Funktionen

Die Eigenschaften des Grenzwertes einer Funktionf : D ⊂ X → R ergeben sich nach Satz5.1.2aus den entsprechenden Eigenschaften von Grenzwerten von Folgen:

1. Seiy0 = lima f und p > y0. Dann existiert eine UmgebungU von a so, daßf (x) < pfür allex∈ (U ∩D)\a.

2. Wenn lima f > 0, dann existiert eine UmgebungU von a mit f (x) > 0 für alle x ∈(U ∩D)\a.

3. Seienf undg zwei reellwertige Funktionen mitD( f )∩D(g) =: M 6= /0. Seia HP derMengeM und es existiere lima f und limag. Gibt es eine UmgebungU von a mitf (x)≤ g(x) für x∈ (U ∩M)\a, dann gilt lima f ≤ limag.

4. Gibt es eine UmgebungU von a mit f (x) ≥ 0 für alle x ∈ (U ∩D( f )) \ a undexistiert lima f , dann lima f ≥ 0.

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5.1 Grenzwerte

5. Seien f , g, h reellwertige Funktionen mitD( f )∩D(g)∩D(h) =: M 6= /0. Seia HPder MengeM. Gibt es eine UmgebungU von a mit f (x) ≤ g(x) ≤ h(x) für x ∈(U ∩M) \ a, dann folgt aus lima f = limah die Existenz von limag und lima f =limag = limah.

6. Besitzt eine Funktionf in einem HPa vonD( f ) einen Grenzwert, dann existiert eineUmgebungU vona, so daßf aufU ∩D( f ) beschränkt ist.

7. Seienf undg zwei reellwertige Funktionen mitD( f )∩D(g) =: M 6= /0. Seia HP derMengeM und es existiereF = lima f undG = limag. Dann

a) lima( f ±g) = F±G,

b) lima( f g) = FG,

c) lima( f/g) = F/G, falls G 6= 0.

8. SeienX, Y, Z metrische Räume undSundT Abbildungen mit

XS−→Y

T−→ Z .

Seia HP vonX. Wenn limaS= b HP vonY ist und limbT = c∈ Z, dann limaT S=lim limaST = c.

5.1.3 Einseitige Grenzwerte

Wir betrachten Abbildungen einer reellen Variablen mit Werten im metrischen Raum(Y,d).

Definition 5.1.5. A∈Y heißtlinksseitiger(rechtsseitiger) Grenzwertvon f : D( f )⊆R→Y an der Stellea, wennA= limag mit g := f

∣∣E, E :=]−∞,a[∩D( f ) bzw.E :=]a,∞[∩D( f ),

d.h.,D(g) = E undg(x) = f (x) für x∈ E. ♦

Bezeichnung:Man schreibt dannA = lima−0 f , A = limx→a−0 f (x) oderA = limxa f (x)für linksseitige bzw.A= lima+0 f , A= limx→a+0 f (x) oderA= limxa f (x) für rechtseitigeGrenzwerte.

A ist also linksseitiger Grenzwert vonf an einem HPa vonD∩ ]−∞,a[, wenn

∀ε > 0∃δ > 0∀x∈ D mit a−δ < x < a : d( f (x),A) < ε .

Beispiel 5.1.6. f (x) = sgnx aufD = R. Dann lim−0 f =−1 und lim+0 f = 1. ♦

Satz 5.1.7.Die Abbildung f: D( f )⊆R→Y besitzt im HP a von D∩ ]−∞,a[ und D∩ ]a,∞[den Grenzwert A= lima f genau dann, wennlima−0 f und lima+0 f existieren und A=lima−0 f = lima+0 f .

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5 Grenzwerte und Stetigkeit bei Abbildungen

5.1.4 Uneigentliche Grenzwerte und Grenzwerte im Unendlichen

Sei f (x) = 1|x| aufD = R\0. Dann ista = 0 HP vonD. Für diese Funktion gilt:

∀K > 0∃δ > 0∀x∈ D mit |x−a|< δ : f (x)≥ K .

Definition 5.1.8. Sei f : D⊆R→ R eine Funktion,a HP vonD. Man sagt, die Funktionfhat beia den(uneigentlichen) Grenzwert+∞, wenn

∀K > 0∃δ > 0∀x∈ D\a mit |x−a|< δ : f (x)≥ K .

Analog definiert man den Grenzwert−∞. ♦

Bezeichnung:Man schreibt lima f = +∞ oder limx→a f (x) = +∞ bzw. lima f = −∞ oderlimx→a f (x) =−∞.

Sei nunf (x) = 5x−3x aufD = R\0. Uns interessiert das Verhalten vonf bei immer größer

werdendenx. Für diese Funktion gilt:

∀ε > 0∃δ > 0∀x∈ D mit x > δ : | f (x)−5|< ε

und∀ε > 0∃δ > 0∀x∈ D mit x <−δ : | f (x)−5|< ε .

Definition 5.1.9. Sei f : D⊆R→R eine Funktion,E := 1/x: x∈D∩ ]0,∞[ undg: E→R mit g(t) = f (1/t) für t ∈ E. Wenn 0 HP vonE und wenn der (eigentliche oder uneigent-liche) Grenzwert lim0g existiert, dann nennt man lim0g den(eigentlichen oder uneigentli-chen) Grenzwertvon f in +∞:

lim+∞

f := lim0

g.

Analog wird lim−∞ f definiert. ♦

5.1.5 Die erweiterten reellen Zahlen

Wir kommen nun zur Begründung der Erweiterung der Rechenoperationen von den reellenZahlen auf die MengeR = R∪−∞∪+∞. Eine Erweiterung sollte so geschehen, daßdie entsprechenden Resultate auch für Grenzwerte von Funktionen gelten:

SeienF,G∈ R und op∈ +,−, ·,/. Dann sollteF opG so definiert werden, daß

lima

( f opg) = F opG

für beliebige Funktionenf : D( f )⊆ R→ R, g: D(g)⊆ R→ R mit lima f = F , limag = Gunda HP vonD( f )∩D(g) gilt.

Nach Abschnitt5.1.2brauchen wir nur noch Kombinationen vonF undG betrachten, beidenen wenigstens einmal+∞ oder−∞ auftritt, da auch hier die Division durch 0 nichtdefiniert werden kann.

So überlegt man sich:

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5.2 Stetigkeit

1. (+∞)+(+∞) = (+∞)− (−∞) = (+∞)+x = x+(+∞) = +∞ für x∈ R.

2. (−∞)+(−∞) = (−∞)− (+∞) = (−∞)+x = x+(−∞) =−∞ für x∈ R.

3. (+∞) · (+∞) = (−∞) · (−∞) = (+∞) · x = x · (+∞) = (−∞) · y = y · (−∞) = +∞ fürx∈ R>0 undy∈ R<0.

4. (+∞) · (−∞) = (−∞) · (+∞) = (−∞) · x = x · (−∞) = (+∞) · y = y · (+∞) = −∞ fürx∈ R>0 undy∈ R<0.

5. x±∞ = 0 für x∈ R.

Offen bleiben(+∞)− (+∞), (−∞)− (−∞),±∞±∞ , ±∞

∓∞ , 0· (+∞), 0· (−∞) und Grenzwerte derForm 0

0, +∞0 , −∞

0 . Hier müssen entsprechende Grenzwertuntersuchungen für die konkretenFunktionen durchgeführt werden.

5.2 Stetigkeit

5.2.1 Stetigkeit in einem Punkt

Seien(X,ρ) und(Y,d) metrische Räume undF : D⊆ X →Y.

Definition 5.2.1. Die AbbildungF heißtstetig im Punkta, wenna∈ D und für jede Um-gebungV vonF(a) (in Y) eine UmgebungU vona (in X) existiert mitF [D∩U ]⊆V:

∀Umg.V vonF(a) ∃Umg. U vona∀x∈U ∩D : F(x) ∈V . (5.2.1)♦

Wir können (5.2.1) wieder durch

∀ε > 0∃δ > 0∀x∈ D mit ρ(x,a) < δ : d(F(x),F(a)) < ε

ersetzten.

SindX undY normierte Räume mit Normen‖ ·‖X und‖ ·‖Y, dann können wir (5.2.1) durch

∀ε > 0∃δ > 0∀x∈ D mit ‖x−a‖X < δ : ‖F(x)−F(a)‖Y < ε

ersetzten.

Die Definition beschreibt eine lokale Eigenschaft (d.h. eine auf einen Punkt des Definitions-bereichs bezogene Eigenschaft) einer Abbildung.

Beispiel 5.2.2.1. f (x) = sgn(x) auf D = R. In a = 0 ist f nicht stetig: Seiε < 12 und

V = B(0,ε). Dann existiert keine UmgebungU von 0 mit f [U ]⊆V, da in jeder UmgebungU von 0 Punktea 6= 0 liegen mit| f (a)|= 1, d.h., f (a) 6∈V.

2. f (x) = x aufD = R ist stetig in jedema∈D: Seia∈R1 undε > 0. Offenbar kannδ = ε

gewählt werden. ♦

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5 Grenzwerte und Stetigkeit bei Abbildungen

Der Vergleich mit (5.1.1) in der Grenzwertdefinition (Def.5.1.1) zeigt:

• Für die Stetigkeit ina mußa zum Definitionsbereich gehören, braucht aber kein Häu-fungspunkt des Definitionsbereich zu sein.

Damit gilt:

Satz 5.2.3.Ist a∈ D ein HP von D, dann gilt:

F in a stetig ⇐⇒ (i) F besitzt in a einen GW(ii) limaF = F(a) .

Bemerkung 5.2.4.Sei a ∈ D ein isolierter Punkt vonD. Dann ist (5.2.1) offensichtlicherfüllt: Man wähleU so, daßU ∩D = a. Damit istF in jedem isoliertem Punkt stetig.♦

Aus der Definition kann man sofort die Stetigkeit folgender Abbildungen in einem Punktablesen:

SeiF : D⊆ X →Y undF0 : D0 ⊆ X →Y mit D0 ⊆ D undF0(x) = F(x) auf D0 (d.h.,F0 istdie Einschränkung vonF aufD0: F0 := F

∣∣D0

). Seia∈ D0. Dann gilt

F stetig ina =⇒ F0 stetig ina.

Satz 5.2.5.Seien(X,ρ), (Y,d), (Z,µ) metrische Räume und S: D(S)⊆X→Y, T: D(T)⊆Y → Z mit S[X] ⊆ D(T). Ist S in a∈ X stetig und ist T in S(a) ∈ Y stetig, dann ist dieSuperposition TS in a stetig.

Beweis.Seib = S(a), c = T(b). Für jede UmgebungW von c existiert UmgebungV von bmit T[D(T)∩V] ⊆W. Zur UmgebungV von b existiert UmgebungU von a mit S[D(S)∩U ]⊆V. Mit D(T S) = D(S) gilt T S[D(T S)∩U ]⊆W.

Analog zu Satz5.1.2ist

Satz 5.2.6 (Charakterisierung der Stetigkeit durch Folgen).Seien(X,ρ), (Y,d) metri-sche Räume. Dann ist Abbildung F: D ⊆ X → Y in a∈ D genau dann stetig, wenn fürjede beliebige Folge(xn) in D mit xn → a die Folge(F(xn)) gegen F(a) konvergiert.

Beweis.Der Beweis ist analog zum Beweis von Satz5.1.2mit folgenden Änderungen: Er-setzey0 durchF(a) und streiche\a.

Satz 5.2.7 (Lokale Beschränktheit).Sei F: D ⊆ X → Y in a∈ D stetig. Dann ist F ineiner Umgebung von a beschränkt.

Beweis.Seiε = 1. Wegen der Stetigkeit inaexistiert einδ mit F [D∩BX(a,δ )]⊆BY(a,1).

Satz 5.2.8 (Lokaler Vorzeichenerhalt).Sei F: D⊆X→R in a∈D stetig und gelte F(a)>0 bzw. F(a) < 0. Dann gibt es eine Umgebung U von a, so daß F(x) > 0 bzw. F(x) < 0 fürx∈ D∩U.

Beweis.Seiε = |F(a)|/2. Wegen der Stetigkeit ina existiert eine UmgebungU von a mit|F(x)−F(a)| < ε für x ∈ D∩U . Damit F(x) > F(a)/2 > 0 bei F(a) > 0 und F(x) <F(a)/2 < 0 beiF(a) < 0 für allex∈ D∩U .

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5.2 Stetigkeit

5.2.2 Operationen bei stetigen Funktionen

Satz 5.2.9.Sei(X,ρ) ein metrischer Raum, fi : Di ⊆X→R für i = 1,2. Sei D:= D1∩D2 6=/0 und seien f1 und f2 stetig in a∈ D. Dann sind auch die Funktionen

α1 f1 +α2 f2 , f1 f2 , | f1| , f +1 := f1∨0, f−1 := (− f1)∨0, f1∨ f2 , f1∧ f2

mit α1,α2 ∈ R in a stetig. Im Falle f2(a) 6= 0 ist auch f1f2

in a stetig.

Beweis.Wir zeigen hier nur die Stetigkeit vonf1 f2 und| f1|.

Zu f1 f2. Sei (xn) eine beliebige Folge inD mit xn → a. Da f1 und f2 stetig in a, giltfi(xn)→ fi(a) nach Satz5.2.3. Dann gilt für die Zahlenfolge( f1(xn) f2(xn)) offenbar

f1(xn) f2(xn)→ f1(a) f2(a) ,

d.h., f1 f2 ist stetig ina.

Zu | f1|. Sei(xn) eine beliebige Folge inD1 mit xn→ a. Da f1 stetig ina, gilt f1(xn)→ f1(a).Wegen

|| f1(xn)|− | f1(a)|| ≤ | f1(xn)− f1(a)|

hat man folglich| f1(xn)| → | f1(a)|, d.h.,| f1|(xn)→ | f1|(a).

Satz 5.2.10.Jedes Polynom ist in jedem Punkt a∈R stetig. Jede gebrochen rationale Funk-tion R= p

q ist in jedem Punkt a∈ D = x∈ R : q(x) 6= 0 stetig.

Beweis.Die Behauptung folgt aus der Stetigkeit der Identitätx 7→ x in allen Punkten vonR(siehe Beispiel5.2.2) und Satz5.2.9.

Satz 5.2.11.Die Exponentialfunktionexpa : R → R>0 für a > 0 und die Potenzfunktionpotb : R>0 → R>0 für b∈ R sind in jedem Punkt ihres Definitionsbereichs stetig.

Beweis.Zu expa: Wir zeigen zuerst die Stetigkeit in 0. O.B.d.A. seia > 1. Wir bemerken

zuersta1n → 1. Sei nunε > 0. Wir wählenN ∈ N mit |a 1

N −1|< ε und |a− 1N −1|< ε. Sei

δ = 1N . Wegen der Monotonie von expa gilt

|expax−expa0|= |ax−1| ≤maxaδ −1,1−a−δ< ε

für |x|< δ .

Nun zeigen wir die Stetigkeit inx0 ∈ R. Es gilt

expax = expa(x−x0)expax0 .

Da expa in 0 stetig ist, folgt damit und mit den Sätzen5.2.5, 5.2.9die Stetigkeit von expa inx0.

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5 Grenzwerte und Stetigkeit bei Abbildungen

Zu potb. Wir können uns aufb > 0 beschränken. Zuerst zeigen wir die Stetigkeit bei 1. Fürx≥ 1 undm∈ N≥b gilt

1≤ potbx = xb ≤ xm .

Da die rechte Seite von rechts gegen 1 strebt, gilt lim1+0potb = 1. Fürx < 1 undm∈ N≥b

giltxm≤ potbx≤ 1,

so daß lim1−0potb = 1. Nach Satz5.1.7gilt lim1potb = 1. Mit Satz5.2.3folgt die Stetigkeitin 1.

Zeigen wir nun die Stetigkeit beix0 > 0. Es gilt

potbx−potbx0 = potb(x/x0)(potbx0−1) .

Mit den Sätzen5.2.5, 5.2.9und der Stetigkeit in 1 folgt die Stetigkeit inx0 > 0.

5.2.3 Einseitig stetige und halbstetige Funktionen

Aus den Ordnungseigenschaften der reellen Zahlen ergeben sich zwei Verallgemeinerungender Stetigkeit.

Die Ordnung im Definitionsbereich führt zu:

Definition 5.2.12. Die Funktionf : D⊆R1→R1 heißtrechtsstetig(linksstetig) in a, wenna∈ D und f

∣∣D∩[a,∞[ ( f

∣∣D∩ ]−∞,a]) stetig ina ist. ♦

Bemerkung 5.2.13. f : D⊆ R1 → R1 ist

• linksstetig im HPa∈ D∩ ]−∞,a] vonD∩ ]−∞,a]⇐⇒ f (a) = lima−0 f .

• rechtsstetig im HPa∈ D∩ [a,∞[ vonD∩ [a,∞[⇐⇒ f (a) = lima+0 f . ♦

Satz 5.2.14.Sei f: D⊆ R1 → R1 und sei a∈ D. Dann

f ist stetig in a ⇐⇒ f ist sowohl links− als auch rechtsstetig in a.

Die Ordnung im Wertebereich führt zu:

Definition 5.2.15. Die Funktion f : D ⊆ R1 → R1 heißtvon oben halbstetig(von untenhalbstetig) in a, wenna ∈ D und für alleε > 0 ein δ > 0 existiert mit f (x) ≤ f (a) + ε

( f (x)≥ f (a)− ε) für allex∈ D mit |x−a|< δ . ♦

Satz 5.2.16.Sei f: D⊆ R1 → R1 und sei a∈ D. Dann

f ist stetig in a ⇐⇒ f ist sowohl von oben als auch von unten halbstetig in a.

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5.2 Stetigkeit

5.2.4 Stetigkeit auf einer Menge

Definition 5.2.17. Seien(X,ρ) und(Y,d) metrische Räume. Eine AbbildungF : D⊆ X →Y heißtstetig auf der MengeE ⊆ D, wenn sie in jedem Punkt vonE stetig ist. Sie heißtstetig, wenn sie stetig auf ihrem DefinitionsbereichsD ist. ♦

Bemerkung 5.2.18.Wie in den Sätzen5.2.10, 5.2.11gezeigt, sind zumindest Polynome,gebrochen rationale Funktionen und die Exponential- und Potenzfunktionen stetig.♦

Sei E eine Teilmenge vonX. Wir bezeichen mitC(E), wennY = R1, und allgemein mitC(E,Y) die Menge aller stetigen AbbildungenF : E ⊆ X → Y. Es gilt alsoF ∈ C(E,Y)genau dann, wennD(F) = E undF stetig vonE nachY.

Beispiele:C([0,1]), C(R1).

Bemerkung 5.2.19.Man kann jede Aussage über Funktionen, die in einem Punkt stetigsind, so formulieren, daß sie anwendbar sind auf stetige Funktionen. So wird z.B. aus Satz5.2.7die Behauptung: Wennf ∈C(E,Y), dann istf in einer Umgebung jedes Punktesx∈Ebeschränkt. ♦

Fragen:

1. Ist jede Funktionf ∈C(E,Y) beschränkt?

2. Sei f ∈C(E,R1) mit f (x) 6= 0 für allex∈ E. Hat f dann in allen Punkten vonE dasgleiche Vorzeichen?

3. f ∈C(E,Y) heißt

∀x0 ∈ E∀ε > 0∃δ > 0 : f [BX(x0,δ )∩E]⊆ BY( f (x0,ε) .

Gilt auch

∀ε > 0∃δ > 0∀x0 ∈ E : f [BX(x0,δ )∩E]⊆ BY( f (x0,ε) ,

d.h., kann dasselbeδ für allex0 ∈ E gewählt werden?

Wir fragen hier also nach globalen Eigenschaften stetiger Funktionen. Die Antwort auf alledrei Fragen ist im allgemeinen „Nein“, jedoch „Ja“, wenn die TeilmengeE des metrischenRaumes(X,ρ) spezielle Eigenschaften hat. Dies untersuchen wir in den nächsten drei Ab-schnitten.

Beispiel 5.2.20.1. pot−1 ist stetig aber unbeschränkt.

2. Sei f : Z→ R mit f (x) = x+ 12 für x∈ Z. Dann f [Z] = 1

2 +Z.

3. Für pot2 kannδ nicht unabhängig vonx0 gewählt werden: Je größer|x0|, desto kleinermußδ sein. ♦

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5 Grenzwerte und Stetigkeit bei Abbildungen

5.2.5 Der Zwischenwertsatz

Satz 5.2.21 (Nullstellensatz von Bolzano-Cauchy).Sei f∈C(I) mit einem Intervall I. Wennf das Vorzeichen wechselt, dann gibt es wenigstens einen Punkt x0 ∈ I mit f (x0) = 0.

Beweis.O.b.d.A. seiI = [a,b] mit f (a) < 0 und f (b) > 0. Die MengeM := x∈ I : f (x)≤0 ist nichtleer und beschränkt, besitzt also ein endliches Supremumx0. DaI abgeschlossenist, gilt x0 ∈ I . Wir behauptenf (x0) = 0. Angenommenf (x0) < 0 (oder f (x0) > 0). Danngibt es nach Satz5.2.8eine UmgebungU vonx0 mit f (x) < 0 (bzw. f (x) > 0) für x∈U ∩ I .Dann kannx0 aber nicht das Supremum vonM gewesen sein.

Direkte Folgerung aus Satz5.2.21ist

Folgerung 5.2.22 (Vorzeichenerhalt stetiger Funktionen).Sei f∈C(I) mit einem Inter-vall I. Wenn f auf I keine Nullstellen hat, dann behält sie ihr Vorzeichen.

Satz 5.2.23 (Zwischenwertsatz von Bolzano-Cauchy).Sei f∈C(I) mit einem Intervall I.Sind A,C∈ f [I ] und A< B < C, dann gilt auch B∈ f [I ].

Beweis.Es gibta undc in I mit f (a) = A und f (c) = C. O.B.d.A. seia < c. Wende Satz5.2.21aufg: [a,c]→ R1 mit g(x) = f (x)−B an.

Satz 5.2.24 (Erhaltung von Intervallen). Sei f∈C(I) mit einem Intervall I. Dann ist f[I ]ein Intervall.

Beweis.Wegen Satz5.2.23muß mitA,C∈ f [I ] auch[A,C]⊆ f [I ] sein.

Bemerkung 5.2.25.Die wesentliche Eigenschaft des IntervallesI ist die Zusammenhangs-eigenschaft: Ein metrischer Raum(X,ρ) heißtzusammenhängend, wennX nicht als Verei-nigung zweier abgeschlossener, nichtleerer, disjunkter Teilmengen dargestellt werden kann.Eine Teilmenge vonR ist genau dann zusammenhängend, wenn sie ein Intervall ist. Satz5.2.24lautet dann allgemein, daß das stetige Bild einer zusammenhängenden Menge wiederzusammenhängend ist (siehe Amann/Escher I). ♦

5.2.6 Beschränktheit und Existenz von Maxima und Minima

Satz 5.2.26 (Erhaltung der Kompaktheit). Sei f∈ C(K,Y) mit einer kompakten MengeK ⊆ X. Dann ist f[K] kompakt.

Beweis.Wegen Satz3.4.23genügt es, die Folgenkompaktheit zu zeigen. Sei also(yn)n∈Neine beliebige Folge inf [K]. Dann existierenxn ∈ K mit yn = f (xn). Wegen der Kompakt-heit vonK existiert eine inK konvergente Teilfolge(xnk)k∈N mit Grenzwertx∞ ∈ K. Da fstetig ist und mit Satz5.2.6, gilt f (xnk) → f (x∞) ∈ f [K]. Somit hat(yn)n∈N eine in f [K]konvergente Teilfolge. Damit istf [K] folgenkompakt.

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5.2 Stetigkeit

Folgerung 5.2.27 (Satz von Weierstraß).Sei f∈C(K,Y) mit einer kompakten Menge K⊆X. Dann ist f[K] beschränkt. Gilt zusätzlich Y= R1, dann existierenmin f [K] = minx∈K f (x)undmax f [K] = maxx∈K f (x).

Beweis.Die erste Behauptung folgt aus Satz5.2.26( f [K] ist kompakt) und der Beschränkt-heit einer kompakten Menge (Satz3.4.23und Lemma3.4.21). Sei nunY = R1. Dann exi-stieren inff [K] und supf [K] in R und sind Berührungspunkte vonf [K]. Da eine kompakteMenge abgeschlossen ist (Satz3.4.23und Lemma3.4.21), liegen inff [K] und supf [K] inf [K].

Bemerkung 5.2.28.Die Kompaktheit ist wesentlich:

1. f = pot2∣∣]1,2[ ist stetig, beschränkt; Minimum und Maximum vonf (]1,2[) existieren

aber nicht.

2. f = pot2∣∣[0,∞[ ist stetig aber unbeschränkt. ♦

5.2.7 Gleichmäßige Stetigkeit

Definition 5.2.29. Seien(X,ρ) und (Y,d) metrische Räume. Eine AbbildungF : D(F) ⊆X →Y heißtgleichmäßig stetig, wenn

∀ε > 0∃δ > 0∀x,x′ ∈ D(F) mit ρ(x,x′) < δ : d(F(x),F(x′)) < ε . ♦

Offensichtlich ist dies äquivalent zu

∀ε > 0∃δ > 0∀x0 ∈ D(F) : F [BX(x0,δ )∩D]⊆ BY(F(x0,ε) ,

das heißt der Eigenschaft aus der dritten Frage.

Beispiel 5.2.30.1. x 7→ x ist aufR gleichmäßig stetig.

2. x 7→ x2 ist aufR nicht gleichmäßig stetig.

3. x 7→ x2 ist auf]−1,1[ gleichmäßig stetig.

4. x 7→ x−1 ist auf]0,1[ nicht gleichmäßig stetig. ♦

Satz 5.2.31 (Satz von Cantor).Sei F∈C(K,Y) mit kompakter Menge K⊆ X. Dann ist Fgleichmäßig stetig.

Beweis.Indirekt. SeiF ∈C(K,Y) also nicht gleichmäßig stetig. Dann

∃ε > 0∀δ > 0∃x,x′ ∈ K mit ρ(x,x′) < δ : d(F(x),F(x′))≥ ε .

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5 Grenzwerte und Stetigkeit bei Abbildungen

Seiε mit dieser Eigenschaft. Dann finden wir fürδ = 1n Punktexn,x′n ∈ K mit ρ(xn,x′n) < 1

nundd(F(xn),F(x′n))≥ ε. Wegen der Kompaktheit vonK gibt es eine konvergente Teilfolge(xnk)k∈N von (xn)n∈N mit Grenzwertx∞ ∈ K. Nun gilt

ρ(x′nk,x∞)≤ ρ(x′nk

,xnk)+ρ(xnk,x∞)≤ 1nk

+ρ(xnk,x∞) ,

so daß auchx′nk→ x∞. Mit der Stetigkeit vonF folgt der Widerspruch

ε ≤ d(F(xnk),F(x′nk))≤ d(F(xnk),F(x∞))+d(F(x′nk

),F(x∞))→ 0.

Damit ist die dritte Frage beantwortet.

5.2.8 Fortsetzung von stetigen Funktionen

Sei F ∈ C(D,Y) mit D ⊆ X und metrischen Räumen(X,ρ) und (Y,d). Kann F auf dieAbschließung vonD stetig fortgesetzt werden, d.h., existiertF ∈C(D,Y) mit F(x) = F(x)für x∈ D?

Offensichtlich kannx 7→ x−1 mit D = ]0,1] nicht aufD fortgesetzt werden.

Satz 5.2.32.Sei F: D⊆X→Y mit metrischen Räumen(X,ρ) und(Y,d), wobei(Y,d) voll-ständig ist. Ist F gleichmäßig stetig, dann kann F zu einer gleichmäßig stetigen AbbildungF : D→Y fortgesetzt werden.

Für den Beweis des Satzes benötigen wir

Lemma 5.2.33.Seien(X,ρ) und(Y,d) metrische Räume und F: D⊆ X →Y gleichmäßigstetig. Dann überführt F jede Cauchy-Folge in(X,ρ) in eine Cauchy-Folge in(Y,d).

Beweis.Sei(xn)n∈N eine Cauchy-Folge in(X,ρ) mit xn ∈ D für n∈ N. Seiε > 0 beliebig.Dann existiert einδ > 0 mit d(F(x),F(x′)) < ε für alle x,x′ ∈ D mit ρ(x,x′) < δ . Weiterexistiert einN mit ρ(xn,xm) < δ für n,m≥ N. Somitd(F(xn),F(xm)) < ε für n,m≥ N.

Beweis.(von Satz5.2.32) Wir wollen F definieren durch

F(x) :=

F(x) , falls x∈ D ,limxF , falls x∈ D\D .

Zu zeigen ist dazu, daß limxF existiert und daßF gleichmäßig stetig ist.

(I) Zur Existenz von limaF beia∈ D\D: Dann ista Häufungspunkt vonD. Sei(xn)n∈N einebeliebige Folge inD mit xn → a. Da (xn)n∈N eine Cauchy-Folge ist, ist(F(xn))n∈N nachdem Lemma5.2.33ebenfalls eine Cauchy-Folge. Wegen der Vollständigkeit konvergiert(F(xn))n∈N gegen einA.

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5.2 Stetigkeit

Um Satz5.1.2 anwenden zu können, muß nun noch gezeigt werden, daß der Grenzwertunabhängig von der Folge(xn)n∈N ist. Dazu sei(yn)n∈N eine Folge inD mit yn → a undF(yn)→ B. Wir bilden die Folge(zn)n∈N mit

z2n = xn , z2n+1 = yn .

Dann gilt zn ∈ D und zn → a und ist daher auch wieder eine Cauchyfolge, so daß sichnach Lemma5.2.33die Konvergenz von(F(zn))n∈N gegen einC ∈ Y ergibt. Nun ent-hält die konvergente Folge(F(zn))n∈N aber zwei konvergente Teilfolgen(F(z2n))n∈N und(F(z2n+1))n∈N, deren GrenzwerteA und B folglich mit C übereinstimmen müssen. SomitA = B, und Satz5.1.2ergibt limaF = A.

(II) Zur gleichmäßigen Stetigkeit vonF : Seiε > 0 beliebig. Dann existiert einδ > 0 mit

∀x1,x2 ∈ D mit ρ(x1,x2) < δ : d(F(x1),F(x2)) <ε

3.

Seienu1,u2 ∈ D beliebig mitρ(u1,u2) < δ

3 . Dann existierenxi ∈ D mit

d(F(xi), F(ui)) <ε

3undρ(ui ,xi) <

δ

3für i = 1,2.

Wegenρ(x1,x2)≤ ρ(x1,u1)+ρ(x2,u2)+ρ(u1,u2) < δ

folgt

d(F(u1), F(u2))≤ d(F(u1),F(x1))+d(F(x1),F(x2))+d(F(x2), F(u2)) < ε .

5.2.9 Stetigkeit monotoner und inverser Funktionen

Der folgende Satz ist eine gewisse Umkehrung von Satz5.2.24.

Satz 5.2.34.Sei f: I ⊆ R → R eine monotone Funktion auf einem Intervall I. Wenn f[I ]ein Intervall ist, dann ist f stetig.

Beweis.O.B.d.A. seif monoton wachsend. Wir zeigen, daßf in jedem Punktx0 ∈ I stetigist. Seia := inf I , b := supI .

1. Sei x0 6= a. Wäre f in x0 linksseitig unstetig, dannf (x0− 0) := limx→x0−0 f (x) 6=f (x0). Da f monoton wachsend ist, gilt dannf (x0−0) < f (x0).

• Für allex ∈ I mit x < x0 gilt f (x) ≤ f (x0− 0) < f (x0). Da W( f ) = f (I) einIntervall ist undf (x), f (x0) ∈W( f ), gilt auch] f (x0−0), f (x0)[⊆W( f ).

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5 Grenzwerte und Stetigkeit bei Abbildungen

• Seiy∈ ] f (x0−0), f (x0)[. Dann existiert einx∈ I \x0mit f (x) = y und f (x) =y < f (x0). Wennx < x0, danny = f (x) ≤ f (x0−0). Wenn aberx > x0, danny= f (x)≥ f (x0). Damit erhalten wir einen Widerspruch, d.h., wir habenf (x0−0) = f (x0).

2. Seix0 6= b. Analog zu oben erhalten wirf (x0+0) := limx→x0+0 = f (x0), also rechts-seitige Stetigkeit.

3. Seix0 ∈ ]a,b[. Mit 1. und 2. erhalten wir die Stetigkeit inx0.

4. Seix0 = a∈ I oderx0 = b∈ I . Mit 1. bzw. 2. erhalten wir die Stetigkeit inx0.

Wir betrachten nun eine streng monotone, stetige Funktionf : I → R mit einem IntervallI .Nach Satz5.2.24ist f [I ] ein Intervall. Wegen der strengen Monotonie istf injektiv. Damitexistiert die Inversef−1 : f [I ]→ I von f . Da f−1[ f [I ]] = I und f−1 streng monoton ist, istf−1 nach Satz5.2.34eine stetige Funktion.

Damit gilt

Satz 5.2.35 (Stetigkeit der inversen Funktion).Sei I⊆ R ein Intervall und sei f∈C(I)streng monoton. Dann existiert die inverse Funktion f−1 : f [I ]→ I und

1. f−1 ist streng monoton (im gleichen Sinne wie f );

2. f−1 ist stetig.

Folgerung 5.2.36.expa, sinh, cosh∣∣[0,∞[, cosh

∣∣]−∞,0] sind stetig invertierbar.

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6 Differentialrechnung

6.1 Ableitung einer skalaren Funktion in einem Punkt

6.1.1 Motivation

Momentangeschwindigkeit bei geradliniger Bewegung eines Punktes. Die Bewegungerfolge nach dem Weg-Zeit-Gesetzs= f (t) (z.B. freier Fall: f (t) = 1

2gt2)

s+∆s0

∆s

s

Zum Zeitpunktt beträgt die zurückgelegt Streckes = f (t). Nach einer Zeit∆t sind wirbeim Zeitpunktt + ∆t, die zurückgelegte Strecke ists+ ∆s= f (t + ∆t) mit ∆s als der imZeitintervall[t, t +∆t] zurückgelegten Strecke.

Wir erhaltenvm = ∆s∆t als mittlere Geschwindigkeit im Zeitintervall[t, t +∆t].

Überlegung: Je kleiner (kürzer)∆t, desto besser charakterisiert∆s∆t die Geschwindigkeit im

Momentt:

v(t) = lim∆t→0

∆s∆t

= lim∆t→0

vm = lim∆t→0

f (t +∆t)− f (t)∆t

.

Dann istv(t) die Geschwindigkeit zum Zeitpunktt (falls der Grenzwert existiert).

Sei z.B.s= f (t) = 12gt2 das Bewegungsgesetz eines Punktes. Man ermittle die Geschwin-

digkeit zum Zeitpunktt > 0. Dann

v(t) = lim∆t→0

f (t +∆t)− f (t)∆t

=12

g lim∆t→0

(t +∆t)2− t2

∆t=

12

g lim∆t→0

2t∆t +(∆t)2

∆t= gt .

Massendichte in einem Punkt. Wir betrachten einen Stab, d.h. einen Körper, dessenQuerschnitt im Vergleich zu seiner Länge vernachlässigbar klein ist. Die Massem ist ei-ne Funktion der Längel : m= f (l).

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6 Differentialrechnung

M N0

b

Von M zu N ändert sich die Länge um∆l , für die Masse ergibt sichm+ ∆m= f (M + ∆l).Die mittlere lineare Dichte des StückesMN mit der Länge∆l ist daherρm = ∆m

∆l . Wie obenbetrachten wir wieder den Grenzwert für∆l → 0:

ρ(t) = lim∆l→0

∆m∆l

= lim∆l→0

ρm = lim∆l→0

f (l +∆l)− f (l)∆l

.

Dies ergibt dann, wenn der Grenzwert existiert, die Massendichte an der Stellel .

Tangente an den Graphen einer Funktion in einem Punkt. Der PunktM0 = (x0,y0) sei aufdem Graphen fixiert.M = (x0 +∆x,y0 +∆y) sei ein weiterer Punkt auf dem Graphen.

Wir betrachten die Sekante durchM0 und M. M bewege sich auf der Kurve zuM0, d.h.∆x→ 0. Der Winkelβ und die Sekante hängen von der Lage vonM ab.

Sekantengleichung:Für einen Punkt(x,y) auf der Sekante gilt

(x,y) = (x0,y0)+ t(∆x,∆y)

mit einemt ∈ R, d.h. t = x−x0∆x und

y = y0 + t∆y = y0 +∆y∆x

(x−x0) .

y

f

M0

M

βα

y0

∆y

x0 ∆x x

98

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6.1 Ableitung einer skalaren Funktion in einem Punkt

tanβ = ∆y∆x = f (x0+∆x)− f (x0)

∆x ist der Anstieg der Sekante.

Als Tangentean eine gegebene Kurve (Graphen einer Funktion) im PunktM0 bezeichnetman die Grenzlage der Sekante durchM0 und M unter der Bedingung, daßM längs derKurve zuM0 strebt.

Gleichung der Tangente:y = y0 +(x−x0) tanα

mit

tanα = lim∆x→0

∆y∆x

= lim∆x→0

f (x0 +∆x)− f (x0)∆x

als Anstieg der Tangente.

6.1.2 Definition der Ableitung einer Funktion

Sei f : D ⊆ R → R, x0 ∈ D Häufungspunkt vonD. x0 erhält kleinen Zuwachsh = ∆x mitx0 +h∈ D.

Definition 6.1.1. Falls der (eigentliche oder uneigentliche) Grenzwert

limh→0

f (x0 +h)− f (x0)h

(6.1.1)

existiert, heißt erAbleitungvon f in x0. Der Grenzwert wird durchf ′(x0) bezeichnet. ♦

Bemerkung 6.1.2.Wenn x0 ∈ D Häufungspunkt vonD∩ ]−∞,x0] (D∩ [x0,∞[) ist und

die Ableitung vong = f∣∣∣]−∞,x0]

(g = f∣∣∣[x0,∞[

) in x0 existiert, dann heißtg′(x0) linksseitige

(rechtsseitige) Ableitung vonf in x0. Sie wird mit f ′−(x0) = f ′(x0−0) ( f ′+(x0) = f ′(x0+0)bezeichnet. Es gilt

f ′−(x0) = f ′(x0−0) = limh0

f (x0 +h)− f (x0)h

beziehungsweise

f ′+(x0) = f ′(x0 +0) = limh0

f (x0 +h)− f (x0)h

.♦

Beispiel 6.1.3.Sei f (x) = |x| mit D( f ) = R, x0 = 0. Dann

|x0 +h|− |x0|h

=|h|h

= sgnh =

1, falls h > 0,−1, falls h < 0.

Damit existiertf ′(0) nicht aberf ′+(0) = 1 und f ′−(0) =−1. ♦

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6 Differentialrechnung

Satz 6.1.4.Sei f: D ⊆ R → R, x0 ∈ D Häufungspunkt von D∩ ]−∞,x0] und D∩ [x0,∞[.Dann existiert f′(x0) genau dann, wenn f′+(x0) und f′−(x0) existieren und beide gleich sind.Wenn f′(x0) existiert, gilt

f ′(x0) = f ′+(x0) = f ′−(x0) .

Wir betrachten nun noch einmal das Problem der Tangente an graph( f ) in x0. Die Tangenteist eine Gerade durch(x0, f (x0)) mit dem Anstiegf ′(x0).

• Sei f ′(x0) endlich. Dann existiert eine Tangente inx0 und sie ist nicht parallel zury-Achse.

• | f ′(x0)| = ∞. Dann existiert eine Tangente inx0 und sie ist parallel zury-Achse.Betrachte z.B.f (x) = 3

√|x|sgnx aufD( f ) = R. Dann

f ′+(0) = limh0

3√

hh

= limh0

h−2/3 = ∞

und

f ′−(0) = limh0

3√|h|sgnh

h= lim

h0

3√|h||h|

= limh0

h−2/3 = ∞.

Damit f ′(0) = ∞.

• Existieren einseitige Ableitungen, dann existieren einseitige Tangenten. Betrachte

z.B. f (x) =

x4 +1, x≤ 01−e−x, x > 0

auf D( f ) = R in x0 = 0. Dann f ′+(0) = 1 mit der

rechtsseitigen Tangentey= x+1 und f ′−(0) = 0 mit der linksseitigen Tangentey= 1.

Definition 6.1.5. Sei f : D⊆R→R. f heißtdifferenzierbar inx0, wennx0∈D Häufungs-punkt vonD ist und wennf ′(x0) existiert und endlich ist. ♦

Bemerkung 6.1.6. f ist also beix0 differenzierbar, wenn inx0 eine Tangente an den Gra-phen existiert, die nicht parallel zury-Achse ist. ♦

6.1.3 Weierstraßsche Zerlegungsformel

Sei f : D⊆ R→ R, x0 ∈ D Häufungspunkt vonD.

Ziel: Stelle den Zuwachs∆y= f (x0+h)− f (x0) der Funktionf im Punktx0 dar als Summeeines zuh proportialen Anteils und eines Anteils dar, der beih→ 0 schneller zu 0 konver-giert als der zuh proportionale.

Wenn dies gelingt ist der zuh proportionale Anteil der entscheidende für die Änderung derFunktion inx0.

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6.1 Ableitung einer skalaren Funktion in einem Punkt

Proportionaler Anteil istah (ist lineare Funktion inh). Der restliche Teil sei mitr(h) be-zeichnet. Er soll von der Qualität „konvergiert schneller zu 0 alsah“ sein, wenn man vona = 0 absieht. Damit meinen wir

r(h)h

→ 0 für h→ 0.

Also suchen wir eine Darstellung

∆y = f (x0 +h)− f (x0) = ah+ r(h) mitr(h)

h→ 0 für h→ 0. (6.1.2)

Beispiel 6.1.7.Sei f (x) = x3 +1 mit D( f ) = R, x0 ∈ D( f ). Dann

∆y = (x0 +h)3 +1−x30−1 = 3x2

0h︸︷︷︸ah

+3x0h2 +h3︸ ︷︷ ︸r(h)

.

h 7→ ah= 3x20h ist eine inh lineare Funktion. Fürr(h) = 3x0h2 +h3 gilt

r(h)h

= 3x0h+h2 → 0 für h→ 0,

d.h., wir haben eine gewünschte Zerlegung. Beachte

f ′(x0) = limh→0

f (x0 +h)− f (x0)h

= limh→0

(3x20 +3x0h+h2) = 3x2

0 . ♦

Vermutung: Wenn f in x0 differenzierbar, dann istf ′(x0)h der gesuchte, zuh proportionaleTeil.

Sei dazuf : D ⊆ R → R, x0 ∈ D Häufungspunkt vonD und f differenzierbar inx0. Dannist

f ′(x0) = limh→0

f (x0 +h)− f (x0)h

endlich. Somit können wir dies äquivalent als

limh→0

f (x0 +h)− f (x0)− f ′(x0)hh

= 0

schreiben. Mitr(h)= f (x0+h)− f (x0)− f ′(x0)hgilt also die Weierstraßsche Zerlegungsformel

f (x0 +h)− f (x0) = f ′(x0)h+ r(h) (6.1.3)

mit dem zuh proportionalen Anteilf ′(x0)h undr(h)/h→ 0 für h→ 0.

Für eine inx0 differenzierbare Funktion haben wir also die gewünschte Zerlegung. Es giltsogar

Satz 6.1.8.Sei x0 ∈D( f ) Häufungspunkt von D( f ). f ist differenzierbar in x0 genau dann,wenn eine Zahl f′(x0) existiert mit(6.1.3).

101

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6 Differentialrechnung

6.1.4 Differenzierbare Abbildungen

Die Weierstraßsche Zerlegungsformel (6.1.3) als äquivalente Bedingung für die Differen-zierbarkeit einer skalaren Funktion einer Variablen ermöglicht es, den Differenzierbarkeits-begriff auf allgemeinere Abbildungen zu verallgemeinern.

SeienX undY reelle Vektorräume, ausgestattet mit Normen‖·‖X und‖·‖Y, so daß sie voll-ständige metrische Räume sind, d.h., seien(X,‖ · ‖X) und(Y,‖ · ‖Y) reelle Banachräume.

Definition 6.1.9. Eine AbbildungA: X →Y heißtlinear, wennA(αx+βy) = αAx+βAyfür alle α,β ∈ R undx,y∈ X. Die Menge der stetigen linearen Abbildungen vonX nachYwird mit L(X,Y) bezeichnet. ♦

Bemerkung 6.1.10.SeiX = Rn, Y = Rm und seiM = (mi j ) einem×n-Matrix. Wir wählenin X undY die kanonische Basise1, . . . ,en bzw. f1, . . . , fm. Dannx = (x1, . . . ,xn) =∑n

i=1xiei undy = (y1, . . . ,ym) = ∑mi=1yi fi . Dann ist eine AbbildungA: X →Y durch

Ax=m

∑i=1

(n

∑j=1

mi j xj

)fi

gegeben. Diese Abbildung ist linear. Als Linearkombination stetiger Abbildungen ist siestetig. ♦

Definition 6.1.11. F : D ⊆ X →Y heißtdifferenzierbar in x0, wennx0 ∈ D innerer PunktvonD [Häufungspunkt vonD, beiX = R,] ist und wennA∈ L(X,Y) undR: X →Y existie-ren mit

F(x0 +h)−F(x0) = Ah+R(h) für x0 +h∈ D mit‖R(h)‖Y

‖h‖X→ 0 für h→ 0.

Bemerkung 6.1.12.

1. Der lineare OperatorA hängt von der Stellex0 ab und ist eindeutig festgelegt. ErheißtFréchet-Differential (odertotalesodervollständiges Differential) von F in x0

und wird mit∂F(x0) (oder auchdF(x0), DF(x0)) bezeichnet.

2. SeiD(F ′) die Menge allerx0∈D für die∂F(x0) existiert. Dann ist durchF ′ : D(F ′)→L(X,Y) mit F ′(x0) = ∂F(x0) eine Abbildung vonD(F ′) in L(X,Y) gegeben. DieseAbbildung heißtAbleitung vonF . Der Wert der Ableitung vonF in x0 ist also dasDifferential vonF in x0.

3. Der lineare Anteil der durchh hervorgerufenen Veränderung, d.h.Ah = F ′(x0)h =∂F(x0)h, ist der Hauptteil der Veränderung.

4. SeiL : X →Y eine stetige lineare Abbildung. Dann gilt

L(x0 +h) = Lx0 +Lh

für allex0,h∈ X und damitL′(x0) = ∂L(x0) = L für allex0 ∈ X.

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6.1 Ableitung einer skalaren Funktion in einem Punkt

5. Die Identität idX : X → X ist für allex0 ∈ X differenzierbar mit∂ idX(x0) = idX. Be-zeichnet man den linearen Operator idX durch dx, dann erhalten wir

F ′(x0)dx := F ′(x0)dx = F ′(x0) idX(= F ′(x0)

)= ∂F(x0) .

6. WennX = Rn undY = Rm, dann wirdF ′(x0) durch eine (von den gewählten Basenabhängige)m×n-Matrix repräsentiert. Im Fallen = m= 1 also durch eine Zahl.

7. WennX = R, dann brauchtx0 ∈D auch nur Häufungspunkt vonD sein. Im allgemei-nen ist unter dieser abgeschwächten Voraussetzung die Eindeutigkeit der Ableitungnicht mehr gesichert. ♦

Beispiel 6.1.13.SeiX = Rn mit Skalarprodukt〈·, ·〉 definiert durch

〈x,y〉 :=n

∑i=0

xiyi .

Dann gilt‖x‖2 = 〈x,x〉 für die euklidische Norm‖ · ‖. Man betrachte nunF : X → R mitF(x) = ‖x‖2. Gesucht ist die Ableitung vonF an einer Stellex0:

Es gilt

F(x0 +h)−F(x0) = 〈x0 +h,x0 +h〉−〈x0,x0〉= 〈x0,x0〉+2〈x0,h〉+ 〈h,h〉−〈x0,x0〉= 2〈x0,h〉+ 〈h,h〉 .

Die AbbildungA: X→R mit Ah= 2〈x0,h〉 ist linear und stetig.R: X→R mit R(h) = 〈h,h〉erfüllt 0≤ |R(h)|

‖h‖ = ‖h‖2

‖h‖ = ‖h‖→ 0 für h→ 0. Damit giltF ′(x0)h = 2〈x0,h〉. ♦

Definition 6.1.14. F : D⊆ X →Y heißtdifferenzierbar, wennF in jedemx0 ∈ D differen-zierbar ist.

WennF differenzierbar ist, dann istx0 7→ F ′(x0) eine Abbildung vonD in L(X,Y), die mitF ′ bezeichnet wird (Ableitungsabbildung). ♦

Offene Fragen:

• Wie berechnet manF ′(x0)?

• Welche Eigenschaften hatF ′(x0) immer und welche nur unter bestimmten Vorausset-zungen?

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6 Differentialrechnung

6.2 Eigenschaften differenzierbarer Abbildungen

6.2.1 Die Landau-Symbole

Definition 6.2.1. SeienF : D ⊆ X → Y, g: D ⊆ X → R, x0 Häufungspunkt vonD. DieAbbildungF heißtunendlich kleinbezüglichg in x0, wenn

∀ε > 0∃Umgeb. U vonx0∀x∈U ∩D : ‖F(x)‖Y ≤ ε|g(x)| . (6.2.1)♦

Man schreibt dafür nicht ganz korrekt

F(x) = o(g(x)) für x→ x0 (6.2.2)

und liest „F(x) ist klein o vong(x) für x→ x0“.

Bemerkung 6.2.2.1. Gibt es eine UmgebungU von x0, so daßg auf (U ∩D)\x0 von 0verschieden ist, dann bedeutetF(x) = o(g(x)) für x→ x0, daß limx→x0

‖F(x)‖Y|g(x)| = 0.

2. In der Weierstraßschen Zerlegungsformel haben wirr(h)/h→ 0 d.h. r(h) = o(h) fürh→ 0.

3. Die Symbolikf (x) = o(g(x)) für X = R undx→∞ oderx→−∞ ist in unserer Definitionmit enthalten.

4. Das Gleichheitszeichen inF(x) = o(g(x)) ist keine Gleichheitsrelation: Es giltx3 = o(x)undx3 = o(x2) für x→ 0 abero(x) 6= o(x2).

5. Anstelle (6.2.2) wäre „F ∈ o(g,x0)“ mit o(g,x0) als Menge allerF : D ⊆ X → Y mit(6.2.1) richtig. ♦

Beispiel 6.2.3.1. Seienµ,ν ∈ R mit µ < ν undx0 ∈ R>0. Dann gelten

xν = o(xµ) für x→ 0, (x−x0)ν = o((x−x0)µ) für x→ x0, xµ = o(xν) für x→ ∞ .

Der Nachweis ergibt sich aus den bekannten Grenzwerten

limx→0

xµ= lim

x→0xν−µ = 0, lim

x→x0(x−x0)ν−µ = 0, lim

x→∞

xν= lim

x→∞x−(ν−µ) = 0.

2. sinx−x = o(x) für x→ 0 und cosx−1− 12x2 = o(x2) für x→ 0. Man verwende dazu

limx→0

sinxx

= 1, limx→0

1−cosxx2 = lim

x→0

2sin2(x/2)x2 =

12

limx→0

sin2(x/2)x2/4

=12

.♦

104

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6.2 Eigenschaften differenzierbarer Abbildungen

„Rechenregeln“: Da ausF(h) = o(‖h‖), G(h) = o(‖h‖) für h→ 0 auch(F + G)(h) =o(‖h‖) beix0 folgt, gilt

o(‖h‖)+o(‖h‖) = o(‖h‖) für h→ 0.

Ist A eine stetige lineare Abbildung, dann folgt ausF(h) = o(‖h‖) für h→ 0 auch(AF)(h) = o(‖h‖) beih→ 0, damit

Ao(‖h‖) = o(‖h‖) für h→ 0.

Sei nunF(h) = o(‖h‖) für h→ 0 undG(k) = o(‖k‖) für k→ 0, dann ist(GF)(h) = o(‖h‖)beix0 und damit

o(o(‖h‖)) = o(‖h‖) für h→ 0.

6.2.2 Die Berührungsordnung zweier Abbildungen

Definition 6.2.4. SeienF,G: D⊆ X →Y, x0 Häufungspunkt vonD. Seik∈ N. Man sagt,F undG berühren sichin x0 mindestens mit derOrdnungk, wenn

F(x)−G(x) =

o(‖x−x0‖kX) für x→ x0 , falls x0 ∈ X ,

o(|x|−k) für x→ x0 , falls X = R undx0 ∈ −∞,∞ . ♦

Beispiel 6.2.5.1. SeienF,G: D⊆ X →Y zwei Abbildungen, die stetig im Häufungspunktx0 von D sind undF(x0) = G(x0) erfüllen. Dann berühren sie sich mit der Ordnung 0: Esgilt F(x0)−G(x0) = 0. DaF −G stetig inx0, existiert für jedesε > 0 eine UmgebungUvonx0 mit ‖F(x)−G(x)‖Y < ε für allex∈D∩U . Dies bedeutet aberF(x)−G(x) = o(1) =o(‖x−x0‖0

X).

2. In der Weierstraßschen Zerlegungsformel

F(x) = F(x0)+F ′(x0)(x−x0)+R(x−x0) , R(x−x0) = o(‖x−x0‖X)

erkennt man ein „PolynomP (höchstens) ersten Grades“ mitP(x) = F(x0)+F ′(x0)(x−x0).Es gilt P(x0) = F(x0) undF(x)−P(x) = o(‖x− x0‖X). Also berühren sichF undP in x0

mindestens mit erster Ordnung. Wir erkennen und vermuten eine lokale Approximation vonF durch Polynome. ♦

6.2.3 Differentiationsregeln

Zu Tabellen der Ableitungen der Grundfunktionen siehe z.B. Bronstein/Semendjajew.

Uns interessieren Differentiationsregeln für Abbildungen, die man mit Hilfe algebraischerOperationen und Superposition aus differenzierbaren Abbildungen erhält.

Dazu seien(X,‖ · ‖X) und(Y,‖ · ‖Y) reelle Banachräume.

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6 Differentialrechnung

Satz 6.2.6.Seien F,G: D⊆ X →Y in x0 differenzierbar. Dann gilt:

1. (αF +βG)′(x0) = αF ′(x0)+βG′(x0) für α,β ∈ R (Linearität);

2. (FG)′(x0) = G(x0)F ′(x0)+F(x0)G′(x0), wenn Y= R (Produktregel);

3.

(FG

)′(x0) =

G(x0)F ′(x0)−F(x0)G′(x0)G(x0)2 , wenn Y= R und G(x) 6= 0 in einer Umge-

bung von x0 (Quotientenregel).

Beweis.Zu 1. Es gilt

F(x0 +h) = F(x0)+F ′(x0)h+o(‖h‖X) , G(x0 +h) = G(x0)+G′(x0)h+o(‖h‖X)

für h→ 0. Damit

(αF +βG)(x0 +h) = (αF +βG)(x0)+ [αF ′(x0)+βG′(x0)]h+o(‖h‖X) .

Zu 2. Es gilt

F(x0 +h)G(x0 +h) = [F(x0)+F ′(x0)h+o(‖h‖X)] · [G(x0)+G′(x0)h+o(‖h‖X)]= F(x0)G(x0)+ [F(x0)G′(x0)+G(x0)F ′(x0)]h+ t(h)

für h→ 0 mit

t(h) = [F(x0)+F ′(x0)h]o(‖h‖X)+ [G(x0)+G′(x0)h]o(‖h‖X)

+F ′(x0)G′(x0)h2 +o(‖h‖X)o(‖h‖X)= o(‖h‖X) .

Zu 3. Für

t(h) =F(x0 +h)G(x0 +h)

− F(x0)G(x0)

− G(x0)F ′(x0)−F(x0)G′(x0)G(x0)2 h

gilt

t(h)G(x0)2G(x0 +h) = G(x0)2F(x0 +h)−F(x0)G(x0)G(x0 +h)−G(x0 +h)[G(x0)F ′(x0)−F(x0)G′(x0)]h

= G(x0)2F(x0)+G(x0)2F ′(x0)h+G(x0)2o(‖h‖X)

−F(x0)G(x0)2−F(x0)G(x0)G′(x0)h−F(x0)G(x0)o(‖h‖X)

−G(x0)2F ′(x0)h−G′(x0)hG(x0)F ′(x0)h+G(x0)F(x0)G′(x0)h+G′(x0)hF(x0)G′(x0)h−o(‖h‖X)G(x0)F ′(x0)h+o(‖h‖X)F(x0)G′(x0)h

= o(‖h‖X)

und dahert(h) = o(‖h‖X) für h→ 0.

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6.2 Eigenschaften differenzierbarer Abbildungen

Satz 6.2.7 (Kettenregel).Sei F: D⊆ X →Y differenzierbar in x0 ∈ D. Sei weiter G: E ⊆Y→ Z differenzierbar in F(x0) ∈ E. Dann ist GF in x0 differenzierbar und es gilt

(GF)′(x0) = G′(F(x0))F ′(x0) .

Beweis.Es gilt

G(F(x0 +h)) = G(F(x0)+F ′(x0)h+o(‖h‖X))= G(F(x0))+G′(F(x0)) [F ′(x0)h+o(‖h‖X)]

+o(‖F ′(x0)h+o(‖h‖X)‖Y)= G(F(x0))+G′(F(x0))F ′(x0)h+G′( f (x0))o(‖h‖X)

+o(‖F ′(x0)h+o(‖h‖X)‖X)= G(F(x0))+G′(F(x0))F ′(x0)h+o(‖h‖X)

für h→ 0.

Bemerkung 6.2.8.WennX = Rn, Y = Rm, Z = Rl , dann wird(GF)′(x0) durch eine (vonden gewählten Basen abhängige)l ×n-Matrix repräsentiert, die sich aus dem Produkt derl ×m-Matrix für G′(F(x0)) und derm×n-Matrix für F ′(x0) ergibt. ♦

Beispiel 6.2.9.1. F(x) = tanx = sinxcosx auf D = R \ π

2 + kπ : k ∈ Z. Quotientenregel istanwendbar und ergibt

(tanx)′ =sin′ xcosx−sinxcos′ x

cos2x=

cos2x+sin2xcos2x

=1

cos2x= 1+ tan2x .

2. H(x) = sin(x2) auf D = R. Kettenregel ist anwendbar aufF(x) = x2 und G(x) = sinxund ergibt

H ′(x) = G′(F(x))F ′(x) = 2xcos(x2) .

3. Logarithmisches Differenzieren: SeiF : ]a,b[→ R>0 differenzierbar für allex∈ ]a,b[.SeiG(x) = lnx für x∈ R. Dann hatH(x) = ln(F(x)) Sinn. Die Kettenregel ergibt

(lnF(x))′ =F ′(x)F(x)

.

4. Ausdrücke der Formu(x)v(x). Seienu,v: D ⊆ R→ R in x0 ∈ D differenzierbar und seiu(x) > 0 für x∈ D. Dann gilt

u(x)v(x) = ev(x) lnu(x)

und daher (u(x)v(x)

)′= ev(x) lnu(x)

(v′(x) lnu(x)+v(x)

u′(x)u(x)

)= u(x)v(x)

(v′(x) lnu(x)+v(x)

u′(x)u(x)

)= u(x)v(x)v′(x) lnu(x)+u(x)v(x)−1v(x)u′(x) .

107

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6 Differentialrechnung

Somit gilt

(xx)′ = xx(lnx+1) . ♦

Satz 6.2.10 (Differenzierbarkeit der Umkehrfunktion). Sei f: I ⊆ R → R injektiv aufdem Intervall I. Sei f stetig1 und differenzierbar in a∈ I, f−1 sei stetig in b= f (a). Dannist f−1 in b genau dann differenzierbar, wenn f′(a) 6= 0. In diesem Fall gilt

( f−1)′( f (a)) =1

f ′(a). (6.2.3)

Beweis.„=⇒“ Nach Voraussetzung giltf−1 f = idI . Somit folgt nach Kettenregel

1 = id′I (a) =(

f−1)′ ( f (a)) f ′(a)

und damitf ′(a) 6= 0 und (6.2.3).

„⇐=“ Zuerst zeigen wir, daßb HP von f [I ] ist. Nach Voraussetzung ista HP vonI . Alsogibt es eine Folge(xk) in I \ a mit limk→∞ xk = a. Wegen der Injektivität vonf giltf (xk) 6= b für allek. Somit ist( f (xk)) eine Folge inf [I ]\b und wegen der Stetigkeit vonf gilt f (xk)→ f (a) = b. Also istb HP von f [I ].

Es sei nun(yk) eine Folge inf [I ] mit yk 6= b für k∈N und limk→∞ yk = b. Seixk := f−1(yk).Dann giltxk 6= a für k∈ N sowie limk→∞ xk = a, da f−1 in b stetig ist. Wegen

0 6= f ′(a) = limk→∞

f (xk)− f (a)xk−a

gibt es einK mit

0 6= f (xk)− f (a)xk−a

=yk−b

f−1(yk)− f−1(b)für k≥ K .

Also erhalten wir

f−1(yk)− f−1(b)yk−b

=xk−a

f (xk)− f (a)=(

f (xk)− f (a)xk−a

)−1

für k≥ K ,

und die Behauptung folgt durch Grenzübergang.

Beispiel 6.2.11. f (x) = expx. Dann ln′ y = 1exp′ lny = 1

y. ♦

1Nach dem späteren Satz6.2.13ist f in a stetig, wennf in a differenzierbar ist. Die Stetigkeit vonf in amüßte also nicht extra vorausgesetzt werden.

108

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6.2 Eigenschaften differenzierbarer Abbildungen

6.2.4 Höhere Ableitungen

Sei F : D ⊆ X → Y differenzierbar mit Banach-RäumenX, Y. Dann istF ′ : D ⊆ X →L(X,Y) und man kann wieder die Frage stellen, obF ′ differenzierbar ist. Zu klären wärehier, obL(X,Y) wieder ein Banach-Raum ist (das ist tatsächlich der Fall). WennF ′ differen-zierbar ist, erhalten wir die zweite AbleitungF ′′ : D ⊆ X → L(X,L(X,Y)). Offensichtlichwird die Struktur immer komplizierter. Später betrachten wir einen Ausweg.

Für X = Y = R können wir aber jetzt schon höhere Ableitungen bilden.

Wir erhalten:

• Wenn f differenzierbar aufD ist, dann existiert erste Abbildungf ′ aufD.

• . . .

• Wenn diek-te Ableitung f (k) differenzierbar aufD ist, dann existiert die(k+ 1)-

Ableitung f (k+1) aufD mit f (k+1) =(

f (k))′

.

Beispiel 6.2.12.1. f (x) = xn auf R mit n∈ N. Dann f ′(x) = nxn−1 (für n≥ 1), f ′′(x) =n(n−1)xn−2 (für n≥ 2), . . . , f (n)(x) = n!, f (k)(x) = 0 für k > n.

2. f (x) = sinx aufR. Dann f ′(x) = cosx, f ′′(x) =−sinx, f ′′′(x) =−cosx, f (4)(x) = sinx=f (x); also

f (4k)(x) = f (x) = sinx ,

Z.B., f (135)(x) = f (4·33+3)(x) =−cosx.

3. Zweite Ableitung einer zusammengesetzten Funktiong = f φ . Es gilt

g′(x) = f ′(φ(x))φ ′(x) undg′′(x) = f ′′(φ(x))(φ ′(x))2 + f ′(φ(x))φ ′′(x) . ♦

6.2.5 Differenzierbarkeit und Stetigkeit

Es seien(X,‖ · ‖X) und(Y,‖ · ‖Y) reelle Banachräume.

Satz 6.2.13.Sei F: D⊆ X →Y differenzierbar in x0 ∈ D. Dann ist F stetig in x0.

Folgerung 6.2.14.Eine differenzierbare Abbildung ist stetig.

Beweis.(Des Satzes) DaF differenzierbar inx0, gilt

F(x0 +h)−F(x0) = F ′(x0)h+o(‖h‖X) .

Wegen der Stetigkeit vonF ′(x0) existiertL = sup‖h‖X≤1‖F ′(x0)h‖Y. Damit gilt

‖F(x0 +h)−F(x0)‖Y ≤ (L+o(1))‖h‖X .

Die rechte Seite wird nun kleiner als jedesε > 0, wenn nur‖h‖X < δ .

109

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6 Differentialrechnung

Bemerkung 6.2.15.1. Stetigkeit vonF in x0 heißtF(x) ≈ F(x0) für x≈ x0. Das ist alsoeine Approximation durch Polynom nullten Grades (Konstante).

2. Differenzierbarkeit vonF in x0 heißtF(x) ≈ F(x0) + F ′(x0)(x− x0) für x≈ x0. Dasist also eine Approximation durch Polynom ersten Grades (Tangente an Graph): Seiε > 0beliebig. Dann existiert einδ ∈ ]0,1[, so daß

‖F(x0 +h)− [F(x0)+F ′(x0)h]‖Y < ε‖h‖X < εδ < ε .

für alleh∈ X mit ‖h‖X < δ . ♦

6.2.6 Differenzierbarkeit und Extrema

Sei(X,‖ · ‖) ein reeller Banachraum.

Definition 6.2.16. Die Abbildung F : D ⊆ X → R hat beix0 ∈ D ein lokales Minimum(Maximum), wenn eine UmgebungU vonx0 existiert mitF(x)≥ F(x0) (F(x)≤ F(x0)) fürallex∈U ∩D. Ein lokales Extremumist ein lokales Minimum oder Maximum. ♦

Satz 6.2.17 (Satz von Fermat).Sei F: D ⊆ X → R, x0 ∈ D. Sei x0 innererPunkt von Dund sei F in x0 differenzierbar. Dann gilt:

F hat in x0 lokales Extremum⇒ F ′(x0) = 0.

Beweis.F habe ein lokales Minimum inx0. Angenommen, es giltF ′(x0) 6= 0. Dann gibt eseinh0 ∈ X mit F ′(x0)h0 < 0. Es gilt

F(x0 + τh0) = F(x0)+ τF ′(x0)h0 +o(‖τh0‖X) = F(x0)+ τF ′(x0)h0 +o(|τ|)

für x0+τh0∈D. Damit gibt es beliebig kleineτ > 0 mit x0+τh0∈U∩D undF(x0+τh0) <F(x0). Analog verfährt man bei lokalem Maximum.

Bemerkung 6.2.18.Wennx0 kein innerer Punkt ist, muß die Behauptung nicht gelten! Be-trachte z.B.x 7→ x2 auf [−1,1]. Es liegen lokale Maxima in−1 und 1 vor, aber die Ableitungverschwindet dort nicht. ♦

6.2.7 Mittelwertsätze

Es seien(X,‖ · ‖X) und(Y,‖ · ‖Y) reelle Banachräume.

Satz 6.2.19 (Satz von Rolle).Sei f: [a,b]→R stetig, a< b, und sei f∣∣]a,b[ differenzierbar.

Dann giltf (a) = f (b) ⇒ ∃c∈ ]a,b[ : f ′(c) = 0.

110

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6.2 Eigenschaften differenzierbarer Abbildungen

Beweis.Nach Satz von Weierstraß (Folgerung5.2.27) existieren globales Minimum undMaximum auf[a,b]. Liegen beide in den Randpunkten vor, so istf konstant auf[a,b] unddamit f ′(c) = 0 für allec∈ [a,b]. Liegt wenigstens eines der beiden globalen Extrema inInnern von[a,b] vor, dann verschwindet dort nach Satz6.2.17die Ableitung.

Im folgenden bezeichnen wir mitIa,b die (offene)Verbindungsstreckevona undb, d.h.

Ia,b := (1− t)a+ tb: t ∈ ]0,1[ .

Satz 6.2.20 (Satz von Cauchy, verallgemeinerter Mittelwertsatz).Seien F,G: D⊆X→R stetig, a und b in D mit Ia,b ⊂ D, a 6= b und es seien F, G differenzierbar auf Ia,b. Dannexistiert ein c∈ Ia,b mit

(F(b)−F(a))G′(c)(b−a) = (G(b)−G(a))F ′(c)(b−a)

d.h.F(b)−F(a)G(b)−G(a)

=F ′(c)G′(c)

, falls X = R und G(x) 6= 0 auf Ia,b . (6.2.4)

Beweis.Seih: [0,1]→ R mit

h(t) = F((1− t)a+ tb)(G(b)−G(a))+(G((1− t)a+ tb)−G(a))(F(a)−F(b)) .

Dann h(0) = h(1) = F(a)(G(b)−G(a)). Mit Satz von Rolle (Satz6.2.19) existiert einτ ∈ ]0,1[ und damitc = (1− τ)a+ τb∈ Ia,b mit

0 = h′(τ) = F ′(c)(b−a)(G(b)−G(a))+G′(c)(b−a)(F(a)−F(b)) .

DaG(b)−G(a) undF(a)−F(b) reell sind, folgt die Behauptung.

Satz 6.2.21 (Satz von Lagrange, Mittelwertsatz).Sei F: D ⊆ X → R stetig, seien a undb in D mit a 6= b und Ia,b⊂D und es sei F differenzierbar auf Ia,b. Dann existiert ein c∈ Ia,b

mitF(b)−F(a) = F ′(c)(b−a) ,

d.h.F(b)−F(a)

b−a= F ′(c), falls X = R .

Beweis.SetzeG(x) = x in Satz6.2.20. Dann existiert einc∈ Ia,b mit

(F(b)−F(a))(b−a) = (b−a)F ′(c)(b−a) ,

wobeiF(b)−F(a) undF ′(c)(b−a) reelle Zahlen sind undb−a nicht der Nullvektor ist.

Bemerkung 6.2.22.Die Aussagen der Sätze6.2.20, 6.2.21ist im allgemeinen falsch, wennF : D⊆ X →Y mit Y 6= R.

Jedoch gilt: ♦

111

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6 Differentialrechnung

Satz 6.2.23.Sei F: [a,b]⊂R→Y stetig, a6= b, und es sei F∣∣]a,b[ differenzierbar. Dann gilt

‖F(a)−F(b)‖Y ≤ supc∈ ]a,b[

‖F ′(c)‖Y(b−a) .

Beweis.O.B.d.A. seiF ′ beschränkt auf]a,b[, d.h. es existiert einM ≥ 0 mit ‖F ′(x)‖Y < Mfür x∈ ]a,b[. Seiε ∈ ]0,b−a[ fixiert. Wir setzen

S:= s∈ [a+ ε,b] : ‖F(s)−F(a+ ε)‖Y ≤M(s−a− ε) .

Daa+ ε ∈ S ist Snichtleer. Wegen der Stetigkeit vonF ist Sabgeschlossen. Offensichtlichist S beschränkt. Nach dem Satz von Heine-Borel (Satz3.4.24) ist S kompakt. Somit istσ := maxSeine wohldefinerte Zahl inS.

Es seiσ < b. Dann gilt fürt ∈ ]σ ,b[

‖F(t)−F(a+ ε)‖Y ≤M(σ −a− ε)+‖F(t)−F(σ)‖Y .

DaF auf [a+ ε,b[ differenzierbar ist, folgt

‖F(t)−F(σ)‖Y

t−σ→ F ′(σ) für t → σ .

Aufgrund der Definition vonM existiert einδ ∈ ]0,b−σ [ mit

‖F(t)−F(σ)‖Y ≤M(t−σ) für 0 < t−σ < δ .

Damit folgt

‖F(t)−F(a+ ε)‖Y ≤M(t−a− ε) für t ∈ [a+ ε,σ +δ [ ,

was der Definition vonσ widerspricht. Also giltσ = b und somit

‖F(t)−F(a+ ε)‖Y ≤M(t−a− ε) für t ∈ [a+ ε,b[

für jede obere SchrankeM von‖F ′(x)‖Y auf ]a,b[, d.h.

‖F(t)−F(a+ ε)‖Y ≤ supc∈ ]a,b[

‖F ′(c)‖Y(t−a− ε) für t ∈ [a+ ε,b[ .

Mit ε → 0 und der Stetigkeit vonF folgt nun die Behauptung.

Satz 6.2.24 (Schrankensatz).Sei F: D ⊆ X → Y stetig, seien a und b in D mit Ia,b ⊂ Dund es sei F differenzierbar auf Ia,b. Dann gilt

‖F(a)−F(b)‖Y ≤ supc∈Ia,b

‖F ′(c)(a−b)‖Y .

Beweis.Seih: [0,1]→Y mit

h(t) = F((1− t)a+ tb) .

Dann gilth′(t) = F ′((1− t)a+ tb)(b−a)

und Satz6.2.23impliziert

‖F(a)−F(b)‖Y = ‖h(0)−h(1)‖Y ≤ supt∈[0,1]

‖h′(t)‖= supc∈Ia,b

‖F ′(c)(a−b)‖Y .

112

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6.2 Eigenschaften differenzierbarer Abbildungen

6.2.8 Die de l’Hospitalschen Regeln

limx→0

tanx−xx−sinx

ist ein Grenzwert vom unbstimmten Typ „00“. Die Cauchy-Formel (6.2.4) er-

laubt in manchen Fällen die Behandlung solcher Ausdrücke:

Satz 6.2.25 (de l’Hospital).Sei

1. f ,g: ]a,b[→ R differenzierbar mit g′(x) 6= 0 für x∈]a,b[.

2. limxa f (x) = limxag(x) = 0.

3. Der (eigentliche oder uneigentliche) Grenzwertlimxa

f ′(x)g′(x)

existiert.

Dann gilt

limxa

f (x)g(x)

= limxa

f ′(x)g′(x)

.

Bemerkung 6.2.26.1. Der Satz gilt sinngemäß auch fürx a und somit fürx→ a.

2. Der Satz gilt sinngemäß auch für den Typ „00“ für x→±∞.

3. Sinngemäß gelten die Aussagen auch für den Typ „∞∞ “.

4. Unbestimmte Ausdrücke der Form „0·∞“, „ +∞− (+∞)“, „0 0“, „1±∞“, „ ∞0“ werden(meist durch Logarithmieren) auf „0

0“ oder „∞∞ “ zurückgeführt. ♦

Beispiel 6.2.27. limx→0

tanx−xx−sinx

: Es gilt (tanx−x)′ = 1+ tan2x−1= tan2x und(x−sinx)′ =

1−cosx. Da

limx→0

tan2x1−cosx

wieder vom Typ „00“ ist, kann noch keine Entscheidung getroffen werden. Es gilt(tan2x)′ =2tanx(1+ tan2x) und(1−cosx)′ = sinx. Es ist

limx→0

2tanx(1+ tan2x)sinx

= limx→0

2(1+ tan2x)cosx

= 2

und damit

limx→0

tanx−xx−sinx

= limx→0

tan2x1−cosx

= limx→0

2tanx(1+ tan2x)sinx

= 2. ♦

113

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6 Differentialrechnung

6.3 Partielle Ableitungen

6.3.1 Differenzierbarkeit von Koordinatenfunktionen

Ziel der nächsten drei Abschnitte ist es, die Fréchet-Ableitung durch klassische Ableitungenzu berechnen.

Dazu beschränken wir uns aufX = Rn, Y = Rm mit den kanonischen Basene1, . . . ,en und f1, . . . , fm. Um mit Vektoren und Matrizen numerisch nach den Matrizenrechenregelnrechnen zu können, müssen wir Vektoren als spezielle einspaltige oder einzeilige Matrizenauffassen. Einn-Tupel wird dabei mit einem Spaltenvektor identifiziert,

x = (x1, . . . ,xn) =

x1

...xn

.

Man beachtex> = (x1, . . . ,xn)> = (x1 . . . xn) .

Bezüglich der kanonischen Basis gilt

x = (x1, . . . ,xn) =n

∑i=1

xiei mit xi = 〈ei ,x〉 .

Für das Standardskalarprodukt gilt

〈x1,x2〉= ∑xi1xi

2 = x>1 x2 .

Wir betrachten eine AbbildungF : D⊆ Rn → Rm. Dann gilt

F =m

∑i=1

F i fi mit F i(x) = 〈 fi ,F(x)〉 .

Wir bezeichnen mit[A] ∈ Rm×n die Matrixdarstellung einer linearen AbbildungA: Rn →Rm.

Satz 6.3.1.Sei x0 ∈ D und F: D⊆ Rn → Rm. Dann gilt

F ist differenzierbar in x0 ⇐⇒ alle Fi sind differenzierbar in x0 .

Ist F differenzierbar in x0, dann

∂F(x0)h =m

∑i=1

(∂F i(x0)h

)fi .

Beweis.Die AbbildungenEi : Rm→ R, Ei : R → Rm mit Ei(x) = 〈 fi ,x〉 und Ei(λ ) = λ fisind stetige, lineare Abbildungen und daher differenzierbar. Da

F i = Ei F undF =m

∑i=1

Ei F i =m

∑i=1

F i fi ,

folgt die Behauptung aus Additions- und Kettenregel.

114

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6.3 Partielle Ableitungen

6.3.2 Partielle Ableitungen einer Abbildung

SeiD⊆ X = Rn eine offene Menge undF : D→Y = Rm undx0 ∈ D.

Sei i ∈ 1, . . . ,n fixiert. Dann ist

Di := ξ ∈ R : x0 +ξei ∈ D

eine offene Teilmenge vonR und 0∈ Di . Wir betrachtenφi : Di →Y mit

φi(ξ ) = F(x0 +ξei) .

Definition 6.3.2. Wennφi an der Stelle 0 differenzierbar ist, dann heißtF in x0 partiell nachder i-ten Variablen differenzierbarmit der Ableitung∂iF(x0) := ∂φi(0) = φ ′i (0). Falls diepartielle Ableitung∂iF(x0) in allenx0 ∈ D existiert, dann heißtF (auf D) partiell nach deri-ten Variablen differenzierbar. ♦

Bezeichnung:∂iF(x0) = ∂F∂xi (x0) = DiF(x0) = F ′xi(x0) = F ′i (x0).

Bemerkung 6.3.3.1. Partielle Differentiation nach deri-ten Variablen heißt also Differen-tiation bei Festhaltung der anderen Variablen.

2. Ist F eine Abbildung ausRn in R, dann ist die partielle Ableitung∂iF(x0) eine reelleZahl und

∂iF(x0) = limξ→0

F(x0 +ξei)−F(x0)ξ

= limξ→0

F(x10, . . . ,x

i−10 ,xi

0 +ξ ,xi+10 , . . . ,xn

0)−F(x10, . . . ,x

i−10 ,xi

0,xi+10 , . . . ,xn

0)ξ

3. Die Existenz aller partieller Ableitungen∂iF(x0), i = 1, . . . ,n, in einem Punktx0 enthältnur geringe Information über das Verhalten vonF in der Umgebung vonx0! Insbesonderefolgt aus der Existenz aller partieller Ableitungen nicht die Stetigkeit inx0 und damit erstrecht nicht die Differenzierbarkeit! Betrachte dazuF : R2 → R mit

F(x) =

x1x2

(x1)2 +(x2)2 , wennx 6= 0,

0, wennx = 0.

DannF(ξ ,0) = F(0,ξ ) = F(0,0) = 0 und es existieren die partiellen Ableitungen

∂1F(0) = ∂2F(0) = 0.

Jedoch istF in 0 nicht stetig, da

limξ→0

F(ξ ,ξ ) =126= lim

ξ→0F(ξ ,−ξ ) =−1

2.

115

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6 Differentialrechnung

Satz 6.3.4.Sei F in x0 ∈ D differenzierbar. Dann existieren alle partiellen Ableitungen inx0 und es gilt

∂iF(x0) = ∂F(x0)ei .

Beweis.Es gilt

φi(ξ )−φi(0) = F(x0 +ξei)−F(x0) = ξ ∂F(x0)ei +o(‖ξei‖X) = ξ ∂F(x0)ei +o(|ξ |) .

Bemerkung 6.3.5.1. Mit hi = 〈ei ,h〉 gilt

∂F(x0)h = ∂F(x0)n

∑i=1〈ei ,h〉ei =

n

∑i=1

∂F(x0)eihi =

n

∑i=1

∂iF(x0)hi .

Sei dasDifferential dxi : Rn → R in Richtungei diejenige lineare Abbildung mit

dxi(h) := hi = 〈ei ,h〉 .

Dann erhalten wir

∂F(x0) =n

∑i=1

∂iF(x0)dxi .

Das Differentialdxi ist also keine unendlich kleine Größe (was soll das sein?) oder einereelle Zahl sondern eine lineare Abbildung!

2. Mit

F =m

∑j=1

F j f j mit F j(x) =⟨

f j ,F(x)⟩

erhalten wir weiter

∂F(x0)h =n

∑i=1

m

∑j=1

∂iFj(x0)hi f j ,

d.h.,[∂F(x0)h] =

(∂iF

j(x0))

j,i ·h.

Folgerung 6.3.6. Ist D⊆Rn offen und ist F: D⊆Rn→Rm in x0∈D differenzierbar, dannsind in x0 die m Koordinatenfunktionen Fj partiell nach den n Variablen differenzierbar.Bezüglich den kanonischen Basen entspricht der Ableitung∂F(x0) die Matrix

[∂F(x0)] :=(∂iF

j(x0))

j,i =

∂1F1(x0) · · · ∂nF1(x0)...

...∂1Fm(x0) · · · ∂nFm(x0)

.

116

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6.3 Partielle Ableitungen

Bemerkung 6.3.7.1. Die Matrix [∂F(x0)] wird Jacobi-Matrix von F an der Stellex0 ge-nannt. Die Anwendung der Abbildung∂F(x0) auf h entspricht der Matrizenmultiplikationder Matrix[∂F(x0)] mit dem Spaltenvektorh.

2. IstY = R, so ist[∂F(x0)] also ein Zeilenvektor. Der Spaltenvektor

[∂F(x0)]> = (∂1F(x0), . . . ,∂nF(x0)) =: gradF(x0)

heißtGradient vonF . Es gilt somit

F ′(x0)h = 〈gradF(x0),h〉 .

3. IstX = R, so ist[∂F(x0)] ein Spaltenvektor.

4. Normalerweise wird die Unterscheidung zwischen Vektor (Abbildung) und Koordinaten-vektor (Matrix) bei festgelegten Basen aufgehoben, es werden also gleiche Bezeichnungenverwendet und aus dem Zusammenhang ist zu erschließen, was gemeint ist. ♦

6.3.3 Differenzierbarkeit und partielle Ableitung

Eine konkrete AbbildungF : D ⊆ Rn → Rm ist im allgemeinen koordinatenweise gegebenund es ist verhältnismäßig leicht, sich der partiellen Ableitungen∂iF j der Koordinaten vonF zu vergewissern. Die fundamentalen Sätze der mehrdimensionalen Differentialrechnunghandeln aber von der Fréchet-Ableitung∂F vonF .

Wir benötigen daher eine Umkehrung von Folgerung6.3.6. Wie Bemerkung6.3.3zeigt,brauchen wir zusätzliche Voraussetzungen.

Satz 6.3.8.Sei D⊆Rn offen. Besitzt F: D→Rm sämtliche partiellen Ableitungen∂iF j aufD und sind diese auf D beschränkt, dann ist F stetig auf D.

Beweis.Wegen Satz6.3.1 können wir uns aufm = 1 beschränken. Seien die partiellenAbleitungen durchM beschränkt. Seix0 ∈ D. Für genügend kleineh gilt

F(x0 +h)−F(x0) =n

∑i=1

(F(xi)−F(xi−1))

mitx1 = x0 +h1e1 , x2 = x1 +h2e2 , . . . , xn = xn−1 +hnen .

Auf die Differenzen rechts kann der Mittelwertsatz (Satz6.2.21) angewendet werden, d.h.,es existierenci ∈ Ixi ,xi−1 mit

F(xi)−F(xi−1) = ∂iF(ci)hi .

Damit

|F(x0 +h)−F(x0)|= |n

∑i=1

∂iF(ci)hi | ≤n

∑i=1|∂iF(ci)| · |hi | ≤ ‖h‖X

n

∑i=1|∂iF(ci)| ≤ nM‖h‖X .

Folglich istF stetig inx0.

117

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6 Differentialrechnung

Satz 6.3.9.Sei D⊆Rn offen. Besitzt F: D→Rm sämtliche partiellen Ableitungen∂iF j aufD und sind diese in x0 ∈ D stetig, dann ist F an der Stelle x0 differenzierbar und es gilt

∂F(x0)h =n

∑i=1

m

∑j=1

∂iFj(x0)hi f j . (6.3.1)

Sind die partiellen Ableitungen stetig auf D, so ist∂F stetig.

Beweis.Wegen Satz6.3.1können wir uns aufm= 1 beschränken. Zu zeigen ist dann, daß

∂F(x0)h :=n

∑i=1

∂iF(x0)hi

tatsächlich die Ableitung vonF an der Stellex0 ist, d.h.,

limh→0

F(x0 +h)−F(x0)−∂F(x0)h‖h‖X

= 0.

Seih∈ Rn. Wir führen die Punkte

x1 = x0 +h1e1 , x2 = x1 +h2e2 , . . . , xn = xn−1 +hnen

ein. Dann istxn = x0 + h und es giltxi ∈ D für i = 1, . . . ,n, wenn‖h‖X klein genug ist.Damit gilt

F(x0 +h)−F(x0) =n

∑i=1

(F(xi)−F(xi−1)) .

Auf die Differenzen rechts kann der Mittelwertsatz (Satz6.2.21) angewendet werden, d.h.,es existierenci ∈ Ixi ,xi−1 mit

F(xi)−F(xi−1) = ∂iF(ci)hi .

Damit

|F(x0 +h)−F(x0)−∂F(x0)h|= |n

∑i=1

(∂iF(ci)hi −∂iF(x0)hi) |

≤n

∑i=1|∂iF(ci)−∂iF(x0)‖hi |

≤ ‖h‖X

n

∑i=1|∂iF(ci)−∂iF(x0)|

und folglich

|F(x0 +h)−F(x0)−∂F(x0)h|‖h‖X

≤n

∑i=1|∂iF(ci)−∂iF(x0)|.

Mit der Stetigkeit der partiellen Ableitungen folgt die Differenzierbarkeit vonF . Die Ste-tigkeit folgt aus der Stetigkeit der partiellen Ableitungen und (6.3.1).

118

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6.3 Partielle Ableitungen

6.3.4 Cr -Abbildungen und partielle Ableitungen höherer Ordnung

Definition 6.3.10. Eine AbbildungF : D→ Rm, D⊆ Rn offen, heißtstetig differenzierbaroderC1-Abbildung, wennF auf D differenzierbar und die Ableitung stetig ist. Sie heißtstetig partiell differenzierbar, wenn alle partiellen Ableitungen∂iF j auf D existieren undstetig sind. ♦

Bemerkung 6.3.11.1. Wegen Satz6.3.9gilt

F ist C1−Abbildung ⇐⇒ F ist stetig partiell differenzierbar.

2. Das Differential∂F(x0) ist eine lineare Abbildung vonRn nachRm. Diese kann miteinerm× n-Matrix (Jacobi-Matrix) identifiziert werden. Einem× n-Matrix kann als einElement vonRmn aufgefaßt werden. Damit können wir obige Überlegungen auch auf dieAbleitung von∂F anwenden: Die zweite Ableitung∂ 2F existiert an der Stellex0, wenn die(ersten) partiellen Ableitungen von∂F , d.h. die zweiten partiellen Ableitungen∂i∂kF j vonF , existieren und inx0 stetig sind. Die zweite Ableitung vonF ist stetig, wenn die zweitenpartiellen Ableitungen vonF stetig sind. ♦

Definition 6.3.12. Eine AbbildungF : D → Rm, D ⊆ Rn offen, heißtr-mal stetig diffe-renzierbaroderCr -Abbildung mit r ∈ N>0, wennF auf D r-mal differenzierbar und dieAbleitung ∂ rF stetig ist. Sie heißtr-mal stetig partiell differenzierbar, wenn aller-tenpartiellen Ableitungen vonF aufD existieren und stetig sind. ♦

Bemerkung 6.3.13.1. Es gilt also

F ist Cr −Abbildung ⇐⇒ F ist r−mal stetig partiell differenzierbar.

2. Setzen wir als 0-te Ableitung vonF die AbbildungF selbst, d.h.∂ 0F = F , so können wirdie MengenCr(D,Rm), r ∈ N, als die Menge allerCr -Abbildungen vonD in Rm einführen.

3. Es giltCr(D,Rm)⊆Cs(D,Rm) für r ≥ s.

4. Weiter seiC∞(D,Rm) die Menge aller Abbildungen vonD nachRm, dieCr für alle r ∈Nsind, d.h.C∞(D,Rm) =

⋂r∈NCr(D,Rm).

5. Die MengenCr(D,Rm), r ∈ N∪∞, sind Vektorräume.

6. Man schreibt kurzCr(D) für Cr(D,R1). ♦

Beispiel 6.3.14.Sei f (x,y) = 2x3y2−4x2y+2 aufD = R2. Dann

∂1 f (x,y) = 6x2y2−8xy, ∂2 f (x,y) = 4x3y−4x2 .

Weiter gilt∂1∂1 f (x,y) = 12xy2−8y, ∂2∂1 f (x,y) = 12x2y−8x

und∂1∂2 f (x,y) = 12x2y−8x , ∂2∂2 f (x,y) = 4x3 .

Damit ist f mindestensC2 ( f ist sogarC∞).

Wir bemerken∂1∂2 f (x,y) = ∂2∂1 f (x,y). ♦

119

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6 Differentialrechnung

Satz 6.3.15 (Satz von Schwarz).Für jede C2-Abbildung F: D→ R, D⊆ Rn offen, gilt

∀x0 ∈ D∀i,k∈ 1, . . . ,n : ∂i∂kF(x0) = ∂k∂iF(x0) ,

d.h. die Matrix(∂i∂kF(x0))i,k ist symmetrisch:

(∂i∂kF(x0))>i,k = (∂i∂kF(x0))i,k .

Als Folgerung ergibt sich, daß beiCr -Abbildungen ausRn in Rm die Reihenfolge der Bil-dung der partiellen Ableitungen bis zur Ordungr nicht wesentlich ist.

Bezeichnungen:∂

22 = ∂2,2 = ∂2∂2 , ∂1,3 = ∂1∂3 = ∂3∂1 .

6.3.5 Komplexe Ableitung

Wir beschäftigen uns hier kurz mit der Ableitung von Funktionenf : D→ C, D⊆ C offen.

Da jede komplexe Zahlz = a+ ib ∈ C mit einem Paar(a,b) ∈ R2 indentifiziert werdenkann, kannf mit einer AbbildungF : D⊆ R2 → R2,

F(x,y) = (ℜ f (x+ iy),ℑ f (x+ iy)) für (x,y) ∈ D := (ξ ,η) : ξ + iη ∈ D

identifiziert werden, deren Fréchet-Differenzierbarkeit untersucht werden kann. Anderer-seits können wir, daC ein Körper ist, den Differenzenquotienten

f (z0 +h)− f (z0)h

für z0∈D und hinreichend kleineh∈C definieren und damit die Ableitung wie im skalarenFall als Grenzwert des Differentialquotienten definieren.

Definition 6.3.16. Die Funktion f heißt an der Stellez0 ∈D (komplex) differenzierbarmitder Ableitungf ′(z0), wenn

f ′(z0) = limh→0

f (z0 +h)− f (z0)h

in C existiert. ♦

Analog zum reellen Fall kann man auch hier die Äquivalenz mit der Zerlegungsformel

f (z0 +h)− f (z0) = f ′(z0)h+o(|h|) für h→ 0

zeigen.

120

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6.3 Partielle Ableitungen

Satz 6.3.17.Die Funktion f ist genau dann in z0 = x0 + iy0 ∈ D komplex differenzierbar,wenn F in(x0,y0) Fréchet-differenzierbar ist und die Cauchy-Riemann-Differentialgleichungen

∂1F1(x0,y0) = ∂2F2(x0,y0) , ∂2F1(x0,y0) =−∂1F2(x0,y0) (6.3.2)

erfüllt sind. In diesem Fall gilt

f ′(z0) = ∂1F1(x0,y0)+ i∂1F2(x0,y0) . (6.3.3)

Beweis.Seien

A =(

α −β

β α

), a = α + iβ

undh = ξ + iη . Dann gilt

A· (ξ ,η) = (αξ −βη ,βξ +αη) = (ℜ(ah),ℑ(ah)) . (6.3.4)

=⇒. Sei f in z0 = x0 + iy0 ∈ D komplex differenzierbar. Mita = f ′(z0) undα = ℜ f ′(z0),β = ℑ f ′(z0) und (6.3.4) ergibt sich

lim(ξ ,η)→(0,0)

‖F(x0 +ξ ,y0 +η)−F(x0,y0)−A· (ξ ,η)‖‖(ξ ,η)‖

= limh→0

| f (z0 +h)− f (z0)−a·h||h|

= 0.

Also istF in (x0,y0) Fréchet-differenzierbar mit

[F ′(x0,y0)] = A,

so daß (6.3.2) gilt.

⇐=. SeiF in (x0,y0) Fréchet-differenzierbar mit (6.3.2). Sei

a := ∂1F1(x0,y0)+ i∂1F2(x0,y0) .

Dann gilt[F ′(x0,y0)] = A mit α = ℜa, β = ℑa. Wegen (6.3.4) folgt

limh→0

| f (z0 +h)− f (z0)−a·h||h|

= lim(ξ ,η)→(0,0)

‖F(x0 +ξ ,y0 +η)−F(x0,y0)−A· (ξ ,η)‖‖(ξ ,η)‖

= 0.

Somit ist f komplex differenzierbar mit (6.3.3).

Beispiel 6.3.18.1. Sei f : C→ C mit f (z) = z2. Wegen

f (x+ iy) = (x+ iy)2 = x2−y2 + i2xy

121

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6 Differentialrechnung

haben wirF(x,y) = (x2− y2,2xy). Damit lauten die Cauchy-Riemann-Differentialglei-chungen

∂1F1(x,y) = ∂2F2(x,y) = 2x , ∂2F1(x,y) =−∂1F2(x,y) =−2y.

Damit ist f komplex differenzierbar mit

f ′(x+ iy) = ∂1F1(x,y)+ i∂1F2(x,y) = 2x+ i2y,

d.h., wie erwartet,f ′(z) = 2z.

2. Die Abbildung f : C → C mit f (z) = z ist in keinemz∈ C komplex differenzierbar:Wegen

f (x+ iy) = x− iy

haben wirF(x,y) = (x,−y) und damit

1 = ∂1F1(x,y) 6= ∂2F2(x,y) =−1, ∂2F1(x,y) =−∂1F2(x,y) = 0.

Man beachte aber

[F ′(x,y)] =(

1 00 −1

),

so daßF sogar stetig diffenzierbar ist. ♦

6.4 Anwendungen der Fréchet-Ableitung

6.4.1 Fehlerabschätzung und Approximation

Gesucht sei eine Größez in Abhängigkeit von Größenx undy:

z= f (x,y) .

Anstelle der exakten Größenx undyseien nur gemessene oder nur näherungsweise bekannteGrößen ¯x und y bekannt. Damit

x = x+∆x , y = y+∆y

mit (absoluten) Meßfehlern∆x und∆y. Anstelle vonz= f (x,y) hat man dann ¯z= f (x, y).

Häufig hat man eine Schranke für die Meßfehler

|∆x| ≤ δx , |∆y| ≤ δy

und interessiert sich für die Abschätzung des absoluten Fehlers

| f (x,y)− f (x, y)| .

122

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6.4 Anwendungen der Fréchet-Ableitung

Ist f im interessierenden BereichD differenzierbar, dann erhalten wir mit dem Mittelwert-satz (Satz6.2.21)

f (x,y)− f (x, y) = ∂ f (x, y)(∆x,∆y)

mit (x, y) zwischen(x,y) und (x, y). Der Fréchet-Ableitung∂ f (x, y) entspricht die Jacobi-Matrix

(∂1 f (x, y),∂2 f (x, y))

und damit haben wir

| f (x,y)− f (x, y)|= |∂1 f (x, y)∆x+∂2 f (x, y)∆y|≤ δx sup

(x,y)∈I(x,y),(x,y)

|∂1 f (x, y)|+δy sup(x,y)∈I(x,y),(x,y)

|∂2 f (x, y)|

≈ δx|∂1 f (x, y)|+δy|∂2 f (x, y)|, wennδx,δy sehr klein.

Beispiel 6.4.1.Wir betrachten den Drillwinkelφ eines zylindrischen Stabes

φ =2lN

πr4G

mit der Längel , dem Radiusr, dem DrehmomentN und dem TorsionsmodulG. DurchUntersuchung des relativen Fehlers entscheide man, welche Größe bei der Berechnung vonG besonders sorgfältig gemessen werden muß.

Wir haben

G = G(φ , l , r,N) =2lN

πr4φ.

Seienφ , l , r, N die gemessenen Größen mit den Fehlern∆φ , ∆l , ∆r, ∆N. Dann gilt für denrelativen Fehler

|G− GG

| ≈ 1|G|

|∂1G∆φ +∂2G∆l +∂3G∆r +∂4G∆N|

=1|G|

|− 2lNπr4φ2∆φ +

2Nπr4φ

∆l +−8lNπr5φ

+2l

πr4φ∆N|

= |− ∆φ

φ+

∆ll−4

∆rr

+∆NN|

≤ |∆φ

φ|+ |∆l

l|+4|∆r

r|+ |∆N

N|.

Folglich hat der relative Fehler vonr den größten Einfluß,r sollte also (relativ) am genaue-sten gemessen werden. ♦

6.4.2 Richtungsableitungen

Sei f : D⊆ Rn → R.

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6 Differentialrechnung

Definition 6.4.2. Ein Vektorr ∈ Rn mit ‖r‖= 1 heißtRichtung. ♦

Seix0 ∈ D, Sx0,r = x0 + tr : t ≥ 0 der Strahl vonx0 in Richtungr.

Definition 6.4.3. Seix0 Häufungspunkt vonSx0,r ∩D. Falls der Grenzwert

limt0

f (x0 + tr)− f (x0)t

existiert, heißt erRichtungsableitungoderGateaux-Differentialvon f an der Stellex0 inRichtungr. ♦

Bezeichnung:∂

∂ rf (x0) oder∂r f (x0) .

Satz 6.4.4.Sei f: D⊆ Rn → R im inneren Punkt x0 ∈ D differenzierbar. Dann besitzt f indiesem Punkt für jede Richtung r∈ Rn eine Richtungsableitung∂r f (x0) und es gilt

∂r f (x0)︸ ︷︷ ︸Gateaux−Differential

= ∂ f (x0)r.︸ ︷︷ ︸Frechet−Differential

(6.4.1)

Beweis.Da f in x0 differenzierbar, gilt

f (x0 + tr)− f (x0) = ∂ f (x0)(tr)+o(‖tr‖) = t f (x0)r +o(t)

für t ≥ 0 mit x0 + tr ∈ D.

Bemerkung 6.4.5.1. Das Gateaux-Differentialr 7→ ∂r f (x0) ist (im Gegensatz zum Fréchet-Differential r 7→ ∂ f (x0)r) im allgemeinen nicht linear inr.

2. Das Gateaux-Differential existiert unter schwächeren Bedingungen als das Fréchet-Differential. ♦

Satz 6.4.6.Sei f: D ⊆ Rn → R und sei x0 ∈ D innerer Punkt von D. Besitzt f alle Rich-tungsableitungen∂r f (x0) in x0 und ist r 7→ ∂r f (x0) stetig, dann ist f in x0 differenzierbar.

Sei nune1, . . . ,en wieder die kanonische Basis inRn. Seir ∈ Rn eine Richtung. Dann

r =n

∑i=1

r iei undr = (r1, . . . , rn) mit r i = 〈r,ei〉 .

Aus (6.3.1) erhalten wir dieBerechnungsformel

∂r f (x0) =n

∑i=1

r i∂i f (x0) (6.4.2)

für in x0 differenzierbaresf . Speziell haben wir

∂ei f (x0) = ∂i f (x0) ,

d.h., die partiellen Ableitungen sind spezielle Richtungsableitungen.

124

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6.4 Anwendungen der Fréchet-Ableitung

Beispiel 6.4.7.Wir betrachtenf : R2 → R mit f (x,y) = 3x2y3 +x+y. Gesucht sind zuerstdie partiellen Ableitungen vonf in (5,2):

∂1 f (x,y) = 6xy3 +1 und damit∂1 f (5,2) = 241

und∂2 f (x,y) = 9x2y2 +1 und damit∂2 f (5,2) = 901.

Nun interessiert uns die Richtungsableitung vonf in Richtung des noch zu normierendenVektorsr0 = (−2,1). Da‖r0‖=

√5, ist r = (− 2√

5, 1√

5).

Nach Definition der Richtungsableitung haben wir

∂r f (x0) = limt0

f (x0 + tr)− f (x0)t

= limt0

3[5− t 2√

5

]2[2+ t 1√

5

]3+7− t 1√

5−607

t

= limt0

3[25− t 20√

5

][8+ t 12√

5

]− t 1√

5−600

t

= limt0

600+ t 3·25·12√5− t 3·8·20√

5− t 1√

5−600

t

=900−480−1√

5=

419√5

.

Nutzen wir (6.4.2) so erhalten wir

∂r f (x0) =− 2√5

∂1 f (5,2)+1√5

∂2 f (5,2) =−2·241+901√

5=

419√5

.

Offensichtlich ist der zweite Weg einfacher. ♦

6.4.3 Der Gradient

SeiD⊆ Rn, F : D→ Rm. Dann ist jedemx∈ D ein VektorF(x) zugeordnet.F nennt mandaher auchVektorfeldüberD.

SeiD⊆ Rn offen und f ∈C1(D). Das Vektorfeld

gradf : D→ Rn mit gradf (x) = (∂1 f (x), . . . ,∂n f (x))

heißtGradientoderGradientenfeldvon f aufD.

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6 Differentialrechnung

Bemerkung 6.4.8.1. gradf (x) ist ein Vektor ausRn.

2. Wegen (6.3.1) gilt∂ f (x)h = 〈gradf (x),h〉 .

3. Seir eine Richtung inRn. Wegen (6.4.1) gilt

∂r f (x) = 〈gradf (x), r〉 . ♦

Wir untersuchen nun die Frage, für welche Richtung∂s f (x0) maximal wird.

Ist gradf (x0) = 0, so gilt∂s f (x0) = 0 für jede Richtungs.

Sei nun gradf (x0) 6= 0. Wegen (3.1.2) und‖s‖= 1 gilt

∂s f (x0) = 〈gradf (x0),s〉 ≤ ‖gradf (x0)‖ . (6.4.3)

Seir = gradf (x0)−〈gradf (x0),s〉s.

Dann〈r,s〉= 0

und

‖gradf (x0)‖2 = 〈r + 〈gradf (x0),s〉s, r + 〈gradf (x0),s〉s〉= 〈r, r〉+ 〈gradf (x0),s〉2 .

Damit tritt in (6.4.3) genau dann das Gleichheitszeichen auf, wenn

r = 0 und 〈gradf (x0),s〉> 0.

Somit gradf (x0)= λsmit λ = 〈gradf (x0),s〉. Wir bestimmenλ aus‖s‖= 1 zu‖gradf (x0)‖.Damit wird ∂s f (x0) maximal fürs= gradf (x0)

‖gradf (x0)‖ .

Folgerung 6.4.9.Der Gradient zeigt in Richtung des stärksten Anstiegs von f .

Beispiel 6.4.10.Man finde die Richtung, in derf (x,y) = 4x2− 3y2 + 5 am stärksten imPunkt(1,1) wächst.

Es gilt ∂1 f (1,1) = 8, ∂2 f (1,1) =−6 und daher gradf (1,1) = (8,−6). Wegen

‖gradf (1,1)‖=√

64+36= 10,

tritt der stärkste Anstieg in Richtung(4/5,−3/5) auf. ♦

Weitere Anwendungen des Gradienten gibt es in den nächsten Abschnitten.

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6.4 Anwendungen der Fréchet-Ableitung

6.4.4 Tangentialhyperebene und Normalenvektor

Sei f : D→ R mit D⊆ Rn. Weiter seif differenzierbar im inneren Punktx0 ∈ D.

Definition 6.4.11. Die Hyperebene(x, f (x0)+

n

∑i=1

ai(xi −xi0)

): x∈ Rn

in Rn+1 heißtTangentialhyperebenean die Hyperfläche

graphf = (x, f (x)) : x∈ D

im Punkt(x0, f (x0)), wenn sich beide Hyperflächen mit Ordnung 1 berühren, d.h.

f (x)−

(f (x0)+

n

∑i=1

ai(xi −xi0)

)= o(‖x−x0‖) .

Dies bedeutet aberai = ∂i f (x0)

undn

∑i=1

ai(xi −xi0) = ∂ f (x0)(x−x0) = 〈gradf (x0),x−x0〉 .

Mit(a,b) = (a1, . . . ,an,b)

für a∈ Rn undb∈ R erhalten wir damit:

Lemma 6.4.12.Die Menge

(x0, f (x0))+(h,〈gradf (x0),h〉) : h∈ Rn

ist die Tangentialhyperebene in(x0, f (x0)), wobei(h,〈gradf (x0),h〉), h∈Rn, einen Tangen-tialvektor darstellt.

Offensichtlich steht der Vektorn = (−gradf (x0),1) senkrecht auf allen Tangentialvektoren(h,〈gradf (x0),h〉) und damit auf der Tangentialebene.

Lemma 6.4.13.Der Vektor n= (−gradf (x0),1) ist Normalenvektor an die Tangentialhy-perebene in(x0, f (x0)).

Beispiel 6.4.14.Wir betrachtenf (x,y) = 4x2−3y2 +5 aufD = R2 in (−1,3,18). Es gilt

∂1 f (−1,3) =−8, ∂2 f (−1,3) =−18,

so daßn = (8,18,1) Normalenvektor an die Tangetialhyperebene in(−1,3,18) ist. Wegen

‖n‖=√

64+324+1 =√

389,

ist n0 = 1√389

(8,18,1) Normaleneinheitsvektor. ♦

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6 Differentialrechnung

6.4.5 Niveauhyperflächen

Sei g: D ⊆ Rn → R stetig partiell differenzierbar aufD. Sei c ∈ R. Wir betrachten dieMenge

N = x∈ Rn : g(x) = c

und nehmen an, daßN eine glatte differenzierbare Hyperfläche ist, d.h.,

N = n(p) : p∈ P, n∈C1(P,Rn)

mit P⊆ Rn−1. N heißtNiveauhyperflächevong zum Niveauc.

Wegeng(n(p)) = c aufP, folgt mit der Kettenregel

0 = ∂g(n(p))∂n(p)h = 〈gradg(n(p)),∂n(p)h〉= 0,

d.h., der Gradient vong in n(p) steht senkrecht auf allen Vektoren∂n(p)h mit h∈ Rn−1.

Wegenn(p+h)−n(p) = ∂n(p)h+o(|h|) ist ∂n(p)h ein Tangentialvektor an die FlächeNim Punktn(p). Die Menge

n(p)+∂n(p)h: h∈ Rn−1

stellt also die Tangentialhyperebene anN in (n(p),g(n(p))) dar.

Folgerung 6.4.15.Unter Voraussetzung von Existenz und Glattheit einer Niveauhyperflä-che N von g steht der Gradient von g in einem Punkt n(p) der Fläche N senkrecht auf derTangentialhyperebene an N in(n(p),g(n(p))). Insbesondere ändert sich g nicht in Richtungvon Tangentialvektoren an N.

Als Spezialfall betrachten wir die Situationn= 2. Dann sind die Niveauhyperflächen (untergeeigneten Voraussetzungen) Kurven imR3 (Höhenlinien) und der Gradient vong stehtsenkrecht auf den Tangenten an den Höhenlinien.

6.4.6 Taylorpolynome

Definition 6.4.16. Sei f : D⊆R→R, x0 Häufungspunkt vonD. Ein Polynomp heißtn-tesTaylor-Polynomder Funktionf in x0, wenn

1. degp≤ n,

2. f und p berühren sich inx0 mindestens mit der Ordnungn. ♦

Satz 6.4.17 (Eindeutigkeit).Sei f: D⊆ R→ R, x0 ∈ D Häufungspunkt von D. Dann gibtes für jedes n∈ N höchstens ein n-tes Taylor-Polynom.

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6.4 Anwendungen der Fréchet-Ableitung

Beweis.Seienp undq n-te Taylor-Polynome vonf in x0. Dann gilt f (x0) = p(x0) = q(x0)und

f (x)− p(x) = o(|x−x0|n) , f (x)−q(x) = o(|x−x0|n) für x→ x0 .

Damit giltp(x)−q(x) = o(|x−x0|n) für x→ x0 .

Da p−q ein Polynom höchstens vom Gradn ist, folgt p = q.

Damit ist die BezeichnungT fx0,n für dasn-te Taylor-Polynom vonf in x0 gerechtfertigt.

Satz 6.4.18 (Existenz).Sei f: D ⊆ R → R, x0 ∈ D Häufungspunkt von D. Dann existiertT f

x0,1genau dann, wenn f in x0 differenzierbar ist. Es gilt dann Tfx0,1

(x) = f (x0)+ f ′(x0)(x−x0).

Eigenschaften:

• WennT fx0,n(x) = ∑n

k=0ck(x−x0)k, dannT fx0,n−1(x) = ∑n−1

k=0 ck(x−x0)k.

• Ist f selbst ein Polynomp mit degp = n, dann giltT px0,n = p. Genauer: Wennp(x) =

∑nk=0ck(x−x0)k, dann istT p

x0,m(x) = ∑mk=0ck(x−x0)k für allem≤ n.

Offene Fragen:

• Wann existierenT fx0,n mit n > 1?

• Was kannT fx0,n als Ersatz fürf leisten?

6.4.7 Die Taylor-Formel

Sei f : R→ R ein Polynom, d.h.,

f (x) =n

∑k=0

akxk

mit ak ∈ R. Dann ist

T f0,m(x) =

m

∑k=0

akxk

für m≤ n. Da f (0)(x0) = a0, f (1)(x0) = a1, f (2)(x0) = 2a2, . . . , f (k)(x0) = k!ak für k≤ nhaben wir

T fx0,m(x) :=

m

∑k=0

f (k)(x0)k!

(x−x0)k (6.4.4)

für unsere spezielle Situation eines Polynomsf undx0 = 0 gefunden.

129

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6 Differentialrechnung

MitRm( f ,x0)(x) := f (x)−T f

x0,m(x)

bezeichnen wir dasRestglied. Damit gilt

f (x) =m

∑k=0

f (k)(x0)k!

(x−x0)k +Rm( f ,x0)(x) . (6.4.5)

für jede inx0 m-mal differenzierbare Funktionf . Wesentlich ist nun, zu zeigen, daß

Rm( f ,x0)(x) = o(|x−x0|m) für x→ x0. (6.4.6)

Satz 6.4.19 (Taylor-Formel mit Restgliedabschätzung).Sei f∈Cm(D,R), D⊆R ein In-tervall. Dann existiert eine Funktionθ : D→ ]0,1[, so daß(6.4.5), (6.4.6) gelten mit

Rm( f ,x0)(x) =f (m)(x0 +θ(x)(x−x0))− f (m)(x0)

(m−1)!(x−x0)m(1−θ(x))m−1 (6.4.7)

und damit

|Rm( f ,x0)(x)| ≤1

(m−1)!sup

0<t<1| f (m)(x0 + t(x−x0))− f (m)(x0)| · |x−x0|m .

Ist f im Innern von D sogar(m+ 1)-mal differenzierbar, dann gibt es für jedes p> 0 einξ : D\x0→ D mit ξ (x) ∈ Ix,x0 und derSchlömilch-Darstellung

Rm( f ,x0)(x) =f (m+1)(ξ (x))

pm!

(x−ξ (x)x−x0

)m−p+1

(x−x0)m+1 . (6.4.8)

Speziell haben wir dieLagrange-Darstellung(p = m+1)

Rm( f ,x0)(x) =f (m+1)(ξ (x))

(m+1)!(x−x0)m+1 (6.4.9)

und dieCauchy-Darstellung(p = 1)

Rm( f ,x0)(x) =f (m+1)(ξ (x))

m!

(x−ξ (x)x−x0

)m

(x−x0)m+1 . (6.4.10)

Beweis.Seix∈ D\x0 fixiert und sei

h(t) := f (x)−m−1

∑k=0

f (k)(x0 + t(x−x0))k!

(x−x0)k(1− t)k− f (m)(x0)m!

(x−x0)m(1− t)m .

Dann gilth(0) = Rm( f ,x0)(x) , h(1) = 0

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6.4 Anwendungen der Fréchet-Ableitung

sowie

h′(t) =−m−1

∑k=0

f (k+1)(x0 + t(x−x0))k!

(x−x0)k+1(1− t)k

+m−1

∑k=1

f (k)(x0 + t(x−x0))(k−1)!

(x−x0)k(1− t)k−1

+f (m)(x0)(m−1)!

(x−x0)m(1− t)m−1

=− f (m)(x0 + t(x−x0))− f (m)(x0)(m−1)!

(x−x0)m(1− t)m−1 .

Nach dem Mittelwertsatz (Satz6.2.21) existiert ein (vonx abhängiges)θ ∈ ]0,1[ mit

−Rm( f ,x0)(x) = h(1)−h(0) = h′(θ)

und damit mit (6.4.7).

Für (6.4.8) betrachtet man

g(ξ ) :=m

∑k=0

f (k)(ξ )k!

(x−ξ )k , h(ξ ) := (x−ξ )p für ξ ∈ Ix,x0 .

Dann giltg,h∈C(Ix,x0,R1) und beide Funktionen sind aufIx,x0 differenzierbar mit

g′(ξ ) =f (m+1)(ξ )

m!(x−ξ )m, h′(ξ ) =−p(x−ξ )p−1 .

Mit dem verallgemeinertem Mittelwertsatz (Satz6.2.20) folgt die Existenz eines (vonxabhängigen)ξ ∈ Ix,x0 mit

g(x)−g(x0) =g′(ξ )h′(ξ )

(h(x)−h(x0)) .

Wegeng(x)−g(x0) = Rm( f ,x0)(x) undh(x)−h(x0) =−(x−x0)p

folgt (6.4.8).

Beispiel 6.4.20.1. Wir betrachtenf (x) = ex aufR. Dann ist f ∈C∞(R) und wir haben

f (x) = f ′(x) = · · ·= f (m+1)(x) .

Somit

ex =m

∑k=0

xk

k!+Rm( f ,0)(x)

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6 Differentialrechnung

mit

|Rm( f ,0)(x)| ≤ supξ∈I0,x

eξ |xm+1|(m+1)!

≤ e|x||x|m+1

(m+1)!→ 0 für m→ ∞ .

Damit gilt

ex =∞

∑k=0

xk

k!.

Wir haben somit ex in eine Potenzreihe,Taylorreihe genannt, entwickelt. Aufgrund derAbschätzung des Restgliedes sehen wir, daß die Konvergenz inx auf jedem kompaktenIntervall [a,b] gleichmäßig verläuft:

limn→∞

maxx∈[a,b]

|ex−n

∑k=0

xk

k!|= 0.

2. Wir betrachtenf (x) = sinx und g(x) = cosx auf R. Dann sindf ,g ∈ C∞(R) und wirhaben

f ′(x) = g(x) , f ′′(x) =− f (x) , f ′′′(x) =−g(x) , f (4)(x) = f (x)

und damit

sinx =m

∑k=0

(−1)k x2k+1

(2k+1)!+R2m+1( f ,0)(x)

mit

|R2m+1( f ,0)(x)| ≤ |x|2m+2

(2m+2)!→ 0 für m→ ∞

und

cosx =m

∑k=0

(−1)k x2k

(2k)!+R2m(g,0)(x)

mit

|R2m(g,0)(x)| ≤ |x|2m+1

(2m+1)!→ 0 für m→ ∞ .

Somit haben wir dieTaylorentwicklungen

sinx =∞

∑k=0

(−1)k x2k+1

(2k+1)!, cosx =

∑k=0

(−1)k x2k

(2k)!.

3. Sei f (x) =

0, für x≤ 0,

e−x−2, für x > 0.

Dann ist f (−0) = f (+0) = 0, also f stetig. Es gilt

f ′(x) =1x3e−x−2

(x > 0)

und f ′(+0) = f ′(−0) = 0. Durch Fortsetzung erhält manf ∈C∞(R) mit f (k)(0) = 0 füralle k ∈ N. Damit ist die Taylorreihe vonf an der Stelle 0 identisch 0 und stimmt dahernicht mit f überein! Die Folge der Restglieder(Rm( f ,0)(x))m kann also fürx nahe 0 nichtkonvergieren! ♦

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6.4 Anwendungen der Fréchet-Ableitung

Bemerkung 6.4.21.Obwohl wir eine Darstellungen für das Restglied haben, ist die nicht-lokale Approximation vonf durch Taylorpolynome nicht die beste Wahl. Hierfür sollteman andere Polynom-Approximationen verwenden. ♦

6.4.8 Mehrdimensionale Taylor-Formel

Wir wollen nun die Taylorformel auf Abbildungenf : D ⊆ Rn → R verallgemeinern. Ab-bildungen ausRn nachRm können durch Betrachtung der Koordinaten-Funktionen hieraufzurückgeführt werden.

Da wir höhere partielle Ableitungen benötigen, brauchen wir ein geeignete Schreibweise.

Definition 6.4.22. Ein Elementα vonNn heißt (n-dimensionaler)Multiindex. Die Zahl

|α|=n

∑i=1

αi

heißt Odnung vonα. ♦

Bezeichnung:Seiα ein Multiindex. Wir setzen

∂α f := ∂

α1

1 · · ·∂ αn

n f ,

d.h., ist f in Cm so kann jede partielle Ableitung vonf der Ordungm kurz als∂ α f miteinemα ∈ Nn und|α|= m geschrieben werden: So zum Beispiel

∂(0,2,1,1) f = ∂4∂

22 ∂3 f .

Weiter setzen wir

α! :=n

∏i=1

αi ! = α

1! · · · · ·αn!

und

xα :=n

∏i=1

(xi)α ifür x = (x1, . . . ,xn) ∈ Rn .

Satz 6.4.23.Sei f∈Cm(D,R), D⊆ Rn konvex und offen. Dann gilt

f (x) = ∑|a|≤m

1α!

∂α f (x0)(x−x0)α +o(‖x−x0‖m) für x→ x0 .

Beweis.Seix∈ D fixiert, h = x−x0. Betrachteg: [0,1]→ R mit

g(t) = f (x0 + th) .

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6 Differentialrechnung

Dann istg∈Cm([0,1],R) und nach Satz6.4.19existiert einτ : [0,1]→ ]0,1[ mit

f (x) = g(1) =m

∑k=0

g(k)(0)k!

+Rm(g,0)(t)

und

Rm(g,0)(t) =g(m)(τ(t))−g(m)(0)

(m−1)!tm(1− τ(t))m−1 .

Zu zeigen ist nun noch der Aufbau der Ableitungeng(k)(t) für k≤ m. Nachk-facher An-wendung der Kettenregel für jeweilsn partiellen Ableitungen erhalten wir

g(k)(t) =n

∑ik=1

· · ·n

∑i1=1

∂ik · · ·∂i1 f (x0 + th)hi1 · · · · ·hik .

Aufgrund der Vertauschbarkeit der Reihenfolge der partiellen Ableitungen können wir Sum-manden zusammenfassen, die zum gleichen Multiindexα ∈ Nn mit |α|= k gehören.

Ohne Beachtung mehrfacher partieller Ableitungen nach dem gleichen Argument sind diesk! Varianten. Tritt∂i aberα i > 1 mal auf, so ist noch durch die Zahl der nicht unterscheid-baren Permutationen zu teilen. Somit gehören zuα genau

k!α1! · · · · ·αn!

=k!α!

Varianten und wir haben

g(k)(t) = ∑|α|=k

k!α!

∂α f (x0 + th)hα .

6.4.9 Hinreichende Bedingungen für lokale Extrema

Sei f ∈C1(D,R), D⊆ Rn offen. Satz6.2.17ergab∂ f (x0) = 0, d.h.

gradf (x0) = 0

als notwendiges Kriterium für ein lokales Extremum. Ein Punktx0 ∈ D mit gradf (x0) = 0heißt daherkritischer Punkt.

Wir wollen nun hinreichende Bedingungen für lokale Maxima oder Minima finden.

Sei dazuf ∈C2(D,R) undx0 ein kritischer Punkt. Nach Satz6.4.23gilt

f (x0 +h)− f (x0) = ∑|α|=2

1α!

∂α f (x0)hα +o(‖h‖2)

=12

QH( f ,x0)(h)+o(‖h‖2)

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6.4 Anwendungen der Fréchet-Ableitung

für h→ 0 mit derquadratischen FormQH( f ,x0) : Rn → R mit

QH( f ,x0)(h) =n

∑i, j=1

∂i∂ j f (x0)hih j .

In der Algebra wird gezeigt, daß jede quadratische FormQ überRn dargestellt werden kanndurch eine symmetrische lineare AbbildungA: Rn → Rn,

Q(x) = 〈x,Ax〉 ,

oder eine symmetrische MatrixH ∈ Rn×n,

Q(x) = x>Hx .

Eine lineare AbbildungA: Rn → Rn heißt dabeisymmetrisch, wenn

∀x∈ Rn : 〈x,Ax〉= 〈Ax,x〉 .

Hier sehen wirQH( f ,x0)(h) = [h]>H( f ,x0)[h] (h∈ Rn)

mit derHesse-Matrix

H( f ,x0) :=(∂i∂ j f (x0)

)i, j =

∂1∂1 f (x0) · · · ∂1∂n f (x0)...

...∂n∂1 f (x0) · · · ∂n∂n f (x0)

von f an der Stellex0. Man beachte, daßH( f ,x0) symmetrisch ist.

Definition 6.4.24. Eine quadratische FormQ heißt

• positiv definit, wennQ(x) > 0 für allex∈ Rn mit x 6= 0;

• negativ definit, wennQ(x) < 0 für allex∈ Rn mit x 6= 0;

• positiv semidefinit, wennQ(x)≥ 0 für allex∈ Rn;

• negativ semidefinit, wennQ(x)≤ 0 für allex∈ Rn;

• indefinit, wennx1,x2 ∈ Rn existieren mitQ(x1) < 0 < Q(x2). ♦

Lemma 6.4.25. Ist Q eine positiv definite quadratische Form aufRn, dann existieren M,m>0 mit

∀x∈ Rn : m‖x‖2 ≤Q(x)≤M‖x‖2 .

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6 Differentialrechnung

Beweis.SeiS= x∈ Rn : ‖x‖ = 1. Dann istSeine abgeschlossene und beschränkte unddaher kompakte Teilmenge vonRn.

SeiA eine symmetrische lineare Abbildung mitQ(x) = 〈x,Ax〉. Dann gilt

|Q(x+h)−Q(x)|= | 〈x+h,A(x+h)〉−〈x,Ax〉 |= | 〈x,Ah〉+ 〈h,Ax〉+ 〈h,Ah〉 |≤ 2| 〈Ax,h〉 |+ | 〈h,Ah〉 |≤ 2‖Ax‖ · ‖h‖+‖Ah‖ · ‖h‖ ,

weswegenQ stetig ist. Als stetige Abbildung nimmt sie aufSaber ein MaximumM und einMinimum m an, d.h., es existiert einx0 ∈ Smit m= Q(x0) > 0. Fürx∈ Rn mit x 6= 0 giltnun

m‖x‖2 ≤Q(x) = ‖x‖2Q(x/‖x‖)≤M‖x‖2 .

Satz 6.4.26.Sei f∈C2(D,R), D⊆ Rn offen, und x0 ein kritischer Punkt. Wenn QH( f ,x0)positiv (negativ) definit ist, dann hat f in x0 ein strenges lokales Minimum (Maximum).

Beweis.Wie oben gezeigt haben wir

f (x0 +h)− f (x0) = QH( f ,x0)(h)+o(‖h‖2) für h→ 0.

SeiQH( f ,x0) positiv definit. Nach Lemma6.4.25existiert einm> 0 mit QH( f ,x0)(h) ≥m‖h‖2. Andererseits existiert fürε ∈ ]0,m[ ein δ > 0, so daß der Restterm betragsmäßigkleiner alsε‖h‖2 ist für ‖h‖< δ . Damit gilt

f (x0 +h)− f (x0)≥ (m− ε)‖h‖2 > 0 für 0< ‖h‖< δ

und f hat inx0 ein strenges Minimum.

Ist QH( f ,x0) negativ definit, so betrachte man− f anstelle vonf .

Satz 6.4.27.Sei f∈C2(D,R), D⊆ Rn offen, und x0 ein kritischer Punkt. Wenn QH( f ,x0)indefinit ist, dann hat f in x0 kein lokales Extremum.

Beweis.WennQH( f ,x0) indefinit ist, dann existierenh1 undh2 in Rn mit

c1 := QH( f ,x0)(h1) < 0 undc2 := QH( f ,x0)(h2) > 0.

Für hinreichend kleine|τ| gilt also

f (x0 + τhi)− f (x0) = QH( f ,x0)(τhi)+o(‖τhi‖2) = ciτ2 +o(τ2) für τ → 0.

Damit haben wirf (x0 + τh1) < f (x0) und f (x0 + τh2) > f (x0)

für hinreichend kleine|τ|.

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6.4 Anwendungen der Fréchet-Ableitung

Bemerkung 6.4.28.Es verbleibt also nur noch der Fall, daßQH( f ,x0) positiv oder negativsemidefinit ist. Hier ist ohne weitere Informationen (zum Beispiel über höhere Ableitungen)keine Aussage möglich. ♦

Die Definitheit vonQH( f ,x0) kann man durch Untersuchung der Hesse-MatrixH( f ,x0)erhalten:

SeiQ(x) = ∑ni, j=1ai j xix j mit symmetrischer MatrixA = (ai j )n

i, j=1 ∈ Rn×n. Mit µk bezeich-nen wir denk-ten HauptminorenvonA, d.h.

µk := det(ai j )ki, j=1 .

Satz 6.4.29.Sei Q(x) = ∑ni, j=1ai j xix j mit symmetrischer Matrix A= (ai j )n

i, j=1 ∈ Rn×n.

• Q ist genau dann positiv definit (semidefinit), wenn alle Hauptminorenµ1, . . . , µn

positiv (nichtnegativ) sind.

• Q ist genau dann negativ definit (semidefinit), wenn alle(−1)kµk positiv (nichtnega-tiv) sind.

Bemerkung 6.4.30.Für n = 2 haben wir

µ1 = a11 , µ2 =∣∣∣∣ a11 a12

a12 a22

∣∣∣∣= a11a22−a212 .

Ist x0 kritischer Punkt vonf , so erhalten wir die hinreichenden Bedingungen

lokales Minimum: ∂ 21 f (x0) > 0 und∂ 2

1 f (x0)∂ 22 f (x0)− (∂1,2 f (x0))

2 > 0lokales Maximum: ∂ 2

1 f (x0) < 0 und∂ 21 f (x0)∂ 2

2 f (x0)− (∂1,2 f (x0))2 > 0

kein lokales Extremum: ∂ 21 f (x0)∂ 2

2 f (x0)− (∂1,2 f (x0))2 < 0

Beispiel 6.4.31.Sei f (x,y) = 3x2y+4y3−3x2−12y2 +1 aufR2. Wir haben

gradf (x,y) = (6xy−6x,3x2 +12y2−24y)

und daher(0,0) , (0,2) , (2,1) , (−2,1)

als kritische Punkte.

Weiter gilt

∂21 f (x,y) = 6y−6, ∂

22 f (x,y) = 24y−24, ∂1,2 f (x,y) = 6x .

(x,y) ∂ 21 f (x,y) ∂ 2

2 f (x,y) ∂1,2 f (x,y)(0,0) −6 −24 0 lokales Maximum(0,2) 6 24 0 lokales Minimum(2,1) 0 0 12 kein lok. Extremum aber Sattelpunkt

(−2,1) 0 0 −12 kein lok. Extremum aber Sattelpunkt

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6 Differentialrechnung

Bemerkung 6.4.32.Mit Hilfe der Differentialrechnung können neben lokalen Extrema auchweitere Eigenschaften der Abbildung untersucht werden: Wendepunkte, Monotonie, Kon-vexität, Konkavität. Dazu sei auf die Literatur verwiesen (z.B. Bronstein/Semendjajew).♦

6.4.10 Auflösungssätze

SeiF : D(F)→ Rp mit D(F)⊆ Rn×Rp offen. Wir betrachten die Gleichung

F(x,y) = 0 (6.4.11)

und fragen, ob (6.4.11) in der Nähe einer Lösung(x0,y0) von (6.4.11) nachy eindeutigaufgelöst werden kann, d.h., ob eine UmgebungU = V×W von (x0,y0) und eine Funktionf : V →W existiert, so daß(x, f (x)), x∈V, alle Lösungen von (6.4.11) in U darstellen.

In diesem Fall nennt man (6.4.11) lokal eindeutig nach y auflösbar.

Beispiel 6.4.33.1. SeiF(x,y) = x− y2 in D(F) = R>0×R. In U = R>0×R>0 bzw.U = R>0×R<0 finden wiry =

√x bzw.y =−

√x.

2. SeiF(x,y) = x2+y2−1 in D(F) = R×R. FürU = ]−1,1[×R>0 haben wiry=√

1−x2.Bei (x0,y0) = (1,0) und (x0,y0) = (−1,0) kann aber nicht nachy lokal aufgelöst werden.Jedoch kann nachx lokal aufgelöst werden.

3. SeiF(x,y) = x+ y+ µ siny, |µ| < 1 in D(F) = R2. Für jedesx gibt es genau einymit (6.4.11). Damit gibt es eine Funktiong: R→ R mit (x,g(x)) als einziger Lösung von(6.4.11) für x ∈ R. Unter Voraussetzung der Differenzierbarkeit vong erhalten wir ausF(x,g(x)) = 0 mit der Kettenregel

g′(x) =−∂1F(x,(g(x))∂2F(x,(g(x))

,

falls ∂2F(x,(g(x)) 6= 0. Es gilt hier aber∂2F(x,y) = 1+ µ cosy 6= 0. Bemerke, daß auch inden vorherigen Beispielen∂2F(x0,y0) 6= 0 in den Auflösungspunkten(x0,y0) war. ♦

FürF ∈C1(D(F),Rp), D(F)⊆Rn×Rp offen,(x0,y0) ∈D(F) definieren wir die partiellenAbleitungen

D1F(x0,y0) := ∂φ(0) , D2F(x0,y0) := ∂ψ(0)

mitφ(ξ ) = F(x0 +ξ ,y0) , ψ(ξ ) = F(x0,y0 +ξ ) ,

d.h., D1F(x0,y0) sei die Ableitung vonF nach dem ersten Argument bei festgehaltenemzweitem Argument an der Stelle(x0,y0).

Satz 6.4.34 (Satz über implizite Abbildungen).Sei F∈C1(D(F),Rp) mit D(F) ⊆ Rn×Rp offen und sei(x0,y0) ∈ D(F) mit F(x0,y0) = 0.

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6.4 Anwendungen der Fréchet-Ableitung

1. Wenn D2F(x0,y0) invertierbar ist, dann existieren Umgebungen V und W von x0 undy0, so daß(6.4.11) auf V×W eindeutig nach y auflösbar ist, d.h., es existiert eing: V →W, so daß(x,g(x)) für x∈V die einzige Lösung von(6.4.11) in V×W ist.

2. Ist zusätzlich F∈Ck(D(F),Rp), k≥ 1, so ist auch g eine Ck-Abbildung und es gilt

g′(x0) =−D2F(x0,y0)−1D1F(x0,y0) . (6.4.12)

Bemerkung 6.4.35.1. Formel (6.4.12) ergibt sich einfach aus der Kettenregel.

2. Die Invertierbarkeit vonD2F(x0,y0) ist gleichbedeutend mit der Invertierbarkeit derJacobi-Matrix[D2F(x0,y0)] bzw. dem NichtverschwindenJacobi-Determinante

det([D2F(x0,y0)]) .

3. Der übliche Beweis des Satzes verwendet den Banachschen Fixpunktsatz: Für geeigneteV undW seiM die Menge von stetigen Funktionen vonV nachW. Man betrachte nun dieAbbildungG: M → (Rp)V mit

G(h)(x) := h(x)−D−12 F(x0,y0)F(x,h(x)) .

Für ausreichend kleineV undW ist G eine kontrahierende Selbstabbildung, siehe Heuser,Teil 2. Istg∈M dann der Fixpunkt vonG, so gilt

g(x) = g(x)−D−12 F(x0,y0)F(x,g(x))

und daherF(x,g(x)) = 0 für x∈V. ♦

Beispiel 6.4.36.SeiF(x,y) = (x2 +y2−1)(x2 +y2−9). Es gilt

D2F(x,y) = 2y(x2 +y2−9)+2y(x2 +y2−1) = 4y(x2 +y2−5) .

Lokale Auflösbarkeit folgt also für alle Punkte(x0,y0) mit F(x0,y0) = 0, y0 6= 0 undx20 +

y20 6= 5.

Satz 6.4.37 (Satz über die lokale Umkehrabbildung).Sei f∈Cr(D( f ),Rn), D( f ) ⊆ Rn

offen, r≥ 1. Sei y0 ∈ D( f ) und sei f′(y0) invertierbar. Dann ist f in y0 lokal invertierbar,d.h., es existiert eine Umgebung V×W von( f (y0),y0) und eine Abbildung g: V →W, sodaß f(g(x)) = x für x∈V. Darüber hinaus gilt g∈Cr(V,W) und

g′(x0) = f ′(g(x0))−1 in x0 = f (y0) .

Beweis.WähleF(x,y) = f (y)−x und wende Satz6.4.34an.

139

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6 Differentialrechnung

Beispiel 6.4.38.1. Sei f (y) = Aymit einer linearen invertierbaren AbbildungA: Rn→Rn.Dann istg(x) = A−1x und

g′(x)h = f ′(g(x))−1h =

A′(A−1x)︸ ︷︷ ︸f ′(A−1x)

−1

h = A−1h.

Man beachte dabeif ′(y) = A und nicht f ′(y) = Ay!

2. Wir betrachtenf (x,y) = (cosxcoshy,sinxsinhy) auf R2 und fragen nach der lokalenUmkehrbarkeit. Es gilt

[∂ f (x,y)] =(−sinxcoshy cosxsinhycosxsinhy sinxcoshy

)mit

det[∂ f (x,y)] =−sin2xcosh2y−cos2xsinh2y

=−sin2x(1+sinh2y)−cos2xsinh2y

=−sinh2y−sin2x .

Damit ist f lokal umkehrbar für

(x,y) ∈ R2\(kπ,0) : k∈ Z . ♦

6.4.11 Extremwerte unter Nebenbedingungen

Beispiel 6.4.39.Gesucht ist ein Rechteck maximalen Flächeninhalts bei vorgebenem Um-fangu. Wir haben alsof (x,y) = xy, D( f ) = R≥0×R≥0 zu maximieren unter der Nebenbe-dingung 2(x+y) = u.

Aus der Nebenbedingung finden wiry = u/2−x und damit ist

g(x) = f (x,u/2−x) = x(u/2−x)

auf [0,u/2] zu maximieren. Es giltg′(x) = u/2− 2x, so daß sichx0 = u/4 ∈ [0,u/2] alskritischer Punkt ergibt. Offensichtlich ist dies auch die globale Maximalstelle.

Das Rechteck mit größtem Flächeninhalt bei gegebenem Umfang ist also das Quadrat.♦

Verallgemeinerung: Gegeben sei eine Funktionf : D( f )⊆Rn→R und eineNebenbedin-gungs- oderRestriktionsmenge

N := x∈ D( f ) : φ(x) = 0

mit φ : D( f )→ Rp.

140

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6.4 Anwendungen der Fréchet-Ableitung

Definition 6.4.40. f hat inx0 ∈ N ein relatives oder bedingtes Maximum (Minimum) unterder Nebenbedingung N, wenn eine UmgebungU von x0 existiert, so daßf (x) ≤ f (x0),( f (x)≥ f (x0)) für allex∈U ∩N. ♦

Zur Herleitung einer notwendingen Bedingung für ein relatives Extremum gehen wir wieim Beispiel davan aus, daß wir die Nebenbedingungφ(x) = 0 nach einem Teil der Variablenauflösen können und damit eine explizite Beschreibung vonN bekommen.

Wir nehmen dazu an, daß (bei geeigneter Umsortierung vonx) eine Funktiong: G ⊆Rn−p → Rp existiert mit

(y,g(y)) ∈ D( f ) und φ(y,g(y)) = 0 für y∈G.

Damit haben wir ein lokales Extremum von

h(y) = f (y,g(y))

aufG zu suchen.

WennG nun offen, f undg differenzierbar sind, so ist

0 = h′(y0) = D1 f (y0,g(y0))+D2 f (y0,g(y0)g′(y0) (6.4.13)

nach Satz6.2.17notwendig für ein Extremum inx0 = (y0,g(y0)).

Ist φ differenzierbar, so erhalten wir ausφ(y,g(y)) = 0 für y ∈ G durch Anwendung derKettenregel:

D1φ(y,g(y))+D2φ(y,g(y))g′(y) = 0.

Ist die lineare AbbildungD2φ(y,g(y)) invertierbar für alley∈G, so folgt

g′(y) =−D2φ(y,g(y))−1D1φ(y,g(y))

und durch Einsetzen in (6.4.13) erhalten wir

D1 f (y0,g(y0))−D2 f (y0,g(y0)D2φ(y0,g(y0))−1D1φ(y0,g(y0)) = 0.

Bezüglich der kanonischen Basen entspricht dies der Matrizen-Gleichung

[D1 f (y0,g(y0))]︸ ︷︷ ︸1×(n−p)

−(λ1,i)pi=1 [D1φ(y0,g(y0))]︸ ︷︷ ︸

p×(n−p)

= 0

mit(λ1,i)

pi=1 := [D2 f (y0,g(y0)]︸ ︷︷ ︸

1×p

[D2φ(y0,g(y0)]−1︸ ︷︷ ︸p×p

,

d.h.,[D2 f (y0,g(y0)] = (λ1,i)

pi=1[D2φ(y0,g(y0)] .

141

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6 Differentialrechnung

Damit erhalten wir

Di f (x10, . . . ,x

n0) =

p

∑j=1

λ1, jDiφj(x1

0, . . . ,xn0) ,

d.h.,

gradf (x0)−p

∑j=1

λ jgradφ j(x0) = 0, φ(x0) = 0 (6.4.14)

mit λ j ∈R in einer bedingten Extremalstellex0 von f in N, wobei die unbekannte Abbildungg nicht in (6.4.14) enthalten ist.

Zusammenfassung:Wir benötigten

• die Differenzierbarkeit vonf undφ in x0,

• die lokale Auflösbarkeit vonφ(x) = 0 bei x0 (d.h., Splittung vonx ∈ Rn in (y,z) ∈Rn−p×Rp, Existenz der Abbildungg mit φ(y,g(y)) = 0 nahey0),

• die Glattheit vong und

• die Invertierbarkeit vonD2φ(y0,g(y0)).

Der letzte Punkt kann dahingehend verallgemeinert werden, daß[φ ′(x0)] eine invertierbarep× p-Untermatrix besitzt, also vom Rangp ist. Satz6.4.34sagt nun, daß gerade dieseRangeigenschaft hinreichend ist um Existenz und Glattheit zur erhalten. Damit haben wir

Satz 6.4.41.Seien f∈C1(D( f ),R), φ ∈C1(D( f ),Rp) mit offenem D( f )⊆ Rn, n≥ p. Seiweiter N= x∈ D( f ) : φ(x) = 0, x0 ∈ N undrang(φ ′(x0)) = p.

Wenn f in x0 ein relatives Extremum unter der Nebenbedingung N hat, dann existierenZahlenλ1, . . . ,λp mit (6.4.14).

Bemerkung 6.4.42.1. Das Kriterium ist im allgemeinen nicht hinreichend, das heißt, obin einer kritischen Stelle tatsächlich ein Extremum vorliegt, muß natürlich noch geprüftwerden.

2. (6.4.14) ist ein nichtlineares System vonn+ p Gleichungen für dien+ p Unbekanntenx1

0, . . . ,xn0, λ1, . . . ,λp. Setzt man

F(x,λ ) = f (x)−p

∑j=0

λ jφj(x)

so erhält man (6.4.14) durchgradF(x0,λ ) = 0.

3. Im Falle p = 1 lautet die Rangeigenschaft gradφ(x0) 6= 0 und (6.4.14) bedeutet, daßgradf (x0) und gradφ(x0) parallel sind.

4. Die Zahlenλi heißenLagrange-Multiplikatoren. Meist haben sie keine inhaltliche Be-deutung. In einigen Fällen können sie aber als Zwangskräfte (Physik) oder Schattenpreise(Wirtschaft) interpretiert werden. ♦

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6.4 Anwendungen der Fréchet-Ableitung

Beispiel 6.4.43.1. SeiA eine lineare Abbildung vonRn nachRn mit

f (x) = 〈x,Ax〉= 〈Ax,x〉

für x∈ Rn. Gesucht sind Minimum und Maximum vonf auf

N = x∈ Rn : φ(x) = 0 , φ(x) = 〈x,x〉−1

(Vergleiche Lemma6.4.25).

Es gilt ∂ f (x)h = 2〈Ax,h〉 und∂φ(x)h = 2〈x,h〉 also

gradf (x) = 2Ax, gradφ(x) = 2x .

Für eine Extremalstelle müssen wir alsox0 ∈ N undλ ∈ R finden mit

Ax0 = λx0 .

Als Extremalstellen kommen also alle normierten Eigenvektoren vonA in Betracht,λ wäreder zux0 gehörende Eigenwert. Bemerke, daßA nur reelle Eigenwerte hat, daA symme-trisch ist. Für eine solche kritische Stelle erhalten wir

f (x0) = 〈x0,Ax0〉= λ ,

so daßf das Maximum im normierten Eigenvektor mit dem größtem Eigenwertλmax(A) unddas Minimum im normierten Eigenvektor mit dem kleinsten Eigenwertλmin(A) annimmt.Wir erhalten somit

∀x∈ R : λmin(A)‖x‖2 ≤ 〈x,Ax〉 ≤ λmin(A)‖x‖2

für symmetrisches, linearesA.

2. Man finde alle Punkte(x,y) auf der Ellipseφ(x,y) := 4x2 + y2−4 = 0, für welche derAbstand zu(2,0) extremal wird.

Da der Abstand genau dann extremal wird, wenn sein Quadrat extremal wird, können wiralso nach Extremstellen vonf (x,y) = (x−2)2 +y2 suchen. Da

gradf (x,y) = (2(x−2),2y) , gradφ(x,y) = (8x,2y) ,

erhalten wir als notwendige Bedingung

2x0−4−8λx0 = 0, 2y0−2λy0 = 0, 4x20 +y2

0 = 4.

Wenny0 6= 0, dannλ = 1 und daherx0 =−23 undy0 =−2

3

√5 odery0 = +2

3

√5.

Wenny0 = 0, dann istx0 = 1 oderx0 =−1 mit λ =−14 bzw. λ = 3

4.

Durch geometrische Betrachtungem erhalten wir, daß in(−2

3,−23

√5)

und(−2

3,+23

√5)

relative Maxima und in(1,0), (−1,0) relative Minima vorliegen. ♦

143

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6 Differentialrechnung

6.5 Potenzreihen

6.5.1 Definition und Problemstellung

Definition 6.5.1. Sei(an) eine Folge inC, z,z0 ∈ C. Dann heißt

∑n=0

an(z−z0)n (6.5.1)

Potenzreihein z−z0. ♦

Man beachte hierbei(z−z0)0 = 1 auch fürz= z0.

Aufgabenstellung: Untersuchung des Konvergenzverhaltens von Potenzreihen. Genauer:bei gegebenen(an) undz0 ist nach der Menge allerz∈C gefragt für die (6.5.1) konvergiert.

Beispiel 6.5.2.1. Jede Potenzreihe (6.5.1) konvergiert fürz= z0. Es ist möglich, daß sienur für z= z0 konvergiert, z.B.∑∞

n=0nn(z−z0)n (Es gilt n√

nn|z−z0|n = n|z−z0| → ∞ undnach Wurzelkriterium liegt Divergenz vor).

2. Die Potenzreihe∑∞n=0

(z−z0)n

n! konvergiert für allez∈ C, denn nach dem Quotientenkrite-rium ist

∀z∈ C : limn→∞

| n!(z−z0)n+1

(n+1)!(z−z0)n |= limn→∞

1n+1

|z−z0|= 0.♦

6.5.2 Konvergenzradius und Konvergenzkreis

Sei(an) eine Folge inC und sei

ρ := limsupn→∞

n√|an| undr :=

0, falls ρ = ∞ ,1/ρ , falls 0< ρ < ∞ ,∞ , falls ρ = 0.

Definition 6.5.3. Die oben definierte Zahlr heißtKonvergenzradiusder Potenzreihe

∑n=0

an(z−z0)n ,

BC(z0, r) heißtKonvergenzkreis. ♦

Satz 6.5.4.Die Potenzreihe(6.5.1) konvergiert für alle z∈ BC(z0, r) absolut. Für alle z6∈BC(z0, r) divergiert sie.

Beweis.Wegen limsupn→∞n√|an(z−z0)n| = ρ|z−z0| und mit dem Wurzelkriterium (Satz

4.4.4) erhalten wir die absolute Konvergenz der Potenzreihe∑∞n=0an(z− z0)n für alle z∈

BC(z0, r) und die Divergenz für allez∈ C\BC(z0, r).

144

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6.5 Potenzreihen

Folgerung 6.5.5.

1. Die Potenzreihe∑∞n=0an(z−z0)n möge für ein z1 6= z0 konvergieren. Dann konvergiert

sie auch für alle z∈ C mit |z−z0|< |z1−z0| und zwar absolut. Es gilt r≥ |z1−z0|.

2. Die Potenzreihe∑∞n=0an(z− z0)n möge für ein z1 divergieren. Dann divergiert sie

auch für alle z∈ C mit |z−z0|> |z1−z0|. Es gilt r≤ |z1−z0|.

Beweis.Konvergiert die Reihe fürz1, so giltz1∈BC(z0, r), d.h.,|z1−z0| ≤ r, und die Reihekonvergiert fürz∈ BC(z0, |z1−z0|)⊆ BC(z0, r). Die zweite Aussage folgt aus der ersten.

Bemerkung 6.5.6.Über das Konvergenzverhalten auf dem Rand ihres Konvergenzkreiseskann keine allgemeine Aussage gemacht werden. ♦

Beispiel 6.5.7.1. ∑∞n=0zn. Hier ist z0 = 0, an = 1, ρ = limsupn→∞

n√

1 = 1 und daherKonvergenzradius 1. Für|z|= 1 liegt nach Lemma4.2.4Divergenz vor.

2. ∑∞n=1

zn

n . Hier istz0 = 0, an = 1n. Es giltρ = limsupn→∞

n√|an|= 1/ limn→∞ n

√n = 1 und

damit haben wir Konvergenzradius 1. Beiz = −1 liegt (bedingte) Konvergenz, beiz = 1Divergenz vor.

3. ∑∞n=1

1n2zn. Hier ist z0 = 0, an = 1

n2 , ρ = limsupn→∞n√

n−2 = 1 und daher Konvergenz-

radius 1. Da∑∞n=1

1n2 konvergente Majorante für∑∞

n=11n2zn bei |z| = 1 ist, liegt bei|z| = 1

absolute Konvergenz vor. ♦

6.5.3 Rechnen mit Potenzreihen

Satz 6.5.8.Seien∑∞n=0an(z−z0)n und∑∞

n=0bn(z−z0)n Potenzreihen mit den Konvergenz-radien ra und rb.

1. Seienα,β ∈ C. Die Potenzreihe∑∞n=0(αan +βbn)(z−z0)n hat einen Konvergenzra-

dius r≥minra, rb und für alle z∈ BC(z0,minra, rb) gilt

∑n=0

(αan +βbn)(z−z0)n = α

∑n=0

an(z−z0)n +β

∑n=0

bn(z−z0)n .

2. Sei cn = ∑nk=0akbn−k. Dann hat die Potenzreihe∑∞

n=0cn(z− z0)n einen Konvergenz-radius r≥minra, rb und für alle z∈ BC(z0,minr1, r2) gilt

∑n=0

cn(z−z0)n =

(∞

∑n=0

an(z−z0)n

(∞

∑n=0

bn(z−z0)n

).

Beweis.Folgt aus entsprechenden Aussagen für Zahlenreihen.

Satz 6.5.9 (Identitätssatz).Seien∑∞n=0an(z− z0)n und ∑∞

n=0bn(z− z0)n Potenzreihen mitden Konvergenzradien ra, rb > 0. Sei(wi) eine Folge in BC(z0,minra, rb)\z0 mit

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6 Differentialrechnung

1. lim i→∞ wi = z0.

2. ∀i ∈ N : ∑∞n=0an(wi −z0)n = ∑∞

n=0bn(wi −z0)n.

Dann sind die beiden Potenzreihen gleich, d.h., an = bn für alle n∈ N.

Beweis.Siehe Literatur.

Satz 6.5.10 (Transformationssatz).Sei∑∞k=0ak(z−z0)k eine Potenzreihe mit Konvergenz-

radius r. Sei z1 ∈ BC(z0, r). Dann gilt mindestens für alle z∈ C mit |z−z1| < r−|z1−z0|die Gleichung

∑k=0

ak(z−z0)k =∞

∑k=0

bk(z−z1)k mit bk =∞

∑n=k

(nk

)an(z1−z0)n−k . (6.5.2)

Satz 6.5.11 (Glattheit von Potenzreihen).Sei f: ]x0−r,x0+r[→R mit f(x)= ∑∞k=0ak(x−

x0)k und r als Konvergenzradius der Potenzreihe. Dann gilt f∈C∞(]x0− r,x0 + r[) mit

f ′(x) =∞

∑k=1

kak(x−x0)k−1 .

Insbesondere gilt Tm( f ,x0)(x) = ∑mk=0ak(x− x0)k, die Taylorreihe stimmt also mit der Po-

tenzreihe überein.

Beweis.Seix1 ∈ ]x0− r,x0 + r[ beliebig. Dann existiert einδ > 0 mit

∀x∈ ]x1−δ ,x1 +δ [: f (x) =∞

∑k=0

bk(x−x1)k (6.5.3)

undbk nach (6.5.2). Wir zeigen limx→x1 f (x) = f (x1) = b0. Seiα < δ . Wegen der absolutenKonvergenz der Potenzreihe∑∞

k=0bk(x−x1)k, konvergiert∑∞k=0 |bk|αk. Damit gilt

σ :=∞

∑k=1

|bk|αk−1 < ∞ .

Somit

| f (x)−b0|= |(x−x1)∞

∑k=1

bk(x−x1)k−1| ≤ |x−x1|σ

für |x−x1|< α. Damit gilt limx→x1 f (x) = f (x1) = b0 und f ist stetig inx1.

Es gilt weiterf (x)− f (x1)

x−x1=

∑k=1

bk(x−x1)k−1 .

Die rechts stehende Potenzreihe konvergiert und ist stetig inx. Damit existiert

f ′(x1) = limx→x1

f (x)− f (x1)x−x1

= b1 =∞

∑n=1

nan(x1−x0)n−1 .

Die Potenzreihe∑∞n=1nan(x−x0)n−1 hat den gleichen Konvergenzradius wie die Ausgangs-

reihe. Durch vollständige Induktion folgtf ∈C∞(]x0− r,x0 + r[).

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7 Das Riemann-Integral

7.1 Definition und Eigenschaften

7.1.1 Definition des Riemann-Integrals

Definition 7.1.1. Seia = x0 < x1 < · · ·< xn = b. Dann heißtZ = [xk−1,xk] : k = 1, . . . ,neineZerlegungvon [a,b] undIk = [xk−1,xk] einZerlegungsintervall. Die Zahl

λ (Z) = maxI∈Z

|I |= maxk=1,...,n

|xk−xk−1|

heißtFeinheit der Zerlegung.

SindZ = [xk−1,xk] : k = 1, . . . ,n undZ′ = [x′k−1,x′k] : k = 1, . . . ,n′ zwei Zerlegungen, so

seix0, . . . ,xn∪x′0, . . . ,x′n′ = y0, . . . ,ym mit yk < yk+1 die Menge aller gemeinsamenTeilungspunkteund

Z∧Z′ := [yk−1,yk] : k = 1, . . . ,m .

Eine ZerlegungZ′ heißt feiner alsZ, wenn für jedesI ′ ∈ Z′ ein I ∈ Z existiert, mitI ′ ⊆ I . ♦

Definition 7.1.2. Eine Funktionf : [a,b]→ R heißtTreppenfunktion, wenn es eine Zerle-gungZ = [xk−1,xk] : k = 1, . . . ,n von [a,b] gibt, so daßf

∣∣]xk−1,xk[

, k = 1, . . . ,n konstantsind. ♦

Bemerkung 7.1.3.1. Die Funktionswerte vonf an den Teilungspunkten vonZ sind belie-big.

2. Die Darstellung ist nicht eindeutig: Jede VerfeinerungZ′ vomZ (d.h., für alleI ′ ∈ Z′ gibtes einI ∈ Z mit I ′ ⊆ I ) leistet das gleiche.

3. Man kannf als Linearkombination von charakteristischen Funktionen schreiben

f (x) =N

∑k=1

ckχIk(x)

mit ck ∈ R, Ik paarweise disjunkte (offene, abgeschlossene, . . . ) Intervalle mit⋃N

k=1 Ik =[a,b].

4. Mit T([a,b]), B([a,b]) bezeichnen wir die Menge aller Treppenfunktionen bzw. allerbeschränkten Funktionen auf[a,b]. ♦

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7 Das Riemann-Integral

Lemma 7.1.4. B([a,b]) ist ein Vektorraum und T([a,b]) ist ein Untervektorraum von B([a,b]).

Beweis.ÜA.

Definition 7.1.5 (Integral einer Treppenfunktion). Sei f ∈ T([a,b]) und sei f∣∣]xk−1,xk[

=ck ∈ R bezüglich einer ZerlegungZ = [xk−1,xk],k = 1, . . . ,n. Dann setzt man

∫ b

af :=

n

∑k=1

ck(xk−xk−1) .♦

Bemerkung 7.1.6.1. Damit diese Definition sinnvoll ist, muß gezeigt werden, daß sie vonder konkreten ZerlegungZ unabhängig ist. Seif dazu Treppenfunktion mit der ZerlegungZ′. Dann ist f auch Treppenfunktion mit der ZerlegungZ∧Z′. Man zeigt nun, daß mitZ∧Z′ an Stelle vonZ der gleiche Wert für das Integral entsteht.

2. Andere Bezeichnungen sind:∫[a,b]

f ,∫ b

af (x)dx ,

∫[a,b]

f (x)dx .♦

Satz 7.1.7 (Eigenschaften des Integrals von Treppenfunktionen).Seien f,g∈ T([a,b]), λ ,µ ∈ R. Dann gilt

1.∫ b

a (λ f + µg) = λ∫ b

a f + µ∫ b

a g (Linearität).

2. Aus f≤ g folgt∫ b

a f ≤∫ b

a g (Monotonie).Speziell folgt aus f≥ 0 auch

∫ ba f ≥ 0 (Positivität).

3. |∫ b

a f | ≤∫ b

a | f | ≤ (b−a)sup[a,b] | f |.

Beweis.Seien f und g dargestellt mit den ZerlegungenZ und Z′. Dann könnenf und gauch mitZ∧Z′ dargestellt werden. Hiermit sind die Aussagen aber trivial.

Definition 7.1.8 (Ober- und Unterintegral). Sei f ∈ B([a,b]). Dann setzt man dasOber-integral bzw. Unterintegral von f über[a,b] durch

b∫ ∗

a

f := inf∫ b

ag: g∈ T([a,b]), g≥ f ,

b∫∗

a

f := sup∫ b

ag: g∈ T([a,b]), g≤ f .

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7.1 Definition und Eigenschaften

Beispiel 7.1.9.1. Für alle f ∈ T([a,b]) gilt

b∫ ∗

a

f =b∫∗

a

f =∫ b

af .

2. Für die Dirichletfunktionf : [0,1] → R mit f (x) = 1 für x rational undf (x) = 0 für xirrational gilt

1∫ ∗

0

f = 1,

1∫∗

0

f = 0.

Satz 7.1.10 (Eigenschaften von Ober- und Unterintegral).Für alle f,g∈ B([a,b]), λ ≥ 0 gilt

b∫∗

a

f ≤b∫ ∗

a

f ,

b∫ ∗

a

λ f = λ

b∫ ∗

a

f ,

b∫∗

a

λ f = λ

b∫∗

a

f .

b∫ ∗

a

( f +g)≤b∫ ∗

a

f +b∫ ∗

a

g,

b∫∗

a

( f +g)≥b∫∗

a

f +b∫∗

a

g.

Definition 7.1.11 (Riemann-Integral). Eine Funktionf ∈B([a,b]) heißtRiemann-integrierbar,wenn

b∫∗

a

f =b∫ ∗

a

f .

In diesem Fall setzt man ∫ b

af :=

b∫ ∗

a

f

und nennt diese Zahl dasRiemann-Integralvon f über[a,b]. ♦

Die Menge aller Riemann-integrierbaren Funktionen über[a,b] wird durch R([a,b]) be-zeichnet.

Bemerkung 7.1.12.Aufgrund der Definition und von Beispiel7.1.9gilt

T([a,b])⊂6=

R([a,b])⊂6=

B([a,b]) .♦

149

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7 Das Riemann-Integral

7.1.2 Existenz des Riemann-Integrals

Satz 7.1.13.Für f : [a,b]→R gilt f ∈R([a,b]) genau dann, wenn für jedesε > 0 Funktio-nen g,h∈ T([a,b]) existieren mit g≤ f ≤ h und∫ b

a(h−g)≤ ε . (7.1.1)

Beweis.„=⇒“ Wenn f ∈ R([a,b]), dann

b∫∗

a

f =b∫ ∗

a

f

und für jedesε > 0 existiereng,h∈ T([a,b]) mit g≤ f ≤ h und∫ b

ah≤

∫ b

af +

ε

2,∫ b

af − ε

2≤∫ b

ag.

Daraus folgt (7.1.1).

„⇐=“ Sei ε > 0 beliebig und seieng,h∈ T([a,b]) mit g≤ f ≤ h und (7.1.1). Dann gilt

∫ b

ag≤

b∫∗

a

f ,

b∫ ∗

a

f ≤∫ b

ah

und daher

0≤b∫ ∗

a

f −b∫∗

a

f < ε .

Satz 7.1.14.1. Jede stetige Funktion auf[a,b] ist Riemann-integrierbar auf[a,b]:

C([a,b])⊂ R([a,b]) .

2. Jede monotone Funktion auf[a,b] ist Riemann-integrierbar auf[a,b].

Beweis.Zu 1. Da f stetig auf dem kompakten Intervall[a,b] ist, ist f auch gleichmäßigstetig. Seiε > 0 beliebig. Dann existiert einδ > 0 mit | f (x)− f (y)|< ε

b−a für x,y∈ [a,b] mit

|x−y|< δ . Sein∈ N mit b−an < δ , xk = a+kb−a

n für k = 0, . . . ,n und seieng,h∈ T([a,b])definiert durchg(x) = min[xk−1,xk] f (x) und h(x) = max[xk−1,xk] f (x) für x ∈ [xk−1,xk] undk= 1, . . . ,n. Dann gilt 0≤ h(x)−g(x) < ε

b−a für allex∈ ]xk−1,xk[ und allek= 1, . . . ,n, d.h.,

für allex∈ [a,b]. Somit gilt∫ b

a (h−g)≤∫ b

b−a < ε. Mit Satz7.1.13folgt die Behauptung.

Zu 2. O.B.d.A. seif monoton wachsend. Seiε > 0 beliebig und sein∈N>0 mit b−an ( f (b)−

f (a)) < ε. Wir setzenxk = a+ kb−an für k = 0, . . . ,n und definereng,h ∈ T([a,b]) durch

150

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7.2 Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung

g(x) = f (xk−1) undh(x) = f (xk) für x ∈ [xk−1,xk] undk = 1, . . . ,n. Dann giltg≤ f ≤ h.Weiter gilt ∫ b

ah−

∫ b

ag =

n

∑k=1

f (xk)(xk−xk−1)−n

∑k=1

f (xk−1)(xk−xk−1)

=b−a

n

n

∑k=1

( f (xk)− f (xk−1))

=b−a

n( f (b)− f (a)) < ε .

Mit Satz7.1.13folgt die Behauptung.

Definition 7.1.15. Eine Teilmengeµ von [a,b] heißt Lebesgue-Nullmengeoder hat dasLebesgue-Maß0, wenn es für jedesε > 0 ein abzählbares System von Intervallen gibt, dieµ überdecken und deren Summe der Intervallängen kleiner alsε ist. ♦

Bemerkung 7.1.16.Jede abzählbare Menge hat das Lebesgue-Maß 0. ♦

Satz 7.1.17 (Satz von Lebesgue (1875-1941)).Eine Funktion f gehört zu R([a,b]) genaudann, wenn f auf[a,b] beschränkt ist und auf[a,b] bis auf eine Lebesgue-Nullmenge stetigist.

Satz 7.1.18.Sei f∈ R([a,b]) und sei f : [a,b] → R mit f (x) = f (x) für alle x∈ [a,b] mitAusnahme von endlich vielen Punkten. Dann istf ∈ R([a,b]) und∫ b

af =

∫ b

af .

Damit hängen Integrierbarkeit und auch der Wert des Integrals nicht davon ab, welche Wertedie Funktion auf endlich vielen Punkten annimmt.

7.2 Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung

7.2.1 Stammfunktionen

Definition 7.2.1. Sei I ein Intervall. Eine FunktionF : I → R heißtStammfunktionvonf : I → R, wenn

1. F ist differenzierbar aufI

2. F ′(x) = f (x) für allex∈ I . ♦

151

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7 Das Riemann-Integral

Beispiel 7.2.2.1) F(x) = 2.3+cosx ist eine Stammfunktion von−sinx auf I = R.

2) I =]0,∞[ und f (x) = 1x. Stammfunktion auf]0,∞[ ist F(x) = ln(x).

3) I =]−∞,0[ und f (x) = 1x. Stammfunktion auf]0,∞[ ist F(x) = ln(−x), denn[ln(−x)]′ =

1−x(−1) = 1

x. ♦

Die beiden letzten Beispiele geben Anlaß, manchmalF(x) = ln |x| als Stammfunktion von1x aufR\0 zu bezeichnen, obwohlR\0 kein Intervall ist!

Lemma 7.2.3. Seien F1 und F2 Stammfunktionen von f auf dem Intervall I. Dann ist F1−F2

konstant auf I. Ist F irgendeine Stammfunktion von f auf I und C eine beliebige Konstante,dann ist auch F+C eine Stammfunktion von f auf I.

Beweis.(F1−F2)′(x) = F ′1(x)−F ′2(x) = f (x)− f (x) = 0 für alle x ∈ [a,b]. Nach Mittel-wertsatz (Satz6.2.21) ist F1−F2 konstant.

WennF ′ = f dann auch(F +C)′ = F ′ = f .

Definition 7.2.4. Die Menge aller Stammfunktionen vonf : I →R heißtunbestimmtes In-tegral von f und wird mit

∫f bezeichnet. ♦

Es gilt also ∫f = F +C: C∈ R,

falls F eine Stammfunktion vonf ist.

Bemerkung 7.2.5.Anstelle∫

f = F +C: C∈ R wird auch, verkürzt,∫f (x)dx = F(x)+C

geschrieben. Dies ist aber nicht korrekt, da links eine Menge von Funktionen steht (mitgebundener Variablenx), aber rechts der Wert einer Funktion an einer nicht genauer spezi-fizierten Stelle steht (mit freier Variablenx). ♦

Um zu überprüfen, ob eine FunktionF Stammfunktion vonf auf dem IntervallI ist, ist zuzeigen, daßF auf I differenzierbar ist mitF ′(x) = f (x) für x∈ I .

Bemerkung 7.2.6.Eine Tabelle von Stammfunktionen zu ausgewählten Funktionen erhältman, indem man eine Liste von differenzierbaren Funktionen erstellt und neben einer sol-chen Funktion die Ableitung schreibt. Kehrt man eine solche Tabelle um, erhält man eineZuordnung von Funktionen und Stammfunktionen:

Funktion Ableitung

Stammfunktion Funktion

potα für α 6= 0 αpotα−1 für α 6= 0ln pot−1exp expsin coscos −sin

152

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7.2 Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung

7.2.2 Die Existenz der Stammfunktion

Seienf ∈R([a,b]) undx∈ [a,b]. Wegen[a,x]⊆ [a,b] folgt f∣∣[a,x] ∈R([a,x]), d.h., es existiert

eine FunktionΦ : [a,b]→ R mit

Φ(x) =∫ x

af .

Es gilt Φ(a) = 0 undΦ(b) =∫ b

a f .

Satz 7.2.7.Sei f∈ R([a,b]) undΦ : [a,b]→ R mit Φ(x) =∫ x

a f für x∈ [a,b] . Dann gilt:

1. Φ ist stetig.

2. Wenn f in einem Punkt x0 ∈ [a,b] stetig ist, dann istΦ in x0 differenzierbar und esgilt

Φ′(x0) = f (x0) .

Beweis.(Der Beweis verwendet schon die Resulate aus7.2.4)

1. Aus f ∈R([a,b])⊂ B([a,b]) folgt die Beschränktheit vonf auf [a,b]. Damit existiert einM > 0 mit | f (t)| ≤M für t ∈ [a,b]. Seienx∈ [a,b] undε > 0. Seih∈ R mit

|h|< δ :=ε

M +1und x+h∈ [a,b] .

Dann

Φ(x+h)−Φ(x) =∫ x+h

af −

∫ x

af =

∫ x+h

xf

und daher

|Φ(x+h)−Φ(x)|= |∫ x+h

xf | ≤ |h|M ≤ M

M +1ε < ε .

Somit istΦ stetig (unabhängig davon, obf Unstetigkeitsstellen besitzt).

2. Sei f in x0 ∈ [a,b] stetig. Dann existiert eine Funktionδ : R≥0 → R≥0 mit

|x−x0|< δ (ε) ⇒ | f (x)− f (x0)|< ε .

Wir setzenφ = f − f (x0). Seiε > 0 beliebig und|h|< δ (ε) mit x0 +h∈ [a,b]. Dann

|∫ x0+h

x0

φ | ≤ sign(h)∫ x0+h

x0

|φ |

= sign(h)∫ x0+h

x0

| f − f (x0)|< ε|h|

und somit

|∫ x0+h

x0

φ |= o(|h|) für h→ 0

153

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7 Das Riemann-Integral

Somit ist

Φ(x0 +h)−Φ(x0) =∫ x0+h

x0

f =∫ x0+h

x0

( f (x0)+φ)

=∫ x0+h

x0

f (x0)+∫ x0+h

x0

φ

= f (x0)h+o(|h|) für h→ 0,

d.h.,Φ ′(x0) = f (x0).

Beispiel 7.2.8.Man berechneF ′ für F(x) =∫ x5

x3

√1+ t2dt. SeiΦ(u) =

∫ u0

√1+ t2dt. Dann

F(x) = Φ(x5)−Φ(x3). Der Integrandf (t) =√

1+ t2 ist stetig, nach Satz7.2.7gilt Φ ′(u) =√1+u2. Damit

F ′(x) = Φ′(x5)5x4−Φ

′(x3)3x2 = x2(

5x2√

1+x10−3√

1+x6)

. ♦

Als Folgerung aus Satz7.2.7ergibt sich

Satz 7.2.9.Jede auf einem kompakten Intervall[a,b] stetige Funktion f besitzt auf diesemIntervall eine durch

Φ(x) =∫ x

af (7.2.1)

auf [a,b] definierte StammfunktionΦ .

7.2.3 Der Hauptsatz

Sei jetztF : [a,b]→ R eine beliebige Stammfunktion einer Funktionf ∈C([a,b]) und seiΦ : [a,b]→ R definiert durch (7.2.1). Nach Lemma7.2.3existiert eine KonstantenC mit

F = Φ +C .

WegenF(a) = Φ(a)+C undΦ(a) = 0 folgt F(a) = C. Damit gilt

Φ = F−C = F−F(a) .

WegenΦ(x) =∫ x

a f erhalten wir somit dieNewton-Leibniz-Formel∫ b

af = F(b)−F(a) =: F

∣∣ba = F(x)

∣∣x=bx=a . (7.2.2)

Damit haben wir den folgenden Satz bewiesen:

Satz 7.2.10 (Newton-Leibniz).Ist f eine stetige Funktion auf einem kompakten Intervall[a,b] und F eine beliebige Stammfunktion von f auf[a,b], dann gilt(7.2.2).

154

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7.2 Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung

Bemerkung 7.2.11.Die Newton-Leibniz-Formel (7.2.2) stellt eine „Äquivalenz“ der Be-rechnung des bestimmten Integral und der Stammfunktion für die Klasse der stetigen Funk-tionen auf einem kompakten Intervall her:

f ∈C([a,b]) =⇒ f ∈ R([a,b])⇓f hat StammfunktionF ♦

Als Verallgemeinerung von Satz7.2.10zeigen wir

Satz 7.2.12 (Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung).Sei f∈R([a,b]) und esexistiere eine Stammfunktion F von f auf[a,b]. Dann gilt (7.2.2).

Beweis.Sei ε > 0 beliebig. Dann existieren nach Satz7.1.13Treppenfunktioneng und hauf [a,b] mit g≤ f ≤ h und

∫ ba (h−g) < ε. SeienZg undZh die zugehörigen Zerlegungen

und sei

Z = Zg∧Zh = [xk−1,xk] : k = 0, . . . ,n, a = x0 < x1 < · · ·< xn = b.

Dann gilt nach Mittelwertsatz6.2.21

F(b)−F(a) =n

∑k=1

(F(xk)−F(xk−1)) =n

∑k=1

f (ξk)(xk−xk−1)

mit ξk ∈ ]xk−1,xk[. Andererseits ist∫ b

ag =

n

∑k=1

g(ξk)(xk−xk−1) ,∫ b

ah =

n

∑k=1

h(ξk)(xk−xk−1)

und wegeng≤ f ≤ h folgt

F(b)−F(a) ∈ [∫ b

ag,∫ b

ah] .

Andererseits gilt auch ∫ b

af ∈ [

∫ b

ag,∫ b

ah]

und damit

|F(b)−F(a)−∫ b

af | ≤ ε .

Da ε > 0 beliebig war, folgt die Behauptung.

Bemerkung 7.2.13.1. Satz7.2.12wird auch 1. Hauptsatz der Differential- und Integral-rechnung genannt. Der 2. Hauptsatz ist Satz7.2.9zur Existenz der Stammfunktion.

2. Eine Funktionf kann eine Stammfunktion haben, obwohl sie nicht Riemann-integrierbarist. Betrachte z.B.F : [0,1] → R mit F(x) = x

√xsin1

x für x ∈ ]0,1] und F(0) = 0. Sei

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7 Das Riemann-Integral

f : [0,1]→R mit f (x) = 32

√xsin1

x−1√x cos1

x für x∈ ]0,1] und f (0) = 0. Dann giltF ′ = f ,F ist also Stammfunktion vonf . f ist aber nicht Riemann-integrierbar, daf nicht beschränktist.

3. Eine Riemann-integrierbare Funktion braucht keine Stammfunktion zu haben. Sei dazuf : [−1,1] → R mit f (x) = 0 für x ∈ [−1,0] und f (x) = 1 für x ∈ ]0,1]. Da f eine Trep-penfunktion ist, giltf ∈ R([−1,1]). f besitzt aber keine Stammfunktion: Angenommen,Fwäre Stammfunktion. Nach Mittelwertsatz giltF(h)−F(0) = F ′(τh)h= f (τh)h mit einemτ ∈ [0,1]. Damit folgt limh0

F(h)−F(0)h = 1 und limh0

F(h)−F(0)h = 0. Somit istF entgegen

der Annahme nicht differenzierbar bei 0.

4. Für (7.2.2) sind also Riemann-Integrierbarkeit vonf und die Existenz der Stammfunktionzu fordern. Beides gilt aber wegen der Sätze7.1.14und7.2.9für stetigesf , siehe dann Satz7.2.10. ♦

7.2.4 Eigenschaften des bestimmten Integrals und Struktur vonR([a,b])

Zuerst erweitern wir die Definition des Riemann-Integrals indem wir∫ b

af :=−

∫ a

bf

für a > b setzen.

Für f : [a,b]→ R und[c,d]⊆ [a,b] schreiben wir kurz

f ∈ R([c,d]) , wenn f∣∣[c,d] ∈ R([c,d])

und

∫ d

cf :=

∫ d

cf∣∣[c,d] .

Satz 7.2.14 (Algebraische Struktur).Für alle f,g∈R([a,b]) und alleλ ,µ ∈R gilt (λ f +µg) ∈ R([a,b]) und ∫ b

a(λ f + µg) = λ

∫ b

af + µ

∫ b

ag.

Weiter giltf g∈ R([a,b]) .

Beweis.kompliziert.

Satz 7.2.15 (Monotonie-Eigenschaften bezüglich Integranden).Seien f,g∈R([a,b]), b≥a. Dann gilt

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7.2 Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung

1. f ≥ 0 =⇒ 0≤∫ b

a f .

2. f ≤ g =⇒∫ b

a f ≤∫ b

a g.

3. m≤ f ≤M mit m,M ∈ R =⇒ m(b−a)≤∫ b

a f ≤M(b−a).

4. | f | ≤M ∈ R =⇒ |∫ b

a f | ≤M(b−a).

Beweis.1) f ≥ 0 ergibt∫ ∗b

af ≥ 0. Damit gilt

∫ ba f ≥ 0.

2) Ausg− f ≥ 0 folgt mit 1)∫ b

a (g− f )≥ 0 und somit mit Linearität∫ b

a g≥∫ b

a f .

3) Wähleg = M und wende 2) für obere Abschätzung an.

4) Folgt mit−M ≤ f ≤M aus 3).

Satz 7.2.16 (Monotonie und Additivität bezüglich Integrationsbereich).Es gelten:

1. f ∈ R([a,b])∧ [c,d]⊆ [a,b] =⇒ f ∈ R([c,d]).

2. Sei c∈ [a,b]. Dann f∈ R([a,b])⇐⇒ f ∈ R([a,c])∧ f ∈ R([c,b]).

3. f ∈R([a,b])∧c∈ [a,b] =⇒∫ b

a f =∫ c

a f +∫ b

c f (Additivität bezüglich Integrationsbe-reich).

4. f ∈ R([a,b])∧ f ≥ 0 ∧ [c,d] ⊆ [a,b] =⇒∫ d

c f ≤∫ b

a f (Monotonie bezüglich Integra-tionsbereich).

Satz 7.2.17 (Absolute Integrierbarkeit). Es gilt:

1. f ∈ R([a,b]) =⇒ | f | ∈ R([a,b]), aber| f | ∈ R([a,b]) 6=⇒ f ∈ R([a,b]).

2. Wenn f∈ R([a,b]) und b≥ a, dann|∫ b

a f | ≤∫ b

a | f | ≤ (b−a)supx∈[a,b] | f (x)|.

Beweis.Zu 2. Aus−| f | ≤ f ≤ | f | und den Sätzen7.2.14, 7.2.15folgt −∫ b

a | f | ≤∫ b

a f ≤∫ ba | f |.

Satz 7.2.18.Wenn f∈C([a,b]) mit f ≥ 0, dann∫ b

a f = 0 =⇒ f = 0.

Satz 7.2.19 (1. Mittelwertsatz der Integralrechnung).Seien f,g ∈ R([a,b]) mit g≥ 0.Dann existiert einµ ∈ [m,M] mit m= infx∈[a,b] f (x), M = supx∈[a,b] f (x), so daß∫ b

af g = µ

∫ b

ag. (7.2.3)

Speziell gilt für g= 1 ∫ b

af = µ(b−a) .

Wenn zusätzlich f stetig ist, dann existiert einξ ∈ [a,b] mit∫ b

af g = f (ξ )

∫ b

ag.

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7 Das Riemann-Integral

Beweis.Es giltm≤ f ≤M und daher nach Satz7.2.15

m∫ b

ag≤

∫ b

af g≤M

∫ b

ag. (7.2.4)

Wenn∫ b

a g= 0, folgt∫ b

a f g und wegen (7.2.4) gilt (7.2.3) gilt trivialer Weise. Wenn∫ b

a g> 0setze

µ :=∫ b

a f g∫ ba g

.

Wegen (7.2.4) gilt µ ∈ [m,M].

Ist f stetig, dann sindmundM Funktionswerte vonf . Nach dem Satz von Bolzano-Cauchy(Satz5.2.23) existiert einξ ∈ [a,b] mit f (ξ ) = µ. Somit

∫ ba f g = µ

∫ ba g.

Satz 7.2.20 (2. Mittelwertsatz der Integralrechnung).Sei f monoton auf[a,b] und seig∈C([a,b]). Dann existiert einξ ∈ [a,b] mit∫ b

af g = f (a)

∫ξ

ag+ f (b)

∫ b

ξ

g.

7.3 Integrationsmethoden

Sei∫

f die Menge aller Stammfunktionen vonf über einem gegebenen Intervall.

SeienF , G Mengen von Funktionen über einem IntervallI . Seienλ ,µ ∈ R und seienh: I → R , φ : J→ I . Dann setzen wir

λF + µG := λ f + µG: f ∈ F,g∈Gund

F +h = f +h: f ∈ F , F φ = f φ : f ∈ F .

7.3.1 Linearität

Satz 7.3.1 (Linearkombination von Funktionen). 1. Seien f,g: I → R und λ ,µ ∈ R.Dann gilt ∫

(λ f + µg)⊇ λ

∫f + µ

∫g auf I.

2. Wenn zusätzlich f,g∈ R([a,b]) und∫

f 6= /0,∫

g 6= /0, dann∫ b

a(λ f + µg) = λ

∫ b

af + µ

∫ b

ag.

Beweis.1. SeienF ∈∫

f und G ∈∫

g und seiH = λF + µG. Wegen der Linearität derDifferentiation gilt

H ′ = λF ′+ µG′ = λ f + µg

und somitH ∈∫(λ f + µg).

2. Die Behauptung folgt aus 1. und dem Hauptsatz7.2.12.

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7.3 Integrationsmethoden

7.3.2 Partielle Integration

Als Folgerung aus der Produktregel der Differentialrechnung ergibt sich

Satz 7.3.2.1. Seien u,v: I → R differenzierbar. Dann gilt∫uv′ = uv−

∫u′v auf I.

2. Wenn zusätzlich uv′,u′v∈ R([a,b]) und wenn∫

u′v 6= /0, dann∫ b

auv′ = (uv)

∣∣ba−

∫ b

au′v. (7.3.1)

Beweis.1. SeiF ∈∫

u′v auf I . Die Funktionuv−F ist differenzierbar mit

(uv−F)′ = (uv)′−F ′ = u′v+uv′−u′v = uv′ ,

somituv−

∫u′v⊆

∫uv′ .

Analog folgt

uv−∫

uv′ ⊆∫

u′v,

und damit die erste Behauptung.

2. Die zweite Behauptung mit 1. und dem Hauptsatz7.2.12.

Bemerkung 7.3.3.1. Aufgrund der Sätze7.1.14und 7.2.9 gilt uv′,u′v ∈ R([a,b]) und∫u′v 6= /0, wennu,v∈C1([a,b]).

2. Stammfunktionen bzw. Integrale können durch partielle Integration bestimmt werden für:

xnex , xnsinx , xncosx , xα lnx , xnarctanx , xnarcsinx

Für die ersten drei Funktionen wirdu = (x 7→ xn) verwendet. Nachn-maliger partiellerIntegration entsteht die Aufgabe der Bestimmung von Stammfunktion bzw. Integral von

exp, sin, cos.

Für die letzten drei Typen verwendet manv′(x) = xα bzw.v′(x) = xn. Vereinfachung entstehthier durch Differentiation der transzendenten Ausdrücke. ♦

Beispiel 7.3.4.1. Mit 0 < a≤ b gilt∫ b

aln =

∫ b

aln︸︷︷︸u

· 1︸︷︷︸v′

= (x 7→ xlnx)∣∣ba−

∫ b

a

1x

xdx

= blnb−b−alna+a.

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7 Das Riemann-Integral

2. SeiSm =∫

sinm aufR. Dann gilt

Sm =∫

sinm =∫

sinm−1︸ ︷︷ ︸u

·(−cos)′︸ ︷︷ ︸v′

=−sinm−1 ·cos+(m−1)∫

sinm−2cos2

=−sinm−1 ·cos+(m−1)∫

sinm−2(1−sin2)

=−sinm−1 ·cos+(m−1)Sm−2 +(1−m)Sm

und wir erhalten daher die Rekursionsformel

Sm =− 1m

sinm−1 ·cos+m−1

mSm−2 .

DaS0 =

∫sin0 3 (x 7→ x) und S1 =

∫sin1 3 −cos,

können wirSm für gerade und ungeradem iterativ ausS0 bzw.S1 bestimmen.

Es gelten ∫ π

2

0sinm = − 1

msinm−1cos

∣∣ π

20 +

m−1m

∫ π

2

0sinm−2

=m−1

m

∫ π

2

0sinm−2

und ∫ π

2

0sin0 =

π

2,∫ π

2

0sin1 = 1.

Damit gilt ∫ π

2

0sinm =

m−1m

m−3m−2 · · · · ·

12 ·1

π

2 , falls m gerade,m−1

mm−3m−2 · · · · ·

23 ·1, falls m ungerade.

3. Es gilt ∫x2︸︷︷︸u

cosx︸︷︷︸v′

dx = (x 7→ x2sinx)−2∫

x︸︷︷︸u1

sinx︸︷︷︸v′1

dx

= (x 7→ x2sinx)+2(x 7→ xcosx)−2∫

cosxdx

3 (x 7→ (x2sinx+2xcosx−2sinx)) .

und daher∫ b

ax2︸︷︷︸u

cosx︸︷︷︸v′

dx = b 7→ b2sinb+2bcosb−2sinb−a 7→ a2sina−2acosa+2sina.♦

160

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7.3 Integrationsmethoden

7.3.3 Substitutionsmethode

Die Kettenregel für die Differentiation von zusammengesetzten Funktionen führt zu einerMethode der Transformation bestimmeter Integrale, der Substitutionsmethode der Integral-variablen.

Satz 7.3.5.1. Seiφ : I = [a,b]→ R differenzierbar und sei f: φ(I)→ R. Dann gilt∫( f φ)φ ′ ⊇

(∫f

)φ auf I .

2. Wenn zusätzlich f∈ R(φ([a,b])), ( f φ)φ ′ ∈ R([a,b]) und∫

f 6= /0, dann∫ b

a( f φ)φ ′ =

∫φ(b)

φ(a)f . (7.3.2)

Beweis.1. SeiF ∈∫

f auf φ(I). Nach der Kettenregel gilt

∂ (F φ) = ( f φ)φ ′ auf I

und daherF φ ∈∫( f φ)φ ′.

2. Mit 1. und dem Hauptsatz7.2.12folgt∫φ(b)

φ(a)f = F(φ(b))−F(φ(a)) = F φ

∣∣ba =

∫ b

a( f φ)φ ′ .

Bemerkung 7.3.6.1. Aufgrund der Sätze7.1.14und7.2.9gilt f ∈R(φ([a,b])), ( f φ)φ ′ ∈R([a,b]) und

∫f 6= /0, wennφ ∈C1([a,b]) und f ∈C(φ([a,b])).

2. SeiX = R undφ = idX = dx die Identität aufX. Dann giltφ ′ = id′X = idX = dx und dahernach Satz7.3.5 ∫ b

af (x)dx =

∫ b

af =

∫ b

a( f idX)id′X =

∫ b

af dx

Das Symbol dx im linken Integral zur Bezeichnung der Integrationsvariablen ist also, wieim rechten Integral zu sehen ist, das Differential dx der Identität aufX. ♦

Beispiel 7.3.7.1. Seiφ ∈C1([a,b]). Dann∫ b

aφ ′(x)φ(x) dx =

∫ ba f (φ(x))φ ′(x)dx mit f (x) = 1

xund daher∫ b

a

φ ′(x)φ(x)

dx =∫

φ(b)

φ(a)

dxx

= ln |φ(b)|− ln |φ(a)| , wenn 06= φ([a,b]) .

2. Sei f ∈ C([a,b]), α,β ∈ R, α 6= 0. Dann∫

f (αx+ β )dx = 1α

∫f (φ(x))φ ′(x)dx mit

φ(x) = αx+β und daher∫f (αx+β )dx= (

∫f )φ ,

∫ b

af (αx+β )dx =

∫φ(b)

φ(a)f =

∫αb+β

αa+β

f .

161

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7 Das Riemann-Integral

Speziell folgt ∫dx

x−a3 ln |(·)−a| (7.3.3)∫

dx(x−a)k 3

11−k

((·)−a)1−k (k 6= 1) . (7.3.4)

3. Seiena,b∈ R mit c2 = b−a2 > 0. Mit f (x) = x−k undφ(x) = x2 +2ax+b gilt∫2x+2a

x2 +2ax+bdx3

(x 7→ ln |x2 +2ax+b|

)(7.3.5)∫

2x+2a(x2 +2ax+b)k dx3

(x 7→ 1

1−k(x2 +2ax+b)1−k

)(k 6= 1) . (7.3.6)

In vielen Fällen ist der Integrand nicht sofort in der Formf (φ(x))φ ′(x) mit geeigneter Sub-stitutionφ erkennbar. Vielfach ist aber der Integrand von der Formh(x) = g(x,φ(x)), undman vermutet, eine Substitutionφ könnte erfolgreich sein. Der folgende Satz sagt, wie mandann die Funktionf mit

f (φ(x))φ ′(x) = g(x,φ(x)) = h(x)

bestimmen muß:

Satz 7.3.8.1. Sei h: [a,b]→R und es mögen g∈C([a,b]× [c,d],R) und ein streng monoto-nes und differenzierbaresφ : [a,b]→R mit [c,d] = φ([a,b]), φ ′(x) 6= 0und h(x) = g(x,φ(x))für x∈ [a,b] existieren. Sei f: [c,d]→ R definiert durch

f (z) :=g(φ−1(z),z)φ ′(φ−1(z))

für z∈ [c,d] .

Ist F eine Stammfunktion zu f auf[c,d], so ist Fφ eine Stammfunktion zu h auf[a,b], d.h.,∫h⊇

(∫f

)φ auf [a,b] .

2. Wenn zusätzlich h∈C([a,b]), φ ∈C1([a,b]), dann∫ b

ag(x,φ(x))dx =

∫ b

ah =

∫φ(b)

φ(a)f .

Beweis.1. SeiF ∈∫

f auf [c,d]. Nach der Kettenregel gilt

(F φ)′(x) = f (φ(x))φ ′(x) =g(x,φ(x))

φ ′(x)φ′(x) = g(x,φ(x)) = h(x) auf [a,b] ,

so daßF φ ∈∫

h folgt.

2. Nach Voraussetzung istf stetig und ist damit integrierbar auf[c,d] und besitzt eineStammfunktionF auf [c,d]. Die Behauptung folgt damit aus dem Hauptsatz.

162

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7.4 Integration gebrochen-rationaler Funktionen

Beispiel 7.3.9.Wir betrachten ∫dx

x(lnx)k .

Wir vermutenφ(x) = lnx mit φ ′(x) = 1x und erhalten

∫dx

x(lnx)k =(∫

1

ln−1(z)zk

1

ln′(ln−1(z))dz

) ln(∫

1

ln−1(z)zkln−1(z)dz

) ln) =

(∫dzzk

) ln .

Damit erhalten wir∫ b

a

dxxlnx

= ln | lnb|− ln | lna| ,∫ b

a

dxx(lnx)k =

11−k

((lnb)−1k− (lna)1−k

)für k > 1,

wenn 0< a≤ b mit 1 6∈ [a,b]. ♦

7.4 Integration gebrochen-rationaler Funktionen

7.4.1 Partialbruchzerlegung

SeiR: D(R)→ C eine gebrochen-rationale Funktion mitR(x) = p(x)q(x) aufD(R) mit Polyno-

menp undq.

Zuerst bemerken wir, daß aufgrund von Satz?? eindeutig bestimmte Polynomeh und rexistieren mit

p(x)q(x)

= h(x)+r(x)q(x)

für x∈ D(R) , degr < degq.

Das Polynomh heißtPolynomanteilvon R. Der Rest stellt eine echt gebrochen-rationaleFunktion dar.

Die Idee besteht nun darin, diesen echt gebrochen-rationalen Anteil in eine Summe einfa-cherer Brüche,Hauptteilegenannt, zu zerlegen.

Beispiel 7.4.1. 10x−23x2−5x+6 = 10x−23

(x−2)(x−3) = 3x−2 + 7

x−3. ♦

Satz 7.4.2 (Partialbruchzerlegung).Es sei R: D(R)→ C eine gebrochen rationale Funk-

tion mit R(x) = p(x)q(x) für x∈D(R) mit Polynomen p, q unddegp< degq. Seien zj , j = 1, . . . ,n,

die Nullstellen von q mit den Vielfachheiten mj . Dann existieren eindeutig bestimmte ajk ∈Cmit

R(x) =n

∑j=1

mj

∑k=1

a jk

(x−zj)k für x∈ D(R) . (7.4.1)

163

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7 Das Riemann-Integral

Beweis.O.B.d.A. sei der führende Koeffzient vonq gleich 1, d.h.,

q(x) =n

∏j=1

(x−zj)mj .

Wir machen den Ansatzp(x)q(x)

=a

(x−z1)m1+

p1(x)q1(x)

(7.4.2)

mit a∈ C, einem Polynomp1 und einem Polynomq1 mit

q1(x) =q(x)

x−z1.

Durch Multiplikation von (7.4.2) mit q(x) folgt

p(x) = an

∏j=2

(x−zj)mj +(x−z1)p1(x) , (7.4.3)

woraus wir

a = p(z1)/n

∏j=2

(z1−zj)mj

ablesen. Also ista1m1 = a eindeutig bestimmt.

Aus (7.4.3) folgt

degp1 <n

∑j=2

mj ≤ degq1 ∨ degp1 = degp−1 < degq−1 = degq1 .

Folglich können wir obige Argumentation aufp1, q1 anwenden und erhalten in endlichvielen Schritten die Behauptung.

Satz 7.4.3 (Reelle Partialbruchzerlegung).Es sei R: D(R)⊂ R→ R eine gebrochen ra-

tionale Funktion mit R(x) = p(x)q(x) für x ∈ D(R) mit Polynomen p, q unddegp < degq mit

reellen Koeffizienten. Seien zj , j = 1, . . . ,nr , die reellen Nullstellen von q mit den Vielfach-heiten mj und seien zj , zj , j = nr+1, . . . ,n, die nichtreellen Nullstellen der Vielfachheit mj .Dann existieren eindeutig bestimmte ajk,b jk,c jk ∈ R mit

R(x) =nr

∑j=1

mj

∑k=1

a jk

(x−zj)k +n

∑j=nr+1

mj

∑k=1

b jkx+c jk

(x2−2ℜ(zj)x+ |zj |2)k für x∈ D(R) . (7.4.4)

Beweis.Folgt aus Satz7.4.2durch Zusammenfassung der zu konjugiert komplexen Null-stellen gehörigen Terme.

164

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7.4 Integration gebrochen-rationaler Funktionen

7.4.2 Praktische Berechnung der Partialbruchzerlegung

1. Schritt: Abspalten des Polynomanteils durch Division mit Rest

R(x) = p0(x)+p(x)q(x)

.

2. Schritt: Bestimmung der Nenner-Nullstellen des echt-gebrochenen Anteils; kürzen vonZähler und Nenner, damit

q(x) =m

∏i=1

(x−xi)αi mit p(xi) 6= 0 ;

Abspaltung der Hauptteile durch entsprechenden Ansatz:

R(x) = p0(x)+m

∑i=1

αi

∑j=1

Ai j

(x−xi) j

und damit

[R(x)− p0(x)]m

∏k=1

(x−xk)αk =m

∑i=1

αi

∑j=1

Ai j∏m

k=1(x−xk)αk

(x−xi) j .

Links und rechts stehen nun Polynome. DieAi j ergeben sich durch Koeffizientenver-gleich, der nach Satz7.4.2immer zum Erfolg führen muß.

Beispiel 7.4.4. f (x) = x+1x(x−1)2 .

Der 1. Schritt ist überflüssig.

2.: Nullstellen des Nenners sind 0 und 1, letztere mit Vielfachheit 2. Daher Ansatz

f (x) =x+1

x(x−1)2 =a

x−0+

bx−1

+c

(x−1)2 . (7.4.5)

Damit

x+1 = a(x−1)2 +bx(x−1)+cx= (a+b)x2− (2a+b−c)x+a, (7.4.6)

d.h.,a = 1, −2a−b+c = 1, a+b = 0

und deswegena = 1, b =−1, c = 2.

Zusammengefaßt ergibt sich

x+1x(x−1)2 =

1x− 1

x−1+

2(x−1)2 .

In vielen Fällen ist es sinnvoller, keinen vollständigen Koeffizientenvergleich durchzufüh-ren, sondern einige Koeffizienten durch Einsetzen von Null- oder Polstellen oder auch an-deren geeigneten Zahlen zu bestimmen.

In (7.4.6) kann man z.B. 0 einsetzen und erhält soforta = 1. Durch Einsetzen von 1 ergibtsich sofortc = 2. Der dritte Koeffizientb kann durch Koeffizientenvergleich oder durchEinsetzen einer geeigneten Zahl bestimmt werden.

165

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7 Das Riemann-Integral

7.4.3 Integrale der Hauptteile von Partialbrüchen

Mit Satz 7.4.2bzw. 7.4.3ist die Integration von gebrochen-rationalen Funktionen auf dieIntegration folgender Ausdrücke zurückgeführt:

A(x−a)k ,

Ax+B(x2 +2ax+b)k mit a2 < b.

Mit (7.3.3) und (7.3.4) finden wir eine Stammfunktion zum ersten Ausdruck auf jedemIntervall, dasa nicht enthält.

Für k∈ N≥1 gilt

Ax+B(x2 +2ax+b)k =

A2

2x+2a

(x2 +2ax+b)k︸ ︷︷ ︸Ik,1(x)

+(B−aA)1

(x2 +2ax+b)k︸ ︷︷ ︸Ik,2(x)

.

Stammfunktionen zuIk,1 finden wir mit (7.3.5) bzw. (7.3.6). Verbleibt noch, eine Stamm-funktion zuIk,2 zu finden.

Mit c > 0 mit c2 = b−a2, Jk(x) = (x2 +c2)−k , φ(x) = x+a und Satz7.3.5haben wir aufjedem Intervall inR ∫

Ik,2 =∫

(Jk φ)φ ′ =(∫

Jk

)φ .

Wie man durch Differentiation sieht, gilt

1c

arctan(·)c∈∫

J1 .

Wir wollen nun∫

Jk iterativ für k > 1 bestimmen. Seiu(x) = x, v(x) =(x2 +c2

)−k+1.

Wegen

u(x)v′(x) = (1−k)2(x2 +c2)−2c2

(x2 +c2)k = 2(1−k)Jk−1−2(1−k)c2Jk

undu′(x)v(x) = Jk−1

folgt mit partieller Integration (Satz7.3.2),

2(1−k)∫

Jk−1−2(1−k)c2∫

Jk = uv−∫

Jk−1

und daher ∫Jk =

3−2k(2−2k)c2

∫Jk−1 +

12(1−k)c2

(x 7→ x

(x2 +c2)k

).

Damit kann eine Stammfunktion von∫ Ax+B

(x2+2ax+b)k iterativ bestimmt werden.

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7.4 Integration gebrochen-rationaler Funktionen

Beispiel 7.4.5.1.∫ dx

x3−1.

Es giltx3−1 = (x−1)(x2 +x+1). Daher Ansatz

1(x−1)(x2 +x+1)

=A

x−1+

Bx+Cx2 +x+1

.

Multiplikation mit x−1 und setzen vonx = 1 liefert A = 13. Durch Koeffizientenvergleich

folgt weiter

1 =(

13

+B

)x2 +

(13−B+C

)x+

13−C,

d.h.,C =−23, B =−1

3, B−C = 13. Damit∫

dxx3−1

=13

∫dx

x−1− 1

3

∫x+2

x2 +x+1dx

3

(x 7→ 1

3ln |x−1|− 1

6ln(x2 +x+1

)−√

33

arctan2x+1√

3

)

auf jedem Intervall, das nicht 1 enthält.

2.∫ x3+1

x(x−1)3 dx.

Der Ansatzx3 +1

x(x−1)3 =Ax

+B

x−1+

C(x−1)2 +

D(x−1)3

liefert sofortA =−1 undD = 2 (durch Multiplikation mitx bzw. (x−1)3 undx := 0 bzw.x := 1). Weiter ergibt

x3 +1 = −(x−1)3 +Bx(x−1)2 +Cx(x−1)+2x

= −x3 +3x2−3x+1+Bx3−2Bx2 +Bx+Cx2−Cx+2x

= (−1+B)x3 +(3−2B+C)x2 +(−3+B−C+2)x+1,

d.h.,−1+B = 1, 3−2B+C = 0, −3+B−C+2 = 0,

alsoB = 2,C = 1. Damit∫x3 +1

x(x−1)3 dx = −∫

dxx

+2∫

dxx−1

+∫

dx(x−1)2 +2

∫dx

(x−1)3

=(

x 7→ − ln |x|+2ln|x−1|− 1x−1

− 1(x−1)2

)auf jedem Intervall, das nicht 0 oder 1 enthält.

3.∫ dx

x2−a2 mit a 6= 0.

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7 Das Riemann-Integral

Es gilt1

x2−a2 =A

x−a+

Bx+a

mit A =− 12a undB = 1

2a. Damit∫dx

x2−a2 = − 12a

∫dx

x−a+

12a

∫dx

x+a

3(

x 7→ − 12a

ln |x−a|+ 12a

ln |x+a|)

=(

x 7→ 12a

ln|x+a||x−a|

)auf jedem Intervall, das nichta oder−a enthält. ♦

7.5 Uneigentliche Integrale

In Abschnitt7.1haben wir das bestimmte Integral∫ b

af

(Riemann-Integral) einerbeschränktenFunktion f auf einemkompaktenIntervall [a,b] ein-geführt. Dabei waren Beschränktheit vonf und Kompaktheit von[a,b] wesentlich.

Unser Ziel besteht nun darin, den Integralbegriff durch Grenzwertbetrachtungen auf unbe-schränkte Intervalle bzw. unbeschränkte Funktionen zu erweitern.

Ohne den Begriff genauer spezifiziern zu wollen, bezeichnen wir hier mitSingularität eineStelle, bei der die Riemann-Integierbarkeit verletzt ist.

7.5.1 Einzige Singularität am Rand des Intervalls

Definition 7.5.1. Sei I = [a,b] mit a,b ∈ R oder I = [a,∞[ mit a ∈ R und b = ∞. Seif ∈ R([a,β ]) für alle β ∈ [a,b[ aber f 6∈ R([a,b]) für b 6= ∞. Falls der endliche Grenzwert∫ b

af := lim

βb

∫β

af

existiert, nennen wir∫ b

a f uneigentliches Integralvon f überI mit Singularität in b. ♦

Man sagt dann auch, daß∫ b

a f konvergiert. Existiert der Grenzert nicht oder ist er unendlich,dann sagt man, daß das Integral

∫ ba f divergiert(oder nicht existiert).

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7.5 Uneigentliche Integrale

Bemerkung 7.5.2.1. Falls f ∈ R([a,β ]) für alle β ∈ [a,b[ undF eine Stammfunktion vonf auf [a,b[ ist, dann ∫ b

af = lim

βbF(β )−F(a) .

2. Analog definiert man das uneigentliche Integral∫ b

a f mit Singularität ina für f ∈R([α,b])für alle α ∈ ]a,b] aber f 6∈ R([a,b]) für a 6=−∞. ♦

Beispiel 7.5.3.1.∫ ∞

0cos := lim

β→∞

∫β

0cos= lim

β→∞sin∣∣β0 = lim

β→∞sinβ , existiert nicht!

2. ∫ ∞

1

dxx

:= limβ→∞

∫β

1

dxx

= limβ→∞

ln∣∣β1 = lim

β→∞lnβ = ∞ .

3. ∫ ∞

1

dxx2 := lim

β→∞

∫β

1

dxx2 = lim

β→∞

[−1

x

]∣∣x=β

x=1 = limβ→∞

[1− 1

β

]= 1.

4. ∫ 1

0

dxx

= limα0

∫ 1

α

dxx

= limα0

(ln |x|)∣∣x=1x=α

=− limα0

lnα = ∞ .

5. ∫ 1

0

dx√x

= limα0

∫ 1

α

dx√x

= limα0

(2√

x)∣∣x=1

x=α= 2− lim

α0

(2√

α)

= 2.♦

7.5.2 Endlich viele Singularitäten

Definition 7.5.4. Sei I = ]a,b[ mit a ∈ R∪ −∞, b ∈ R∪ ∞, f ∈ R([α,β ]) aber f 6∈R([a,α]), f 6∈ R([β ,b]) für α,β mit a < α < β < b. Seic∈ ]a,b[. Dann definieren wir dasuneigentliche Integral

∫ ba f mit Singularität in a und b durch∫ b

af = lim

αa

∫ c

α

f + limβb

∫β

cf ,

falls beide rechts stehenden Grenzwerte existieren und endlich sind. ♦

Definition 7.5.5. SeiI = [a,b] mit a,b∈R, c∈ ]a,b[ und f ∈R([a,γ]), f ∈R([δ ,b]) für γ,δmit a < γ < c < δ < b aber f 6∈ R([a,b]). Dann definieren wir dasuneigentliche Integral∫ b

a f mit Singularität in c durch∫ b

af = lim

γc

∫γ

af + lim

δc

∫ b

δ

f ,

falls beide rechts stehenden Grenzwerte existieren und endlich sind. ♦

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7 Das Riemann-Integral

Bemerkung 7.5.6.1. In beiden Definitionen sind beide Grenzwerte unabhängig voneinan-der zu betrachten.

2. In der ersten Definition hängt der Wert des Integrals nicht vonc ab.

3. Das uneigentliche Integral über ein Intervall mit endlich vielen Singularitäten wird durchZerlegung des Intervalls auf obige Situationen mit Singularitäten nur am Rand oder genaueiner im Innern zurückgeführt. Alle Grenzwerte der Teilintegrale müssen existieren undendlich sein. ♦

Warnung: Aus der Bezeichnung∫ b

a f geht nicht hervor, ob es sich um ein eigentliches oderuneigentliches Integral handelt. Ist aberf ∈ R([a,b]) (und damit beschränkt auf[a.b]), sogilt nach Satz7.2.7 ∫ b

af = lim

βb

∫β

af = lim

αa

∫ b

α

f .

Eine Fehlinterpretation eines eigentlichen Integral als uneigentliches Integral führt alsonicht zu Fehlern, umgekehrt (vor allem bei Singularitäten ina und b oder in c ∈ ]a,b[)aber schon.

Wir betrachten dazuI =∫ 1−1

dxx2 . Stammfunktion vonx 7→ x−2 aufR<0 undR>0 ist x 7→ −1

x.Es gilt aber

I = limε0

∫ −ε

−1

dxx2 + lim

δ0

∫ 1

δ

dxx2

= limε0

(−1

x

)∣∣−ε

−1 + limδ0

(−1

x

)∣∣1δ

= limε0

(1ε−1

)+ lim

δ0

(−1+

)= ∞

6=(−1

x

)∣∣1−1 =−2.

Falls

limγc

∫γ

af + lim

δc

∫ b

δ

f

nicht existiert, bestehen aber immer noch Chancen, daß der „symmetrische“ Grenzwert exi-stiert, in diesem Fall heißt

CH∫ b

af := lim

ε0

(∫ c−ε

af +

∫ b

c+ε

f

)derCauchysche Hauptwertvon

∫ ba f bei Singularität inc∈ ]a,b[. Analog wird der Cauchy-

sche Hauptwert von∫ ∞−∞ f durch

CH∫ ∞

−∞f := lim

γ→∞

(∫γ

0f +

∫ 0

−γ

f

)definiert.

170

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7.5 Uneigentliche Integrale

Bemerkung 7.5.7.Wenn∫ ∞−∞ f existiert, dann existiert auch CH

∫ ∞−∞ f und beide sind gleich.

Die Umkehrung gilt nicht, betrachte zum Beispiel∫ ∞−∞

xx2+3 dx.

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7 Das Riemann-Integral

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8 Weg- und Kurvenintegrale

8.1 Wege und Kurven

8.1.1 Definition

Der Kurvenbegriff hat eine lange Geschichte, ist kompliziert und wird in der Literatur auchmit uneinheitlichen Sprachgebrauch verwendet.

Wichtig: Unterscheide das geometrische Gebilde „Kurve“ und die Vorschrift („Weg“), wiedas Gebilde entsteht.

Typische Fragestellungen:

• Länge einer Kurve, Masse einer belegten Kurve

• Arbeit bei Bewegung längs einer Kurve in einem Kraftfeld

Wir wollen Pathologien vermeiden und beschränken uns auf (für uns) sinnvolle Begriffe.

Definition 8.1.1. Ein Wegim Rn ist eine stetige Abbildungφ eines IntervallesI = [a,b] indenRn. Die Bildmenge

C := im(φ) = φ [I ] = φ(t) : t ∈ I

heißt die vonφ erzeugteKurve im Rn, φ heißt auch eineParameterdarstellungvonC.

Ist φ eineindeutig, so heißtφ Jordan-Wegund im(φ) heißtJordan-Kurve.

φ(a) undφ(b) heißenAnfangs-bzw.Endpunkt des Weges.

Die Kurve heißtgeschlossen, wennφ(a) = φ(b).

φ heißtglatt, wennφ ∈C1(I ,Rn) mit φ ′(t) 6= 0 für allet ∈ I .

φ heißtstückweise glatt, wennφ glatt bis auf endlich viele Punkte ist.

Eine KurveC heißtglatt, wenn es eine glatte Parameterdarstellung der Kurve gibt. ♦

Beispiel 8.1.2.1. Eine StreckeAB, A 6= B, A,B∈ Rn ist eine glatte Jordan-Kurve mit derDarstellung

φ(t) = A+ t(B−A) für t ∈ [0,1] .

173

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8 Weg- und Kurvenintegrale

2. Polygonzüge sind stückweise glatte Jordan-Kurven.

3. Der Einheitskreis inR2 ist eine geschlossen, glatte Jordan-Kurve mit der Darstellung

φ(t) =(

costsint

)für t ∈ [0,2π] .

Achtung: Eine KurveC kann viele verschiedene Parameterdarstellungen haben.

Übungsaufgabe 8.1.3.BetrachteC = |x| : x∈ [−1,1]. Finde veschiedene Parameterdar-stellungen. ♦

Definition 8.1.4. Zwei Darstellungenφ undψ derselben KurveC heißenäquivalent, φ ∼ψ, wenn es eine stetige, monoton wachsendeAbbildungh: D(ψ)→D(φ) gibt, so daßψ =φ h, d.h.,ψ(t) = φ(h(t)) für alle t ∈ D(ψ).

φ ψ

D(ψ)

C

h

D(φ)

Übungsaufgabe 8.1.5.Zeige, daß∼ eine Äquivalenzrelation ist.

Anschauliche Bedeutung der Definition ist, daß die KurveC bezüglichφ undψ in dersel-ben „zeitlichen“ Reihenfolge aber mit unterschiedlichen „Geschwindigkeiten“ durchlaufenwerden.

Ein Weg besitzt eineOrientierung, die Parameterdarstellung beschreibt, in welcher (zeitli-chen) ReihenfolgeC durchlaufen wird.

DurchUmorientierungentsteht ausφ der Wegφ− mit

φ−(t) = φ(a+b− t) für t ∈ D(φ) = [a,b] .

Dadurch entsteht die gleiche KurveC, Anfangs- und Endpunkt des Weges werden abergetauscht.

Satz 8.1.6.Seienφ undψ zwei Jordan-Wege, welche die gleiche Jordan-KurveC erzeugen.Dann gilt: Es existiert genau eine stetige Bijektion h: D(ψ)→ D(φ) mit ψ = φ h. Wennφ undψ glatt sind, dann gilt h∈C1(D(ψ)) und h′(t) 6= 0 für alle t ∈D(ψ). Je nachdem obh monoton wachsend oder fallend ist, giltφ ∼ ψ oderφ− ∼ ψ.

Definition 8.1.7. Eine TeilmengeM ⊆ Rn heißt:

- wegweise zusammenhängend, wenn zu je zwei PunktenA,B∈M einen Wegφ : [a,b]→M in M mit φ(a) = A undφ(b) = B gibt.

- Gebiet, wennM offen und wegweise zusammenhängend ist. ♦

174

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8.1 Wege und Kurven

8.1.2 Weglänge

Seiφ : I = [a,b]→ Rn ein Weg. Ziel ist, demWeg eine Länge zuzuordnen.Idee: Approximation durch Polygonzug.

φ(t0)φ(t5)

φ(t1)

Sei dazuZ = [tk−1, tk],k = 1, . . . ,m eine Zerlegung von[a,b] mit b> a, d.h.,t0 = a< t1 <· · ·< tm = b. Dann ist

L(Z,φ) :=m

∑i=1|φ(ti)−φ(ti−1)|

die Länge des durchZ undφ erzeugten Polygonzuges.

Definition 8.1.8. Unter derLänge des Wegesφ : [a,b] → Rn, b > a, (Weglänge) verstehtman

L(φ) := supZ Zerlegung von[a,b]

L(Z,φ) .

Für b = a setzen wirL(φ) = 0.

Der Weg heißtrektifizierbar, falls L(φ) < ∞. ♦

Wegen

L(Z,φ) :=m

∑i=1

√n

∑j=1

(φ j(ti)−φ j(ti−1))2

und √a2

1 + · · ·+a2n ≤ |a1|+ · · ·+ |an|

für reelleaa, . . . ,an, erhält man

m

∑i=1|φ j0(ti)−φ

j0(ti−1)| ≤ L(Z,φ)≤m

∑i=1

n

∑j=1|φ j(ti)−φ

j(ti−1)|

für alle j0 ∈ 1, . . . ,n.

Sei f : [a,b] → R und seiZ = [tk−1, tk],k = 1, . . . ,m eine Zerlegung von[a,b]. Dannnennen wir

V( f ,Z) :=m

∑i=1| f (ti−1)− f (ti)|

Variation von f bezüglichZ. Die ZahlV( f ) := supZV( f ,Z) heißttotale Variation von fund f heißt vonbeschränkter Variation, wennV( f ) < ∞.

Damit folgt unmittelbar:

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8 Weg- und Kurvenintegrale

Satz 8.1.9.Der Wegφ : [a,b]→ Rn ist genau dann rektifizierbar, wenn alle Komponenten-funktionen von beschränkter Variation sind.Besonders nützlich ist die sogenannteWeg-oderBogenlängenfunktions. Sei dazuφ : I =[a,b]→ Rn rektifizierbar. Wir definierens: I → R durch

s(t) := L(φ∣∣[a,t]) für t ∈ [a,b] ,

d.h.,s(t) ist die Länge des auf[a, t] eingeschränkten Wegstückes.

Satz 8.1.10.i) Wennφ : I → Rn rektifizierbar ist, dann ist die zugehörige Weglängenfunk-tion s auf I stetig und (streng bei Jordan-Wegen) monoton wachsend.

ii) Wennφ ∈C1(I ,Rn) (und damit rektifizierbar), so gilt s∈C1(I ,R) und es gilt

s(t) = Ds(t) = |Dφ(t)| . (8.1.1)

Aus ii) folgt

s(t) =∫ t

a|φ ′(τ)|dτ =

∫ t

a

√(Dφ1(τ))2 + · · ·+(Dφn(τ))2dτ für t ∈ I .

Insbesondere gilt

L(φ) =∫ b

a|Dφ(τ)|dτ .

Zusatz: Die Integraldarstellung vons gilt auch für stückweise glatteφ .

Beweis.Wir zeigen ii). Sei dazut ∈ ]a,b[ undh≥ 0 so klein, daßt +h≤ b. Dann gilt

|φ(t +h)−φ(t)| ≤ s(t +h)−s(t) ,

da auf der linken Seite der geradlinige Abstand steht.

SeiZ eine beliebige Zerlegung von[a,b]. Dann gilt mit komponentenweiser Anwendungdes Hauptsatzes der Differential- und Integralrechnung

|φ(tk)−φ(tk−1)|= |∫ tk

tk−1

Dφ(τ)dτ| ≤∫ tk

tk−1

|Dφ(τ)|dτ

und somitm

∑k=1

|φ(tk)−φ(tk−1)| ≤∫ b

a|Dφ(τ)|dτ ,

d.h.,

L(φ)≤∫ b

a|Dφ(τ)|dτ . (8.1.2)

Wendet man nun (8.1.2) auf φ∣∣[t,t+h] an, so folgt

|φ(t +h)−φ(t)h

| ≤ s(t +h)−s(t)h

≤ 1h

∫ t+h

t|Dφ(τ)|dτ .

Für h 0 folgtD+s(t) = |Dφ(t)| für t ∈ I .

Mit den entsprechenden Betrachtungen fürh < 0 folgt D−s(t) = D+s(t) = |Dφ(t)| unddamit (8.1.1).

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8.2 Weg- und Kurvenintegrale

8.1.3 Kurvenlänge

Nun wollen wir einer Jordan-KurveC eine LängeL(C) zuordnen. Der Wunsch besteht nundarin,L(C) = L(φ) zu setzen, wennφ eine Parameterdarstellung vonC ist. Dazu muß mandie Unabhängigkeit von der Parameterdarstellung zeigen.

Ohne große Mühe zeigt man (aus der Definition über Zerlegungen):

i) Sind φ undψ zwei äquivalente Jordan-Wege, dann giltL(φ) = L(ψ).

ii) Für jeden Wegφ gilt L(φ) = L(φ−).

Damit ist folgende Definition sinnvoll:

Definition 8.1.11. SeiC eine Jordan-Kurve. Unter der Länge vonC versteht man die LängeL(φ) eines Jordan-Wegesφ , derC erzeugt.

Bemerkung 8.1.12.1. Die Definition läßt sich genauso auf Kurven/Wege ausdehnen, dieJordan-ähnlichsind, d.h., die nur endlich viele Doppelpunkte haben.

2. Die Bogenlänges (aus der Weglängenfunktion) wird oft als natürlicher Parameter derParameterdarstellung genommen. Das geht so:

SeiC = φ [I ] mit φ : I = [a,b]→Rn eine Jordan-Kurve und seis(t) = L(φ∣∣[a,t]) die Weglän-

genfunktion. Daφ ein Jordan-Weg ist, ists: [a,b] → [0,L(φ)] stetig und streng monotonwachsend. Somit existiert die streng monoton wachsende Umkehrfunktiont : [0,L(φ)] →[a,b] zus. Setze nunψ = φ t. Dann giltφ ∼ψ. Wenn man mitσ : [0,L(ψ)] = [0,L(φ)]→R die Weglängenfunktion vonψ bezeichnet, gilt nunσ(s) = s für s∈ [0,L(ψ)].

Ist C glatt, so istψ stetig differenzierbar und es gilt

|Dψ(s)|= Dσ(s) = 1. ♦

8.2 Weg- und Kurvenintegrale

8.2.1 Kurvenintegral

Seiφ : I = [a,b]→ Rn ein Jordan-Weg für eine rektifizierbare KurveC, seis die Bogenlän-genfunktion. AufC sei eine Funktionf : C→ R definiert.

Definition 8.2.1. Das Integral∫C

f ds :=∫ b

af (φ(t))ds(t) :=

∫ b

af (φ(t))s(t)dt =

∫ b

af (φ(t))|φ(t)|dt ♦

heißtKurvenintegral von f überC.

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8 Weg- und Kurvenintegrale

Bemerkung 8.2.2. i) Wenn f stetig ist undφ stetig differenzierbar, dann existiert obigesIntegral auf jeden Fall.

ii) Damit∫C f ds eine sinnvolle Bezeichnung ist, muß gezeigt werden, daß das Integral un-

abhängig von der Parameterdarstellung ist (vgl. Satz8.1.6, der angewendet wird). Insbe-sondere ist es auch unabhängig von der Orientierung. ♦

Satz 8.2.3.SeiC eine rektifizierbare Jordan-Kurve. Seien f,g: C→R und es mögen∫C f ds

und∫C gds existieren. Dann gelten:

i) Abschätzung: ∣∣∣∣∫C

f ds

∣∣∣∣≤ L(C)supC| f | .

ii) Linearität: ∫C[µ f +λg]ds= µ

∫C

f ds+λ

∫C

gds für µ,λ ∈ R .

iii) WennC = C1∪C2 mit Jordan-KurvenC1 undC2, für dieC1∩C2 nur aus endlich vielenPunkten besteht, dann ∫

Cf ds=

∫C1

f ds+∫C2

f ds.

Anwendung: Z.B. Masse, Schwerpunkt, Trägheitsmoment

Sei die Jordan-KurveC kontinuierlich mit Masse der Dichteρ, ρ : C → R, belegt. Danngilt:

M =∫C

ρ ds= Gesamtmasse vonC .

Der SchwerpunktS= (S1, . . . ,Sn) hat die Koordinaten

Si =1M

∫C

xiρ(x1, . . . ,xn)ds(x1, . . . ,xn) =

1M

∫ b

i(t)ρ(φ(t))|φ(t)|dt i ∈ 1, . . . ,n .

8.2.2 Wegintegralephysik5-8.lyx

Seiφ : I = [a,b]→ Rn ein Weg. (Nicht notwendig ein Jordan-Weg). Seif : C = φ [I ]→ Reine reelle Funktion überC oder seiF : C = φ [I ]→ Rn ein Vektorfeld überC.

Definition 8.2.4. Unter demWegintegral vonf bezüglich derk-ten Variablen längsφ ver-steht man das Riemann-Stieltjes-Integral∫

φ

f (x)dxk :=∫ b

af (φ(t))dφ

k(t) :=∫ b

af (φ(t))φk(t)dt .

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8.2 Weg- und Kurvenintegrale

Unter demWegintegral vonF längsφ versteht man∫φ

〈F(x), dx〉 :=∫

φ

F(x) ·dx :=∫

φ

(F1(x)dx1 + · · ·+Fn(x)dxn)

:=∫

φ

F1(x)dx1 + · · ·+∫

φ

Fn(x)dxn

=n

∑k=1

∫ b

aFk(φ(t))φk(t)dt =

∫ b

a〈F(φ(t), φ(t)〉dt . ♦

Anwendung: Arbeit im Kraftfeld.

Sei dazuG⊆ R3 ein Gebiet.F : G→ R3 sei ein (hinreichend vernünftiges) Kraftfeld. EinMassepunktP bewege sich längs des Wegesφ : I = [a,b]→G. Die dabei geleistete Arbeitist

A =∫

φ

〈F(x), dx〉 .

Die Herleitung ergibt sich über die Zwischensummen und der Tatsache, daß die Arbeit dasProdukt aus Kraft und Weglänge ist, wenn der Weg gerade ist, und die Kraft tangential wirktund konstant ist.

Wir formulieren nun Eigenschaften fürF ; für f ist es dann klar (z.B.F = (F1, . . . ,Fn) mitFk = f , F i = 0 für i 6= k.

Satz 8.2.5.Es mögen∫

φ〈F(x),dx〉 und

∫φ〈G(x),dx〉 existieren. Dann gelten:

i) Abschätzung: ∣∣∣∣∫φ

〈F(x),dx〉∣∣∣∣≤ L(φ)sup

x∈C|F(x)| .

ii) Linearität:∫φ

〈µF(x)+λG(x),dx〉= µ

∫φ

〈F(x),dx〉+λ

∫φ

〈G(x),dx〉 für µ,λ ∈ R .

iii) Wennφ = φ1⊕φ2 (= Aneinanderhängung von Wegen), dann∫φ

〈F(x),dx〉=∫

φ1

〈F(x),dx〉+∫

φ2

〈F(x),dx〉 .

iv) Ausφ ∼ ψ folgt ∫ψ

〈F(x),dx〉=∫

φ

〈F(x),dx〉 ,

ausφ− ∼ ψ folgt∫ψ

〈F(x),dx〉=−∫

φ

〈F(x),dx〉 und∫

φ−〈F(x),dx〉=−

∫φ

〈F(x),dx〉 .

Wegintegrale sind also orientierungsabhängig!

Statt eines Beweises dieser Aussagen soll eine wichtige Anwendung bzw. Verallgemeine-rung von iv) gegeben werden: Wenn gewisse Wegstücke hin- und zurück durchlaufen wer-den, dann heben sich die entsprechenden Integrale hinweg.

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8 Weg- und Kurvenintegrale

8.2.3 Zusammenhang von Kurven- und Wegintegralen

Nun betrachten wir den Zusammenhang von Kurven- und Wegintegralen. Seiφ ein glatterJordan-Weg,C = im(φ), F : C→ Rn,

φ(t) =(φ

1(t) . . . φn(t))>

derTangentialvektoranC im Punktφ(t), t ∈ D(φ). Sei weiter

t(t) :=1

|φ(t)|φ(t)

dernormierte Tangentialvektorund

Ft(x) :=⟨F(x), t(φ−1(x))

⟩= 〈F(φ(t)), t(t))〉

dieTangentialkomponentevonF im Punktx = φ(t).

Dann gilt

∫φ

〈F(x),dx〉=∫ b

a

⟨F(φ(t)), φ(t)

⟩dt =

∫ b

a

⟨F(φ(t),

1

|φ(t)|φ(t)

⟩|φ(t)|dt

=∫ b

a〈F(φ(t)), t(t)〉 ds(t) =

∫C

Ft ds.

Bemerkung 8.2.6. i) In der letzten Formel ist die Orientierungsabhängigkeit int versteckt.

ii) Man schreibt oft∫C 〈F(x),dx〉 statt

∫φ〈F(x),dx〉 und setzt dabei stillschweigend voraus,

daß mitC auch die Orientierung gegeben ist und daßC eine Jordan-Kurve ist. ♦

8.2.4 Gradientenfelder, Wegunabhängigkeit

Zwei Beispiele zur Motivation:

Beispiel 8.2.7.Berechne die IntegraleIk =∫

φkydx+ (x− y)dy, k = 1,2,3, über folgende

Wegeφ1,φ2 : [0,2]→ R2, φ3 : [0,1]→ R2 mit

φ1(t) =

(t,0) , t ∈ [0,1] ,(1, t−1) , t ∈ ]1,2] , φ2(t) =

(0, t) , t ∈ [0,1]

(t−1,1) , t ∈ ]1,2] φ3(t) = (t, t2) .

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8.2 Weg- und Kurvenintegrale

I1 =∫ 1

0(0· 1︸︷︷︸

x

+(t−0) · 0︸︷︷︸y

)dt +∫ 2

1((t−1) · 0︸︷︷︸

x

+(2− t) · 1︸︷︷︸y

)dt =−12(t−2)2

∣∣21

=12

,

I2 =∫ 1

0(t · 0︸︷︷︸

x

+(0− t) · 1︸︷︷︸y

)dt +∫ 2

1(1· 1︸︷︷︸

x

+(t−2) · 0︸︷︷︸y

)dt = 1− 12

t2∣∣10

=12

,

I3 =∫ 1

0(t2 · 1︸︷︷︸

x

+(t− t2) · 2t︸︷︷︸y

)dt =(

13

t3 +23

t3− 24

t4)∣∣1

0 =12

. ♦

Beispiel 8.2.8.BerechneIk =∫

φkydx+(y− x)dy, k = 1,2,3, über die gleichen Wege wie

in 1. Es gilt

I1 =∫ 1

0(0· 1︸︷︷︸

x

+(0− t) · 0︸︷︷︸y

)dt +∫ 2

1((t−1) · 0︸︷︷︸

x

+(t−2) · 1︸︷︷︸y

)dt =12(t−2)2

∣∣21

=−12

,

I2 =∫ 1

0(t · 0︸︷︷︸

x

+t · 1︸︷︷︸y

)dt +∫ 2

1(1· 1︸︷︷︸

x

+(2− t) · 0︸︷︷︸y

)dt = 1+12

t2∣∣10 =

32

,

I3 =∫ 1

0(t2 · 1︸︷︷︸

x

+(t2− t) · 2t︸︷︷︸y

)dt =(

13

t3− 23

t3 +24

t4)∣∣1

0 =16

. ♦

Woran liegt das?

Definition 8.2.9. Seiv: G→ Rn ein stetiges Vektorfeld auf einem GebietG⊆ Rn.

i) v heißtGradientenfeldoderPotentialfeld, wenn es ein skalares Feldu: G→ R gibt mitv(x) = gradu(x) für x∈ G. u heißtStammfunktionvon v undw = −u heißtPotentialdesVektorfeldesv. (Vorzeichen aus physikalischen Gründen).

ii) Das Integral∫

φ〈v(x),dx〉 heißt inG wegunabhängig, wenn für 2 beliebige PunkteA,B∈

G und jeden stückweise glatten Wegφ mit AnfangspunktA und EndpunktB dieses Integralden gleichen Weg hat. In diesem Fall schreibt man auch∫ B

A〈v(x),dx〉 :=

∫φ

〈v(x),dx〉 .♦

Äquivalent zur Definition der Wegunabhängigkeit ist die Forderung, daß∫

φ〈v(x),dx〉 = 0

für jeden stückweise glatten, geschlossenen Wegφ in G gilt. Man nennt dannv konservativ.

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8 Weg- und Kurvenintegrale

Problem: Unter welchen Bedingungen istv ein Gradientenfeld bzw. konservativ?

Folgender Satz folgt aus dem Mittelwertsatz:

Satz 8.2.10.Wenn v ein Gradientenfeld ist, dann ist die Stammfunktion bis auf eine Kon-stante eindeutig bestimmt, d.h., wenn u1 und u2 Stammfunktionen zu v in G sind, dann istu1−u2 konstant auf G.

Satz 8.2.11.Ein stetiges Vektorfeld v ist genau dann konservativ, wenn es ein Gradienten-feld ist. Genauer:

i) Wenn u∈C1(G,R), A,B∈G beliebig undφ ein stückweise glatter Weg in G von A nachB ist, dann gilt ∫

φ

〈gradu(x),dx〉= u(B)−u(A) .

ii) Wenn v konservativ ist und A∈G, dann gilt u∈C1(G,R) und v(x) = gradu(x) für x∈Gfür die durch

u(x) :=∫ x

A〈v(y),dy〉 für x∈G

definierte Funktion u: G→ R.

Hinweis: Vergleiche den Satz mit dem Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung.

Beweis. i) Sei φ : [a,b]→G⊆ Rn wie im Satz angegeben. Nach Kettenregel gilt

du(φ(t))dt

=n

∑k=1

Dku(φ(t))Dφk(t) = 〈gradu(φ(t)),Dφ(t)〉 .

Mit Substitution folgt

∫φ

〈gradu(x),dx〉=∫ b

a

du(φ(t))dt

Dφ(t)dt =∫

φ(b)

φ(a)du

= u(φ(b))−u(φ(a)) = u(B)−u(A) .

ii) ist etwas aufwendiger.

Die in diesem Satz gegebene Äquivalenz von konservativ und Gradientenfeld ist praktischunhandlich. Wir geben daher ein weiteres Kriterium an:

Satz 8.2.12.Wenn v∈ C1(G,Rn) und wenn v ein Gradientfeld ist, dann erfüllt v dieIntegrabilitätsbedingungen

Dkvi = Div

k für alle i,k∈ 1, . . . ,k (8.2.1)

auf G.

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8.2 Weg- und Kurvenintegrale

Beweis.Seiv = gradu, d.h.,vi = Diu. Dann gilt

Dkvi = DkDiu = DiDku = Div

k

nach dem Satz von Schwarz6.3.15.

Bemerkung 8.2.13.1. Im Falln = 3 besagen die Integrabilitätsbedingungen gerade

rotv = 0 in G.

2. Die Integrabilitätsbedingungen sind aber nicht hinreichend! ♦

Beispiel 8.2.14.Betrachtev mit v(x,y) = ( −yx2+y2 ,

xx2+y2) im RinggebietG= B(0,2)\B(0,1).

Dann sind die Integrabilitätsbedingungen erfüllt aber∫

φv1(x,y)dx+v2(x,y)dy 6= 0 für jeden

das Loch umrundenden, glatten, geschlossenen Weg. Beweis: ÜA.

Woran liegt das? Die Antwort ist etwas verblüffend: An der Topologie vonG!

Definition 8.2.15. Eine TeilmengeM ⊆ Rn heißt:

• einfach zusammenhängend, wennM weg-weise zusammenhängend und jede geschlos-sene, ganz inM verlaufende KurveC sichstetig auf einen Punkt zusammenziehen läßt,d.h., für jedes solcheC existierenP∈ M undeine Abbildungr ∈ C([0,1]×M,M), so daßfür Ct := r(t,x) : x ∈ C die BeziehungenC0 = C, C1 = P und Ct ⊆ M für t ∈ [0,1]gelten.

einfach zusammenhängend nicht einfach zusammenh.

• sternförmig, wenn ein PunktP ∈ M exi-stiert, so daßAP⊆M für alleA∈M.

sternförmig nicht sternförmig ♦• konvex, wennAB⊆M für alleA,B∈M.

Es gilt:konvex =⇒ sternförmig=⇒ einfach zusammenhängend.

Beachte: „Einfach zusammenhängend“ ist eine topologische Eigenschaft, „sternförmig“ ei-ne geometrische.

Satz 8.2.16.Sei G⊆ Rn ein einfach zusammenhängendes Gebiet, v ein stetig differenzier-bares Vektorfeld auf G, daß die Integrabilitätsbedingungen(8.2.1) auf G erfüllt. Dann ist vein Gradientenfeld und mithin ist das entsprechende Wegintegral wegunabhängig.

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8 Weg- und Kurvenintegrale

Beweis.Ist ziemlich aufwendig. Wir beweisen den Satz für den Spezialfall, daßG sternför-mig ist. O.B.d.A. sei alsoG sternförmig bezüglich 0∈G (sonst geeignete Translation). Fürx∈G seiφx : [0,1]→G mit φx(t) = tx eine geradlinige Verbindung von 0 zux.

Wir definieren nunu: G→ R durch

u(x) :=∫

φx

〈v(y),dy〉=∫ 1

0〈v(tx),x〉 dt für x∈G.

Wir zeigenv = gradu. Dazu seix∈G beliebig. Es gilt

〈v(tx),x〉= x1v1(tx)+ · · ·+xnvn(tx)

und mitDk als der partiellen Ableitung nach derk-ten Koordinate vonx und unter Verwen-dung von (8.2.1)

D1〈v(tx),x〉= v1(tx)+n

∑k=1

xk · t ·D1vk(tx) = v1(tx)+n

∑k=1

xk · t ·Dkv1(tx)

= v1(tx)+⟨gradv1(tx), tx

⟩.

Andererseits gilt

ddt

(tv1(tx)

)= v1(tx)+ t ·

n

∑k=1

Dkv1(tx)xk = v1(tx)+

⟨gradv1(tx), tx

⟩.

Somit gilt

D1u(x) = D1

∫ 1

0〈v(tx),x〉 dt =

∫ 1

0D1〈v(tx),x〉 dt

=∫ 1

0

ddt

(tv1(tx)

)dt =

(tv1(tx)

)∣∣10

= v1(x) .

Analog folgtDiu(x) = vi(x) für alle i ∈ 1, . . . ,n und allex∈G, d.h.,v = gradu aufG.

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9 Integralrechnung für Funktionenmehrerer Variabler

9.1 Das Riemann-Integral im Rn

9.1.1 Definition des Riemann-Integrals

Für die Theorie ist das Riemann-Integral unzureichend, für praktische Belange reicht esmeist.

Wir beginnen mit∫

I f mit n-dimensionalem IntervallI . Später lassen wir dann stattI allge-meinere BereicheB zu.

Definition 9.1.1. Seiena,b∈ Rn mit ai ≤ bi für i = 1, . . . ,n. Die Menge

I := [a,b] := x∈ Rn : ai ≤ xi ≤ bi mit i = 1, . . . ,n= [a1,b1]×·· ·× [an,bn]

heißtIntervall. Analog werden Intervalle]a,b[, [a,b[, ]a,b] definiert. Die Zahl

|I | :=n

∏i=1

(bi −ai)

heißtMaß, Inhalt oderVolumendes IntervallsI ∈ [a,b], ]a,b[, [a,b[, ]a,b]. ♦

Wir betrachten nur einen speziellen Typ von Zerlegungen vonI = [a,b]: Es seienZi Zerle-gungen der Intervalle[ai ,bi ]. Dann ist

Z := Z1×·· ·×Zn

eine zulässige Zerlegung von[a,b]. Die Elemente vonZ sind also IntervalleJ der Form

J = J1×·· ·×Jn mit Ji ∈ Zi .

Numeriert man die Elemente vonI durch, d.h.,

Z = I j : j = 1, . . . ,N ,

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9 Integralrechnung für Funktionen mehrerer Variabler

so erhält man

I =N⋃

j=1

I j , |I |=N

∑j=1|I j | ,

wobeiI j undIk für j 6= k keine gemeinsamen inneren Punkte haben.

Die Zahlλ (Z) := max

j∈1,...,Ndiam(I j)

mit diam(I j) als demDurchmesservon I j heißtFeinheit vonZ.

Sei nunβ = (ξ1, . . . ,ξN) mit ξk ∈ Ik für k = 1, . . . ,N eine Belegung vonZ und f : I → R.Dann heißt

σ( f ,Z,β ) =n

∑k=1

f (ξk)|Ik|

ZwischensummeoderRiemannsche Summevon f zur ZerlegungZ mit der Belegungβ .

Definition 9.1.2. I sei ein kompaktes Intervall imRn. Die Funktion f : I → R heißt aufIRiemann-integrierbar, wenn der Grenzwert

limk→∞

σ( f ,Zk,βk)

für jede Zerlegungsfolge(Zk)k∈N mit λ (Zk)→ 0 für k→ ∞ und jede entsprechende Folge(βk)k∈N von Belegungenβk vonZk existiert und unabhängig von den gewählten Folgen ist.Diesen Grenzwert nennt man dasRiemann-Integralvon f überI . Mit R(I) wird die Mengeder aufI Riemann-integrierbaren Funktionen bezeichnet. ♦

Bezeichnung: ∫I

f =∫

If dµ =

∫I

f (x)dx =∫

If (x1, . . . ,xn)d(x1, · · · ,xn) .

Bemerkung 9.1.3.Riemann-integrierbare Funktionen sind beschränkt.

Probleme:

(P1)Beschreibung vonR(I).

(P2)Verallgemeinerung von∫

I f dµ zu∫

B f dµ. WelcheB sind zulässig?

(P3)Eigenschaften der Abbildungf 7→∫

B f dµ.

(P4)Verfahren zur Integralberechnung.

Analog zum eindimensionalen Fall definieren wir:

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9.1 Das Riemann-Integral im Rn

Definition 9.1.4. i) Die MengeM ⊆ Rn hat dasn-dimensionale Lebesgue-Maß 0 (istNull-menge), wenn es zu jedemε > 0 abzählbar viele IntervalleI j ⊂ Rn, j ∈ J⊆ N, gibt mit

M ⊆⋃j∈J

I j und ∑j∈J|I j |< ε .

ii) Sei E ⊆ Rn. Man sagt, eine Eigenschaft gilt „fast überall in E“, wenn es eine MengeF ⊆ Rn gibt, so daß die Eigenschaft aufE∩F gilt undE \F eine Nullmenge ist. ♦

Beispiel 9.1.5. i) Abzählbare Mengen sind Nullmengen.

ii) Wenn I ⊂Rn−1 ein(n−1)-dimensionales Intervall ist und wennf : I →R stetig ist, dannist

graph( f ) = (x, f (x)) : x∈ Ieine Nullmenge inRn. ♦

Satz 9.1.6 (Kriterium von Lebesgue).Sei I⊂ Rn ein kompaktes Intervall. Die Funktionf : I → R ist genau dann Riemann-integrierbar, wenn f beschränkt ist und fast überall aufI stetig ist.

Damit ist (P1) erledigt.

9.1.2 Verallgemeinerung auf zulässige Bereiche

Wir klären nun Problem (P2). Offenbar darfB nicht zu „schlimm“ sein, damit∫

B f dµ

definierbar ist.

Definition 9.1.7. Eine MengeB⊆ Rn heißtzulässig, wennB beschränkt ist und wenn∂Beine Nullmenge inRn ist.

Beispiel 9.1.8.1. Alle gängigen geometrischen Figuren imR2 sind zulässig.

2. Quader, Tetraeder, Kugel, Ellipsoid usw. imR3 sind zulässig.

3. Intervalle sind zulässige Bereiche.

4. Eine wichtige Klasse zulässiger Mengen erhält man so: SeiI ⊂Rn−1 ein Intervall, f1, f2stetige, reellwertige Funktionen aufI mit f1 ≤ f2. Dann ist die MengeB⊂ Rn mit

B = (x,z) : x∈ I und f1(x)≤ z≤ f2(x)

zulässig.

5. Beispiel einer nichtzulässigen Menge ist

B = (Q∩ [0,1])× (Q∩ [0,1]) .

Hier gilt ∂B = [0,1]× [0,1] und∂B ist daher keine Nullmenge. ♦

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9 Integralrechnung für Funktionen mehrerer Variabler

Lemma 9.1.9. i) Vereinigung und Durchschnitt endlich vieler zulässiger Mengen ist zuläs-sig.

ii) Die Differenz zulässiger Mengen ist zulässig.

Beweis.ÜA. Man zeige dazu zuerst Rechenregeln für den Rand:

∂ (B1∩B2)⊆ ∂B1∪∂B2 , ∂ (B1∪B2)⊆ ∂B1∪∂B2 , ∂ (B1\B2)⊆ ∂B1∪∂B2 .

SeiB⊆Rn eine beliebige Menge und seif : D( f )⊆Rn→R mit B⊆D( f ). Ohne Beschrän-kung der Allgemeinheit können wir annehmen, daßD( f ) = Rn (Eine Funktionf : D( f ) ⊆Rn→R kann man zu einer Funktionf aufRn fortsetzen, indem manf (x) = 0 für x 6∈D( f )setzt).

SeiχB die charakteristische Funktion vonB.

Definition 9.1.10. Sei B⊆ Rn eine beschränkte Menge und seif : Rn → R. Unter demRiemann-Integralvon f überB versteht man∫

Bf :=

∫B

f db =∫

Bf dµ :=

∫I

f χB

für ein beliebiges IntervallI ⊇ B, falls das rechte Integral existiert.f heißt dannRiemann-integrierbarüberB. ♦

Offenbar bedarf diese Definition einer Rechtfertigung. Man muß nämlich zeigen, daß gilt:WennI1, I2⊇B, dann existiert

∫I1

f χBdµ genau dann, wenn∫

I2f χBdµ und beide Werte sind

gleich.

Damit kann man das Lebesgue-Kriterium wie folgt formulieren:

Satz 9.1.11.Sei B⊂ Rn zulässig, f: Rn → R. Dann ist f auf B Riemann-integrierbargenau dann, wenn f

∣∣B fast überall stetig auf B ist.

Beweis. f χB hat im Vergleich zuf∣∣B höchstens noch auf∂B Unstetigkeitsstellen. Da∂B

eine Nullmenge ist, istf χB fast überall stetig in jedem IntervallI ⊇ B und daher aufIintegrierbar.

Sei nun f auf B Riemann-integrierbar. Dann istf χB auf einem IntervallI ⊇ B fast über-all stetig. Die Unstetigkeitsstellen vonf

∣∣B stimmen im Innern vonB mit denen vonf χB

überein. Nur auf der Nullmenge∂B könnte es unterschiedliches Verhalten geben.

9.1.3 Allgemeine Eigenschaften des Integrals

Die Eigenschaften sind eine fast wörtliche Übertragung der entsprechenden Eigenschaftendes eindimensionalen Falls.

SeiB⊆Rn zulässig und seiR(B) die Menge der überB Riemann-integrierbaren Funktionen.

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9.1 Das Riemann-Integral im Rn

• R(B) ist ein Vektorraum (sogar Algebra) und∫B(λ1 f1 +λ2 f2)dµ = λ1

∫B

f1dµ +λ2

∫B

f2dµ

für fi ∈ R(B), λi ∈ R. Damit ist f 7→∫

B f dµ ein lineares Funktional aufR(B). Weiter gilt

f ∈ R(B) , f ≥ 0 =⇒∫

Bf dµ ≥ 0, (9.1.1)

d.h., f 7→∫

B f dµ ein lineares positives Funktional aufR(B).

Aus (9.1.1) folgen weitere Aussagen (jede dann wieder aus der vorhergehenden)

• Abschätzungen:

Sind f ,g∈ R(B) und f ≤ g, dann ∫B

f dµ ≤∫

Bgdµ .

Seienf ,g∈ R(B) mit g≥ 0 undm≤ f ≤M mit m,M ∈ R. Sei

µ(B) :=∫

BχBdµ =

∫B

1dµ =∫

Bdµ . (9.1.2)

Dann gilt

m·µ(B)≤∫

Bf dµ ≤M ·µ(B)

undm·∫

Bgdµ ≤

∫B

f gdµ ≤M ·∫

Bgdµ .

Wenn speziellm= infB f und M = supB f , dann folgt aus (9.1.2) und dem Mittelwertsatzdie Existenz einesγ ∈ [m,M] mit ∫

Bf dµ = γµ(B) .

Wenn f stetig ist und wennB zusammenhängend ist, existiert einξ ∈ B mit∫B

f dµ = f (ξ )µ(B) .

• Fast-Überall-Gleichheit:

Wenn f ∈ R(B) und f (x) = 0 fast überall aufB dann∫

B f dµ = 0.

Beweis.(Idee) Beachte Definition des Integrals über Zwischensummen. Wähle als Zwi-schenpunkteξi Punkte aus den Zerlegungsintervallen mitf (ξi) = 0. Dann ist die Riemann-Summe 0. Zu klären wäre dabei, ob solche Zwischenpunkte tatsächlich existieren.

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9 Integralrechnung für Funktionen mehrerer Variabler

Seienf ,g∈ R(B) mit f (x) = g(x) fast überall aufB. Dann gilt∫

B f dµ =∫

Bgdµ.

• Additivität des Integrals bezüglich des Integrationsbereiches: SeienB1, B2 zulässig,f aufB1∪B2 definiert.

Das Integral∫

B1∪B2f dµ existiert genau dann, wenn

∫B1

f dµ und∫

B2f dµ existieren. Es

existiert dann auch∫

B1∩B2f dµ.

Wennµ(B1∩B2) = 0 und wenn∫

B1∪B2f dµ existiert, dann gilt∫

B1∪B2

f dµ =∫

B1

f dµ +∫

B2

f dµ .

SeiI ein Intervall. Falls∫

I f dµ = 0 und f ≥ 0, dann gilt f (x) = 0 fast überall aufI .

Beweis.Es genügt zu zeigen, daßf (a) = 0 für allea∈ I , in denenf stetig ist. Angenom-men, es existiert ein Stetigkeitspunkta von f mit f (a) > 0. Dann existiert eine UmgebungU = B(a,ε) mit ε > 0 vona mit f (x)≥ f (a)/2 für x∈ I ∩U . Damit gilt∫

If dµ =

∫I\U

f dµ +∫

I∩Uf dµ ≥ µ(I ∩U) f (a)/2 > 0

und wir erhalten einen Widerspruch.

Offensichtlich kann man das IntervallI auch durch zulässige BereicheB ersetzen, bei denenµ(B∩U) > 0 für jeden Punkta∈ B und jede (zulässige) UmgebungU vona gilt.

In Zusammenhang mit dem allgemeineren Lebesgue-Integral kann man auch zeigen, daßdie Aussage tatsächlich für beliebige zulässige BereicheB anstelle vonI gilt.

9.1.4 Der Satz von Fubini

Ziel ist die Zurückführung des Integrals∫

I f dµ auf iterierte Integrale über niedrigdimensio-nale Intervalle. Damit hat man dann die Berechnungsmethode∫

If =

∫X

∫Y

f ,

wennX, Y Intervalle mitI = X×Y.

Plausibilitätsbetrachtung im R2: Sei I = [a,b]× [c,d] = X×Y. Betrachte ZerlegungZ = ZX ×ZY, ZX = Ji : i ∈ 1, . . . ,N, ZY = K` : ` ∈ 1, , . . . ,M von I , wie sie beiDefinition der Riemannsummen verwendet wurden. Seiβ eine Belegung mit Zwischen-punkten(xi ,y`) ∈ Ji ×K`. Für f ∈ R(I) hat man als Zwischensumme zu

∫I f dµ:

∑i,`

f (xi ,y`)|Ji ×K`|= ∑i,`

f (xi ,y`)|Ji | · |K`|= ∑(

∑i

f (xi ,y`)|Ji |

)· |K`|

= ∑i

(∑ f (xi ,y`)|K`|

)︸ ︷︷ ︸

=:F(xi)

·|Ji | .

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9.1 Das Riemann-Integral im Rn

Man sieht,F(xi) ist eine Zwischensumme zum Integral∫Y f (xi ,y)dy =: F(xi), während die

äußere Summe∑i F(xi)|Ji | dann eine Näherung zur Zwischensumme zum Integral∫

X F(x)dxist.

Mit der vertauschten Summation in der zweiten Zeile ergibt sich eine analoge Interpretation.

Damit ist folgender Satz plausibel:

Satz 9.1.12 (Satz von Fubini).Sei I= X×Y ein Intervall inRn, wobei X und Y Intervallein Rk bzw.R` sind mit k+ ` = n. Wenn f: I → R integrierbar ist, dann existieren dieiterierten Integrale und es gilt

∫X×Y

f (x,y)d(x,y) =∫

X

∫ ∗

Y

f (x,y)dy

dx =∫

Y

∫ ∗

X

f (x,y)dx

dy.

Bemerkung 9.1.13.1. Man schreibt auch

∫X

∫ ∗

Y

f (x,y)dy

dx =∫

X

∫ ∗

Y

f (x,y)dydx =∫

Xdx∫ ∗

Y

f (x,y)dy,

wobei die letztere Schreibweise etwas strukturierter als die mittlere ist, aber voraussetzt, daßman

∫X und dx nicht als Klammern zur Begrenzung des Integranden auffaßt. Hier ist

∫X dx

eher als Funktional anzusehen, das auf die Funktionx 7→∫Y f (x,y)dy angewandt wird.

2. Anstelle des inneren IntegralsF(x) =∫Y f (x,y)dy haben wir im allgemeinen nur ein

Oberintegral: Um∫

X F(x)dx betrachten zu können, müßte man sicher gehen, daßF(x)überhaupt existiert, d.h., man müßte wissen, daßf (·,y) überX für jedesy und f (x, ·) überY für jedesx integrierbar ist. Dies ist jedoch nicht immer der Fall. In jedem Fall gibt es beistetigemf keine Probleme.

3. Es ist ein Trugschluß, anzunehmen, daß aus der Existenz der iterierten Integrale dieExistenz des Integrales folgt. ♦

Beispiel 9.1.14.SeiI = [0,π]× [−π

2 , π

2 ]× [0,1] und seif : I →R mit f (x,y,z) = zsin(x+y).Dann ∫

If (x,y,z)d(x,y,z) =

∫ 1

0dz∫ π

2

− π

2

dy∫

π

0zsin(x+y)dx

=∫ 1

0dz∫ π

2

− π

2

[−zcos(x+y)]∣∣π0 dy

=∫ 1

0dz∫ π

2

− π

2

z[−cos(π +y)+cosy]︸ ︷︷ ︸2cosy

dy

=∫ 1

02zsiny

∣∣ π

2− π

2dz

=∫ 1

04zdz= 2. ♦

191

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9 Integralrechnung für Funktionen mehrerer Variabler

Beispiel 9.1.15.Das ist eine etwas anspruchvollere Variante des Satzes von Fubini. SeiD⊂ Rn−1 zulässig,

B = (x,y) = (x1, . . . ,xn−1,y) ∈ Rn : x∈ D , φ1(x)≤ y≤ φ2(x)

mit stetigen Funktionenφi aufD. Sei f ∈ R(B). Dann gilt∫B

f (x,y)d(x,y) =∫

Ddx∫

φ2(x)

φ1(x)f (x,y)dy.

Wir betrachten dazu den SchnittBx vonB überx,

Bx =

[φ1(x),φ2(x)] für x∈ D ,/0 für x 6∈ D .

Man prüft leicht nachχB(x,y) = χD(x)×χBx(y) .

WennIx, Iy Intervalle mitD⊆ Ix, Bx ⊆ Iy für allex, dannI := Ix× Iy ⊇ B und∫B

f (x,y)d(x,y) =∫

I⊇Bf (x,y)χB(x,y)d(x,y) =

∫Ix⊇D

dx∫

Iy⊇Bx

f (x,y)χB(x,y)dy

=∫

Ix

[∫Iy

f (x,y)χBx(y)dy

]χD(x)dx =

∫Ix

[∫φ2(x)

φ1(x)f (x,y)dy

]χD(x)dx

=∫

Ddx∫

φ2(x)

φ1(x)f (x,y)dy. ♦

Beispiel 9.1.16.SeiB = B(0,R) im R2. Dann

B = (x,y) ∈ R2 : x∈ [−R,R] , φ1(x)≤ y≤ φ2(x)

mitφ1(x) =−

√R2−x2 , φ2(x) =

√R2−x2 .

Wir betrachten∫B

y2√

R2−x2d(x,y) =∫ R

−Rdx∫

φ2(x)

φ1(x)y2√

R2−x2dy

= 2∫ R

−Rdx√

R2−x2∫

φ2(x)

0y2dy

=23

∫ R

−R

(R2−x2)2dx=

43

∫ R

0

(R2−x2)2dx

=43

∫ R

0[R4−2R2x2 +x4]dx=

43

R5− 43

23

R5 +415

R5

=3245

R5 . ♦

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9.1 Das Riemann-Integral im Rn

Beispiel 9.1.17.Man ändere im Integral∫ 1

0dx∫ 1−x

−√

1−x2f (x,y)dy

die Integrationsreihenfolge. Hier ist

B = (x,y) ∈ R2 : x∈ [0,1] , −√

1−x2 ≤ y≤ 1−x= (x,y) ∈ R2 : y∈ [−1,1] , 0≤ x≤ φ(y)

mit

φ(y) = √

1−y2 für y∈ [−1,0[ ,1−y für y∈ [0,1] .

Damit gilt∫ 1

0dx∫ 1−x

−√

1−x2f (x,y)dy =

∫ 1

−1dy∫

φ(y)

0f (x,y)dx

=∫ 0

−1dy∫ √1−y2

0f (x,y)dx+

∫ 1

0dy∫ 1−y

0f (x,y)dx ,

falls f ∈ R(B). ♦

9.1.5 Bemerkungen zur Inhalts- und Volumenbestimmung

Definition 9.1.18. Eine beschränkte MengeB⊂Rn heißtquadrierbaroderJordan-meßbar,wenn die charakteristische FunktionχB aufB Riemann-integrierbar ist, d.h., wenn∫

BχBdµ =

∫B

1dµ =∫

Bdµ

existiert. Die Größeµ(B) = |B|=

∫B

heißtJordan-MaßoderJordan-Inhalt oder einfachInhalt oderVolumenvonB. ♦

Offenbar giltB Jordan-meßbar ⇐⇒ B zulässig.

Beispiel 9.1.19.SeiD⊂ Rn−1 und

B = (x,y) = (x1, . . . ,xn−1,y) ∈ Rn : x∈ D , φ1(x)≤ y≤ φ2(x)

mit stetigenφ1 undφ2 Jordan-meßbar. Nach Beispiel9.1.15gilt

µ(B) =∫

Bdµ =

∫D

dx∫

φ2(x)

φ1(x)1dy=

∫D(φ2(x)−φ1(x))dx.

Vergleiche dazu insbesondere den bekannten Falln = 2, d.h.,D = [a,b]. ♦

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9 Integralrechnung für Funktionen mehrerer Variabler

Beispiel 9.1.20.SeiB⊂ R3 einRotationskörper,

B = (x,y,z) : x∈ [a,b] , 0≤√

y2 +z2 ≤ r(x) .

Dann gilt

µ(B) =∫

Bdµ =

∫ b

adx∫

0≤√

y2+x2≤r(x)d(y,z) = π

∫ b

ar2(x)dx .

9.2 Koordinatentransformation

9.2.1 Heuristik und Satz

Hier geht es um die Substitutionsmethode für Mehrfachintegrale. Der Beweis des allgemei-nen Resultates ist einer der aufwendigsten Beweise der Differential- und Integralrechnung.

Wir geben hier einen heuristischen Zugang und zeigen auf, wo die Probleme liegen.

Sei Bx ⊂ Rn, By ⊆ Rn und Φ : By → Bx eine Surjektion. Sei weiterf ∈ R(Bx). Wie mußF : By → R aussehen, damit ∫

Bx

f (x)dx =∫

By

F(y)dy?

Seig = f Φ .

Um zu verstehen, wo das Problem liegt, seiBy = I ⊂ Rn ein Intervall undΦ sei ein Dif-feomorphismus, das heißtΦ sei bijektiv undΦ und Φ−1 seien stetig differenzierbar. SeiweiterI =

⋃Nj=1 I j mit IntervallenI j .Dann gilt

Φ(I) = Φ(By) =N⋃

j=1

Φ(I j) = Bx

und somit ∫Bx

f (x)dx = ∑j

∫Φ(I j )

f (x)dx ,

wenn dieΦ(I j) zulässig sind undµ(Φ(Ii)∩Φ(I j)) = 0 für i 6= j.

Sei f stetig. Dann gilt nach dem Mittelwertsatz∫Φ(I j )

f (x)dx = f (ξ j)µ(Φ(I j))

mit ξ j ∈Φ(I j). SeiI j 3 η j = Φ−1(ξ j). Dann∫Φ(I j )

f (x)dx = f (Φ(η j))µ(Φ(I j)) .

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9.2 Koordinatentransformation

Das dabei entstehende Problem ist nun: Wann ist das BildΦ(M) einer Jordan-meßbarenMengeM wieder Jordan-meßbar und wie verhält sich der Inhalt Jordan-meßbarer MengenunterΦ?

Sei zuerstΦ eine lineare Abbildung, d.h.,

Φ(y)i =n

∑j=1

ai j yj

mit einer invertierbaren MatrixA = (ai j )ni, j=1. WennI ein Intervall ist, dann istΦ(I) ein

Parallelepiped und es gilt (z.B. aus Algebra)

µ(Φ(I)) = |detA| ·µ(I) = |detΦ ′(y)| ·µ(I) .

Satz 9.2.1 (Koordinatentransformation in Mehrfachintegralen). Die Menge By⊂Rn seioffen und Jordan-meßbar, die AbbildungΦ : By→Bx⊂Rn sei stetig differenzierbar, bijektivsowie Lipschitz-stetig, d.h., es existiere ein Konstante L mit

∀y1,y2 ∈ By : |Φ(y1)−Φ(y2)| ≤ L|y1−y2| .

Dann gelten die folgenden Aussagen:

1. Bx = Φ(By) ist Jordan-meßbar.

2. f ∈ R(Bx) genau dann, wenn F∈ R(By) mit F = ( f Φ) · |detΦ ′|. Ist f ∈ R(Bx), dann∫Bx

f (x)dx =∫

By

f (Φ(y)) · |detΦ ′(y)|dy.

Bemerkung 9.2.2.1. Unter den Voraussetzungen des Satzes besitzt jede Jordan-meßbareMengeB⊂ By ein Jordan-meßbares BildΦ(B) = A und

µ(A) = µ(Φ(B)) =∫

B|detΦ ′(y)|dy.

2. Die Bedingungen anΦ dürfen auf einer Menge mit Jordan-Maß 0 verletzt sein.

3. WennΦ stetig differenzierbar ist, dann istΦ auf jeder kompakten Teilmenge vonBy

Lipschitz-stetig. ♦

Beispiel 9.2.3.Wir betrachten den Graphen einer Funktionf : I → R gegeben durch

graphf = (ξ (t),ρ(t)) : t ∈ [a,b] , I = ξ [a,b] , ξ (t) > 0 für t ∈ [a,b]

in der(x,y)-Ebene. Wir lassen den Graphen imR3 um diex-Achse rotieren und betrachtenden entstehendenRotationskörper

R= (x,y,z) : x = ξ (t) , 0≤√

y2 +z2 ≤ ρ(t) , t ∈ [a,b] .

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9 Integralrechnung für Funktionen mehrerer Variabler

Dieser Körper ist das Bild von

Z = (r,φ , t) : t ∈ [a,b], 0≤ r ≤ ρ(t), 0≤ φ ≤ 2π

unter der AbbildungΦ : B0 → R3, B0 = [0,∞]× [0,2π]× [a,b], mit

Φ(r,φ , t) = (ξ (t), r cosφ , r sinφ) .

Es gilt

detΦ ′(r,φ , t) =

∣∣∣∣∣∣ξ (t) 0 0

0 cosφ −r sinφ

0 sinφ r cosφ

∣∣∣∣∣∣= r · ξ (t) .

Damit sind die Bedingungen anΦ auf Z bis auf eine Menge vom Jordan-Maß 0 erfüllt.Somit erhalten wir

µ(R) =∫

Rdµ =

∫Z

r · ξ (t)d(r,φ , t) =∫ 2π

φ=0

∫ b

t=a

∫ρ(t)

r=0r · ξ (t)drdtdφ

= π

∫ b

2(t)ξ (t)dt . ♦

9.2.2 Spezielle Koordinatentransformationen

Ebene Polarkoordinaten.

SeiΦ : B0 → R2 mitB0 = (r,φ) : r ≥ 0, 0≤ φ ≤ 2π

undΦ(r,φ) = (r cosφ , r sinφ) .

Dann istΦ eine stetige Bijektion von der offenen Menge

B = (r,φ) : r > 0, 0 < φ < 2π

auf die offene MengeC = R2\(ξ ,0) : ξ ∈ [0,∞[ .

Es gilt

detΦ ′(r,φ) =∣∣∣∣ D1Φ1(r,φ) D2Φ1(r,φ)

D1Φ2(r,φ) D2Φ2(r,φ)

∣∣∣∣= ∣∣∣∣ cosφ −r sinφ

sinφ r cosφ

∣∣∣∣= r > 0.

Damit ist Φ nach Satz6.4.34ein Diffeomorphismus undΦ ist auf jeder kompakten Teil-menge vonB Lipschitz-stetig.

196

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9.2 Koordinatentransformation

Der Schnitt der AusnahmemengeB0 \B mit einer Jordan-meßbaren Teilmenge vonB0 istvom Jordan-Maß 0. Wir können daher Satz9.2.1auf kompakte, Jordan-meßbare Teilmen-gen vonB0 anwenden.

Betrachte nunA = (r,φ) : α ≤ φ ≤ β , 0≤ r ≤ h(φ)

mit β −α ≤ 2π und stetigem, nichtnegtivemh. Für den Flächeninhalt vonΦ(A) in kartesi-schen Koordinaten gilt dann

|Φ(A)|=∫

β

α

∫ h(φ)

0r drdφ =

12

∫β

α

h2(φ)dφ .

Dies ist dieLeibnitzsche Sektorformel.

Beispiel 9.2.4.Sei f (x,y) = xy und seiV = (x,y) ∈ R2 : x2 +y2 ≤ R2 , x≥ 0, y≥ 0 derViertelkreis im ersten Quadranten. MitΦ wie oben gilt∫

Vxyd(x,y) =

∫Φ−1(V)

r3sinφ cosφ d(r,φ) =∫

π/2

0

∫ R

0r3sinφ cosφ drdφ

=14

R4∫

π/2

0sinφ cosφ dφ =

18

R4∫

π/2

0sin2φ dφ =

116

R4∫

π

0sinφ dφ

=18

R4 . ♦

Räumliche Polarkoordinaten (Kugelkoordinaten).

SeiΦ : B0 → R3 mit

B0 = (r,φ ,ϑ) : r ≥ 0, 0≤ φ ≤ 2π, 0≤ ϑ ≤ π

undΦ(r,φ ,ϑ) = (r cosφ sinϑ , r sinφ sinϑ , r cosϑ) .

Dann istΦ eine stetige Bijektion von der offenen Menge

B = (r,φ ,ϑ) : r > 0, 0 < φ < 2π, 0 < ϑ < π

auf die offene Menge

C = R3\(r sinϑ ,0, r cosϑ) : r ∈ [0,∞[, ϑ ∈ [0,π] .

Man berechnet

detΦ ′(r,φ ,ϑ) =

∣∣∣∣∣∣cosφ sinϑ −r sinφ sinϑ r cosφ cosϑ

sinφ sinϑ r cosφ sinϑ r sinφ cosϑ

cosϑ 0 −r sinϑ

∣∣∣∣∣∣=−r2sinϑ .

197

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9 Integralrechnung für Funktionen mehrerer Variabler

Damit gilt detΦ ′(r,φ ,ϑ) 6= 0 aufB.

Der Schnitt der AusnahmemengeB0 \B mit einer Jordan-meßbaren Teilmenge vonB0 istwieder vom Jordan-Maß 0. Wir können daher Satz9.2.1auf kompakte, Jordan-meßbareTeilmengen vonB0 anwenden.

Beispiel 9.2.5.Berechnung des Kugelvolumens. SeiKR die Kugel mit RadiusR und Mit-telpunkt in(0,0,0). Dann

µ(KR) =∫ 2π

0

∫π

0

∫ R

0|r2sinϑ |drdϑdφ =

13

R3∫ 2π

0

∫π

0sinϑ dϑdφ

=23

R3∫ 2π

0dφ =

3R3 . ♦

Zylinderkoordinaten.

SeiΦ : B0 → R3 mit

B0 = (r,φ ,z) : r ≥ 0, 0≤ φ ≤ 2π, −∞ < z< ∞

undΦ(r,φ ,z) = (r cosφ , r sinφ ,z) .

Dann istΦ eine stetige Bijektion von der offenen Menge

B = (r,φ ,ϑ) : r > 0, 0 < φ < 2π +2π, −∞ < z< ∞

auf die offene MengeC = R3\(r,0,z) : r ∈ [0,∞[, z∈ R .

Man berechnet

detΦ ′(r,φ ,z) =

∣∣∣∣∣∣cosφ −r sinφ 0sinφ r cosφ 0

0 0 1

∣∣∣∣∣∣= r .

Damit gilt detΦ ′(r,φ ,z) 6= 0 aufB.

Der Schnitt der AusnahmemengeB0 \B mit einer Jordan-meßbaren Teilmenge vonB0 istwieder vom Jordan-Maß 0. Wir können daher Satz9.2.1auf kompakte, Jordan-meßbareTeilmengen vonB0 anwenden.

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10 Fourier-Reihen

Wir haben schon gesehen, daß eine glatte Funktionf unter gewissen Voraussetzungen ineine Potenzreihe (Taylorreihe) entwickelt werden kann. Eine solche Reihenentwicklung istaber nicht nur mit Polynomen möglich, sondern man kann allgemein versuchen,f über eineLinearkombination anderer Funktionen anzunähern:

f (x)≈N

∑n=0

anϕn(x),

wobeiϕn, n = 0, . . . ,N, ein vorgegebenes Funktionensystem ist unda0, . . . ,aN ∈R Parame-ter sind. Bei den Potenzreihen ist das Funktionensystemϕn (n = 0, . . . ,N) das System derMonome ϕn(x) = xn (n = 0, . . . ,N). Man kann aber auch andere Polynome wählen: spe-ziell konstruierte wie die Legendre-Polynome oder die Tschebitscheff-Polynome, oder aber– und das ist der Inhalt dieses Kapitels – ein Funktionensystem aus Sinus- und Cosinus-Funktionen.

10.1 Trigonometrische Polynome

Unter einem trigonometrischen Polynom vom GradeN verstehen wir eine FunktionFN :R→ R der Form

FN(t) =a0

2+

N

∑n=1

(ancos(nωt)+bnsin(nωt))

mit Koeffizientena0, a1, . . . ,aN, b1, . . . ,bN ∈R. Die Konstanteω ∈R heißtKreisfrequenzvonFN und die GrößeT = 2π

ωdiePeriodevonFN. Dazu beachte man, daßFN(t +T) = FN(t)

für alle t ∈ R gilt, so daßFN tatsächlichT-periodisch ist. Die inFN enthaltenen Baustein-Kreisfunktionen haben alle eine Periode, die ganzzahliger Teiler vonT ist, siehe Abbildung.

x

y

T

-1

1 sin(ωt) sin(2ωt) sin(3ωt)

Trigonometrische Polynome lassen sich besonders elegant beschreiben, wenn man eine

199

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10 Fourier-Reihen

komplexe Schreibweise im Zusammenhang mit derEuler-Formel wählt. Das obige tri-gonometrische PolynomFN wird zu

FN(t) =N

∑k=−N

ckeikωt = c−Ne−iNωt + . . .+c−1e−iωt +c0 + . . .+cNeiNωt

mit den Formeln

c0 = 12a0 , cn = 1

2(an− ibn) , c−n = 12(an + ibn) ,

a0 = 2c0 , an = cn +c−n , bn = i(cn−c−n)

für n∈ N≥1. Beachte dabeicn = c−n undc−n = cn.

Ein entscheidender Punkt für das Rechnen mit trigonometrischen Polynomen ist derenOr-thogonalitätseigenschaft.

Satz 10.1.1 (Orthonormalität). Für k,n∈ Z gilt

1T

∫ T

0eikωt ·einωt dt =

1, k = n0, sonst

Beweis.Für k = n erhalten wir

1T

∫ T

0eikωt ·eikωt dt =

1T

∫ T

0eikωt ·e−ikωt dt =

1T

∫ T

0dt = 1

und fürk 6= n

1T

∫ T

0eikωt ·einωt dt =

1T

∫ T

0ei(k−n)ωt dt =

1i(k−n)ωT

ei(k−n)ωt

∣∣∣∣t=T

t=0

=1

i(k−n)ωT

[ei(k−n)2π −1

]= 0.

Wir fassen Eigenschaften trigonometrischer Polynome in einem Satz zusammen.

Satz 10.1.2 (Hauptsatz über trigonometrische Polynome).Es gilt:

a) FN hat in [0,T[ höchstens2N Nullstellen.

b) Es gilt FN(t) = 0 für alle t ∈ R genau dann, wenn alle Koeffizienten ck = 0 sind.

c) Es gelten dieFourier-Formeln für 0≤ n≤ N,−N≤ k≤ N

ck =1T

∫ T

0FN(t) ·e−ikωtdt ,

an =2T

∫ T

0FN(t)cos(nωt)dt ,

bn =2T

∫ T

0FN(t)sin(nωt)dt .

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10.1 Trigonometrische Polynome

Beweis.a) und b) folgen aus dem Fundamentalsatz der Algebra, c) aus den Orthogonali-tätsrelationen.

Beachte: Aus b) ergibt sich die Möglichkeit, bei trigonometrischen Polynomen Koeffizien-tenvergleich anzuwenden.

Bemerkung 10.1.3.Beachte die folgenden Formeln:

a)FN(t) =N

∑k=−N

ckeikωt =N

∑k=−N

cke−ikωt =

N

∑k=−N

c−keikωt = FN(t).

b) ck =1T

∫ T

0FN(t) ·e−ikωt dt =

1T

∫ T

0FN(t) ·eikωt dt =

1T

∫ T

0FN(t) ·eikωt dt. ♦

201