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Bundesinstitut für Risikobewertung Analytik und Vorkommen von Mutterkornalkaloiden in ausgewählten Lebensmitteln Genehmigte Dissertation vorgelegt von Diplom-Lebensmittelchemikerin Carola Müller aus Berlin An der Fakultät III – Prozesswissenschaften der Technischen Universität Berlin zur Erlangung des akademischen Grades Doktor der Naturwissenschaften – Dr. rer. nat. – Promotionsausschuss: Vorsitzender: Prof. Dr. Lothar Kroh Gutachterin: Prof. Dr. Andrea Hartwig Gutachter: Prof. Dr. Reiner Wittkowski Gutachter: Prof. Dr. Dr. Ewald Usleber Tag der wissenschaftlichen Aussprache: 17. September 2009 Berlin 2010 D 83

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  • Bundesinstitut für Risikobewertung

    Analytik und Vorkommen von Mutterkornalkaloiden in ausgewählten Lebensmitteln Genehmigte Dissertation vorgelegt von Diplom-Lebensmittelchemikerin Carola Müller aus Berlin An der Fakultät III – Prozesswissenschaften der Technischen Universität Berlin zur Erlangung des akademischen Grades Doktor der Naturwissenschaften – Dr. rer. nat. – Promotionsausschuss: Vorsitzender: Prof. Dr. Lothar Kroh Gutachterin: Prof. Dr. Andrea Hartwig Gutachter: Prof. Dr. Reiner Wittkowski Gutachter: Prof. Dr. Dr. Ewald Usleber Tag der wissenschaftlichen Aussprache: 17. September 2009 Berlin 2010 D 83

  • Impressum Dissertationen Vorgelegt von Carola Müller Analytik und Vorkommen von Mutterkornalkaloiden in ausgewählten Lebensmitteln Bundesinstitut für Risikobewertung Pressestelle Thielallee 88-92 14195 Berlin Berlin 2010 (Dissertationen 01/2010) 133 Seiten, 37 Abbildungen, 43 Tabellen € 10,- Druck: Umschlag, Inhalt und buchbinderische Verarbeitung BfR-Hausdruckerei Dahlem ISSN 1863-852X ISBN 3-938163-55-0

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    Inhalt

    1 Zusammenfassung 7

    2 Abstract 9

    3 Problemstellung 11

    4 Einleitung 13

    5 Theoretischer Teil 17

    5.1 Toxikologie der Mutterkornalkaloide 17 5.1.1 Die Geschichte der Mutterkornvergiftungen 17 5.1.2 Pharmakologische Wirkung ausgewählter Mutterkornalkaloide 17 5.1.3 Toxische Effekte im Menschen 23 5.1.4 Bewertung des Gefährdungspotentials und Ableitung eines

    toxikologischen Endpunktes 24 5.1.5 Toxische Effekte in Säugetieren 25 5.2 Die Pilzgattung Claviceps 28 5.2.1 Vorkommen und Aussehen 28 5.2.2 Inhaltsstoffe 29 5.2.3 Infektionszyklus 30 5.2.4 Einflussfaktoren und Bekämpfung 31 5.2.5 Biosynthese 31 5.3 Physikalisch-chemische Eigenschaften der

    Mutterkornalkaloide 34 5.3.1 Chemische Struktur 34 5.3.2 Physikalisch-chemische Eigenschaften 36 5.4 Vorkommen von Mutterkornalkaloiden 37 5.5 Gesetzliche Regelungen von Mutterkornalkaloiden 41 5.5.1 Lebensmittelrechtliche Regelungen 41 5.5.2 Futtermittelrechtliche Regelungen 41

    6 Analytik von Mutterkornalkaloiden 43

    6.1.1 Extraktion und Aufreinigung 43 6.1.2 Flüssigchromatographie (HPLC) 45 6.1.3 Gaschromatographie (GC) 46 6.1.4 Dünnschichtchromatographie (DC) 46 6.1.5 Immunochemische Verfahren 47 6.1.6 Elektrophorese 48 6.1.7 Qualitative massenspektrometrische Methoden 48

    7 Material und Methoden 51

    7.1 Chemikalien und Materialien 51 7.1.1 Chemikalien 51 7.1.2 Standardsubstanzen 51 7.1.3 Hilfsmittel 51 7.1.4 Geräte und Software 52 7.1.5 Probenmaterial 52 7.2 Probenvorbereitung 53

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    7.3 Probenaufarbeitung 53 7.3.1 Probenaufreiningung nach halogenorganischer Extraktion 53 7.3.2 Probenaufreinigung nach nicht-halogenorganischer Extraktion

    (Alox-Methode) 53 7.3.3 Probenaufreinigung nach nicht-halogenorganischer Extraktion

    (LC-MS/MS-Schnellmethode) 54 7.4 Geräteeinstellungen 54 7.4.1 HPLC-FLD 54 7.4.2 LC-MS/MS 55 7.4.2.1 HPLC 55 7.4.2.2 MS/MS 55 7.5 Bestimmung der analytischen Grenzen 56 7.5.1 Definitionen nach DIN 32645 56 7.5.2 Durchführung der Bestimmung der analytische Grenzen für

    Lebensmittel und Futtermittel 56 7.6 Bestimmung der Wiederfindungen 57 7.6.1 Wiederfindung nach halogenorganischer Extraktion 57 7.6.2 Wiederfindung nach nicht-halogenorganischer Extraktion (Alox-

    und LC-MS/MS-Schnellmethode) für Lebensmittel 57 7.6.3 Wiederfindung nach nicht-halogenorganischer Extraktion (Alox-

    Methode) für Futtermittel 58 7.7 Bestimmung der Präzision 58 7.7.1 Ermittlung der Präzision nach halogenorganischer Extraktion 58 7.7.2 Ermittlung der Präzision nach nicht-halogenorganischer

    Extraktion (Alox- und LC-MS/MS-Schnellmethode) für Lebensmittel 59

    8 Ergebnisse 61

    8.1 Überprüfung der Messsysteme 61 8.1.1 Beispielchromatogramme 61 8.1.2 Arbeitsbereich und Linearität der Analysensysteme 64 8.1.3 Ermittlung der Methodenfaktoren für die HPLC-FLD 64 8.2 Methodenentwicklung 65 8.2.1 Optimierung des Aufreinigungsmaterials 65 8.2.2 Optimierung des Extraktionsmittels 67 8.3 Aufreinigung nach halogenorganischer Extraktion 67 8.3.1 Bestimmung der analytischen Grenzen nach DIN 32645 67 8.3.2 Bestimmung der Wiederfindungsrate 68 8.3.3 Bestimmung der Präzisionsdaten 68 8.3.4 Laborvergleichsuntersuchung im Rahmen der Mykotoxin-

    Arbeitsgruppe nach § 64 LFGB 69 8.4 Aufreinigung nach nicht-halogenorganischer Extrakti on

    (Alox-Methode) 72 8.4.1 Bestimmung der analytischen Grenzen nach DIN 32645 für

    Lebensmittel 72 8.4.2 Bestimmung der analytischen Grenzen nach DIN 32645 für

    Futtermittel 74 8.4.3 Bestimmung der Wiederfindungsrate 74 8.4.3.1 Wiederfindung nach nicht-halogenorganischer Extraktion (Alox-

    Methode) mittels HPLC-FLD in Lebensmitteln 74 8.4.3.2 Wiederfindung nach nicht-halogenorganischer Extraktion (Alox-

    Methode) mittels LC-MS/MS in Lebensmitteln 74

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    8.4.3.3 Wiederfindung nach nicht-halogenorganischer Extraktion (Alox-Methode) mittels HPLC-FLD in Futtermitteln 79

    8.4.4 Bestimmung der Präzisionsdaten 79 8.5 Aufreinigung nach nicht-halogenorganischer Extrakti on

    (LC-MS/MS-Schnellmethode) 82 8.5.1 Bestimmung der analytischen Grenzen nach DIN 32645 für

    Lebensmittel 82 8.5.2 Bestimmung der Wiederfindungsrate 83 8.5.3 Bestimmung der Präzisionsdaten 85 8.6 Kreuzvalidierung – Vergleich der verschiedenen Meth oden 87 8.7 Gehalte in Lebensmitteln 90 8.8 Zusammenfassung der Ergebnisse 96

    9 Diskussion 99

    9.1 Betrachtung der ermittelten analytischen Grenzen 99 9.2 Betrachtung der ermittelten Wiederfindungsraten 101 9.3 Betrachtung der ermittelten Präzisionsdaten 101 9.4 Gehalte in Lebensmitteln 103

    10 Zusammenfassung und Ausblick 105

    10.1 Zusammenfassung 105 10.2 Ausblick 106

    11 Anhang 107

    12 Literatur 115

    13 Abkürzungsverzeichnis 127

    14 Abbildungsverzeichnis 129

    15 Tabellenverzeichnis 131

    Danksagung 133

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    1 Zusammenfassung

    Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wurden mehrere Analysenmethoden zur Bestimmung von zwölf Mutterkornalkaloiden in Getreiden und ausgewählten Getreideprodukten sowie Futtermitteln entwickelt. In der bisher routinemäßig eingesetzten Methode werden das von Scott und Lawrence publi-zierte Extraktionsmittel, bestehend aus Dichlormethan, Ethylacetat, Methanol und Ammo-niumhydroxid [Scott und Lawrence, 1980], und das von Klug entwickelte Aufreinigungssys-tem mit Weinsäure-imprägnierter Diatomeenerde und Ammoniakbegasung [Klug, 1986] ver-wendet. Da Bedarf an einer effizienteren Analysenmethode insbesondere für die Deutsche Lebensmittelüberwachung besteht und eine Standardisierung im Rahmen der §-64-LFGB-Arbeitsgruppe „Mykotoxine“ angestrebt wird, war es notwendig, arbeitstechnisch bedenkliche Reagenzien (halogenorganische Lösemittel, Ammoniakbegasung) so weit wie möglich zu ersetzen. Es wurde daher auf die Ammoniakbegasung und die Verwendung von Dichlormethan ver-zichtet und ein Extraktionsmittel bestehend aus Ethylacetat, Methanol und Ammoniumhyd-roxid etabliert. Die Detektion erfolgte nach Aufreinigung an basischem Aluminiumoxid und flüssigchromatographischer Trennung der Alkaloide mittels Fluoreszenzdetektor sowie Quadrupol-Tandem-Massenspektrometer. Die entwickelten Analysenmethoden wurden in Bezug auf Arbeitsbereich, analytische Grenzen, Richtigkeit und Präzision hausintern erfolg-reich validiert, wobei sich zeigte, dass mit der Fluoreszenzdetektion vergleichbare Ergebnis-se wie mit der LC-MS/MS-Detektion erzielt werden konnten, da Mutterkornalkaloide durch ihre chromophoren Eigenschaften mit diesem System sehr sensitiv und selektiv analysiert werden können. Darüber hinaus wurde die Einsetzbarkeit der Methode mit fluoreszenzbasierter Detektion in fünf Laboren der amtlichen Überwachung erfolgreich geprüft. Die Methode wurde in deren Routinebetrieb übernommen. Durch Nutzung der hohen Empfindlichkeit und Selektivität des Tandem-Massen-spektrometers konnte zudem eine sog. „Dilute-and-Shoot“-Analysenmethode unter Verzicht der Aufreinigung erarbeitet werden. Die Validierung zeigte, dass diese Methode die allge-meinen Anforderungen an die Spurenanalytik erfüllt, darüber hinaus kann sie aufgrund ihrer Effizienz und schnellen Durchführbarkeit auch besonders gut als Screening-Methode einge-setzt werden. Die Untersuchung von 130 Lebensmittelproben zeigte, dass der in Deutschland als proviso-rische Bewertungsgrundlage entsprechend der Interventionsrichtlinie [VO (EG) 824/2000, 2000] herangezogene Orientierungswert von 1000 Mikrogramm Gesamtalkaloide pro Kilo-gramm nicht überschritten wurde.

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    2 Abstract

    Several analytical methods for the determination of twelve ergot alkaloids in cereals, selected cereal products, and feeding stuff were developed within this work. Starting points were the extraction solvent published by Scott and Lawrence, a mixture of dichloromethane, ethyl acetate, methanol and aqueous ammonia [Scott and Lawrence, 1980], and the cleanup procedure developed by Klug, consisting of tartaric acid impregnated diatomaceous earth, and fumigation with ammonia [Klug, 1986]. Since it was the aim of this work to provide a method for the German Food Surveillance standardised according to § 64 German Food and Feed Act, halogenated solvents had to be avoided. In the course of this work fumigation with ammonia and the use of dichloromethane were eluded. An extraction solvent mixture consisting of ethyl acetate, methanol, and aqueous ammonia was established. Detection, after cleanup with basic alumina and liquid chroma-tographic separation, was performed applying either a fluorescence detector or a tandem mass spectrometer. The developed methods were then checked for working range, their analytical limits, accu-racy, and precision, and were successfully inhouse validated. Validation demonstrated that fluorescence detection in terms of selectivity and sensitivity was equally suitable as tandem mass spectrometric detection due to the chromophoric nature of the ergot alkaloids. In addition, the fluorescence based method was successfully tested by five laboratories of the Official German Food Surveillance and is now employed for routine analysis. By taking advantage of the sensitivity and selectivity of the tandem mass spectrometric sys-tem, a method without the basic alumina cleanup was developed. Validation demonstrated that this method meets the general demands of trace analysis. In addition, it is suitable as screening-method, due to its efficiency. Applicability of the developed methods was proved by analysing 130 cereal and cereal based samples. The former maximum level of a total alkaloid content of 1000 µg/kg laid down in Regulation (EG) 824/2000 [VO 824/2000, 2000] concerning the taking-over of cereals by intervention agencies was exceeded by none of the analysed samples.

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    3 Problemstellung

    Die Verunreinigung von Getreide mit Mutterkorn galt in den letzten Jahren als ein beherrsch-bares Problem im Bereich der Lebensmittelsicherheit. Hierzu trugen u. a. die verbesserte Technologie der Schwarzreinigung und die Gute Landwirtschaftliche Praxis (GLP) bei. Im Rahmen umfangreicher Untersuchungen (Besondere Ernte- und Qualitätsermittlung) wies die Bundesanstalt für Getreide-, Kartoffel- und Fettforschung (BAGKF)1 2003 in fünf Rog-genmehlen Mutterkornalkaloidgehalte zwischen 2308 und 7255 Mikrogramm pro Kilogramm Mehl nach. Aufgrund dieser Mutterkornalkaloidgehalte wurde vom Bundesinstitut für Risiko-bewertung (BfR) eine Stellungnahme verfasst [BfR, 2004], in der das Institut empfiehlt, EU-einheitliche Richtwerte bzw. Höchstwerte für Gesamtalkaloide sowie für toxikologisch rele-vante Einzelalkaloide des Mutterkorns festzusetzen. Zudem wird auf den Forschungsbedarf zu den geschilderten Kenntnislücken in Bezug auf Toxizität und Exposition aufmerksam ge-macht. Die im Bereich der Lebensmittelanalytik in Deutschland vielfach eingesetzte Analysenme-thode basiert auf einer basischen, halogenorganischen Extraktion, gefolgt von einer Aufreini-gung durch einen mittels Ammoniakbegasung in situ erzeugten Kationenaustauscher und anschließender flüssigchromatographischer Trennung der Alkaloide mit Fluoreszenzdetekti-on [Klug, 1986]. Besonders in Hinsicht auf die Probenaufreinigung ist diese Analysenmethode als sehr zeit- und arbeitsintensiv einzustufen, verbunden mit einem hohen Verbrauch an halogenorgani-schen Lösemitteln, und damit für den heutigen Routinebetrieb als überarbeitungsbedürftig anzusehen. Die von Mutterkornalkaloiden ausgehende Toxizität und das Fehlen einer validierten, in der Routineanalytik der amtlichen Überwachung einsetzbaren Analysenmethode waren Anlass zur Initiierung des Projektes „Mutterkornalkaloide in Lebensmitteln: Analytik und Vorkom-men“. Ziel dieses Projektes war es, eine einfach handhabbare, effiziente Bestimmungsmethode zu entwickeln, hausintern zu validieren, auf Lebensmittel anzuwenden und damit eine Basis zur Sammlung von Expositionsdaten zu schaffen.

    1 heute Max-Rubner-Institut der Bundesforschungsanstalt für Ernährung und Lebensmittel (BfEL), Standort Detmold

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    4 Einleitung

    Am 22. September 1692 wurden in Salem, Massachusetts (USA) 19 Männer und Frauen gehängt und ein Mann zu Tode gequetscht. Sie waren der Hexerei für schuldig befunden worden. Auslöser hierfür waren die Aussagen von acht Mädchen, unter ihnen die Tochter und die Nichte des Pfarrers Samuel Parris. Sie litten seit Dezember 1691 an „übler Laune, unbotmä-ßiger Rede, krampfartigen Anfällen“, während derer sie „gezwickt, gestochen und gebissen“ wurden. Sie vollführten seltsame Gesten und berichteten von Attacken mit Blindheit, Schwerhörigkeit, Visionen von Feuerbällen und der Fähigkeit zu fliegen. „Sie wurden in Stü-cke gerissen, die Knochen aus den Gelenken gezerrt“ [Carporael, 1976; Matossian, 1989 b]. Einige populäre Medizinhistoriker gehen heute davon aus, dass die Mädchen unter einer Vergiftung durch Mutterkorn litten und halluzinierten [Carporael, 1976; Kaye, 1995; Matos-sian, 1989 b]. Ähnliches wird für die Hexenprozesse des 17. Jahrhunderts in Finnmark, Norwegen berichtet [Alm, 2003]. Im botanischen Sinne handelt es sich bei Mutterkorn um die Überwinterungsform (Dauermy-cel) des Pilzes Claviceps purpurea, der auf den Fruchtknoten von Wildgräsern, aber auch einheimischen Getreidearten wächst und dort an der Stelle der Karyopsen Sklerotien bildet [Mielke, 2000; Strasburger, 2002]. Weitere gängige Namen sind Purpurroter Hahnenpilz, Ergot, Krähenkorn, Hahnensporn, Hungerkorn oder Tollkorn [Guggisberg, 1954]. Die Sklerotien des Mutterkornpilzes enthalten giftige Alkaloide, die zwei verschiedene Krankheiten auslösen können:

    • den Ergotismus gangraenosus (Brandseuche, Ignis Sacer, St. Antoniusfeuer), begleitet von Durchblutungsstörungen, Nekrosen und Gangränen der Akren und Extremitäten, und

    • den Ergotismus convulsivus (Krampfseuche), gekennzeichnet durch epileptische Anfäl-le, unkontrollierte Muskelkontraktionen, Flexion der Extremitäten, Lähmungserscheinun-gen, Krämpfe, Psychosen und Halluzinationen [Guggisberg, 1954; Lorenz, 1979; Schoch und Schlatter, 1985; Klug, 1986; van Dongen und de Groot, 1995; Aschmann und Maser, 2007].

    Die Mädchen aus Salem wiesen deutliche, dem Ergotismus convulsivus ähnliche Symptome auf [Carporael,1976]. Die ersten Belege zum Vorkommen von Mutterkorn wurden auf das Jahr 600 v. Chr. datiert; auf assyrischen Tontafeln wurden die Sklerotien als „schädliche Gebilde“ beschrieben, wes-halb Mutterkornvergiftungen auch als die älteste bekannte Mykotoxikose bezeichnet werden [Mielke, 2000]. Bereits Hippokrates (460–370 v. Chr.) empfahl eine Zubereitung aus in Wasser gekochter, gemahlener Gerste zur Einleitung der Wehen. Da gemahlene Gerste auf Menschen keinen derartigen Effekt ausübt, ist davon auszugehen, dass das Getreide mit Mutterkorn belastet war [Rensburg und Altenkirk, 1974]. Von der späten Antike bis zum Ende des Mittelalters traten Mutterkornvergiftungen in epide-mischen Ausmaßen auf. Kobert schätze die Zahl an Erkrankten allein in der Zeit von 1000 bis 1500 n. Chr. auf etwa Hunderttausend [Kobert,1889, zitiert in Mielke, 2000].

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    Die letzte bekannte lokale Epidemie in Europa trat 1951 in Südfrankreich (Pont St. Esprit) auf. Bäcker hatten aus Profitgier Weizen mit stark Mutterkorn-belastetem Roggen „gestreckt“ und das daraus hergestellte Brot verkauft. Mehrere Menschen starben, zahlreiche litten unter Vergiftungserscheinungen [Gabbai et al., 1951; Mielke, 2000]. Für das Mittelalter waren die Brand- und die Krampfseuche derart prägend, dass Maler wie Matthias Grünewald und Pieter Bruegel der Ältere auf ihren Bildern an Ergotismus leidende Menschen darstellten (s. Bild 4.1 und Bild 4.2). Bild 4.1 zeigt den Ausschnitt „Versuchung des Antonius“ aus dem Isenheimer Altar von Mat-thias Grünewald, auf dem ein Mann mit dem Krankheitsbild des „Heiligen Feuers“ (Ergotis-mus gangraenosus) dargestellt ist.

    Bild 4.1: „Endstadium einer vom Ergotismus geplagten Kreatur“, Matthias Grünewald, 1515, Isenheimer Altar, entnommen aus [Wikipedia: Mutterkorn, 2008]

    In Bild 4.2, einem Ausschnitt aus Pieter Bruegels „Der Kampf zwischen Karneval und Fas-ten“, sind zwei an Ergotismus leidende Menschen dargestellt. Der Mann links zeigt deutliche Symptome des Ergotismus convulsivus, mit starker Flexion der Beine. Dem Mann rechts fehlt der rechte Unterschenkel, ausgelöst durch gangränösen Ergotismus.

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    Bild 4.2: Ergotismus convulsivus (links) und Ergotism us gangraenosus (rechts), Pieter Bruegel der Älte-re, 1559, „Der Kampf zwischen Karneval und Fasten“ [Hagen, 2004]

  • 17 Bundesinstitut für Risikobewertung

    5 Theoretischer Teil

    5.1 Toxikologie der Mutterkornalkaloide

    5.1.1 Die Geschichte der Mutterkornvergiftungen

    Die toxische Wirkung des Mutterkorns war lange unbekannt, weshalb Sklerotien mit dem Getreide zu Mehl verarbeitet wurden und so Auslöser der wichtigsten Mykotoxikose, dem Ergotismus, waren. Die Krankheit verläuft in zwei Ausprägungen, dem Ergotismus gangraenosus und dem Ergo-tismus convulsivus. Die konvulsivische Form trat hauptsächlich östlich des Rheins auf, im Gegensatz zur gang-ränösen Form, die westlich des Rheins weit verbreitet war [Eadie, 2004]. Die ersten Massenvergiftungen, die heute auf eine Aufnahme von Mutterkornalkaloiden zu-rückgeführt werden, wurden 437 v. Christus aus Sparta berichtet. Im 20. Jahrhundert traten die letzten Vergiftungen in Manchester und Russland (1926–1927), Südengland und Frank-reich (1951–1952) auf. 1985 wurde der letzte bekannte Fall einer alimentären Mutterkornvergiftung aus Deutschland berichtet: Ein 13-jähriges Mädchen klagte über Sehstörungen und Kopfschmerzen, ausgelöst durch den regelmäßigen Verzehr eines Roggen-Müslis, das offensichtlich keiner Schwarz-reinigung unterzogen worden war [Mielke, 2000; Schiff, 2006; Aschmann und Maser, 2006]. 5.1.2 Pharmakologische Wirkung ausgewählter Mutterkornalkaloide

    Das Wirkungsspektrum der Mutterkornalkaloide ist komplex, uneinheitlich und noch nicht vollständig aufgeklärt. Basierend auf ihrer Verwendung als Arzneimittel zur Behandlung von Blutungen, Migräne und zur Einleitung von Wehen, ist die Wirkung von Ergotalkaloiden als Agonisten2 und Antagonisten3 adrenerger, dopaminerger und serotonerger Rezeptoren teil-weise bekannt. Bild 5.1 zeigt die strukturelle Verwandtschaft des Ergolinsystems mit den Neurotransmittern Noradrenalin, Dopamin und Serotonin.

    2 Pharmakon imitiert die Wirkung des Mediators und aktiviert Rezpetor [Forth, 2001] 3 Pharmakon blockiert die Bindung des Mediators und damit die Mediator-induzierte Wirkung [Forth, 2001]

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    NO

    OH

    CH3H

    N

    H

    H

    NH2

    OH

    OH

    OH

    NH2

    OH

    OH

    NH2

    N

    OH

    H

    Lysergsäure DopaminNoradrenalin Serotonin Bild 5.1: Strukturelle Verwandtschaft von Mutterkorna lkaloiden und Neurotransmittern [Forth et al., 2001 ]

    Die wichtigsten klinischen Symptome wie Vasokonstriktionen, Muskel- und Uteruskontraktio-nen, Erbrechen, verminderte Immunantwort und Fortpflanzungsfähigkeit, Störungen des Schlaf-Wach-Zyklus, Veränderung des Blutdrucks, verminderte Prolaktin-Sekretion mit fol-gender Agalaktie, Halluzinationen und Gangränen beruhen auf der Interaktion mit den drei spezifischen Rezeptoren [Silberstein und McCrory, 2003; EFSA, 2005; Schiff, 2006]. Viele dieser Symptome werden auch bei der Einnahme von Lysergsäurediethylamid (LSD) beo-bachtet. Tabelle 5.1 gibt eine allgemeine Übersicht des Wirkungsprofils der verschiedenen Ergotalka-loidderivate wieder. Tabelle 5.1: Wirkungsprofil verschiedener Mutterkor nalkaloidgruppen, nach [de Groot et al., 1998; van Dongen und de Groot, 1993]

    Verbindung Vasokonstriktion Uterotone Wirkung

    Ergotismus gangraenosus

    Ergopeptide [Ergotamin]

    +++ ++ +++

    Dihydroergopeptide [Dihydroergotamin]

    ++ ± ±

    Lysergsäureamide [Ergometrin, Methylergometrin]

    ± +++ ±

    LSD ± ++ ++ +++: sehr starke Wirkung, ++: starke Wirkung, ±: keine ausgeprägte Wirkung

    Die pharmakologische Verwendung von Mutterkorn zur Weheneinleitung begann im 19. Jahrhundert. Sie wurde nach etwa 15 Jahren aufgrund der toxischen Wirkung für Mutter und Kind auf die Behandlung der Nachgeburtsblutung beschränkt, wobei es auch hierbei häufig zu Fehldosierungen kam, die Gefäßschäden verursachten [Guggisberg, 1954, Römpp onli-ne: Ergot, 2007]. Ergometrin und das halbsynthetische Methylergometrin, die noch heute zur Beschleunigung der Plazentaablösung und Stoppung postpartaler Blutungen eingesetzt werden, wirken mä-ßig als Vasokonstriktoren, führen jedoch zu starken Uteruskontraktionen und unterscheiden sich in seiner Wirkung deutlich von den Ergopeptiden [de Groot et al., 1998, EFSA 2005]. Ergotamin und Dihydroergotamin werden seit 1925 in der Migränetherapie eingesetzt. Ihre Wirkung beruht hauptsächlich auf der agonistischen Interaktion mit Serotonin (5-Hydroxytryptamin, 5-HT)-Rezeptoren. Tabelle 5.2 gibt eine Übersicht über die für die Wirkung der Mutterkornalkaloiden verantwort-lichen Rezeptoren wieder.

  • 19 Bundesinstitut für Risikobewertung

    Tabelle 5.2: Mutterkornalkaloidbeeinflusste Rezepto ren und deren Wirkung [Jähnichen, 2005; Saunders-Bu sh und Mayer, 2005, Wikipedia: 5-HT Receptor, 2008]

    Rezeptor Lokalisation Funktion Dysfunktion Einfluss von Mutter-kornalkaloiden

    Agonist Antagonist

    5-HT1A Blutgefäße ZNS

    Aggression Angst Appetit Atmung Blutdruck Gedächtnis Herzfrequenz Schmerzwahrnehmung Schlaf-Wach-Rhythmus Sexualverhalten Suchtverhalten Thermoregulation Übelkeit, Erbrechen Vasokonstriktion

    Angst Depression

    - Übelkeit Dysphorie

    Dihydroergotamin Ergotamin Methysergid

    5-HT1B Blutgefäße ZNS

    Aggression Angst Bewegung Blutdruck Gedächtnis Herzfrequenz Lernen Sexualverhalten Suchtverhalten Vasokonstriktion

    Angst Depression

    + Konstriktion dilatierter Kranialgefäße Inhibierung der Frei-setzung entzündlicher Peptide aus der Hirn-haut

    Dihydroergotamin Ergotamin Methysergid

    Metergolin

    5-HT1D Blutgefäße ZNS

    Angst Bewegung Vasokonstriktion

    Migräne + Inhibierung der Frei-setzung entzündlicher Peptide aus der Hirn-haut

    Dihydroergotamin Ergotamin Methysergid

    Metergolin

  • 20 Bundesinstitut für Risikobewertung

    Fortsetzung Tabelle 5.2: Mutterkornalkaloidbeeinflu sste Rezeptoren und deren Wirkung [Jähnichen, 2005; Saunders-Bush und Mayer, 2005, Wikipedia: 5-HT Receptor, 2008]

    Rezeptor Lokalisation Funktion Dysfunktion Einfluss von Mutter-kornalkaloiden

    Agonist Antagonist

    5-HT2A Blutgefäße Glatte Muskulatur PNS Thrombozyten Verdauungstrakt ZNS

    Angst Appetit Blutdruck Gedächtnis Herzfrequenz Lernen Schlaf-Wach-Rhythmus Sexualverhalten Suchtverhalten Thermoregulation Thrombozytenaggregation Vasokonstriktion Wahrnehmung

    Migräne Depression Schizophrenie

    + Migräneprophylaxe - Halluzinationen Verhaltensstörungen Uterotone Wirkung

    Ergometrin LSD Lisurid

    Methysergid

    5-HT2B Blutgefäße Glatte Muskulatur PNS Thrombozyten Verdauungstrakt ZNS

    Angst Appetit Herz-Kreislauf Verdauung Schlaf-Wach-Rhythmus Vasokonstriktion

    Migräne + Migräneprophylaxe - Halluzinationen Verhaltensstörungen

    Methysergid

    D2 Blutgefäße Nieren ZNS

    Ausscheidung Gedächtnis Suchtverhalten Vasodilatation

    Schizophrenie Erbrechen Morbus Parkinson

    + Stimulierung der Dopamin-Ausschüttung (Mor-bus Parkinson) - Hemmung der Prolak-tinsynthese Übelkeit und Erbre-chen

    Bromocriptin Cabergolin

    +: therapeutische Wirkung von Mutterkornalkaloiden -: schädliche Wirkung von Mutterkornalkaloiden

  • 21 Bundesinstitut für Risikobewertung

    Die Wirkung von Ergotamin und Dihydroergotamin wurde bisher auf die Konstriktion der Ar-terien im Kopfbereich durch einen 5-HT1B-Rezeptor-beeinflussten Agonismus zurückgeführt. Da Dihydroergotamin ein schwächerer Vasokonstriktor als Ergotamin ist, jedoch eine ver-gleichbare Wirkung in der Migränetherapie aufweist, muss ein weiterer Mechanismus invol-viert sein. Neuere Forschungsergebnisse zeigen, dass die 5-HT1B-, 5-HT1D- und 5-HT1F-Rezeptor-vermittelte Ausschüttung von entzündlichen Peptiden durch Mutterkornalkaloide im Trigeminus-Nerv inhibiert wird [Forth et al., 2001; Bigal und Tepper, 2003; Silberstein und McCrory, 2003; Saunders-Bush und Mayer, 2005; Schiff, 2006]. LSD, das wohl bekannteste halbsynthetische Mutterkornderivat, weist eine starke Affinität zu fast allen serotonergen Rezeptoren auf. Die halluzinogene Wirkung beruht im Besonderen auf einer partiell-agonistischen Interaktion mit 5-HT2A-Rezeptoren [Forth et al., 2001]. Methysergid (s. Bild 5.2 a), ein halbsynthetisches, LSD-ähnliches, einfaches Lysergsäurea-mid, wird aufgrund seiner Wirkung als 5-HT2A- und 5-HT2B-Antagonist zur Migräneprophylaxe eingesetzt. Wie bei LSD kommt es bei der Einnahme von Methysergid zu halluzinogenen und psychedelischen Effekten [Forth et al., 2001; Saunders-Bush und Mayer, 2005, Meyers Lexikon Online: Mutterkornalkaloide, 2008]. Bromocriptin und Cabergolin (Bild 5.2 b und c) sind D2-Rezeptor-Agonisten. Sie werden in Kombination mit L-3,4-Dihydroxyphenylalanin zur Therapie von Morbus Parkinson einge-setzt. Beide Substanzen hemmen die Sekretion von Prolaktin, das bei Frauen zum Milchein-schuss sowie zum Ausbleiben der Menstruation und des Eisprungs führt. Sie werden daher im Rahmen der Behandlung von Mastitis puerperalis oder Fertilitätsstörungen eingesetzt [Larsen et al., 1999; Forth et al., 2001; Saunders-Bush und Mayer, 2005].

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    b c Bild 5.2: Chemische Strukturen von Methysergid (a), Cabergolin (b) und Bromocriptin (c)

  • 23 Bundesinstitut für Risikobewertung

    5.1.3 Toxische Effekte im Menschen

    Obwohl es sich bei Mutterkornvergiftungen um die älteste bekannte Mykotoxikose handelt und Mutterkornalkaloide in der Medizin Anwendung finden, sind die Wirkmechanismen noch nicht vollständig aufgeklärt. Akute und subakute Toxizität Die Symptome einer akuten Mutterkornvergiftung sind zunächst wenig spezifisch. Hierzu zählen Herzrasen, Übelkeit mit Erbrechen durch direkte Wirkung auf das emetische Zentrum des zentralen Nervensystems (ZNS), Schwindel, Durchfall, vermehrter Speichelfluss, Blut-drucksteigerung, Kopfschmerzen, Pupillenerweiterung, Wechsel von Kälte- und Hitzegefühl, Kribbeln, Parästhesien und Gefühllosigkeit in den Extremitäten und Krämpfe. Bei letalen In-toxikationen tritt der Tod durch Atemlähmung und Kreislaufversagen ein. Bei Schwangeren kommt es zudem zu Uteruskontraktionen verbunden mit Blutungen, Teta-nus uteri (Dauerkontraktion des Uterus), der Erstickung des Embryos, Aborten und Uterus-rupturen [Guggisberg, 1954; Lorenz, 1979; Klug, 1986; Aschmann und Maser, 2007]. Da die Alkaloidzusammensetzung der Mutterkörner starken Schwankungen unterliegt, lässt sich eine toxisch wirksame Mutterkorndosis nur abschätzen. Nach Lorenz treten erste Krankheitssymptome beim Verzehr von mit 1 % Mutterkorn belas-tetem Getreide auf. 7 % wirken tödlich [Lorenz, 1979]. Wirth und Gloxhuber berichteten vergleichbare Wirkungen. Demnach gelten für den Men-schen 0,1 % frisches Mutterkorn in Mehl als ungefährlich, 1 % als toxisch und 8 bis 10 % als lebensgefährlich. Die für den Menschen tödliche Menge liegt bei 5 bis 10 g [Wirth und Glox-huber, 1994]. Allgemeinen treten akute Vergiftungen durch Mutterkorn selten auf. Das akute Vorstadium geht meist in ein chronisches Erkrankungsstadium über [Guggisberg, 1954]. Chronische Toxizität Für die chronische Vergiftung mit Mutterkornalkaloiden sind zwei Krankheitsbilder typisch, abhängig von Art und Dosis der aufgenommenen Alkaloide. Beide beginnen mit Durchfall, Erbrechen, Schwindel, Taubheit und Schmerzen in den Gliedmaßen bzw. an der Körper-oberfläche, ähnlich den Symptomen der akut-toxischen Wirkung. Bei dem Ergotismus gangraenosus dominiert die Wirkung der Alkaloide auf die peripheren Blutgefäße. Die Krankheit ist gekennzeichnet durch Durchblutungsstörungen, so dass der Puls in den betroffenen Gliedmaßen nicht mehr fühlbar ist. Dieses Stadium kann wochenlang andauern, bis die Extremitäten durch Verengung und Ver-schluss der Blutgefäße absterben. Im Laufe von zwei bis drei Tagen kommt es zu einer scharfen Abgrenzung des Gangräns, oft gefolgt von einer spontanen, schmerzlosen Abtren-nung der betroffenen Gliedmaßen an der Demarkationslinie ohne Blutverlust [Guggisberg, 1954; Klug, 1986; Wirth und Gloxhuber, 1994; Hofmann, 2000]. Bild 5.3 zeigt die nekrotisch veränderten Füße eines Menschen, ausgelöst durch gangränö-sen Ergotismus.

  • 24 Bundesinstitut für Risikobewertung

    Bild 5.3: Ergotismus gangraenosus beim Menschen, ent nommen aus [KSU, 2008]

    Der Ergotismus convulsivus ist charakterisiert durch die Erkrankung des Nervensystems und äußert sich durch gastrointestinale und vasomotorische Symptome. Zunächst treten Augen-flimmern, Ohrensausen, Kopfschmerzen und Schwindelgefühl auf, gefolgt von Kopfschmer-zen, Übelkeit, Krampfanfällen, schmerzhaften und teilweise irreversiblen Muskelkontraktio-nen der Flexoren (Krallenstellung der Hände, Überstreckung der Füße) und Psychosen bis hin zu Demenz. Nach der Genesung können Intelligenzdefekte, Krämpfe, Kontrakturen, Anästhesien und Areflexien bestehen bleiben. Ein weiteres Symptom der chronischen Mutterkornvergiftung beruht auf der Interaktion der Substanzen mit dem Dopamin-D2-Rezeptor. Hierdurch wird die Prolaktin-Synthese gehemmt, was zu einer Agalaktie führt. 1977 verhungerten in Äthiopien etwa 50 Kinder aufgrund dieses Wirkungsprofils [Urga et al., 2002]. Bei stillenden Müttern, die nach der Entbindung mit Mutterkornextrakten behandelt wurden, zeigten 90 % der Säuglinge Anzeichen von Ergotismus. 5.1.4 Bewertung des Gefährdungspotentials und Ableitung eines toxikologischen Endpunk-

    tes

    Die Spanne zwischen unbedenklicher, therapeutischer und toxischer Dosis von Mutterkorn-alkaloiden ist sehr gering wie folgende Beobachtungen zeigen, die von Schoch und Schlatter zur Abschätzung eines toxikologischen Endpunktes herangezogen wurden [Schoch und Schlatter, 1985]:

    1. Bei einer Kuh mit einem Gewicht von 700 kg und einer Futteraufnahme von 20 kg Getrei-de, belastet mit 0,1 % Mutterkorn (0,5 % Gesamtalkaloidgehalt (GAG)), treten erste uner-wünschte Effekte auf. Daraus errechnet sich eine Mutterkornaufnahme von 0,143 mg/kg KG und Tag.

    2. Erste Krankheitssymptome sind beim Menschen (mit 60 kg Körpergewicht) zu beobach-ten, wenn 200 g mit 1 % Mutterkorn (0,5 % Gesamtalkaloidgehalt) belastetes Getreide verzehrt werden. Daraus errechnet sich eine Mutterkornaufnahme von 0,167 mg/kg KG und Tag.

    3. Die therapeutische Dosis zur Behandlung von Migräne sollte bei einem Gesamtalkaloid-gehalt von 0,15 % max. 5 g pro Tag betragen. Daraus errechnet sich eine Mutterkornauf-nahme von 0,125 mg/kg KG und Tag bei einem Körpergewicht von 60 kg.

  • 25 Bundesinstitut für Risikobewertung

    Hieraus leiteten die Autoren einen „No-toxic-effect-level“ von 0,1 mg/kg KG und Tag ab. Al-lerdings entspricht dieser Wert einer Schwellendosis, da bereits schädliche Effekte auftreten und ist somit als „Lowest observed adverse effect level“ (LOAEL) zu verstehen. Unter Be-rücksichtigung des üblichen Sicherheitsfaktors von 100 sollte der TDI für den Menschen bei 0,001 mg/kg KG und Tag (oder 1 µg/kg KG/d) liegen. Nach einer Stellungnahme des BfR können Mehle mit einem Gesamtalkaloidgehalt von 2000 µg/kg (0,1 % Mutterkorn im Getreide) beim Verzehr unerwünschte Wirkungen haben, Mehle mit einem Alkaloidgehalt von über 7000 µg/kg (0,35 % Mutterkorn im Getreide) sogar die Gesundheit schädigen [BfR, 2004]. 5.1.5 Toxische Effekte in Säugetieren

    Akute Toxizität Die akute Toxizität verläuft bei Tieren ähnlich wie bei Menschen. Symptome sind u. a. Erbre-chen Diarrhoe, Kreislaufzusammenbruch, Konvulsionen, Agonie, Lethargie, Abgänge der Frucht und Tod durch Lähmung des Atemtraktes. Die akute Toxizität der Mutterkornalkaloide variiert stark, abhängig von der untersuchten Spezies, wie Griffith et al. (s. Tabelle 5.3) zeigen konnten [Griffith et al., 1978]. Darüber hi-naus wurde nachgewiesen, dass die orale Bioverfügbarkeit spezies- und substanzabhängig große Unterschiede zeigt. So liegt die LD50 bei Hasen bei 550 mg/kg KG p.o. im Vergleich zu 3,0 mg/kg KG iv. für Ergotamin. Für Ergometrin liegt die LD50 nach oraler Aufnahme nur um den Faktor 2,8 bis 8,7 höher als die entsprechende Dosis nach Injektion. Tabelle 5.3: LD 50 von Ergometrin und Ergotamin für verschiedene Nageti ere

    LD50 iv. [mg/kg KG] Ergometrin Ergotamin

    Hase 3,2 3,0

    Ratte 120 38

    Maus 160 265

    Chronische Toxizität Aufgrund des schwankenden Alkaloidgehaltes in Mutterkörnern sind die Ergebnisse der Füt-terungsversuche oft widersprüchlich, da häufig nur der Sklerotiengehalt bestimmt wurde. Eine ausführliche Zusammenstellung der toxischen Effekte gibt das EFSA-Gutachten über Mutterkorn als unerwünschte Substanz in Tierfutter [EFSA, 2005]. Hier wird nur eine kurze Zusammenfassung gegeben. Adverse Effekte in Schweinen Die toxischen Effekte von Mutterkornalkaloiden sind für Schweine am besten untersucht. Daten der Tierversuche zeigen teilweise widersprüchliche Ergebnisse, so dass die Ableitung eines toxikologischen Endpunkts schwer möglich ist. Ferkel zeigten bei 0,4 % Sklerotienanteil im Futter eine signifikant verringerte Futteraufnah-me und Gewichtszunahme [Mainka et al., 2005 a und 2005 b]. Darüber hinaus wurden träch-tigen Sauen bis zu 0,2 % Mutterkorn in der Ration gefüttert. Es zeigte sich kein signifikanter Einfluss auf Trächtigkeit, Laktation und Ferkelwachstum [Dignean et al., 1986]. Im Gegen-satz dazu zeigten Ferkel und Jungschweine bei 0,1 und 0,2 % Sklerotien eine optimale Fut-teraufnahme und Verwertung, sogar höher als in der Kontrollgruppe, so dass eine Ergolin-induzierte Ausschüttung von Wachstumshormonen angenommen wurde [Dignean et al., 1986]. Zudem fielen die Tiere, denen höhere Mutterkorndosen gefüttert wurden, durch Ner-vosität und Aggressivität auf.

  • 26 Bundesinstitut für Risikobewertung

    In der Schweinemast zeigten bereits 0,05 % Sklerotien in der Ration eine leicht reduzierte Gewichtszunahme und Futteraufnahme. Diese Effekte waren bei 0,1 % Sklerotien signifikant. Eine verringerte Stickstoff-Retention trat bei 0,1 % bzw. 5 % Mutterkorn auf [Friend und Ma-cIntyre, 1970; Whittemore et al., 1976]. Unterschiede lassen sich durch die variierenden Al-kaloidzusammensetzungen erklären. Aus Australien wurden Fälle berichtet, in denen trächtige Sauen mit mit Claviceps africana belastetem Sorghum gefüttert wurden. Der Sklerotienanteil in der Ration betrug 1 bis 31 % und enthielt Dihydroergosin als Hauptalkaloid. Die Sauen zeigten verkleinerte Euter sowie Anzeichen eines Eisprungs und produzierten keine Kolostralmilch. Die Ferkel konnten nicht gesäugt werden und verendeten [Blaney et al., 2000]. In einer anschließend durchgeführten Studie wurde gezeigt, dass erstwerfende Sauen besonders empfindlich auf die Alkaloide reagieren. Es wurde empfohlen, einen Sklerotiengehalt von 0,1 % in der Ration für erstwer-fende Sauen und von 0,3 % für mehrwerfende Sauen nicht zu überschreiten [Kopinski et al., 2007]. Adverse Effekte in Rindern Vorherrschende Ergotismus-Symptome bei Rindern sind Lahmheit und Gangräne an Ohren, Schwänzen und Beinen, verbunden mit dem so genannten „Abschuhen“ der Hufe. Bild 5.4 zeigt Symptome des Ergotismus gangraenosus beim Rind [McMullen und Stoltenow, 2002].

    Bild 5.4: Ergotismus gangraenosus beim Rind, entnomm en aus [McMullen und Stoltenow, 2002]

    Vier von sechs Rindern starben innerhalb von zehn Tagen nach oraler Gabe von 10 mg/kg KG Ergotamin Tartrat. Hauptsymptome waren hier Futterverweigerung, Hyperven-tilation, vermehrte Speichelproduktion, verringerte Körpertemperatur in den Extremitäten, aber auch Zungen-Nekrosen oder Reizungen des Darms [Woods et al., 1966]. Rinder, die mit Ergovalin- und Ergopeptid-haltigem Gras gefüttert wurden, zeigten Sohlenge-schwüre, Lahmheit und Schwanzgangräne sowie verminderte Gewichtszunahmen [Botha et al., 2004]. Färsen, denen intravenös Ergotamin (ET) bzw. Ergometrin (EM) verabreicht wurde, zeigten eine verringerte Hauttemperatur (ET und EM), Herzfrequenz (ET) und einen geringeren Pro-laktin-Spiegel im Blutserum (ET und EM) sowie eine höhere Atemfrequenz (ET und EM) und einen höheren Blutdruck (ET) [Browning und Leite-Browning, 1997]. Stiere, denen mit Mutterkorn belastetes Rohr-Schwingel-Gras (Festuca arundinacea infiziert mit Neotyphodium spp.) gefüttert wurde, zeigten deutliche Anzeichen von Hyperthermie in Verbindung mit erhöhter Herzfrequenz, was für die verringerte Wachstumszunahme verant-wortlich gemacht wurde [Browning, 2004]. Laktierende Fleischkühe wurden zur Überprüfung des Einflusses auf den Ovarialzyklus mit mutterkornalkaloidhaltigem Rohr-Schwingel-Gras gefüttert. Prolaktin-Konzentrationen im Serum sowie Gewicht der Kühe und Kälber waren verringert. Obwohl der Follikeldurchmes-

  • 27 Bundesinstitut für Risikobewertung

    ser teilweise geringer war, konnte kein Einfluss auf die Follikelfunktion festgestellt werden [Burke und Rorie, 2002]. Adverse Effekte in Geflügel Da Geflügel als sehr empfindlich gegenüber Mutterkornalkaloiden gilt, wurde der Kamm-Test häufig als „Bio-Assay“ eingesetzt. Hierfür wurde der Probenextrakt parenteral in den Kamm von Hähnen injiziert. Waren Mutterkornalkaloide in der Probe enthalten, so entfärbte sich der Kamm aufgrund einer mutterkorninduzierten Vasokonstriktion [EFSA, 2005]. Legehennen, denen 1, 2 und 3 % mutterkornhaltiges Kraftfutter gefüttert wurde, zeigten ei-nen deutlichen Rückgang der Futteraufnahme. Die Legeleistung der zwei letzten Gruppen war um 25 % reduziert im Vergleich zur Kontrollgruppe. Zudem wiesen sie nekrotisch verän-derte, dunkelverfärbte Kämme auf. Die Morphologie der Eier zeigte ebenfalls deutliche Ver-änderungen. Es wurden vermehrt Knickeier und Eier mit deformierter Schale gelegt, was auf eine verzögerte Eiablage aufgrund von Uteruskontraktionen zurückgeführt wurde. Des Wei-teren zeigten die Tiere Verhaltensauffälligkeiten [Klein und Steinrück, 1987]. Jungmasthühner zeigten bei der Aufnahme von mit 0,25 bzw. 0,1 % Sklerotien belastetem Futter eine Verringerung der Futteraufnahme von 150 g/Woche auf 100 g/Woche im Ver-gleich zur Kontrollgruppe. Dadurch sank die durchschnittliche tägliche Gewichtszunahme von über 16 g auf 10 g [Klein und Steinrück, 1987]. Gegenläufige Ergebnisse ergaben die Versuche von Mainka et al. Hühnern, denen bis zu 0,4 % mutterkornhaltiges Futter gefüttert wurde, zeigten keinerlei adverse Effekte [Mainka et al., 2005 a]. Adverse Effekte in Nagetieren In mehreren Versuchen wurde die subakute bzw. subchronische Toxizität einzelner Mutter-kornalkaloide an Ratten untersucht. In Studien zur Bestimmung der subakuten Toxizität (4–500 mg Ergotamin/kg Futter über vier Wochen) verursachte Ergotamin eine verringerte Futteraufnahme und Gewichtszunahme bei Dosen von über 100 mg/kg Futter. Zudem konnten leichte Veränderungen des „roten Blutbil-des“ verzeichnet werden [Speijers et al., 1992]. Abhängig von den Ergotamin-Konzentrationen im Futter wurden verringerte Thyroxin- und Thyroid-stimulierendes-Hormon-Konzentrationen festgestellt. Teilweise waren die Gewichte von Herz, Gehirn, Leber und Eierstöcken signifikant erhöht [Speijers et al., 1992]. In analogen Studien zur Bestimmung der subakuten Toxizität von Ergometrin und α-Ergokryptin wurde bei ähnlichen Symptomen ein „No Observed Effect Level“ (NOEL) von 10 mg Ergometrin-Maleat/kg Futter entsprechend 0,74 mg Ergometrin/kg KG bzw. 4 mg α-Ergokryptin/kg Futter und ein LOAEL von 20 mg α-Ergokryptin/kg Futter ermittelt [Peters-Volleberg et al., 1996; Janssen et al., 2000 a und 2000 b]. In Studien zur Bestimmung der subchronischen Toxizität von Ergotamin (5–80 mg Ergota-min/kg Futter über 13 Wochen) konnten in der letzten Gruppe erhöhte LDL-Cholesterin-Gehalte und alkalische Phosphatase-Aktivitäten sowie verringerte Glukosespiegel im Blutse-rum nachgewiesen werden. Das Gewicht von Milz und Hirn war im Vergleich zur Kontroll-gruppe im Gegensatz zum Gewicht der Hypophyse erhöht. Futteraufnahme und Gewichts-zunahme waren für die weiblichen Versuchstiere in der Gruppe mit dem höchsten Ergota-mingehalt verringert. Insgesamt wurde ein „No Observed Adverse Effect Level“ (NOAEL) von 20 mg Ergotamin Tartrat/kg Futter entsprechend 0,9 mg Ergotamin/kg KG abgeleitet [Spei-jers et al., 1993].

  • 28 Bundesinstitut für Risikobewertung

    5.2 Die Pilzgattung Claviceps

    5.2.1 Vorkommen und Aussehen

    Als Mutterkörner werden die von dem parasitären Schlauchpilz Claviceps spp. gebildeten Sklerotien (Secale cornutum – Überwinterungsform des Pilzes) bezeichnet, die in feuchten Jahren auf den Ähren verschiedener Süßgräser wie Roggen, Triticale, Weizen, Gerste, Wei-delgras und Hirse vorkommen. Die meisten Vertreter der Gattung Claviceps findet man in tropischen und subtropischen Kli-mazonen, wo eine Art jeweils nur einige wenige Wirte befällt. Hauptvertreter in den klima-tisch gemäßigten Zonen ist Claviceps purpurea, der ein breites Spektrum an Wirtspflanzen (ca. 400 verschiedene Gräser) befällt [Mühle und Breuel, 2003]. Die Sklerotien der verschiedenen Claviceps-Arten und Wirtspflanzen unterscheiden sich in Aussehen, Form und Gewicht beträchtlich. In Tabelle 5.4 sind die von den verschiedenen Claviceps-Arten befallenen Wirtspflanzen und gebildeten Alkaloide zusammengefasst [Römpp online: Ergot, 2007]. Tabelle 5.4: Sklerotien-bildende Claviceps-Arten und ihre Alkaloide, nach [Römpp online: Ergot, 2007]

    Art Wirtspflanzen Sklerotien Alkaloidgehalt [%] C. purpurea Roggen, Gerste, Weizen,

    Dinkel, Weidegräser 5–50 mm lang 2–6 mm breit

    ~1 Peptidalkaloide, Ergometrin

    C. paspali Paspalum dilatatum 2–4 mm, rundlich

    0,3 Lysergsäureamide, Paspalin, Elymoclavin

    C. fusiformis Hirse 2–4 mm, rundlich

    0,3 Agroclavine, Chanoclavin, Elymoclavin

    C. gigantea Mais 30–35 mm 5–8 mm

    0,03 Festuclavin, Pyroclavin, Chanoclavin

    C. africana, Sphacelia sorgi

    Sorghum 2 mm 2–4 mm

    0,5 Pyroclavin, Festuclavin, Dihydroergosin

    Die violett-braun gefärbten auf Roggen gebildeten Sklerotien von Claviceps purpurea können bis zu 5 cm lang werden. Sie sind meist gebogen, wiegen 4 bis 200 mg, laufen an den En-den spitz zu und zeigen häufig eine grau-weiße Kappe [Mühle,1953; Hofmann, 2000; EFSA, 2005]. In Bild 5.5 ist eine mit Mutterkorn belastete Roggenähre dargestellt.

    Bild 5.5: Roggenähre mit zwei Sklerotien

  • 29 Bundesinstitut für Risikobewertung

    Weizen-Sklerotien sind im Gegensatz dazu kleiner, dünner und weniger stark gebogen. Neben Claviceps sind auch Schimmelpilze der Gattungen Balansia, Penicillium, Aspergillus, Neotyphodium und Acremonium in der Lage, Mutterkornalkaloide zu produzieren, sie spielen jedoch als Nahrungsmittelschädlinge nur eine untergeordnete Rolle [EFSA, 2005]. 5.2.2 Inhaltsstoffe

    Die Zusammensetzung der Sklerotien unterscheidet sich insbesondere durch den Fettgehalt, die Fettsäurezusammensetzung und die Gehalte an Alkaloiden, Chitin, Farbstoffen und Er-gosterin deutlich von der gesunder Getreidekörner [Wolff, 1992; Wolff und Richter, 1989; Wolff, 1992 Mühle und Breuel, 2003]. Roggen enthält ca. 2 % Fett. Im Gegensatz dazu liegt der Fettgehalt im Mutterkorn bei etwa 30 bis 35 % [Wolff und Richter, 1989; Mühle und Breuel, 2003] und dient zum Schutz des Sklerotiums im Winter [LORENZ, 1979]. Wichtigste Fettsäure mit einem Anteil von 30 % in der Fettphase ist die Ricinolsäure (12-Hydroxy-octadec-9-ensäure), die natürlicher Weise sonst nur in den Samen des Wunder-baums (Ricinus) und in der Stockrose vorkommt. Mutterkornsklerotien enthalten 0,05 bis 1 % Alkaloide (Mittelwert etwa 0,2 %), wobei sowohl der Gesamtalkaloidgehalt als auch die Anteile der einzelnen Alkaloide starken Schwankun-gen unterliegen, abhängig vom produzierenden Pilzstamm, den klimatischen Bedingungen und der Wirtspflanze. Publikationen widersprechen sich bezüglich der Alkaloidlokalisation im Sklerotium. Young fand einen vierfach höheren Gesamtalkaloidgehalt im Inneren [Young, 1981 a], während nach Silber und Bischoff der Alkaloidgehalt in den Randschichten am höchsten ist und nach innen abnimmt [Silber und Bischoff, 1954]. Young zeigte darüber hinaus, dass das Alkaloidmuster von Sklerotien einer Ähre annähernd gleich war, der Gesamtalkaloidgehalt allerdings um den Faktor zehn schwankte [Young, 1981 a und b]. Innerhalb eines Feldes schwankte neben dem Gesamtalkaloidgehalt auch das Alkaloidmuster. Überregional wurde ein mittlerer Gesamtalkaloidgehalt von 0,249 % be-stimmt [Young, 1981 a und b; Young und Chen 1982]. Neben den Alkaloiden werden auch die Ergochrome, Anthrachionon-Farbstoffe, für die toxi-sche Wirkung der Mutterkornalkaloide verantwortlich gemacht. Der Gehalt an Farbstoffen liegt bei 1 bis 2 % [Lorenz, 1979; Schoch und Schlatter, 1985] Tabelle 5.5 vergleicht die Alkaloidzusammensetzung von kanadischem und europäischem Mutterkorn [Young, 1981a und b, Young und Chen, 1982: EFSA, 2005]. Tabelle 5.5: Vergleich der Alkaloidzusammensetzung v on kanadischem und europäischem Mutterkorn [Young, 1981a und b, Young und Chen, 1982, EFSA 2005]

    Verbindung Kanada [%]

    Europa [%]

    Ergocristin 31,1 30,7 Ergotamin 17,3 35,8 α-Ergokryptin 5,3 - Ergometrin 5,0 - Ergosin 4,2 27,0 Ergocornin 4,0 2,2

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    5.2.3 Infektionszyklus

    Die Sporen des Mutterkorns infizieren ausschließlich die weiblichen Geschlechtsorgane der Wirtsgräser, da die Narbe durch ihre Sekrete und die besondere Struktur ein ideales Subs-trat darstellt. Bei feucht-kühler Witterung keimen zur Zeit der Getreideblüte die im Boden überwinterten Mutterkörner und setzen Ascosporen frei, die durch Wind und Tiere verbreitet werden. Wäh-rend dieser so genannten Primärinfektion gelangen die Sporen in den Fruchtknoten der Wirtspflanzen und durchwachsen diesen. Die Nebenfruchtform bewirkt in der Pflanze die Sekretion des klebrigen, stark Zucker- und Sporen-haltigen „Honigtaus“, der durch Insekten, Regen und Wind auf andere Pflanzen über-tragen wird. Dieser Vorgang wird als Sekundärinfektion bezeichnet. Im Verlauf der vegetativen Phase entwickelt sich innerhalb einiger Wochen aus diesen Koni-diosporen das lila-braun gefärbte Dauermycel, das Mutterkorn. Während der Ernte oder durch andere mechanische Einwirkungen fallen die Sklerotien zu Boden und überwintern dort [Guggisberg, 1954; Lorenz, 1979; Schlegel und Zaborosch, 1992; Hofmann, 2000; Mühle und Breuel, 2003]. Eine zusammenfassende Darstellung des Infektionszyklus gibt Bild 5.6, entnommen aus [Taschan et al., 2005]. Da Roggen und Triticale im Gegensatz zu anderen Getreiden Fremdbefruchter sind, bleiben die Blütenstände wesentlich länger geöffnet. Die Infektionswahrscheinlichkeit ist für Roggen und Triticale daher deutlich erhöht.

    Bild 5.6: Infektionszyklus von Claviceps purpurea, entnommen aus [Taschan et al., 2005]

  • 31 Bundesinstitut für Risikobewertung

    5.2.4 Einflussfaktoren und Bekämpfung

    Die Bildung von Mutterkorn auf Getreide wird durch mehrere Einflussfaktoren begünstigt. Zur Vernalisation benötigt das Mutterkorn im Winter über zwei Monate eine Temperatur von 2 bis 4 °C. Wesentlich für eine Infektion ist jedoch eine feucht-kühle Witterung im Vorsommer, da diese zu einer verlängerten Öffnung der Roggenblütenstände führt und der Zutritt der Sporen erleichtert wird [Mothes und Silber, 1952; Mielke, 2000]. Mutterkorn wird auf allen Böden, auf denen Getreide angebaut wird, gefunden. Moor- und Sandböden sind jedoch besonders betroffen. Ein großen Einfluss hat auch die Fruchtfolge. Ein jährlicher Wechsel von Roggen und Kartof-feln führt zu sehr stark belasteten Schlägen, ebenso wie getreidereiche und enge Fruchtfol-gen [Mothes und Silber, 1952; Kamphues und Drochner, 1991]. Besonders gefördert wird die Infektion mit Mutterkorn durch die Anwesenheit von Wildgrä-sern wie Poa oder Festuca in angrenzenden Grünstreifen. Sie werden besonders häufig von Claviceps purpurea befallen und infizieren dann die angrenzenden Nutzpflanzen. Zudem stehen Nutzpflanzen an Randstreifen weniger Pollen zur Verfügung. Man beobachtet daher häufig eine Infektion an den Feldrändern, die zum Inneren kontinuierlich abnimmt [Mothes und Silber, 1952; Lochow-Petkus, 2008]. Verstärkt wurde das Problem durch das Verbot von Herbizideinsätzen an Wegrändern [Kamphues und Drochner, 1991]. Dies kann durch das Unterpflügen der Feldraine jedoch gut unterbunden werden. Der Einsatz von halmkurzen Getreidesorten kann ebenfalls zur Förderung des Mutterkornbe-falls führen, da die Blütenstände aufgrund der Bodennähe vermehrt Sporen ausgesetzt sind. Als Gegenmaßnahme werden halmstarke Getreidesorten eingesetzt. Generell erweisen sich alle ackerbaulichen Maßnahmen, die zu einer verzögerten, verlänger-ten oder ungleichmäßigen Blüte führen, wie nicht bedarfsgerechte Stickstoffdüngung, zu geringe Bestandsdichten, keine oder zu enge Anlage von Fahrgassen, als förderlich für die vermehrte Bildung von Mutterkorn [Lochow-Petkus, 2008]. Weitere Reduktionsmaßnahmen sind die Schwarzreinigung des Saatgutes, die Verwendung von pollenstarkem Saatgut und das Tiefpflügen (ca. 25 cm) der Agrarfläche. Zu vermeiden sind Dünn- und Tiefsaat, starke Bestockung und übermäßiger Einsatz von Wachstumsreg-lern und Stickstoffdüngern [Lühe et al., 1999; Mielke, 2000; Thüringer Landesanstalt für Landwirtschaft, 2000]. 5.2.5 Biosynthese

    Die Biosynthese des Ergolingerüstes erfolgt, wie bei allen Indolalkaloiden, ausgehend vom L-Tryptophan. Im ersten Schritt wird aus Mevalonsäure, ein isoprenoider Grundkörper, nach Decarboxylie-rung und Pyrophosphatübertragung das Dimethylallylpyrophosphat (DMAP) gebildet, das elektrophil an das C4-Atom des L-Tryptophans angreift und zum Dimethyallyltryptophan (DMAT) reagiert. Es erfolgt die Hydroxylierung der Methylgruppe (C5-Atom) der Isopreng-ruppe, die Decarboxylierung der Carboxylgruppe des Tryptophans und die N-Methylierung der Aminogruppe. Das Chanoclavin wird anschließend zum Chanoclavinaldehyd oxidiert, das, katalysiert durch die Chanoclavincyclase, unter Wasserabspaltung zum Agroclavin, ei-nem Tetrazyklus reagiert. In zwei aufeinander folgenden Oxidationsschritten wird die am C8-Atom gebundene Methylgruppe zur Carboxylgruppe oxidiert. Über ein komplexes Enzymsys-tem, die Lysergylpeptidsynthetase, werden die Alkanolamine und Ergopeptide gebildet; der

  • 32 Bundesinstitut für Risikobewertung

    genaue Mechanismus ist jedoch noch nicht vollständig aufgeklärt. Vermutlich beginnt die Synthese des Tripeptidrestes mit der Bindung des L-Prolins am Enzymkomplex. Nach Addi-tion zweier weiterer Aminosäuren wird das lineare Tripeptid an die Lysergsäure gebunden und vom Enzymkomplex gespalten. Nach enzymatischer Hydroxylierung erfolgt dann die Zyklisierung des Tripeptids. Detailliertere Darstellungen der Biosynthesewege sind in [Plieninger et al., 1960; 1964; 1967; 1976 und 1978; Weygand et al., 1962 und 1964; Weygand und Floss, 1963; Ramstad, 1968; Gröger und Erge, 1970; Floss, 1976; Walzel et al., 1997; Panaccione, 2005] publiziert. Die schematische Zusammenfassung des Biosynthesewegs von Mutterkornalkaloiden ist in Bild 5.7 dargestellt.

  • 33 Bundesinstitut für Risikobewertung

    N

    NH

    CH3HOCH2

    NH

    NH2COOH

    CH3CH3

    NH

    NH2COOH

    NH

    NHCH3

    OH

    CH3PPO

    CH3

    CH3

    NH

    NHCH3

    O

    CH3

    N

    NH

    CH3CH3

    N

    NH

    CH3

    O

    OH

    N

    NH

    CH3O

    R

    O

    ON

    N

    O

    R2

    OH

    N

    NH

    CH3

    O

    NHR1

    +

    DMAPL-Tryptophan

    DMATSynthase

    DMAT

    Chanoclavin I

    Chanoclavinaldehyd

    Agroclavin

    Chanoclavin-cyclase

    Elymoclavin

    Lysergsäure

    Ergopeptide

    Alkanolamide

    Lysergylpeptid-synthetase

    Bild 5.7: Schematische Darstellung des Biosynthesewe ges der Mutterkornalkaloide, nach [Panaccione, 2005]

  • 34 Bundesinstitut für Risikobewertung

    5.3 Physikalisch-chemische Eigenschaften der Mutter kornalkaloide

    5.3.1 Chemische Struktur

    Gemeinsames Grundgerüst der Mutterkornalkaloide ist das indolhaltige Ergolin (Bild 5.8).

    NH

    NH

    H

    1

    13

    12

    11 109

    76

    5

    43

    815

    14

    2

    Indol

    Ergolin

    A

    B C D

    Bild 5.8: Chemische Grundstruktur des Mutterkornalk aloid-Grundgerüstes [Guggisberg, 1954; Hofmann, 2000]

    Es werden zwei Gruppen von Mutterkornalkaloiden unterschieden: Clavin-Alkaloide sind Hydroxy- und Dehydro-Derivate des 6,8-Dimethylergolins [Hofmann, 2000]. Sie kommen im Mutterkorn nur in geringen Mengen vor und werden im Weiteren nicht betrachtet. Mutterkorn- oder Ergotalkaloide sind Derivate der D-Lysergsäure und der D-Isolysergsäure (Bild 5.9), wobei sich Letztere durch eine geringere pharmakologische Wirksamkeit aus-zeichnen. Zur Unterscheidung tragen Alkaloide der Lysergsäure das Suffix „-in“ (z. B. Ergo-metrin) und die der Isolysergsäure das Suffix „-inin“ (z. B. Ergometrinin).

    NH

    NH

    CH3

    O

    OHNH

    NH

    CH3

    O

    OH8

    5

    D-Lysergsäure D-Isolysergsäure8-R-Konfiguration 8-S-Konfiguration

    Bild 5.9: Chemische Struktur von D-Lyserg- und D-Iso lysergsäure [Guggisberg, 1954; Stoll et al., 1954]

    Die D-Lyserg- und die D-Isolysergsäure und deren Derivate können an der C8-Carbonylgruppe über einer säure- oder basenkatalysierte Keto-Enol-Tautomerie, wie in Bild 5.10 dargestellt, in das jeweils andere Diastereomer epimerisieren [Guggisberg, 1954].

  • 35 Bundesinstitut für Risikobewertung

    N CH3

    H

    O

    NHR

    N CH3

    NHR

    OH

    N CH3

    H

    O

    NHR

    D-LysergsäureEnol-FormKetoform

    D-IsolysergsäureKetoform

    Bild 5.10: Keto-Enol-Tautomerie der "Ine" in die "In ine" [Stoll et al., 1949; Guggisberg, 1954]

    Alkaloide der Lysergsäure- und Isolysergsäuregruppe können in drei Untergruppen eingeteilt werden [Guggisberg, 1954, Klug, 1986, Flieger et al., 1997, Hofmann, 2000]. Zu den einfachen Lysergsäureamiden gehören das halbsynthetische Lysergsäurediethylamid (LSD) und das Ergometrin bzw. das Ergometrinin (Bild 5.11).

    NH

    NH

    CH3

    O

    R R = NH(C2H5)2 Lysergsäurediethylamid (LSD)R = NHCH(CH 3)CH2OH Ergometrin /-in

    NH

    NH

    CH3

    O

    R R = NH(C2H5)2 Lysergsäurediethylamid (LSD)R = NHCH(CH 3)CH2OH Ergometrin /-in

    Bild 5.11: Chemische Struktur der einfachen Lysergsä ureamide [Stoll et al., 1955]

    Ergopeptidalkaloide sind an der C8-Carbonylgruppe amidartig mit einem zyklischen Tripep-tid, bestehend aus L-Prolin, einer Aminosäure und einer α-Aminosäure, verknüpft (Bild 5.12, Tabelle 5.6).

    Prolin

    Aminosäurerest

    Hydroxy-Amino-säurerest

    N

    ON

    R2

    O

    H

    OH

    O

    NH

    N

    NH

    HCH3

    O R1

    Prolin

    Aminosäurerest

    Hydroxy-Amino-säurerest

    N

    ON

    R2

    O

    H

    OH

    O

    NH

    N

    NH

    HCH3

    O R1

    Bild 5.12: Chemische Struktur der Ergopeptide [Stoll e t al., 1951; Kr ěn und Cvak, 1999]

  • 36 Bundesinstitut für Risikobewertung

    Ergometrin, Ergotamin, Ergosin, Ergocristin, Ergokryptin und Ergocornin sind die prominen-testen Vertreter der Ergotalkaloide. Neben den Ergopeptiden bildet Claviceps in geringen Mengen Ergopeptame, die sich von den Ergopeptiden durch den Einbau von D- statt L-Prolin unterscheiden. Sie weisen auf-grund dieser Konfiguration keine Cyclostruktur auf [Flieger et al., 1997]. Da sie in Sklerotien nur in geringen Mengen vorkommen, werden Ergopeptame nicht eingehender betrachtet. Tabelle 5.6: „Periodisches System“ der Ergopeptide [m odifiziert nach Hofmann, 2000; Mühle und Breuel, 2003]

    Komponenten des Peptidteils Summen-formel

    Einzel- alkaloid

    Alkaloid- gruppe Hydroxyaminosäure R1 Aminosäure R2

    Prolin

    α-Hydroxyalanin

    Phenylalanin

    C33H35N5O5 Ergotamin Ergotamin-gruppe

    Leucin

    C30H37N5O5 Ergosin

    Valin

    C29H35N5O5 Ergovalin

    α-Hydroxyvalin

    Phenylalanin

    C35H39N5O5 Ergocristin Ergotoxin-gruppe

    Leucin

    C32H41N5O5 Ergokryptin

    Valin

    C31H39N5O5 Ergocornin

    α-Hydroxy-α-aminobuttersäure

    Phenylalanin

    C34H37N5O5 Ergostin Ergoxin-gruppe

    Leucin

    C31H39N5O5 Ergoptin4

    Valin

    C30H37N5O5 Ergonin4

    5.3.2 Physikalisch-chemische Eigenschaften

    Mutterkornalkaloide liegen in reiner Form als farblose bis weiße Kristalle vor. Aufgrund der Heterogenität der am Amid-Stickstoff gebundenen Reste weisen Mutterkornal-kaloide unterschiedliche chemische und physikalische Eigenschaften auf. Tabelle 5.7 und Tabelle 5.8 geben u. a. molare Massen, Schmelzpunkte und Löslichkeitsverhalten ausge-wählter Verbindungen wieder.

    4 synthetisch

  • 37 Bundesinstitut für Risikobewertung

    Tabelle 5.7: Molmassen und Schmelzpunkte ausgewählte r Mutterkornalkaloide, entnommen aus [Merck Index, 2001; Römpp Online: Ergot-Alkaloide, 2007]

    Verbindung Summenformel Molmasse [g/mol]

    Schmelzpunkt [°C]

    Ergometrin C19H23N3O2 325,4 162 Ergometrinin 196 (Zers.) Ergosin C30H37N5O5 547,7 228 (Zers.) Ergosinin 190-191 (Zers.) Ergotamin C33H35N5O5 581,7 213-214 (Zers.) Ergotaminin 241-243 (Zers.) Ergocornin C31H39N5O5 561,7 182-184 (Zers.) Ergocorninin 228 (Zers.) α-Ergokryptin C32H41N5O5 575,7 214 (Zers.) α-Ergokryptinin 240-242 (Zers.) Ergocristin C35H39N5O5 609,7 175 (Zers.) Ergocristinin 226 (Zers.)

    Tabelle 5.8: Löslichkeitsverhalten ausgewählter Mut terkornalkaloide, entnommen aus [Klug, 1986; Merck Index, 2001]

    Verbindung H2O MeOH EtOH EtOAc Aceton EtOEt Ergometrin + + + + + Ergometrinin – o o o Ergosin – o + o + + Ergosinin – o o o + Ergotamin – o o + o + Ergotaminin – o o o o Ergocornin – o o + + + Ergocorninin – +∆ +∆ +∆ ++ α-Ergokryptin – + + + + α-Ergokryptinin – +∆ +∆ ++ Ergocristin – + + + + o Ergocristinin – +∆ o

    ++: sehr gut +: gut o: mäßig -: unlöslich ∆: in der Wärme

    Mutterkornalkaloide sind aufgrund ihrer chemischen Struktur empfindlich gegenüber höheren Temperaturen, Lichteinwirkung, Gegenwart von Sauerstoff und chemischen Agenzien sowie extremen pH-Werten. In acetonitrilischer Lösung zersetzen sich die Alkaloide bei direkter Sonneneinwirkung unter Bildung eines tannengrünen Farbstoffs. 5.4 Vorkommen von Mutterkornalkaloiden

    Obwohl es sich beim Ergotismus um die älteste bekannte Mykotoxikose handelt und in der Vergangenheit sehr viele Analysenmethoden zur Bestimmung von Mutterkornalkaloiden (s. Kap. 5.6) entwickelt wurden, sind nur wenige verlässliche Daten zur Belastungssituation von Lebensmitteln vorhanden. Die in Tabelle 5.9 dargestellten Werte zur Belastungssituation bedürfen aufgrund des Fehlens von Höchstmengen, Analysenstandards und einer verein-heitlichten Berechnungsgrundlage einer kritischen Interpretation. Ein Mittelwert über alle Da-ten lässt sich nicht ableiten, da der Mutterkorngehalt abhängig von den klimatischen Bedin-gungen zwischen den Ernten deutlich schwankt und auf verschiedenen Wegen berechnet wurde. Der bisher höchste Mutterkorngehalt wurde 1987 in Getreide mit 10 % Mutterkorn, entspre-chend einem Gesamtalkaloidgehalt von 200 mg/kg gefunden [Wolff, 1992].

  • 38 Bundesinstitut für Risikobewertung

    Tabelle 5.9 zeigt, dass Roggen höher belastet ist als Triticale. Weizen als selbstbestäuben-des Getreide im Gegensatz zu den vorher genannten Fremdbestäubern zeigt die geringsten Mutterkorngehalte. Der Mutterkornalkaloidgehalt nimmt mit zunehmendem Verarbeitungsgrad in den Produkten im Vergleich zu dem entsprechenden Getreide ab. So lag der mittlere Gesamtalkaloidgehalt in Roggenbackwaren (Brot, Knäckebrot, Kräcker) bei 7,8 µg/kg und in Roggenmehl bei 216 µg/kg [Scott et al., 1992]. Baumann et al. ermittelten einen mittleren Gesamtalkaloidgehalt von 21,3 µg/kg in Roggen-brot-Krume und 139,7 µg/kg in Roggenmehl. Zudem konnten sie zeigen, dass der Mutter-korngehalt mit steigender Mehltype zunimmt [Baumann et al., 1985]. In Weizen-Weißmehl (entspricht ungefähr der deutschen Mehltype 405–550) lag der mittlere Gesamtalkaloidgehalt bei 4,2 µg/kg, in Halbweißmehl (deutsche Mehltype 812) bei 30,7 µg/kg und in Ruchmehl (deutsche Mehltype 1050) bei 103,4 µg/kg. Scott und Lawrence wiesen eine Reduktion des Gesamtalkaloidgehaltes beim Backen von Weizenvollkornbrot um 100 %, von Roggenbrot um 85 % und von Triticale-Pfannkuchen um 74 % nach [Scott und Lawrence, 1982].

  • 39 Bundesinstitut für Risikobewertung

    Tabelle 5.9: Belastungssituation von Lebensmitteln mit Mutterkorn (-alkaloiden)

    5 Getreide mit einem Mutterkornanteil von 10 %, berechnet unter Annahme eines mittleren Alkaloidgehaltes in Mutterkorn von 0,2 % 6 Berechnet als Summe von Ergometrin, Ergosin, Ergotamin, Ergocornin, Ergokryptin, Ergocristin und den entsprechenden Ininen 7 Berechnet als Summe von Ergometrin, Ergotamin, α-Ergokryptin, Ergocristin und Ergocornin 8 Analysiert in Pools im Rahmen der „Besonderen Ernteermittlung“ 9 Berechnet als Summe von Ergometrin, Ergotamin und α-Ergokryptin

    Herkunft Proben Zeitraum Belastete Proben/ Gesamtprobenzahl

    Kontamina- tionsgrad [%]

    Mittlerer Gesamt-alkaloidgehalt [µg/kg]

    Max. Gesamt-alkaloidgehalt [µg/kg]

    Literatur

    Deutschland Getreideprodukte 1986 29/118 25 17,2 199 Klug, 1986 Futtergetreide: Weizen Roggen Gerste Triticale Hafer

    1987 78/141 47/64

    37/157 18/24 11/38

    55 73 24 75 29

    7340 4240 8980 3320

    80

    Richter et al., 1988

    Getreide 1987 196/426 45 k. A. ≈ 2000005 Wolff, 1992 Roggen, Roggenmehle 2003 30/30 100 8186 32806 Lauber et al., 2005 Roggen, Roggenmehle 2004 21/21 100 2606 9746 Roggenmehl k. A. k. A./131 k. A. 6747 61157 Taschan et al., 2005 Roggen, Triticale (Mähdruschgetreide)

    2001 k. A./3788 k. A./2578

    k. A. 3459 1999

    k. A. Masloff, 2006

    Roggen 2005 k. A./58 k. A. 3977 Futtermittel Ganzkorn Schrot Mehl Brot

    1997–2006

    k. A./103 k. A. 683 416 603

    1782 415

    2780 1588 1597

    18114 1307

    Roggen Weizen

    1985–2005

    116/448 233/424

    26 55

    k. A. k. A. Majerus, 2006

  • 40 Bundesinstitut für Risikobewertung

    Fortsetzung Tabelle 5.9: Belastungssituation von Le bensmitteln mit Mutterkorn (-alkaloiden)

    Herkunft Proben Zeitraum Belastete Proben/ Gesamtproben-zahl

    Kontamina- tionsgrad [%]

    Mittlerer Ge-samt-alkaloidgehalt [µg/kg]

    Max. Gesamt-alkaloidgehalt [µg/kg]

    Literatur

    Kanada Roggenmehl 1985–1991 118/128 92 21610 397210 Scott et al., 1992 Weizenmehl 1985–1991 68/93 73 2310 24410 Kleie 1985–1991 27/35 77 3110 16810 Triticalemehl 1985-1987

    1990/1991 24/26 92 8210 28310

    Roggenbrot, Kräcker, Knäckebrot

    1986–1991 52/114 46 7,810 124810

    Kindernahrung auf Getreidebasis

    1997–1999 41/162 25 3,511 10811 Lombaert et al., 2003

    Schweiz Weizen-Weissmehl Weizen-Halbweissmehl Weizen-Ruchmehl Roggenmehl Roggenbrot-Krume

    1985 7/k. A. 7/k. A. 8/k. A. 6/k. A. 5/k. A.

    k. A. k. A. k. A. k. A. k. A.

    4,26 30,76

    103,46 139,76

    21,36

    9,66 72,46

    160,26 397,46

    43,76

    Baumann et al., 1985

    k. A. - keine Angabe

    10 Berechnet als Summe von Ergometrin, Ergosin, Ergotamin, Ergocornin, α-Ergokryptin und Ergocristin 11 Berechnet als Summe aus Ergosin, Ergotamin, Ergocornin, α-Ergokryptin und Ergocristin

  • 41 Bundesinstitut für Risikobewertung

    5.5 Gesetzliche Regelungen von Mutterkornalkaloiden

    5.5.1 Lebensmittelrechtliche Regelungen

    In Deutschland gibt es für Mutterkorn keine direkt geltenden lebensmittelrechtlichen Rege-lungen. Laut Artikel 2 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit Anhang I 5.e) der EG-Verordnung 824/2000 der Kommission vom 19.04.2000 über das Verfahren und die Bedingungen für die Übernah-me von Getreide durch die Interventionsstellen sowie die Analysenmethoden für die Bestim-mung der Qualität (Interventionsrichtlinie) muss zur Intervention angenommenes Getreide gesund und handelsüblich sein und darf einen Mutterkorngehalt von 0,05 % in Roggen, Hart- und Weichweizen nicht überschreiten [VO (EG) 824/2000, 2000]. Da Sklerotien im Mittel etwa 0,2 % Mutterkornalkaloide enthalten, lässt sich hieraus ein Höchstwert für den Gesamtalkaloidgehalt von 1000 µg/kg ableiten. Seit Inkrafttreten der EG-Änderungsrichtlinie 1572/2006 zur Interventionsrichtlinie gilt diese Regelung nur noch für Hart- und Weichweizen und nicht mehr für Roggen [VO (EG) 1572/2006, 2006]. In der Mitteilung 2000/C312/01 der Kommission über die Merkmale der Waren, die für die Nahrungsmittelhilfe der Gemeinschaft bereitgestellt werden, darf der Anteil an Mutterkorn in Roggen, Hart- und Weichweizen ebenfalls 0,05 % nicht überschreiten [Mitt. 2000/C312/01, 2000]. In der Schweiz wird ein Höchstwert von 500 mg/kg Sklerotien (≡ 0,05 % bzw. 1000 µg GA/kg) entsprechend der Fremd- und Inhaltsstoffverordnung (FIV) lediglich für Ge-treide zur Verarbeitung zu Mehl toleriert. Für Getreide, das unverarbeitet an den Konsumen-ten abgegeben wird, gilt ein Grenzwert von 200 mg/kg Sklerotien (≡ 0,02 % bzw. 400 µg GA/kg) [FIV, 2008]. Die Canadian Grain Commission legte in ihren Richtlinien abhängig von Sorte und Güteklas-se zulässige Höchstgehalte von 0,01–0,33 % (≡ 200–6600 µg GA/kg) für Roggen und 0,01–0,10 % (≡ 200–2000 µg GA/kg) für Weizen fest [Canadian Grain Commission, 2008] 5.5.2 Futtermittelrechtliche Regelungen

    Entsprechend der Richtlinie 2002/32/EG vom 7.5.2002 über unerwünschte Stoffe in der Tier-ernährung, harmonisiert durch das deutsche Futtermittelgesetz (FuttMG) und die Futtermit-tel-Verordnung (FuttMV), zählt Mutterkorn zu den unerwünschten Stoffen in Futtermitteln [RL 2002/32/EG, 2002]. Nach Abschnitt 6 in Verbindung mit Anlage 5 der FuttMV ist eine Höchstmenge von 1000 mg/kg an Sklerotien (≡ 0,10 % bzw. 2000 µg GA/kg) für alle Futtermittel, die ungemah-lenes Getreide enthalten, bei einer Trockenmasse von 88 % festgelegt. Für Futtermittel, die diese Höchstmenge überschreiten, besteht ein Verschneidungsverbot, Reinigungsmaßnah-men dürfen jedoch vorgenommen werden [FuttMV, 2007]. Darüber hinaus wurden der Europäischen Kommission vom deutschen Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV) im Jahr 2006 folgende Höchstmengen für vier Mutterkorn-Leitalkaloide vorgeschlagen:

  • 42 Bundesinstitut für Risikobewertung

    Ergometrin 100 µg/kg Ergokryptin 100 µg/kg Ergotamin 300 µg/kg Ergocristin 600 µg/kg entsprechend einem Orientierungswert von 1100 µg/kg, der unter Einbeziehung von Ergosin und Ergocornin bei 1500 µg/kg liegen soll.

  • 43 Bundesinstitut für Risikobewertung

    5.6 Analytik von Mutterkornalkaloiden

    Eine detaillierte Zusammenfassung der bisher veröffentlichten Analysenmethoden gibt [Scott, 2007]. 5.6.1 Extraktion und Aufreinigung

    In Tabelle 5.10 sind die bisher in der Literatur beschriebenen Extraktions- und Aufreinigung-smethoden zusammengefasst. Die Extraktion von Mutterkornalkaloiden aus der Matrix erfolgt im Allgemeinen mittels Flüs-sigextraktion mit polaren organischen Lösemitteln. Da es sich bei Mutterkornalkaloiden um basische Naturstoffe handelt, erfolgt die Extraktion selten im neutralen pH-Bereich, sondern überwiegend im Basischen, aber auch im Sauren. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass sowohl eine saure als auch basische Katalyse die Bildung der „Inin“-Isomere fördert. Häufig erfolgte die Extraktion unter Verwendung von halogenierten organischen Lösemitteln wie Chloroform oder Dichlormethan (DCM). In den letzten Jahren wurden jedoch immer mehr Methoden entwickelt, in denen toxikologisch und ökologisch weniger bedenkliche Lö-semittel wie Ethylacetat (EtOAc) oder Acetonitril (ACN) verwendet wurden. Besonders gän-giges, basisches Extraktionsmittel ist das erstmalig von Scott und Lawrence beschriebene Gemisch, bestehend aus DCM, EtOAc, MeOH und 28%igem Ammoniumhydroxid im Ver-hältnis 50/25/5/1, (v/v/v/v) [Scott und Lawrence, 1980] Die Extraktion im Sauren erfolgt häufig unter Verwendung von Acetonitril und Phosphatpuf-fern bzw. ortho-Phosporsäure [Ware et al., 2000]. Die Aufreinigung des Rohextraktes erfolgte zunächst mittels Flüssig-Flüssig-Extraktion (LLE), meist im sauren Milieu auch in Gegenwart von Diatomeenerde zur Vergrößerung der Oberfläche. Diese oft zeitaufwendigen und Lösemittel-intensiven Methoden wurden immer häufiger durch Festphasenextraktion (SPE) ersetzt, wobei sowohl Normalphasen wie Kiesel-gel als auch Umkehrphasenmaterial wie C18-Phasen eingesetzt wurden [Fajardo et al., 1995]. Nach einer Extraktion unter sauren Bedingungen wird zur Aufreinigung häufig ein Kationen-austauscher verwendet, da die Mutterkornalkaloide während der Extraktion am Stickstoff protoniert werden und am Kationenaustauscher-Material adsorbieren. Die Elution erfolgt dann im Basischen [z. B. Ware et al., 2000]. Ein ähnliches Prinzip machte sich Klug zunutze. Er erzeugte einen in situ-Kationen-austauscher, indem er Diatomeenerde mit 2 %iger Weinsäurelösung imprägnierte und den Probenextrakt aufgab. Nach Deprotonierung der Mutterkornalkaloide durch Begasung der Säule mit Ammoniak und einem Waschschritt erfolgte die Elution mit Dichlormethan [Klug, 1986]. Der Einsatz von selektiven und sensitiven Tandem-Massenspektrometern führt immer mehr zur Etablierung von so genannten „Dilute-and-Shoot“-Methoden, wobei lediglich das Löse-mittel des Rohextraktes angepasst wird oder eine Direktinjektion erfolgt [z. B. Bockhorn und Drinda, 2004].

  • 44 Bundesinstitut für Risikobewertung

    Tabelle 5.10: Ausgewählte Extraktions- und Aufreini gungsmethoden zur Bestimmung von Mutterkornal-kaloiden in verschiedenen Matrices

    Extraktionsmittel Aufreinigung Untersuchte Matrices

    Wiederfindung [%]

    Literatur

    Extraktion im Basischen DCM, EtOAc, MeOH, NH4OH (28 %), 50/25/5/1

    LLE mit Salzsäure Mehle 66–93 Scott und Lawrence, 1980

    DCM, EtOAc, MeOH, NH4OH (28 %), 50/25/5/1

    LLE mit DCM unter Verwendung von Diatomeenerde

    Getreidebasierte Lebensmittel

    61–97 Klug, 1986

    EtOAc, NH4OH (4 %), 100/20

    LLE mit Schwefel-säure

    Weizen 60–100 Ware et al., 1986

    Chloroform, Natron-lauge (0,01 mol/l), 9/1

    SPE mit Kieselgel Gemahlene und pelle-tierte Futtermittel

    93 Rottinghaus et al., 1993

    EtOAc, NH4OH (4 %), 100/20

    SPE mit C18-Material

    Weizenmahlfraktionen 65–86 Fajardo et al., 1995

    MeOH, Wasser NH4OH (pH 8,5), 70/30/1,5

    LLE mit Chloroform Endophyten- infiziertes Wiesengras

    k. A. Shelby et al., 1997

    EtOAc, NH4OH (4 %), 120/20

    SPE mit C18-Material mit Ionen-paarreagenz

    Babynahrung auf Getreidebasis

    74–82 Lombaert et al., 2003

    MeOH, konz. NH4OH, 1000/12

    - Getreidebasierte Lebensmittel

    50–100 Bockhorn und Drin-da, 2004

    DCM, EtOAc, MeOH, NH4OH (28 %), 50/25/5/1

    - Pumpernickel, Rog-genbrot, Knäckebrot, Roggen

    62–97 Bürk et al., 2006

    Extraktion im Sauren MeOH, H3PO4 (0,25 %), 40/60

    SPE mit starkem Kationenaustauscher

    Weizen 79-96 Ware et al., 2000

    2-Propanol, Was-ser, Milchsäure, 50/49/1

    - Endophyten-infiziertes Wiesengras

    82 Spiering et al., 2002

    ACN, Ammonium-acetat (0,01 mol/l), 10/20

    SPE mit C18-Material

    Roggenmehl 22–110 Mohamed et al., 2006

    ACN, Phosphatpuf-fer pH 6,0, 60/40

    SPE mit starkem Kationenaustauscher

    Getreide, Mehle, Brot

    80–133 Curtui et al., 2007

    MeOH, H3PO4 (0,013 mol/l) 70/30

    SPE mit starkem Katinenaustauscher

    Roggenmehl 51–71 Storm et al., 2008

    Weitere Extraktionsmethoden MeOH - Endophyten-

    infiziertes Wiesengras 98–200 Yates und Powell,

    1988

  • 45 Bundesinstitut für Risikobewertung

    5.6.2 Flüssigchromatographie (HPLC)

    Aufgrund der chemisch-physikalischen Eigenschaften der Mutterkornalkaloide ist die HPLC besonders geeignet zur Bestimmung von Mutterkornalkaloiden. Die Detektion erfolgt mittels Fluoreszenzdetektor oder Tandem-Massenspektrometer, wobei die Fluoreszenzdetektion aufgrund der intensiven fluoreszierenden Eigenschaften der Mutterkornalkaloide ebenfalls sehr empfindlich und auch selektiv ist. Einige bisher beschriebene HPLC-Systeme sind in Tabelle 5.11 zusammengefasst. Tabelle 5.11: Zusammenfassung von HPLC-Systemen zur Analytik von Mutterkornalkaloiden

    Säule Säulenmaterial

    Eluent Detektion Literatur

    Nicht tandemmassenspektrometrische Methoden C18 0,01 M NaHCO3 in H2O/ACN,

    58/42 Photochemischer Reaktionsdetektor

    Scholten und Frei, 1979

    Lichrosorb RP-8 C8

    ACN/(NH4)2CO3-Puffer (0,2g/l), 43/57

    UV Fluoreszenz

    Scott und Lawrence, 1980 Rottinghaus et al. 1993

    Spheri-5 C18

    ACN/H2O/Triethylamin, 336/645/19

    UV Chervet und Plas ,1984

    Separon SGX C18

    H2O/MeOH/NH4OH, 35/65/0,1 UV Krěn et al., 1985 Votruba und Flieger, 2000

    Hypersil ODS C18

    ACN/H2O, 47/53 + 0,1 g (NH4)2CO3/l

    Fluoreszenz Klug, 1986

    Polystyrol-Divinylbenzol

    0,05 M NH4H2PO3 in H2O/ACN, 55/45 Fluoreszenz Ware et al., 1986

    Zorbax ODS oder C8 C18 oder C8

    Gradient ACN/0,1 M NH4CH3COO

    Fluoreszenz Yates und Powell, 1988

    C18 0,02 M Heptansulfonsäure in 1%iger Essigsäure/1%iger Essigsäure in ACN, 60/40

    Fluoreszenz Scott et al., 1992 Fajardo et al., 1995

    C18 15 mM K3PO4, 3,75 mM Oktansulfonsäu-re und 7,5 mM KCl in H2O/ MeOH, 45/55

    UV, Fluoreszenz und elektroche-misch

    Lin, 1993

    C18 Gradient ACN/2,5 mM (NH4)2CO3/MeOH

    Fluoreszenz Moubarak et al., 1996

    NovaPak C18 Gradient MeOH/0,03%iges NH4OH in H2O

    Fluoreszenz Shelby et al., 1997

    Nucleosil 120-5 C18

    Gradient MeOH/0,04%iges NH4OH in H2O

    ESI-MS Shelby et al., 1997

    Partisil 10, ODS-3 C18

    0,014 M Heptansulfonat in H2O/ACN/Essigsäure, 60/40/1

    Fluoreszenz Lombaert, 2000

    Spherisorb C8 ACN/ 0,025 M H3PO4 (pH 3,1), 1/1 + 1,1 g Natriumheptansulfonat/l

    Fluoreszenz Ware et al., 2000

    Prodigy C18 Gradient ACN/ 0,1 M NH4CH3COO in H2O

    Fluoreszenz Spiering et al., 2002

    Luna C18 Gradient ACN/ 0,2 g/l (NH4)2CO3

    Fluoreszenz Lehner et al., 2005

    X-Terra MS C18 Gradient ACN/0,01 M NH4CONH2 (pH 9,6)

    Fluoreszenz Storm et al., 2008

  • 46 Bundesinstitut für Risikobewertung

    Fortsetzung Tabelle 5.11: Zusammenfassung von HPLC-S ystemen zur Analytik von Mutterkornalkaloiden

    Säule Säulenmaterial

    Eluent Detektion Literatur

    Tandemmassenspektrometrische Methoden Zorbax SBaq C18

    Gradient MeOH/5 mM NH4CH3COO

    ESI(+)-MSMS Bockhorn und Drinda, 2004

    Luna Phenyl-Hexyl Gradient ACN/ 0,2 g/l (NH4)2CO3

    ESI(+)-MSMS Lehner et al., 2005

    Phenosphere C18

    MeOH/H2O, 50/50 + 0,1% CHOOH

    ESI(+)-MSMS Bürk et al., 2006

    X-Terra MS C18 Gradient 5 mM HFBA in H2O/0,1 % Essigsäure in Acetonitril

    ESI(+)-MSMS Mohamed et al., 2006

    SunFire C18 Gradient ACN/ 2,5 mM (NH4)2CO3 in H2O

    ESI(+)-MSMS Uhlig et al., 2007

    “Multi“-Methoden zur Bestimmung verschiedener Mykotoxine Alltima C18 Gradient

    0,1 % HCOOH in H2O/0,1 % HCOOH in ACN

    ESI(+)-MSMS Spanjer et al., 2008

    5.6.3 Gaschromatographie (GC)

    Mutterkornalkaloide eignen sich aufgrund ihrer Thermolabilität (Schmelzen erfolgt meist un-ter Zersetzung (s. Tabelle 5.7) und geringen Flüchtigkeit nur wenig für eine gaschromatogra-phische Bestimmung. Underivatisierte Peptidalkaloide werden im Injektor bei Temperaturen zwischen 225 und 300 °C am Amidstickstoff zwischen Lysergsäure- und Peptidgruppe gespalten. Die Peptidf-ragmente werden dann getrennt und mittels Flammenionisationsdetektor, stickstoff-spezifischem Detektor oder Massenspektrometer nach negativer chemischer Ionisation de-tektiert. Diese Technik kann nicht zwischen den Isomeren am C8-Atom unterscheiden. Er-gometrin wird unter diesen Bedingungen nicht fragmentiert [Scott, 1996]. Mantle wies das Vorhandensein von Mutterkorn in Milchviehfutter mit Ricinolsäure als Mar-kersubstanz in der Fettphase nach [Mantle, 1996]. Dieses Vorgehen dient jedoch nur als qualitativer Nachweis, da eine Korrelation zwischen Ricinolsäure- und Mutterkornalkaloidge-halt nicht untersucht wurde. 5.6.4 Dünnschichtchromatographie (DC)

    Die Dünnschichtchromatographie findet in der Mutterkornanalytik nur noch selten Anwen-dung. Da gerade die Peptidalkaloide eine sehr ähnliche Polarität aufweisen, erfolgt die Auftrennung selten mit nur einem Laufmittelsystem. Als stationäre Phasen wurden Kieselgel, auch mit Natronlauge oder Formamid imprägniert, Aluminiumoxid oder mit Formamid imprägnierte Cellulose verwendet. Die mobilen Phasen sind sehr vielfältig und beinhalten oft Chloroform und Aceton. Eine detaillierte Zusammenfassung der verschiedenen DC-Systeme gibt Klug [Klug, 1986]. Aufgrund ihrer chromophoren Eigenschaften können Mutterkornalkaloide auf der DC-Platte in ultraviolettem Licht oder durch Sprühreagenzien sichtbar gemacht werden.

  • 47 Bundesinstitut für Risikobewertung

    Die bekannteste Farbreaktion beruht auf der Kopplung von Van Urk's Reagenz (p-Dimethylaminobenzaldehyd) im Sauren an die 9–10 Doppelbindung des Ergolin-D-Ringes unter Bildung eines blauvioletten Farbstoffes. Diese Reaktion wird auch zur kolorimetrischen Bestimmung der Mutterkornalkaloide als Summenparameter herangezogen [Keipert und Voigt, 1972; Řeháček und Sajdl, 1990; Krěn und Cvak, 1999]. Eine weitere Möglichkeit zur Sichtbarmachung der Mutterkornalkaloide ist die Verwendung von Dragendorff-Reagenz, bestehend aus Bismutoxidnitrat, Weinsäure und Kaliumiodid. Es bildet sich ein Tetraiodobismutat-Komplex, der an die durch die Weinsäure protonierte Ami-nogruppe der Alkaloide bindet und eine orange bis braune Färbung aufweist [Dragendorff und Podwyssotzki, 1877; Guggisberg, 1954]. 5.6.5 Immunochemische Verfahren

    Die Enzyme-linked-Immunosorbent-Assay (ELISA)-Technik eignet sich besonders zum Screening von Mutterkornalkaloiden in verschiedenen Matrices. Die Spezifität ist dabei ab-hängig vom eingesetzten Antikörper. Bisher wurden hauptsächlich Assays zur Bestimmung einzelner Alkaloide beschrieben, es gelang erst einer Arbeitsgruppe, einen gruppenspezifi-schen Test mit einer hohen Empfindlichkeit zu entwickeln [Curtui et al., 2007]. Shelby und Kelley entwickelten einen kompetitiv-inhibierenden ELISA, der spezifisch auf alle Mutterkornalkaloide mit Phenylalaninrest (Ergotamin, Ergocristin, Ergostin) reagiert. Die Wiederfindung lag zwischen 26 und 360 % [Shelby und Kelley, 1990]. Zudem erarbeiteten sie einen Antikörper gegen Ergometrin, der für Immunoaffinitätschroma-tographie-Säulen verwendet werden sollte. Die Nachweisgrenze lag bei 10 µg/kg. Aufgrund der Kreuzreaktivität konnten auch andere Mutterkornalkaloide bestimmt werden, deren Nachweisgrenze bei etwa 1 mg/kg lag [Shelby und Kelley, 1991 und 1992]. Schnitzius et al. stellten einen semiquantitativen, kompetitiven ELISA zur Bestimmung von Mutterkornalkaloiden in Endophyten-infizierten Pflanzen vor. Der monoklonale Antikörper reagierte spezifisch auf die Lysergsäuregruppe der Mutterkornalkaloide, die Kalibrierung des Assays erfolgte mit Lysergsäure. Die Peptidalkaloide Ergokryptin, Ergocristin, Ergocornin und Ergotamin zeigten keine starke Affinität zum Antikörper im Gegensatz zu Ergometrin. Variationskoeffzienten lagen bei 10,2 % innerhalb eines Ansatzes und 18,4 % zwischen den Ansätzen für Stroh und 13,3 bzw. 24,5 % für Getreidekörner [Schnitzius et al., 2001]. Molloy et al. entwickelten einen kompetitiven Immunoassay zur Bestimmung von Dihydroer-gosin in Hirse und Mischfuttermitteln basierend auf der Verwendung von monoklonalem Mäuse-Antikörper und polyklonalen Hasen-Antikörpern. Die Wiederfindungen lagen zwi-schen 77 und 103 % mit einer Nachweisgrenze von 0,01 mg/kg und einer Bestimmungs-grenze von 0,1 mg/kg [Molloy et al., 2003]. Curtui et al. erarbeiteten neben Einzelsubstanz-spezifischen (Ergometrin, Ergotamin, Ergok-ryptin und Ergocornin) Assays einen gruppenspezifischen, direkt-kompetitiven Immunoassay zur Bestimmung von Mutterkornalkaloiden auf Basis polyklonaler Kaninchen-Antikörper. Die Wiederfindung lag zwischen 73 % (Maisgrieß) und 139 % (Säuglingsnahrung) mit Variati-onskoeffizienten unter 12 % und einer Nachweisgrenze von ca. 20 µg/kg für Getreide, Mehle, Säuglings- und Kleinkindernahrung bzw. 14 µg/kg für Brot. Da der Immunoassay gruppen-spezifisch ist, erfolgte die Quantifizierung gegen eine Standardlösung bestehend aus Ergo-metrin, Ergotamin und Ergocristin im Verhältnis 1/10/14 [Curtui et al., 2007].

  • 48 Bundesinstitut für Risikobewertung

    5.6.6 Elektrophorese

    Die Kapillarelektrophorese (CE) ist eine zur Trennung von optischen Isomeren sehr geeigne-te Methode. Hierzu werden chirale Selektoren wie Kronenether, Cyclodextrine, Proteine oder chirale Mizellen zum Trennungselektrolyt zugeben, um eine schnellere und bessere Tren-nung zu ermöglichen [Verleysen und Sandra, 1998]. Mutterkornalkaloide selbst konnten ebenfalls erfolgreich als chirale Selektoren eingesetzt werden [Ingelse et al., 1996 a und 1996 b]. Durch Zugabe von β- bzw. γ-Cyclodextrin zum Hintergrundelektrolyten konnten zwei Mutter-kornalkaloide und deren Epimere (Ergometrin/Ergometrinin, Ergotamin/Ergotaminin) durch Kapillarzonenelektrophorese in 0,1 molarem Phosphatpuffer getrennt und bei einer Wellen-länge von 206 nm detektiert werden [Fanali et al., 1992]. Frach und Blaschke entwickelten eine quantitative Methode zur Bestimmung von neun Mut-terkornalkaloiden in Sklerotien. Die Sklerotien wurden nach dem von Scott und Lawrence publizierten Extraktionsmittel extrahiert [Scott und Lawrence, 1980]. Nach einem Lösemittel-wechsel erfolgte die Trennung und Bestimmung der Mutterkornalkaloide in einem Elektrolyt-gemisch, bestehend aus Phosphatpuffer (pH 2,5), Cyclodextrinen, Harnstoff und Polyvinylal-kohol. Der zur Detektion verwendete Helium-Cadmium-Laser (laserinduzierte Fluoreszenz) zeigte eine 30fach höhere Sensitivität im Vergleich zu einem UV-Detektor. Die Interassay-Wiederfindungen lagen zwischen 61 und 97 % mit Variationskoeffizienten zwischen 3 und 16 % [Frach und Blaschke, 1998]. 5.6.7 Qualitative massenspektrometrische Methoden

    Massenspektrometrische Methoden ohne vorherige LC-Auftrennung der Analyten können direkt zur Identifizierung von Mutterkornalkaloiden in verschiedenen Matrices angewendet werden. Eine Differenzierung zwischen den C8-Stellungsisomeren ist aufgrund des gleichen Fragmentierungsverhaltens nicht möglich [Scott, 2007]. Plattner et al. identifizierten zwölf Ergopeptidalkloide (ohne C8-Stellungsisomere) mittels CI-Quadrupol-MS/MS mit Isobutan als Reaktandgas im positiven und negativen Modus [Plattner et al. 1983]. Casy verglich die verschiedenen Ionisationstechniken zur Identifizierung von Mutterkornalk-loiden und Dihydromutterkornalkaloiden [Casy, 1994]. 70 eV EI-MS als „harte“ Ionisierungstechnik zeigte Molekülpeaks der Nichtpeptid-verbindungen (Lysergsäure, Lysergamid, LSD, Ergometrin etc.) und Dihydroergolin, im Ge-gensatz zu den Ergo- und Dihydroergopeptiden, die vollständig fragmentierten. Fast-Atom-Bombardment-MS als „weiche“ Ionisierungstechnik zeigte deutlich die [M+H]+-

    und die [M-H]--Quasi-Molekülionen. Lehner et al. ordneten den gruppenspezifischen Fragmenten Strukturen zu, die in der ESI(+)-MS/MS zur Quantifzierung im Multiple-Reaction-Monitoring-Modus verwendet werden [Leh-ner et al., 2004] . Bild 5.13 und Tabelle 5.12 geben die Fragmentierungsmechanismen und dazu gehörigen Strukturen der Mutterkornalkaloide wieder.

  • 49 Bundesinstitut für Risikobewertung

    O

    NH

    NH

    CH3

    O

    NH

    R1

    NN

    O

    OH

    R2

    O

    H

    NH

    NH

    CH3

    O

    NH3+

    NH

    NH

    CH3

    +

    NH

    NH +

    O

    NH

    NH

    CH3

    O

    NH

    R1

    NN

    OR2

    O

    H

    +

    NH

    NH

    CH3

    +

    [M+H] - 18

    m/z 268

    m/z 223

    m/z 208

    m/z 197

    Ergopeptid

    - CH CH

    - CH3

    OH2

    - Peptidgruppe- Peptidgruppe NH

    CH

    O

    -

    OH2-

    Bild 5.13: Fragmentierung von Mutterkornalkaloiden in der Massenspektrometrie, nach [Lehner et al., 2004]

  • 50 Bundesinstitut für Risikobewertung

    Tabelle 5.12: Wichtige Fragmentionen in der Massens pektrometrie von Mutterkornalkaloiden

    m/z ET121 EC12 EK12 ECR12 EM12 Zuordnung [M+H]-18 x x x x Wasserabspaltung (tertiärer Alko-

    hol) der Peptidgruppe [[M+H]-18]-28 x x x x CO-Abspaltung am Dehydrat [[M+H]-18]-267

    x x x x Abspaltung des Lysergsystems vom Dehydrat

    268 x x x x [Lysergsäureamid + H] 251 x x x x m/z 268 - NH3 223 x x x x x [M+H] - [Peptidgruppe-NH2-HC=O] 208 x x x x x m/z 223 - CH3 197 x x x x x m/z 223 - CH≡CH 180 x x x x x m/z 223 - CH2=NCH3 167 x x x x x m/z 223 - CH2=CHNCH3

    12 ET = Ergotamin, EC