André Jolles Einfache Formen Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen,...

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André Jollen Einfache Formen

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  • Andr Jollen Einfache Formen

  • ANDR JOLLES EINFACHE FORMEN

  • iANDRE JOLLES

    EINFACHE FORMEN

    LEGENDE SAGE MYTHE

    RTSEL SPRUCH KASUS MEMORABILEMRCHEN WITZ

    Vierte, unvernderte Auflage

    I/

    MAX N I E M EYE R VERLAG TBINGEN1968

  • 1. Auflage 19302. Auflage 19583. Auflage 1965

    Max Niemeyer Verlag 1950Alle Rechte vorbehalten.

    Printed in GermanyDruck:

    Fotokop DarmstadtEinband von Heinr. Koch Tbingen

  • GELEITWORT

    An Andr Jolles... Da diese Anstalten ihren Zweck indes nur erreichen

    knnen, wenn jede, soviel als immer mglich, der reinen Ideeder Wissenschaft gegenbersteht, so sind Einsamkeit und Frei-heit die in ihrem Kreise vorwaltenden Prinzipien. Da aberauch das geistige Wirken in der Menschheit nur als Zusammen

    -wirken gedeiht, und zwar nicht blo, damit e i n e r ersetze, wasdem andern mangelt, sondern damit die gelingende Ttigkeitdes e i n e n den anderen begeistere und allen die allgemeine,ursprngliche, in den einzelnen nur einzeln oder abgeleitethervorstrahlende Kraft sichtbar werde, so mu die innereOrganisation dieser Anstalten ein ununterbrochenes, sich immerselbst wieder belebendes, aber ungezwungenes und absichts-loses Zusammenwirken hervorbringen und unterhalten

    . .

    Wilhelm von HumboldtAus Einsamkeit und Freiheit finden hier ein neues Denken

    ber den Geist und eine neue Besinnung ber das Reich derLitteratur den Weg in die ffentlichkeit, und dieses Buch istletzte Station und Weg zugleich, Weg, den es, allmhlich sicherweiternd, angetreten hat vom Forscher und Grnder zumkleinsten Kreis der Schler und Freunde, zum greren derakademischen Kollegien, nunmehr zum grten der wissen

    -schaftlichen ffentlichkeit.Die Einfachen Formen" sind leicht zu lesen in ihrer

    Art zu unterweisen, zu berzeugen

    und sie sind schwer zustudieren, weil mit jedem Begriff, jeder Definition, jedem Ge-dankengang, aber auch von jedem Beispiel aus appelliert wirdan das Weiterdenken, das erst zu vlligem Durchschauenfhren kann. Von den beiden Mglichkeiten, die es gibt, in ein

  • vi GELEITWORT

    Neues einzufhren, der des geschlossenen S y s t e m s und derdes demonstrierenden propdeutischen Sprechens , ist dieletztere gewhlt, weil sie lebendiger und weniger abgezogen ist,weil sich aber auch von der Reihe der gerundeten Einzelab-handlungen aus viel klarer eine Verbindung herstellen lt zuall den Einzelproblemen, zu den bisher gebten und erprobtenMethoden, die tangiert und geschnitten werden mssen. Sowird berall an die Punkte herangefhrt, von denen aus dieeigentliche Weiterarbeit im Einzelnen erst einzusetzen hat wieauch das sich Besprechen und Diskutieren mit andern Lagernund Schulen.

    In- und nebeneinander stehen hier Denken und Bild, Ver-dichtung und Beispiel, Frage, die der Antwort vorausluft, Er-

    gebnis, das sich begrndet, und a7rozpogvi wird pdagogischund stilistisch Fhrerin und Figur.

    Schlielich soll eines zu betonen nicht unterlassen sein:da ber jedem neuen wissenschaftlich ernsten Weg, der nichtfr immer bei den Einzelheiten stehen bleibt, ein Irrationalesimmerhin, aber ein Wgbares bleibt, das ber den Geist hinaus

    -reicht und das Gesinnung ist.Somit meinen wir, die das gesprochene Wort aufgezeichnet

    und geholfen haben, es zu Abhandlung und Buch weiterzu-fhren, mit diesen Vorworten ein nochmaliges Fragen um Be-lehrtwerden und empfangen und geben das Ganze als Antwortund Lehre, als Vortrag und endgltige Abhandlung aAl',aced ee ye xai zJLta nn pavas, xai 'rotco ir4avov.

    Am 7. August 1929

    Dr. Elisabeth Kutzer. Dr. Otto Grner.

  • EINFHRUNGI.

    Die Litteraturwissenschaft ist dreifach gerichtet. In eineretwas abgegriffenen Terminologie heit das : sie besitzt einesthetische, eine historische und eine morphologische Aufgabe.Wollen wir uns deutlicher ausdrcken, so sagen wir : die Litte

    -raturwissenschaft versucht eine litterarische Erscheinung ihrerSchnheit, ihremSinn und ihrerGestalt nachzudeuten.

    Obwohl nun diese drei bestimmt sind, eine Dreieinheit zubilden, so gilt doch auch hier der Spruch : getrennt mar-schieren und vereint schlagen. Anders gesagt : so sehr diesedrei bestimmt sind, zusammen d i e litterarische Erscheinung inihrer Totalitt zu erfassen, so arbeitet doch jede nach einereigenen Methode.

    Auch scheint es, wenn wir die Geschichte der Litteratur-wissenschaft berschauen, als ob jede dieser Methoden zeit-weise geneigt ist, die Hegemonie an sich zu reien.

    Ein Teil der Litteraturwissenschaft des 18. Jahrhundertswar hauptschlich sthetisch eingestellt ; sie macht von ChristianWolff bis Kant in allen Gegenden Europas die Strmungen undGegenstrmungen mit, die die Lehre von dem Schnen" injener Epoche bewegen. Sehen wir von ihren allgemeinen Be-trachtungen ber das Wesen des S c h n e n selbst ab und be-schrnken wir uns auf das, was ber dessen Erfindung, Be-urteilung und Anordnung ausgesagt wurde, so hat uns die stlhe-tische Richtung, oder da ein Plural hier am Platze scheint, sohaben uns die sthetischen Schulen die Lehre von den Gat-t.ungen beschert. Ihre Vertreter haben mit Flei und Scharf-

    inn die Gattungen des Lyrischen, Epischen, Dramatischen undDidaktischen auf ihre sthetische Gesetzmigkeit und auf ihre

    J o l l e s, Einfache Formen 1

  • 2 EINFHRUNG

    sthetische Wirkung hin erforscht; sie haben innerhalb dieserHauptgattungen die Untergattungen von Elegie und Ode, Eposund Roman, Lustspiel und Trauerspiel, Lehrgedicht und Epi-gramm et alia talia wiederum vom sthetischen Stand-punkt aus abzugrenzen und zu bestimmen versucht. An Vor

    -wrfen gegen ihre Methode hat es nicht gefehlt. Hier heit es,sie wre deduktiv vorgegangen : anstatt von den Kunstwerkenselbst auszugehen und aus deren Betrachtung zur Einsicht indas Wesen der Kunst zu gelangen, htte sie ihre Stze reinspekulativ aufgestellt, um sie erst spter auf die Tatsachen an-zuwenden. Bei andern wird ihr Aufklrertum" getadelt : siehtten das Irrationale in der Kunst verkannt, indem sie auchdichterisches Schaffen" als eine Modifikation des Denkens be-trachteten und der Vernunft" die hchste Richterstelle ein-rumten.

    Inwieweit solche Vorwrfe die Methode selbst treffen, in-wieweit sie auf einem Miverstehen beruhen, das bei Ver-tretern einer andern Richtung, bei Anhngern einer andern Me-thode unvermeidlich erscheint, bleibe dahingestellt. Frucht-barer ist es, darauf hinzuweisen, da die sthetiker des18. Jahrhunderts trotz gegenseitiger Polemik in ihrer Gesamt-heit einen beachtenswerten Versuch gemacht haben, das, wasseit dem Altertum an Theorie der Kunst berliefert wordenwar, der Denkart einer neuen Zeit anzupassen, und da sie,indem sie sich bemhten, gewisse Gattungsbegriffe zu be-stimmen und zu der sthetischen Bedeutung jener Gattungenselbst durchzudringen, nicht nur die Litteraturwissenschaftsondern auch die Litteratur einen Schritt weiter gebracht haben.

    Denn noch Eines darf nicht vergessen werden : die sthe-tische Litteraturwissenschaft des 18. Jahrhunderts ist in allenihren Schulen fest berzeugt gewesen, durch ihre Theorie einenttigen Einflu auf das Leben

    in casu auf die gleichzeitigeKunst ausben zu knnen und zu mssen. Was Gottsched

    und die Schweizer, was die Schotten und Englnder, was Mar-montel und die Enzyklopdisten in Frankreich, und was inDeutschland Johann Adolf und Johann Elias Schlegel, Mendels-sohn, Lessing, Sulzer und viele andere, jeder in seiner Weise,suchten, war letzten Endes immer wieder eine leistungsfhige

  • EINFHRUNG 3

    Poetik, ein bndiges System der Dichtkunst, das, wie auch ab-geleitet, jedenfalls fr die Entwicklung der zeitgenssischenNationalpoesie Gltigkeit beanspruchte.

    Neben dieser pragmatischen sthetik finden wir eben-falls schon im 18. Jahrhundert

    eine Litteraturwissenschaft,die den S i n n des Kunstwerks deutet; und zwar geht sie beiihrer Deutung bekanntlich von dem Begriff G e n i e aus. Liegenauch die Anfnge dieser Richtung schon in der Renaissance,so kommt sie doch erst in der Frhromantik zur vollen Blte.Sie stellt der ars poetica eine ars poetae, oder der Poetik einenPoeten gegenber. Dichter" ist der Inbegriff von Genie, Dich-tung heit Schpfung des Genies. Genie ist eine das Normaleallerseits berragende, urwchsige, angeborene geistige Be-gabung, weder zu erlernen noch zu erwerben". Im Genie findensich erfinderische Phantasie und originelle Gestaltungskraft ineiner Weise und in einem Mae zusammen, da fr das Schaf-fen des Genies nur der Ausdruck S c h p f e r im tiefsten Sinneadquat erscheint. Gewi die Ausarbeitung des intuitiv-schpferisch Erzeugten erfordert Reflexion, Planmigkeit,bung, aber das Erste, das Wesentliche ist und bleibt die Voll-kommenheit der Geistesanlage. Das Kunstwerk erhlt seinenSinn durch die Tat des Genies, nicht anders als wie die Weltihren Sinn durch die Tat ihres Schpfers erhlt.

    Es ist hier nicht der Ort, die Entwicklung des Geniebegriffszu verfolgen. Wir wollen aber, da es fr den Werdeganglitteraturwissenschaftlicher Methodik nicht ohne Wichtigkeitist, erwhnen, da, wo wir in Deutschland geneigt sind zu glau-ben, dieser Begriff habe in der mit Recht oder mit Unrecht sogenannten Periode des Sturm und Drang" seine strkste Aus

    -prgung gefunden, tatschlich England das Land ist, in demwir ihn in seiner einheitlichen und ununterbrochenen Entfaltungam besten beobachten knnen, und zwar auf einer Linie, dievon Shaftesbury bis Shelley fhrt. Von England ber Frank-reich hat der Geniebegriff dann im 19. Jahrhundert auf die euro-pische Geistesverfassung

    und damit auf die Litteratur-wissenschaft eingewirkt, und diese Einwirkung hat auch im

    20. Jahrhundert noch keineswegs aufgehrt. Shelleys Behaup-

  • 4 EINRHRUNGtung, der Dichter sei the happiest, the best, the wisest andthe most illustrious of men", hat lnger vorgehalten als vieleBehauptungen aus der Zeit des jungen Goethe, die der alteGoethe selbst lngst berholt hatte.

    Wie dem auch sei wenn wir aus dem Geniebegriff einemethodische Folgerung ziehen, so ergibt sich fr die I.itteratur-wissenschaft die Aufgabe, zunchst die Reihe jener Menschenmit ihrer allerseits berragenden urwchsigen Begabung mit-samt ihren einmaligen Leistungen, jener Schpfer mit ihrenSchpfungen, historisch zu ordnen. Da die Litteratur-geschichte des 19. Jahrhunderts diese Folgerung wirklich ge-zogen hat, drfte bekannt sein. Wir brauchen nur ein beliebigesHandbuch der Litteraturgeschichte aufzuschlagen, um zu sehen,da wir da eine Geschichte der Dichter und ihrer Dichtungen,ein historisches Nacheinander von Dichterbiographien, in denendie poetischen Leistungen wiederum historisch angeordnet sind,vor uns haben.

    Der Gefahr einer Verflachung entging diese Methode durchihren engen Zusammenhang mit den sich allerseits vertiefendenbrigen historischen und kulturhistorischen Disziplinen. Zu-gleich aber wurde ihre ursprngliche Grundthese : der Dichterist das Genie, das heit der allein verantwortliche Schpfereines einmaligen Kunstwerks, in diesem Zusammenhang aufge-lockert. Mehr und mehr wurde der historische Dichter ein Menschunter Menschen und gerade die Frage nach dem Verhltnisdes Menschen und seiner Verantwortung ist eines der meist -bengstigenden Probleme des Positivismus gewesen. Es ist einmerkwrdiges Schauspiel, zu beobachten, wie eine sich indivi-dualistisch gebrdende Zeit zugleich dem Individuum die wesent-lichen Elemente seiner Individualitt raubt und dieses Schau-spiel knnen wir bei unserem Dichter als Menschen" in vollemUmfang genieen. Die Kurve, die von Shaftesbury bis zumSturm und Drang oder bis zu Shelley ansteigt, schlngelt sichvon Shelley bis Hippolyte Taine in wunderlichen Windungenherunter. Wir verzichten darauf, ihre Schnrkel im einzelnenzu beschreiben. Sagen wir, da jene Zeit bestrebt war, einlitterarisches Kunstwerk historisch, soziologisch und psycho-logisch zu bestimmen, aber fgen wir hinzu, da der Weg dieser

  • EINFHRUNG 5

    Bestimmung immer noch ber den Urheber des Kunstwerksging. Der Dichter war als Mensch ein Produkt von Rasse, vonMilieu, von Zeit und Abstammung, von konomischen und son-ostigen Umstnden ... tausend Strmungen der Vergangenheitund der Gegenwart wirkten auf ihn ein, modelten ihn um, zer-setzten ihn, und in der allseitigen Bedingtheit seines mensch-lichen Wesens waren demzufolge die Bedingungen alles dessen,was er hervorbrachte, zu suchen. Erklren wir so hie es den Menschen, betrachten wir ihn als Sohn seiner Eltern, alsEnkel seiner Ahnen, als Kind seiner Zeit, hervorgebracht durchein Milieu, dem Einflu der Umstnde ausgesetzt ; zergliedernwir ihn obendrein psychologisch und beobachten wir, wie erin seiner krausen und bedingten Zusammensetzung auf ueresGeschehen reagiert, so haben wir damit die Entstehung seinerKunstwerke erklrt. Der Sinn dieser Kunstwerke selbst aberschien demnach zeitweise kein anderer zu sein, als da sie -einen durch hervorragende Begabung geschaffenen Ausdruckaller in eine Individualitt zusammengeflossenen historischenund kulturhistorischen Bedingungen boten.

    Indessen, die berzeugung, da ein Kunstwerk, eine groeDichtung, wenn auch alles dieses, darber hinaus geistig nochetwas mehr und etwas anderes darstellen sollte, machte sichwieder geltend. Phnomenologie des Geistes" hatte Einer ge-rufen, dessen Stimme nicht die eines Rufenden in der Wstewar. Die Philosophie des Geistes, die Wissenschaft von denPrinzipien des Geisteslebens, vom Wesen des Geistes undseiner Gebilde, vom geistigen Schaffen, von den geistigen Wertenund Zwecken sie machte sich auch bei der Betrachtung desKunstwerkes bemerkbar. Eine verstndnisvolle Deutung dereinzelnen Dichtung im Sinne eines geistigen Prozesses wurdeversucht, die Dichtung als Ganzheit der Geistesgeschichte ein

    -gefgt. Auch diese Methode fhrte jedoch nicht zur getrenntenBeobachtung des Kunstwerkes und seines Urhebers, wohl aberzu jener eigentmlichen Umstellung, bei der Leben und Persondes Knstlers nicht lnger zur Erklrung seiner Leistungenherangezogen, sondern wo vielmehr aus der geistigen Bedeutungder Dichtungen Person und Leben des Knstlers abgeleitet underklrt wurden. In gewissem Sinne ist hier das entgegengesetzte

    0

  • 6 EINFHRUNG

    Endziel alles dessen, was im Geniebegriff vorgesehen war, er-reicht, aber es wurde erreicht in einer Weise, da dennoch einemethodische Umwandlung keineswegs einzutreten brauchte.Sei es, da die sinndeutende Methode von dem Knstler undseinem Kunstwerk, sei es da sie von dem Kunstwerk und seinemKnstler ausgeht, sie betrachtet in beiden Fllen diese zusammen-gehrige Zweiheit als den historischen" Gegenstand ihrerForschung. Von der pragmatischen sthetik unterscheidet siesich auch dadurch, da sie vom Anfang bis zum Ende inso-weit sie nicht in Dilettantismus entartete rein wissenschaft-lich" blieb; ihre Vertreter haben, im Gegensatz zu den sthe -tikern des 18. Jahrhunderts, bei aller Verschiedenheit der Auf-fassung nie geglaubt, Einflu auf die Entwicklung der leben

    -digen Kunst ausben zu knnen; sie haben derartiges auch nieversucht.

    Langsam wurde sich neben diesen zwei Richtungen diedritte ihrer Aufgabe bewut und suchte sich ihre Methode zuerobern.

    Der Deutsche hat fr den Komplex des Daseins eineswirklichen Wesens das Wort G e s t a 1 t. Er abstrahiert beidiesem Ausdruck von dem Beweglichen, er nimmt an, da einZusammengehriges festgestellt, abgeschlossen und in seinemCharakter fixiert sei."

    Diesen Satz Goethes knnen wir als Grundlage einer morpho-logischen Aufgabe auch in der Litteraturwissenschaft aufstellen.Auch fr die Totalitt aller litterarischen Erscheinungen gilt,da die hervorzubringende Gestalt, die typisch bestimmtemorphologische Erscheinung der Dinge, die wirksame Potenzin allem Geschehen" sei.

    Mit Ausschaltung alles dessen, was zeitlich bedingt oderindividuell beweglich ist, knnen wir auch in der Dichtung -im weitesten Sinne die Gestalt feststellen, abschlieen undin ihrem fixierten Charakter erkennen. Bei der einzelnen Dich

    -tung knnen wir fragen, inwieweit die gestaltbildenden, form-begrenzenden Krfte hier zu einem erkennbaren und unter

    -scheidbaren Gebilde gefhrt haben, inwieweit sich eine Gestalthier bndig verwirklicht hat. Der Gesamtheit aller Dichtung

  • EINF'RRUNG 7

    gegenber erheben wir die Frage, inwieweit die Summe allererkannten und unterschiedenen Gestalten ein einheitliches,grundstzlich angeordnetes, innerlich zusammenhngendes undgegliedertes Ganzes ein System bildet.

    Formbestimmung, Gestaltdeutung heit fr diese Richtungdie Aufgabe.

    Diese Aufgabe fr einen besonderen Teil der litterarischenErscheinungen versuchsweise durchzufhren, soll die Absichtder hier vorzutragenden Abhandlungen sein.

  • II.Wir haben schon erfahren, da sowohl die sthetische wie

    die sinndeutende Methode bei ihren Untersuchungen zunchstund in der Hauptsache von dem vollendeten litterarischen Kunst-werk als solchem ausgingen, da sie Dichtung" meist nur dorterkannten und anerkannten, wo diese im Gedicht", im Poema,einen einmaligen und endgltigen Abschlu bekommen hatte,oder da, um es noch einmal zu wiederholen, Dichter und Dich-tung oder Dichtung und Dichter ihre eigentlichen Forschungs-objekte bildeten.

    Selbstverstndlich ! Wer sollte es einer Lehre des Schnen"verbeln, da sie die Schnheit dort greift, wo sie in hchsterAusprgung vorliegt, und wie sollte man Einflu auf das Lebender Litteratur gewinnen, wenn man sie nicht als Kunst" be-griffe. Andererseits ist bei einer historischen" Richtung, dieein litterarisches Erzeugnis stets in unmittelbarer Beziehungzu seinem Urheber betrachtet, - dieser Ausgangspunkt wiederumvon vornherein gegeben.

    Bei einem Versuch jedoch, die Gestalt der litterarischenErscheinung zu erkennen und zu erklren, liegt die Sache anders.Gerade wo wir bestrebt sind, von der Beweglichkeit zu ab-strahieren", bildet das vollendete Kunstwerk oder die einmaligeund individuelle Schpfung eines Dichters nicht den Anfang,sondern den Abschlu unserer Forschung. Wir erfassen dieDichtung" nicht in ihrer knstlerischen Verendgltigung, son-dern dort wo sie einsetzt, das heit in der S p r a c h e.

    Wollten wir die Geschichte einer gestaltdeutenden Methodegeben, so wrden wir sehen, da auch der Versuch eines Auf-baus der Litteraturwissenschaft von der Sprache aus bereitsim 18. Jahrhundert erwogen wurde. Schon wenn wir den oftzitierten Satz Hamanns aus der Aesthetica in nute, P o e s i eist die Muttersprache des menschlichen Ge-

  • EINFHRUNG 9

    s c h 1 e c h t s ", noch einmal wiederholen, finden wir hierin denAnfang einer solchen Betrachtungsweise. Zweifellos gehrtauch hierher die groe Doppelarbeit aus Herders Frhzeit, woer sich einesteils in seiner berhmten Abhandlung mit dem Ur-sprung der Sprache als solcher beschftigt, andernteils in seinenAlten Volksliedern" die Beispiele einer Sprache vorfhrt, die,ihrem Ursprung noch nahe, eine Sammlung von Elementen derPoesie" bildet oder ein Wrterbuch der Seele was zugleichMythologie und eine wunderbare Epopee von den Handlungenund Reden aller Wesen ist". Schlielich liegt wir werdenspter darauf zurckkommen in Jacob Grimms Begriff N a -t u r p o e s i e wiederum hnliches vor.

    Zu bindender Formbestimmung ist es jedoch damals nichtgekommen. Wollen wir unsererseits die dort angefangene Ar-beit folgerichtig fortfhren, so mu es unsre erste Bemhungsein, mit allen Mitteln, die uns Sprachwissenschaft und Litteratur-wissenschaft an die Hand geben, in Einzelheiten den Weg fest-zustellen, der von Sprache zu Litteratur fhrt, oder um es ge-nauer und in der Ausdrucksweise der Theorie des objektivenGeistes zu sagen: zu beobachten, wann, wo und wie Sprache,ohne aufzuhren Z e i c h e n zu sein, zu gleicher Zeit G e b i l d ewerden kann und wird.

    Methodisch ergeben sich daraus eine Reihe von Aufgaben.Wir mssen, ausgehend von den Einheiten und Gliede-

    rungen der Sprache, wie sie in Grammatik, Syntax und Be-deutungslehre gegeben sind, vermittels der Disziplinen Stilistjk,Rhetorik und Poetik systematisch zu den hchsten Kunstwerkenansteigen, indem wir vergleichend beobachten, wie eine selbeErscheinung sich auf einer andern Stufe sich anreichernd wieder-holt, wie eine gleiche gestaltbildende, formbegrenzende Kraft,jedesmal sich erhhend, das System als Ganzheit beherrscht.So liee sich, um ein Beispiel zu nennen, ausgehend von densprachlich syntaktischen Gestalten der Weg zur knstlerischenKomposition finden, oder von der Wortbedeutung aus der Sinnder Trope bestimmen.

    Kmen wir so zur Erkenntnis dessen, was innerhalb desgroen Gebietes von Sprache und Litteratur von Stufe zu Stufefest und immer fester sich vollzieht, bis es in einer letzten Voll-

  • 10 EINFHRUNG

    zogenheit als endgltige individuelle Einheit uns erscheint, soliegt es uns andrerseits ob, uns mit jenen Formen zu beschf-tigen, die ebenfalls aus der Sprache hervorgegangen sind, dieseVerfestigung aber zu entbehren scheinen, die sich, bildlich ge-sprochen, auf die Dauer in einem andern Aggregatzustand be-finden : mit jenen Formen, die weder von der Stilistik, noch vonder Rhetorik, noch von der Poetik, ja, vielleicht nicht einmalvoll der Schrift" erfat werden, die, obwohl sie zur Kunst ge-hren, nicht eigentlich zum Kunstwerk werden, die, wenn auchDichtung, so doch keine Gedichte darstellen, kurz mit jenenFormen, die man als Legende, Sage, Mythe, Rtsel, Spruch,Kasus, Memorabile, Mrchen oder Witz zu bezeichnen pflegt.

    Wenn wir uns, ohne die erste zu vernachlssigen, zuerstdieser zweiten Aufgabe zuwenden, so erklrt sich das daraus,da diese Formen sowohl von der sthetischen wie von derhistorischen Richtung der Litteraturwissenschaft stiefmtter-lich behandelt worden sind. Zwar sprte die Litteraturgeschichte,da diese Formen irgendwie im Kunstwerk vorhanden seinknnen, da man konkret gesprochen nicht vom Nibelungen-lied reden kann, ohne auch eine Nibelungensage zu berhren,trotzdem aber versumte es ihre sinndeutende Methode, denSinn dieser Gestalten zu ergrnden. Man berlie es der Volks-k unde oder andern nicht ganz zur Litteraturwissenschaft ge-hrigen Disziplinen, sich mit ihnen zu befassen.

    Wir haben also etwas nachzuholen. Und wir wollen uns,und wre es nur, um eine Lcke auszufllen, in diesem Buche,dem ersten Kapitel unserer Litteraturwissenschaft, jenen Formenzuwenden, die sich, sozusagen ohne Zutun eines Dichters, inder Sprache selbst ereignen, aus der Sprache selbst erarbeiten.

  • III.Wie stellen wir uns Sprache als Arbeit vor?Sofort erhebt sich das Bild einer menschlichen Arbeits-

    gemeinschaft und damit das Bild derer, die innerhalb dieserGemeinschaft in verschiedener Art die Arbeit vollziehen : Bauer.Handwerker, Priester der Erzeugende, der Schaffende. derDeutende.

    Erzeugen, Schaffen, Deuten sind die Ttig-keiten, die eine Gemeinschaft zu einer Arbeitsgemeinschaftzusammenschweien.

    Ich brauche wohl kaum darauf hinzuweisen, da, wenn wirhier Bauer, Handwerker, Priester sagen, wir keineswegs eiiieethnologische Theorie, eine Einteilung der WirtschaftsforIneuim Sinne haben und da wir ebensowenig die drei als Ent-wicklungsstufen in einem kulturhistorischen Nacheinander be-trachten. Was wir mit diesen drei Figuren meinen, ist. dieTeilung der Arbeit, wie sie in der We 1 t als Arbeit und in derS p r a c h e als Arbeit sichtbar auftritt.

    Sehen wir sie in ihrer Ttigkeit an.Der B a u e r erzeugt seine Arbeit besteht darin, da

    er in der Natur Gegebenes ordnet in einer Weise. da es siehuni den Menschen als Mittelpunkt gruppiert. Die Natur, dasin sich Bleibende, wird in das Leben des Menschen aufge-nommen und da Leben Erneuerung heit, wird auch dieNatur in diesem Leben erneuert, aber so, da die natrlichenVorgnge unbehindert ihren Weg gehen. Indem der Bauer er-zeugt, wird aus Oder zeugenden Natur Zucht. Er streut dieSaat. in die geordneten Furchen und es wchst ein Getreide -feld ; er pflanzt (lie Keimlinge des Waldes in feiner Baumschuleund es wchst Oder Forst; er bringt den Stier zur Kuli. denHengst zur Stute und es wachsen Kalb und Fohlen. Indem erzchtet., or(lnet die zuchtlose Natur sich ihm an. Es gehrt zu

  • 12 FIN"URIING

    einem Bauernhof noch mehr als Kuhstall, Getreideacker, Forst,Weide, Obst- oder Gemsegarten. Die Tiere laufen dem Bauernzu. Nicht nur der Hund, der in der Zucht vielleicht Bedeutunghat, sondern auch die Katze. Die Schwalbe nistet unter seinemberragenden Dachgiebel, der Storch auf dem First; die Spinnehaust auf dem Boden. Die Pflanzensamen werden angeweht;nicht nur Heil- und Zierkruter, sondern auch solche, die sichscheinbar ziellos und nutzlos an den Menschen anklammern undihn berall, wo er hintritt, begleiten, wie Wegwarte und Wege-rich. Selbst das, was er nicht gebrauchen kann: Schmarotzer,Unkraut und Ungeziefer, gesellen sich zu ihm, ntzen die neuerzeugten Verhltnisse aus, stellen sich in gewissem Sinneunter seine Zucht, gehen von der Natur aus in das Leben ein.

    Das in der Natur rumlich Gebundene wird beweglich.Bume und Stauden wandern von einem Weltteil zum andernund was wir Landschaft zu nennen pflegen, ist letzten Endesnichts anderes als Natur, die sich dem Erzeuger angeordnet,die sich um einen Erzeuger gruppiert hat.

    Der H a n d w e r k e r schafft seine Arbeit besteht darin,(la er das in der Natur Gegebene umordnet in einer Weise, daes aufhrt natrlich zu sein. Die natrlichen Vorgnge werdenvon ihm dauernd unterbrochen, gestrt. Was er erneuert, wirdwahrhaft neu. Schon das Erzeugte ergreift er. Die Getreide-samen werden nicht mehr dazu benutzt, da neues Getreideaus ihnen wachse, sie werden zerstoen, zerrieben, zermahlen,aufgeweicht, erhitzt, und aus dem Zeugungsunfhigen wird dasBrot. Die in der Baumschule gewachsenen Stmme werdengefllt, zerhackt, zersgt zu Balken, Brettern, Sparren undes entsteht die Wohnung, der Wagen. Aber er geht ber dasErzeugte hinaus, er nimmt die groen Steine und trmt sie auf

    -einander zu einer Mauer, die kleinen schlgt er aneinander, bisder Funken springt und das Feuer loht. Knochen und Fisch-grte werden zu- Dolch und Pfeil oder Haarnadel, aus einemRinderhorn wird ein Trink- oder Blashorn, ein Schafsdarm wirdBogensehne oder Saite. Pflanzen und Metalle werden zer-quetscht und ergeben Farbe; Nahrung wird in Grung versetztund wird Rauschtrank. Bei dem gegenstndlich in der NaturGegebenen bleibt er nicht stehen, er erfat auch die unsicht-

  • EINFHRUNG 13baren Mchte, zerlegt sie, ordnet sie um, benutzt sie : Wasserund Luft mssen ihre Kraft hergeben, werden Bewegung undLicht.

    Wie aber wre diese ganze Arbeit des Erzeugens undSchaffens mglich, wenn nicht die dritte Arbeit des D e u t e n ssie unentwegt lenkte, wenn nicht jeder Arbeit ein Sinn inne-wohnte, der sie bindend macht, und nicht das Begreifen diesesSinnes erst die Arbeit als solche zur Vollendung brchte. Oderum bei unserer Terminologie zu bleiben : wenn nicht zur Arbeit,die anordnet, und Arbeit, die umordnet, die Arbeit kme, dieverordnet. Erst wenn die Art und Weise, wie etwas gezeugtund geschaffen wird, und erst, dann, wenn das Erzeugte und dasGeschaffene selbst gedeutet worden sind, knnen wir die Ge-meinschaft der Arbeit vollstndig nennen.

    Es gesellt sich zu dem Bauern und dem Handwerker derP r i e s t e r. Nur indem der Priester die Arbeit deutet, kannder Bauer die Natur in ihrem natrlichen Vorgehen in seinLeben aufnehmen, kann der. Handwerker die Natur und dasNatrliche unterbrechen und Neues aus ihnen hervorbringen -indem er sie deutet von ihren ersten Anfngen bis zu ihrenuersten und letzten Folgen im weitesten Sinne.

    Wie verbinde ich Balken und Steine so, da sie Mich, dieMeinigen, das Meinige gegen die Natur schtzen, von der Naturabschlieen, da sie eine Gestalt bilden, einen Wohnort, einHaus? Aber darber hinaus : was bedeutet ein Haus, ein Heim,das eine Familie, das Leben einer Familie, den Besitz einerFamilie umschliet von den Vtern bis zu den Enkeln? Undwiederum und noch einmal darber hinaus : was bedeutet jenesHaus im weiteren Sinne dort, wo es sich widerspiegelt inHeimen anderer Art: im Heime des Gottes, im Heim der Toten,im Tempel, 'im

    Grab? Oder will man die Vereinzelung wasbedeutet die Schwalbe, die unter dem Dach 'des Hauses nistet,was der Storch, der auf dem First wohnt, was geben sie, wasbringen sie den Bewohnern? Oder was sagen uns Rose, Myrteund Lilie im Garten?

    Durch die deutende Arbeit des Priesters wird die Arbeitberhaupt erst vollstndig, wird sie ganze Arbeit. Wir habenfr die Begriffe ,,vollstndig" oder ganz" im Althochdeutschen

  • 14 EINFHRUNG

    ein Wort, das im Mittelhochdeutschen seine Bedeutung etwasgendert hat und nur im Niederdeutschen und im Nieder

    -lndischen noch so gebraucht wird, das Wort hei 1. Besserals durch dieses hei 1 lt sich die Arbeit des Priesters nichtbezeichnen denn damit ist zugleich seine weitere Ttigkeitangegeben. Indem er die Welt deutet, macht er sie heil, dasheit vollstndig, ganz, gesund, sanus. Aber indem er sie heilmacht, tritt er vermittelnd von der Arbeitsgemeinschaft in eineandere ber : er macht sie nicht nur heil, er macht sie h e i 1 i g.Alles was Bestand haben soll, mu in seinen Anfngen heiliggedeutet werden. Heilig ist der erste Tag des neuen Jahres,heilig der erste Schultag. Heilig, ist die erste Furche, die derPflug durch dland zieht wie heil, heilig und heilen, sohngen colere, cultus und Kultur zusammen. Diese erste Furchebedeutet alle nachfolgenden in ihrer Gesamtheit, sie bedeutetdie knftige Ernte, sie bedeutet die Fruchtbarkeit im Erzeugten.Wenn das Haus geschaffen werden soll, wird der Grundsteingelegt; diese Handlung bedeutet und heiligt alle folgendenHandlungen, dieser Grundstein fat die ganze Bedeutung desHauses in sich zusammen. So wie er gelegt ist, sollen dieanderen gelegt werden, so wie er fest ist, sollen die anderenfest sein, auf ihm ruht das Haus und alles was im Hause ge-schieht von der Ruhe der Bewohner bis zu der bei dem Familien-vater beruhenden Autoritt. Alles was Verordnung ist, liegt indiesem Stein. Feierlich mit Festen oder mit Fasten werdensolche Handlungen begangen, und wiederum wird damit ihreeinstmalige Ganzheit bekundet und ' werden sie bis in ihre Ver

    -vollstndigung gedeutet. Alles was in der Kultur ttig odergegenstndlich ist, alles was in ihr Gestalt annimmt oder Formergreift, mu, um heil zu werden, durch Deutung geheiligt seinund kann von dieser Deutung aus jeden Augenblick von neuemheilig werden; jede Kulturhandlung ist letzten Endes Kult-handlung, jeder Kulturgegenstand Kuitgegenstand.

    Es ist klar aber ich mu es, da heutzutage Wissen-schaften einander falsch zu verstehen pflegen, noch einmalwiederholen

    , wir treiben hier keine Kulturgeschichte imSinne von Entwicklungsgeschichte. Wir drfen nicht sagen:erst hat der Mensch erzeugt, danach geschaffen, endlich ge-

  • EINFHRUNG 15deutet. Es wre sinnlos, zu suchen, ob irgendwo in einer ver-stohlenen Erdecke ein Volk beim Erzeugen stehengeblieben ist,in seiner Buerlichkeit beharrt hat. So etwas gibt es nicht,kann es nicht geben. Da die Entwicklung der menschlichenWirtschaft verschiedene Stufen durchluft, ist mir nicht un

    -bekannt hier aber gilt es, die Arbeit zwar in ihren Einzel-formen zu sehen, aber sie in ihrer Gesamtheit zu verstehen

    und in diesem Sinne gibt es nichts, was der Mensch sich er-arbeitet hat, worin wir ihn nicht als Bauer, als Handwerker,als Priester erkennen.

    Es war auch ntig dies noch einmal zu sagen, nun wirdie Kreise dieser drei noch einmal untereinander vergleichenwollen. Sie sind konzentrisch, jedesmal erweitert sich ihre Peri-pherie. Wir sahen schon, da der Handwerker in greremUmfange schafft als in den Erzeugnissen des Bauern gegebenwar. Er hat nicht nur aus dem auf dem Acker gewachsenenGetreide Brot gemacht, er hat weit ber das Erzeugte hinausalles, was ihm auch in der nicht erzeugten Natur erreichbar undbrauchbar schien, in seine Arbeit einbezogen. Und wiederumvergrert sich der Kreis bei dem Priester : er begngt sichkeineswegs damit, das Erzeugte und das Geschaffene zu deuten,sondern seine Deutungsarbeit erstreckt sich auch auf alles wasnicht erzeugt und nicht geschaffen ist oder werden kann, erdeutet Sonne, Mond und Sterne seine Deutungen gehen berdas Sichtbare und Fabare hinaus zum Unsichtbaren und Un-fabaren.

    So sehen wir denn unsere drei Figuren vor uns so sehenwir sie in ihrer rumlichen Begrenzung, in ihrer rumlichen Be-wegung. Der Bauer gehrt zur Scholle, befindet sich in derLandschaft verlt er sie, so hrt er auf Bauer zu sein;der Handwerker durchstreift als Handwerksbursche die Welt,und dann lt er sich dort nieder, wo die Landschaft aufhrt,wo alles umgeordnet, alles der Natur entzogen ist und wo dienatrlichen Vorgnge im Leben verndert sind er zieht indie Siedlung, in die Stadt. Der Bauer bleibt in gewissem Sinneeinsam mit seiner Familie tut er sich mit anderen zusammen,so ist es meist aus handwerklichen Grnden; der Handwerkervereinigt sich mit anderen Handwerkern zur Zunft, zur Gewerk-

  • 16 EINFT IIRUNG

    schaft. Der Priester endlich ist zugleich standhaft und beweg-lich er durchstreift die Welt nicht, sondern er sucht sicheinen Punkt, von dem aus er sie berschauen kann er ist ein-sam, insoweit er sich nicht mit seinesgleichen zusammentut,aber er bildet zugleich Mittelpunkt einer Menge, einer Ge-meinde, die sich um ihn sammelt. Und in den drei AusdrckenFamilie, Zunft, Gemeinde sehen wir noch einmal unsere Figurendeutlich und bedeutsam vor uns.

    Die ganze Arbeit, die sich in Bauer, Handwerker undPriester vollzieht, vollzieht sich nun in der Sprache nocheinmal.

    Alles, was Bauer, Handwerker, Priester bisher an Arbeitgeleistet haben, gehrt zum Leben, zergeht mit dem Leben, er-neuert sich im Leben oder hat nur mit dem Leben Bestand.Durch die Arbeit der Sprache aber bekommt es in der Spracheselbst eine neue Bestndigkeit.

    In doppelter Weise : Erstens wird alles Erzeugte, Ge-schaffene, Gedeutete von der Sprache benannt. Zweitens aber

    und hier greifen wir tiefer ist Sprache selbst ein Er-zeugendes, Schaffendes, Deutendes, etwas, worin sich An-ordnung, Umordnung, Verordnung eigenst ereignen.

    Was B e n e n n e n heit, wie es eine Luft" gibt, die allesumfngt, alles durchdringt, in der alles eingebettet liegt; wieder Mensch diese Luft einatmet und mit ihr alles einatmet, wassie umgibt, wie beim Ausatmen der Atem tnend geworden ist,und wie diese Tne die Namen der Dinge enthalten, hat Ipsenin seiner Erluterung" zu den Schallanalytischen Versuchen"(Heidelberg 1928) gezeigt.

    In ihrer benennenden Arbeit ist die Sprache so unentwegtwie das Ein- und Ausgehen des Atems, so allgegenwrtig wiedie Luft" von der wir redeten.

    Jedoch: nomen est omen! Aus der Sprache geht etwas

    hervor, sie ist ein Samen, der aufgehen kann, und als solcherist sie e r z e u g e n d. Wir wissen das und spren es ganz be-sonders nach der naiven und instinktiven Seite hin in Augen-blicken, wo wir uns frchten, durch das Wort etwas Un-erwnschtes erzeugt zu haben. Unberufen" oder Unbe-

  • EINFI`HRUNG 17

    schrien" pflegen wir zu sagen und versuchen durch irgendeineHandlung die erzeugende Kraft des Wortes zu hemmen. Wirnennen es Aberglauben, aber wir mssen uns darber klar sein,da in diesem sogenannten Aberglauben ein Wissen davonsteckt, da ein Wort in Erfllung gehen kann. Wenn wir dieBedeutungsgeschichte von Worten wie loben, geloben, glauben,erlauben und allen jenen, die aus der Basis * leubh abgeleitetwerden knnen, untersuchen, so werden wir berall spren, wiesie auf die Mglichkeit hinweisen, durch Sprache sich etwaszu eigen zu machen oder zu erzeugen. V e r sprechen ist nochviel mehr als die bindende Kundgebung einer Absicht. Es be-deutet : so sprechen, da etwas zustande kommt so wie man ingewissen Teilen Deutschlands einen Geist versprechen, herauf

    -beschwren kann. Genau so lassen sich durch die SpracheFeuer und Wasser binden, wenn

    man sie bespricht. )4yos ae,, yezo wir wissen, wie ein Wort Fleisch werden undunter uns wohnen kann. Was man mit einem vom Positivismusbel verstandenen und noch bler mibrauchten AusdruckMagie zu nennen gewohnt war darunter haben wir an dieserStelle die erzeugende Arbeit der Sprache, die Sprache als Er-zeugerin zu verstehen. Und wiederum ist hier Erzeugen eineAnordnung , die den natrlichen Lauf der Dinge nicht be-hindert, aber sie in das Leben des Menschen eingehen lt undaufnimmt.

    Wie nun die Sprache erzeugt, so s c h a f f t sie auch ; wieein Wort in Erfllung gehen kann, so kann es u m o r d n e n dNeues hervorbringen. Sprache schafft Gestalt, indem Sprachewir bentzen das Wort in der eigentlichen Bedeutungd i c h t e t. Was die Sprache geschaffen hat, steht ebenso festda wie das, was im Bereiche des Lebens der Handwerker schuf.Wir kennen Odysseus, Don Quijote, Herrn Pickwick, wir kennendiese Gestalten der Sprache besser als viele Menschen unsererpersnlichen Umgebung. Der Pakt, den Faust mit dem Teufelabgeschlossen hat, ist von bekannten Juristen juristisch ge-prft und auf seine Gltigkeit hin untersucht worden. DiesePersonen und Tatsachen mgen wieder zu sehr an bestimmteDichter erinnern, als da man ganz zugeben wrde, da sievon der Sprache geschaffen wurden. Dann nenne ich Serenissi-

    J o l l e s, Einfache Formen 2

  • 18 EINFHRUNG

    mus, der mit keiner Dichterfigur in Verbindung gebracht wird,und ich weise hin auf die Ereignisse beim Rathausbau derSchildbrger, die wohl manchen gegenwrtiger sind als selbstpolitisches Tagesgeschehen.

    Da, wo Sprache dichtet, pflegen wir zu sagen, da Littera-tur entsteht. Damit haben wir einen bergang gefunden, denwir anfangs suchten. Und wir wissen, da Sprache als um-ordnende Arbeit hier unmittelbar zur Litteratur fhrt, auchwenn diese Litteratur nicht von einem bestimmten Dichterstammt oder in einem bestimmten Kunstwerk festgelegt ist.Und dann sehen wir zugleich, wie durch die Sprache oder durchdie Litteratur etwas ergriffen, verndert und erneuert wird,was um ein khnes Wort zu gebrauchen in der Natur ge-geben war.

    Ein lebender Mensch, der in seiner Zeit weithin sichtbarist, ist im Grunde in doppelter Weise vorhanden. Wir kenneneinen Mussolini aus Berichten, Erzhlungen, Anekdoten -aber wir wissen nicht, inwieweit er sich mit dem wirklichen"Mussolini, dem Mussolini in natura, deckt. Dieser zweite ver-hlt sich zu dem litterarischen Mussolini wie das Getreide zumBrot, er ist von der Sprache zerstoen, zermahlen, aufgeweicht,erhitzt er ist gedichtet, geschaffen. Er sehnt sich danach,gedeutet zu werden, denn nur durch Deutung lt sich das Ver-hltnis von Mussolini I zu Mussolini II feststellen.

    Und so sind wir zu der dritten Arbeit der Sprache ge-kommen. Wir haben, entsprechend dem Zeugen und Schaffenvom Erfllen und Dichten der Sprache gesprochen. In diesemdritten Fall, dem der deutenden Arbeit der Sprache, gebrauchenwir die Worte Erkennen und Denken.

    Irgendeine Vielheit von Erscheinungen liegt dem Menschenvor, er entdeckt hnlichkeiten, er sucht in ihnen eine Gemein-samkeit zu erkennen. Nehmen wir ein Beispiel, indem wirauf die Untersuchungen von Porzig (BedeutungsgeschichtlicheStudien. Indogermanische Forschungen, Bd. 10, 2) und Ipsen(Besinnung der Sprachwissenschaft. Indogermanisches Jahr-buch, Bd. 11) hinweisen.

    Der Mensch beachtet die Phasen eines H i m m e 1 s -k r p e r s, der, von schmaler Sichel zur Scheibe sich rundend,

  • EINFHRUNG 19

    ihm die Erfllung einer Form zeigt, und die Erfllung zur Formwird ihm Mastab bei der Beobachtung, wie auch die Zeit sicherfllt. Er trgt in sich ein G e f h 1, das nach Vollendungdrngt, und ein Streben , Gedankliches zur Form abzu-runden. Zugleich erkennt er, wie er selbst als Lebewesenwiederum im Laufe dieses Lebens seine Krfte entfaltet. Aberwie, von wo aus soll er das Gemeinsame in diesen Verschieden-heiten, die ihm eine Welt der Entfaltung und Erfllung be-deuten, einheitlich fassen? Hier setzt die Sprache ein; deutendbegreift sie alles dieses in einem Zeichen; und dieses Zeichen,beweglich wie die Erscheinungen und dennoch die ganze Zu-sammengehrigkeit der Erscheinungen in sich enthaltend, wirdnun der verordnende Mittelpunkt, von dem jene Erfllung aus-geht und zu dem sie zurckkehrt. Wir nennen ein solchesZeichen eine Wurzel.

    Wurzel ist ein Wort, das wir werden es spter sehenauf eine bestimmte Geisteshaltung hinweist, aber das der

    zentralen Lagerung des Zeichens zu wenig gerecht wird.Immerhin, wir wollen die Terminologie nicht abndern, wo esnicht unbedingt ntig ist; jedenfalls beweist uns W u r z e 1,wie tief in der Sprache die deutende Ttigkeit liegt.

    Die unserem Beispiel zugrunde liegende Wurzel heit --wir befinden uns hier im Kreise des indogermanischen Er-kennens und Denkens * men. Und von dieser Verordnungaus mu der Himmelskrper m o n d , der abgeleitete Zeit-abschnitt m o n a t , das Gefhl minne, das gedanklicheStreben meinen , das Lebewesen mann oder m e n s c hheien. Wollten wir andere indogermanische Sprachen heran-ziehen, so wrden wir anzufangen mit dem lateinischenmens oder dem griechischen aivo^uat, yvzts undM a e n a d e noch viel mehr finden.

    Wir wrden dann auch sehen, wie dieses * men nicht nurals Stamm bildet, sondern wie es auch Weiterstehendes formalergreift und in seinen Kreis zwingt, wie es als Formans sehrVerschiedenes, sowohl Natrliches wie Gerte, deutet: als Dinge,die durch Formung mit Kraft erfllt werden, so daum nur ein einziges Beispiel zu nennen .. das lateinisches e m e n, das etymologisch den soeben erwhnten Worten fern

  • 20 E.NFUHRUNG

    steht, nun durch die Endung mit zu den Sachen gedeutet wird,die, wie der Mond, sich runden und, indem sie vollwerden, ihreKraft entfalten.

    Ich erinnere an den Grundstein, in dem jede Handlung desBauens, aber auch alles, was dem Menschen Haus heit, ver

    -ordnet ist und vorliegt, und wir werden verstehen, wie von demaus, was wir Wurzel genannt haben, die Sprache sowohlstrahlenfrmig Gleichartiges andeutet als auch das, was sichin anderer Weise zeigt, wie Figuren auf dem Schachbrett undTruppen in einem Schlachtgelnde in ein Feld eindeutet.

  • IV.Vielleicht erscheint manchem das Bild der Welt, die er

    -zeugend, schaffend, deutend aufgebaut wird, in der sich Bauer,Handwerker und Priester befinden und in der die Sprache derenArbeit noch einmal leistet, zu sehr als eine Welt von Arbeits-produkten, eine Welt von besten ckern, gemahlenem Ge-'treide, gebackenem Brot, gebauten Husern, gelegten Grund-steinen, kurz als eine Welt von Gegenstnden, als eine Weltder Einzelheiten.

    Wenn das so ist, so brauchen wir nur einen Augenblicknachzudenken, um einzusehen, da die Welt dem Menschen imallgemeinen nicht ' so vorkommt. Sie ist ihm, als Ganzes ge-nommen, in ihrer verschwimmenden Verschiedenheit, in ihremGetmmel, in ihrer Brandung, vielmehr eine Wildnis und einWirrsal. Um die Welt zu verstehen, mu er sich in sie ver-tiefen, mu er die endlose Zahl ihrer Erscheinungen in irgend-einer Weise verringern, mu er sondernd in sie eingreifen.Mensch und Welt erinnern an das Mdchen im Mrchen, dasvor einen wsten Haufen von Samen aller Art gestellt wird undnun die Aufgabe bekommt, sie in einer Nacht richtig zu sichten.Wir kennen den Verlauf dieser Geschichte : freundliche Vgeloder Kerbtiere kommen zu Hilfe. Die Arbeit geht an und indemaus dem unerkennbaren Haufen erkennbare Huflein werden,kommt auch das, was sich auf diesen Huflein befindet, zuseinem Recht und zur Geltung. Was nur verwirrter Teil einergroen Verwirrung war, bekommt, wo Gleiches sich zu Gleichemgesellt, erst seine Eigenheit, wird es selbst. Wenn der Zaubererbei Sonnenaufgang erscheint, ist das Chaos Kosmos geworden.

    Der Mensch greift ein in das Wirrsal der Welt; vertiefend,verringernd, vereinigend fat er das Zusammengehrige zu-sammen, trennt, teilt, zerlegt und sammelt auf die Huflein dasWesentliche. Die Unterschiede verbreitern sich, das Viel-

    2

  • 22 EINFHRUNG

    deutige wird ausgeschieden oder es wird zur Eindeutigkeit be-stimmt und zurckgebracht. Auslegend und einengend dringter zu den Grundformen durch.

    Indessen, was hier geschieht, ist wie wir spter sehenwerden kein Mrchen. Das, was in dem Wirrsal der Weltgehuft liegt, besitzt nicht in dem Sinne wie die verschiedenenSamen, eine Erbse oder eine Bohne, schon von vornherein eigeneForm, sondern, was hier unterscheidend geschieden wird, ' nimmterst, whrend es in der Zerlegung sich zusammenfindet, eigeneForm an. Und gerade dieser Vorgang ist es, den wir zu beob-achten haben. Gleiches gesellt sich zu Gleichem, aber es bildethier keinen Haufen von Einzelheiten, sondern eine Mannigfaltig-keit, deren Teile ineinander eindringen, sich vereinigen, ver-innigen, und so eine Gestalt, eine Fo r m ergeben eine Form,die als solche gegenstndlich erfat werden kann, die, wie wirsagen, eigene Gltigkeit , eigene Bndigkeit besitzt.

    Wo nun die Sprache bei der Bildung einer solchenF o r m beteiligt ist, wo sie anordnend, umordnend in eine solcheForm eingreift, sie von sich aus noch einmal gestaltet daknnen wir von litterarischen Formen sprechen.

  • LEGENDE

    I.Ich habe als erste von diesen Formen die L e g e n d e ge-

    whlt, weil sie in einem bestimmten Abschnitt der abend-lndischen Kultur als abgeschlossenes Ganzes vor uns liegt;ich meine die christliche Legende, wie sie sich in der katho-lischen Kirche seit den ersten nachchristlichen Jahrhundertenherausgebildet und bis heute erhalten hat. An dieser Stellebeobachten wir sie zwar nicht in ihrer umfassendsten Gestalt-mglichkeit, ihrer grten Verallgemeinerung, dafr aber ineiner vollkommen ausgeprgten Besonderung.

    Es ist ein Vorteil, wenn wir eine Form an einer Stellegreifen knnen, an der sie wirklich zu sich gekommen, wirk-lich sie selbst ist, das heit in unserem Fall, wenn wir dieLegende in dem Kreise und in der Zeit untersuchen, wo sie miteiner gewissen Ausschlielichkeit gelesen wurde, wo ihre Geltungnicht hinwegzudenken ist, wo sie eine der Himmelsrichtungenist, in die man sah, ja vielleicht sogar die einzige, nach derman sich bewegen konnte.

    Freilich hat dieser Vorteil auch seine Gefahr; wir drfennicht so ohne weiteres die mittelalterliche Legende als Para-digma hinnehmen und mssen uns hten, das Bild, das wir vonihr gewinnen, allzuschnell begrifflich so auszuwerten, da wirmeinten, wir htten die Legende damit in ihrer Gesamtmglich

    -keit umrissen. Vergleichen wird schwer, wenn wir uns miteiner besonderen Erscheinung zu sehr identifiziert haben. Aller

    -dings ist die Gefahr in diesem Falle nicht allzu gro, dennvieles in unserem eigenen und heutigen Leben trennt uns vonder katholischen Legende und wir sehen sie gerade von unsaus in einer gewissen Entfernung.

  • 24 LEGENDE

    Wir betrachten die Welt der mittelalterlichen Legende zu-nchst oberflchlich, wie sie uns quellenmig fabar ist.

    Zusammenfassungen von Geschichten mit den Zeugnissenber Leben und Taten der Heiligen liegen uns in kleinerenund greren Sammlungen seit den ersten Jahrhunderten desChristentums vor. Acta Martyrum oder Acta Sanctorum findenwir das ganze Mittelalter hindurch und nicht nur als Bcher,die man gelesen hat, sondern auch in starker Wirksamkeit aufbildende Kunst und Litteratur. Da ist als ganz besonders ma

    -gebend die Legendae sanctorum oder Legenda aurea hiertreffen wir das Wort Legende zum ersten Mal des BischofsJacobus von Varazzo zu nennen, die um die Mitte des 13. Jahr-hunderts zusammengestellt wurde und jahrhundertelang einerbesonderen Art kunstgemer Ausformung der Legende dieWege gewiesen, sowie einen starken Einflu auf die italienischeNovelle ausgebt hat.

    Die eigentliche groe Sammlung der Viten aller von derkatholischen Kirche anerkannten Heiligen beginnt in einer Zeit,die auch sonst noch fr die Begriffsbestimmung der Heiligenvon Wichtigkeit 'ist, im 17. Jahrhundert. Sie wurde angefangenvon einem Jesuiten, Pater Heribertus Rosweidus aus Flandern,und nach seinem Tode fortgesetzt von einem Ordensgenossen,dessen Namen sie trgt, von Johannes Bollandus. Wir nennen sieim allgemeinen Acta Sanctorum oder die Bollandisten. Das Werkist auch heute noch nicht vollendet. Im strengen Sinne kannes auch nicht vollendet werden,denn die Zahl der Heiligen istkeineswegs historisch beschrnkt : es knnen sozusagen jedenTag neue hinzukommen, und sie kommen hinzu. Da die Ver

    -ehrung der Heiligen mit dem Tagesritus der katholischen Kirchezusammenhngt, sind die Viten und Acta nach den Tagen deschristlichen Jahres geordnet. Die beiden von Bollandus be-arbeiteten Bnde fr Januar sind 1643 erschienen. 1902 wardie Originalausgabe bis auf 63 Bnde gediehen. Seitdem sindnoch mehrere hinzugekommen; das ganze Unternehmen wirdjetzt von einer Kommission ausgefhrt,

    die auch seit 1882 eineZeitschrift, die Analecta Bollandiana, herausgibt. Im ganzenenthlt die Sammlung schtzungsweise 25 000 Heiligenleben;dabei ist zu bercksichtigen, da in zahlreichen Fllen mehrere

  • LEGENDE 25

    Viten desselben Heiligen berliefert sind, die smtlich von denBollandisten ediert werden.

    Damit haben wir gengend Material beisammen nach-dem zuerst das Mittelalter, das, sagen wir vorlufig, den Hei-ligen und seine Legende als Weltanschauung in sich trug, seineViten gesammelt hatte und danach eine beginnende wissen-schaftliche Besinnung es unternahm, ihn in seinem ganzen Um-fang und seiner Vielfltigkeit, natrlich immer noch innerhalbder Kirche, zu kompilieren.

    Hei t i g e r und heilig liegen hier in einer Sonderweltvor; von diesem Bereich her ist diesen Worten eine Bedeutunggegeben, die abgeschlossener ist als jene, die wir gewhnlichmit ihnen verbinden, abgeschlossener auch als die Bedeutung,in der wir heil und heilig in unserer Einfhrung erwhnt haben.

  • II.Was ist der Heilige, was sind die Heiligen, deren Leben

    in den genannten Quellen in einer bestimmten Weise dargestelltist? Obwohl sie als Personen fr sich allein genommen werdenknnen, auf sich selbst stehen, bilden sie zusammen eine Ge-meinschaft kraft einer inneren Zusammengehrigkeit, zudemaber auch dadurch, da sie in ihrer Gesamtheit das Kirchenjahrvertreten.

    Der Heilige ist also an die Institution Kirche gebunden;und so verwandelt sich die Frage : was ist der Heilige ?, weilsie nur von dieser Bindung aus zu beantworten ist, in eineweitere, tieferstoende, die methodisch erste : wie wird manein Heiliger? Damit ist die Frage gestellt nicht von der Personsondern von der Institution aus, durch die der Heilige aner-kannt wird.

    Diese Anerkennung vollzieht sich in einer historisch ge-wordenen und festgelegten Form, der Form der Heiligsprechung(canonisatio), die von dem Papst Urban VIII. (1623 1637,der Entstehungszeit der Acta Sanctorum) endgltig geregeltworden ist.

    Canonisatio heit declaratio pro sancto eines Seligen"(beatus) ; canonisare heit : in das Verzeichnis (canon) derHeiligen eintragen" und dem Heiligen den ihm gebhrendenKultus zuerkennen, wozu auch die Erwhnung in dem Gebetegehrt, das der Priester im Mekanon bei der Konsekrationder Elemente des heiligen Abendmahls zu sprechen hat.

    Betrachten wir das Verfahren der Heiligsprechung, wiees seit Urban VIII. blich ist.

    Es geschieht durch die congregatio rituum, in der einigeKardinle und andere Wrdentrger der Kirche Sitz haben, undwird erffnet auf Veranlassung irgendwelcher Menschen, dievon der Heiligkeit der betreffenden Person berzeugt sind,

  • LEGENDE 27

    meist vermittelt durch die Ortsgeistlichkeit. In der Regel sollzwischen dem Tode des designierten Heiligen und der Erffnungdes Verfahrens eine lngere Zeit (50 Jahre) liegen. Das Ver

    -fahren selbst hat die Form eines Prozesses und zwar eines Pro-zesses in Instanzen. Es mu zunchst und zwar durch Zeugenerwiesen werden, da der Betreffende, der, sobald das Ver

    -fahren erffnet ist, servus Dei heit, erstens heroische Tugen-den bewhrt und zweitens Wunder getan hat. Die Unter-suchung findet zuerst durch den Bischof des Ortes, an dem derservus Dei gelebt hat, statt und wird danach von der Congre-gatio rituum geprft. Ist diese Prfung bestanden, so kann zurSeligsprechung (beatificatio) geschritten werden.

    Nach vollzogener beatificatio rckt die Angelegenheit voreine hhere Instanz es mssen aber, damit dies mglich ist,neue Wunder geschehen. Sie werden von neuem geprft,erneut wird das Verfahren eingeleitet, Zeugen werden ver-nommen, Gegengrnde vorgebracht, bis schlielich, wenn dasalles durchgefhrt ist, der Papst ex cathedra den beatus frsanctus erklrt: decernimus et definimus N. sanctum esse etsanctorum catalogo adscribendum ipsumque catalogo hujusmodiadscribimus statuentes ut ab universali ecclesia . . . festumipsius et officium devote et solenniter celebretur."

    Hinzuzufgen ist noch, da die der prozessualen Unter-suchung unterworfenen Tugenden des beatus die theo-logischen: spes, fides, caritas und die moralischen: justitia,prudentia, fortitudo, temperantia scholastischer Systematikund scholastischer Begriffgebung entsprechen. Auch der Be-griff Wunder, der zweite zu behandelnde Hauptpunkt, gilt ge-m der scholastischen Definition : illa, quae a Deo fiuntpraeter causas nobis notas miracula dicuntur."

    Es wird in den Abhandlungen, die die beatificatio und diecanonisatio besprechen, ausdrcklich auf die P r o z e f o r mdes Verfahrens hingewiesen. Die Grnde der Seligsprechungund der Heiligsprechung, heit es, mssen ebenso streng be-handelt werden wie in einem Kriminalverfahren, die Tatsachenebenso genau bewiesen wie bei der Bestrafung eines Ver

    -brechens. Auch det Staatsanwalt ist bei der Congregatio rituum

  • 28 LEGENDE

    vertreten, er heit zwar nicht offiziell aber doch allgemein --advocatus diaboli.

    So verhlt es sich mit der Schaffung, der Anerkennungeines Heiligen seit Urban VIII. Gab es aber vorher keine Hei

    -ligen? Im Gegenteil: was im 17. Jahrhundert unter Einflu derGegenreformation, des Tridentinums, des Jesuitenordens ge

    -schieht, ist nur eine letzte, feste und vielleicht uerlicheRegelung eines Vorgangs, der sich in der christlichen Kirchebis zur Reformation von innen heraus und von selbst vollzogenhat. Die scharfe, juristisch angelegte Prozeform ist der Ab

    -schlu eines Kulturprozesses. Was eine geistliche Behrdehier kraft ihres Amtes dekretiert, ist die Formel einer Form,und diese Formel ist so gefat, da wir in ihr die Form nocherkennen und sie aus ihr ableiten knnen.

    Zunchst knnen wir wieder uerliches aus ihr ableiten.

  • III.In einem kleinen, rtlich begrenzten Kreise lebt ein Mensch,

    der seinen Mitmenschen durch seine besondere Art auffllt.Seine Lebenshaltung, seine Lebensweise sind anders als dieder andern; er ist tugendhafter als andere Menschen, aber seineTugend ist nicht nur quantitativ, sondern qualitativ von jenerder anderen verschieden. Wie das gemeint ist, erhellt aus derTatsache, da die Wrdigung eines Heiligen aus der Proze-form heraus und durch sie geschieht, und wir fangen schon hieran, die Bedeutung der Prozeform, den Vergleich mit demStrafrecht, zu verstehen.

    Ein Mensch kann sehr viel bser sein als sein Nachbar, unddennoch bietet sich dem Strafrecht nicht der geringste Anla,sich mit diesem Menschen und seiner Bsheit" zu beschftigen.Erst wenn diese seine o**sheit" sich in einer bestimmten Hand-lung zeigt, sich in eine Tat umsetzt, sagen wir t t i g w i r d,dann erst wird er durch diese Handlung und in dieser Handlungstrafbar : wir nennen diese Handlung V e r b r e c h e n und de-finieren im weiteren Sinne Verbrechen als : strafbares Unrecht.Im Verbrechen unterscheidet sich der Verbrecher q u a 1 i -t a t i v von den anderen Bsen. Das Verbrechen ist es, wasbestraft wird, und wenn wir den Verbrecher bestrafen, so ge

    -schieht das, weil unsere Justiz ihn als Individuum mit seinemcrimen identifiziert.

    Der Strafproze hat demzufolge nicht zu untersuchen, obder Angeklagte bse ist, sondern ob ein Verbrechen, ein crimen,vorliegt.

    Kehren wir nun die Sache um, dann haben wir den Kanoni-sationsproze. Nur stoen wir hier auf die Schwierigkeit, dawir ein Wort, da das Gegenteil von Verbrechen ausdrckt,nicht besitzen und da wir auch die Definition st r a f b a r e sU n r e c h t nicht in ihr Gegenteil verwandeln knnen. Wir

  • 30 LEGENDE

    mssen uns hier mit dem Ausdruck t t i g e Tu g e n d oderaktivierte Tugend begngen. Und wir definieren dieHaltung des eingangs geschilderten Menschen, dessen Tugendsich qualitativ von der seiner Mitmenschen unterscheidet als:ttige Tugend.

    Nun gibt es aber in unserem Strafgesetz eine grundlegendeBestimmung nulluur crimen sine lege" : das geschriebene Ge-setz ist die Norm der zu bestrafenden Handlung, so wie in derFortsetzung nulla poena sine lege" das Gesetz Norm der Be-strafung wird. Eine solche Lex kann es in der geistlichen Um-kehrung ebenfalls nicht geben, und so mu hier eine andereNorm gesucht werden. Das geschieht in doppelter Weise:

    Der Kanonisationsproze sttzt sich erstens vergleichbardem Strafproze auf Zeugen. Whrend aber im Strafprozedie Zeugen sich nur ber Sachverhalte zu uern haben unddie Feststellung des Verbrechens dem Richterkollegium --wie dieses nun auch zusammengestellt sein mag vorbehaltenbleibt, haben im Kanonisationsproze die Zeugen, die ingewissem Sinne zugleich Sachverstndige sind, auch darberauszusagen, inwieweit nach ihrer berzeugung bei dem servusDei ttige Tugend vorliegt.

    Dazu kommt zweitens und das ist viel wichtigereine hhere Norm. Die Tugend in ihrer ttigen Eigenheit wirdvon oben herab besttigt sie wird besttigt durch dasWunder, durch das quod a deo fit praeter causas nobisnotas". Und wiederum sind es Zeugen, die nicht nur ber denSachverhalt auszusagen haben, sondern die ihre berzeugungkund tun mssen, da hier wirklich Wunder geschehen sind.Die letzte Entscheidung, ob Wunderkraft, ob Heiligkeit vor

    -liegt, steht dann allerdings wieder den geistlichen Richtern zu.Damit haben wir den Proze des Heiligen in seinem ersten

    Abschnitt verfolgt: bis zur B e a t if i k a t i o n. Wie wir schongesagt haben, mssen eine ganze Anzahl Jahre vom Tode desservus Dei bis zu seiner Beatifikation, erst recht aber bis zudem Termin verstrichen sein, an dem der Proze des beatus voneiner zweiten Instanz als Kanonisationsproze wieder auf

    -genommen wird. Auch in dieser Zeit mu sich unabhngig von

  • LEGENDE 31

    dem beatus als Individuum die gttliche Besttigung noch ein-mal offensichtlich, im Wunder, wiederholen.

    Wie und wo geschehen diese p o s t h u m e n Wunder, berdie auch dieses Mal Zeugen aus der nchsten Umgebung desbeatus zu berichten haben? An seinem Grabe, an dem Orte,wo er gewohnt hat, durch Kleider, die er getragen, durch Gegen-stnde, die er berhrt oder die ihn berhrt hatten, durch seinBlut, durch Teile seines Krpers.

    Und was bedeuten sie? Es ist einmal mit einer gewissenNaivitt gesagt worden, ein echt katholisches Volk hlt nochmehr auf tote als auf lebendige Heilige". Manche Erzhlungaus dem Mittelalter besttigt diesen Satz. Wir lesen beiPetrus Damianus in seiner Vita des heiligen Romuald, da dieBewohner Kataloniens den dort weilenden Italiener, den sieschon zu seinen Lebzeiten als Heiligen betrachteten, zu ver-anlassen suchten, in ihrem Lande zu bleiben, und als das nichtgelang, Mrder ausschickten, ihn zu tten, damit sie den, densie lebend nicht zurckhalten konnten, wenigstens als Leichebei sich behielten: pro patrocinio terrae". Aus dieser undhnlichen Geschichten geht die Bedeutung des posthumen Wun-ders hervor.

    Die ttige Tugend mu sich vollenden, sie ist nicht nurlosgelst vom lebendigen Menschen, sondern losgelst vomLeben berhaupt denkbar; erst wenn sie nach dem Tode desMenschen selbstndig geworden ist, steht sie auch wirklich aufsich selbst, gelangt sie zu ihrer vlligen Eigenkraft. Die ttigeTugend hat sich vergegenstndlicht.

    Unser Strafgesetz kennt eine Verjhrungsfrist : nach einerbestimmten Zeit kann der Verbrecher fr das Verbrechen nichtmehr bestraft werden, das Verbrechen ist gelscht an dieserStelle zeigt sich erneut, wie unsere Strafgesetzgebung letztenEndes davon ausgeht, Verbrechen und Verbrecher zu identi-fizieren. Es hat aber andere Zeiten gegeben, da man die Leichedes Mrders, der zeitlebens seiner Strafe entronnen war, aus

    -grub und sie an den Galgen hing, auf das Rad flocht wo dasVerbrechen fortlebte und bestraft werden konnte und mute,selbst wenn der Verbrecher nicht mehr unter den Lebendenweilte. So haben wir uns die Tugend des Heiligen nach seinem

  • 32 LEGENDE

    Tode vorzustellen. Sie besteht, sie lebt nun erst recht, sie wirderst recht besttigt, nicht im Individuum, sondern an sich. DerVerjhrungsfrist unseres Strafgesetzbuches knnen wir dieVe

    r e w i g u n g s f r i s t des Kanonisationsprozesses gegenber-stellen.

    Nach der Besttigungsfrist, in der die ttige Tugend be-gann ihr Eigenleben anzutreten und whrend der der servusDei und eben diese seine ttige Tugend voneinander getrenntwaren, wird sie bei einer neuen Instanz in einer anderen Weisean ihren ehedem persnlichen Trger wieder angeschlossen.Diese Wiedervereinigung meint der Kanonisationsproze, meintdie Heiligsprechung. Der servus Dei ist venerabilis, istbeatus geworden, er befindet sich im Jenseits unter den Seligen.Dorthin kehrt seine Tugend, die sich verselbstndigt, vergegen-stndlicht hat, zu ihm zurck. Beatus und ttige Tugend er-fahren eine neue Prgung : Er wird Sanctus und sein Fest undsein Kultus sollen in der ganzen Kirche devote et solenniter"gefeiert werden, er hat seine himmlische Persnlichkeit er-halten. Was aber seine Tu g e n d war, ist, nachdem er wiedermit ihr vereint wurde, seine M a c h t. Ich erinnere daran, dav i r t u s , was schon bei den Rmern in besonderer WeiseTu g e n d und K r a f t oder M a c h t heit, im mittelalterlichenLatein ohne weiteres m i r a c u 1 u m bedeuten kann, und daTu

    g e n d mit t a u g e n verwandt ist. War das Wunderzuerst Besttigung der Tugend, so wird es jetzt Zeichen derMacht. Geschah es anfangs durch Gott, um den Heiligen zubezeichnen, so geschieht es jetzt durch den Heiligen sozusagenim Auftrage und im Einverstndnis mit Gott fr jemanden oderfr etwas anderes. Man kann sich oder das Seine unter denSchutz des Heiligen stellen, man kann ihn anrufen, man kannihn bitten, das Wunder zu bewirken.

    Diese Macht zeigt sich, nun aber noch einmal, zwar nichtganz unabhngig, aber doch losgelst von der Person desHeiligen.

    Das Wunder nach seinem Tode knpfte sich an einen Gegen-stand, dieser Gewand, Grab, Marterwerkzeug -- zeugte vondem servus Dei, so wie das Wunder von ihm zeugte. DieserGegenstand war unentbehrlich in der Zeit, da seine Person ge-

  • LEGENDE 33

    storben, aber seine ttige Tugend lebendig war. Der Gegen-stand -- wir nennen ihn bekanntlich eine R e l i q u i e -- muteihn in seiner Abwesenheit vertreten. Wie sollte man sonst er-kennen, wessen Tugend in einem beliebigen Kreise durch einWunder besttigt wurde, wie verstehen, da das, was Gott Un-begreifliches tat, sich dennoch auf diese Person bezog? So wiedie Reliquie nun aber den servus Dei in seiner Abwesenheit alsTrger des Wunders vertrat, so kann sie ihn auch vertreten,nachdem er als sanctus im Himmel weilt. Sie kann alles, wasmit dem Heiligen und seiner Heiligkeit zusammenhing, in sichhineinziehen und es wieder ausstrahlen, sie kann selbst in ge-wissem Sinne heilig sein und Trger der Macht werden.

    Stellen wir diesen Zusammenhang noch einmal klar heraus:Was dieser Heilige als Person bedeutete, nachdem man

    ihn erstens in menschlicher Umgebung als Tter der Tugendgesehen und die Besttigung seiner Tugend durch Wundererlebt hatte;

    nachdem man zweitens nach seinem Hinscheiden dieTtigkeit seiner Tugend noch einmal selbstndig erfahren undbesttigt gefunden;

    nachdem man ihn drittens in einer neu geprgten himm-lischen Gestalt wieder mit seiner Tugend zusammengebrachtund mit Macht begabt:

    alles das kann auch in einen Gegenstand hineingedeutetwerden, das kann eine Reliquie von sich aus bedeuten.

    J o 11 e s, Einfache Formen 3

  • Iv.Wenn wir den Werdegang des Heiligen formelhaft im

    Kanonisationsproze und formgem auf der Erde und imHimmel beobachtet haben, kommt noch einmal die Frage : washeit das alles? Was veranlat den Menschen, seine Mit-menschen in dieser Weise zu sehen? Aus welchem Gedanken-gang, aus welcher Lebenshaltung, aus welcher Geistes-beschftigung wird jene Formenwelt geboren, in der PersonenHeilige, Gegenstnde Reliquien werden und in der wir vonWundern reden jene Weltform, die in dem kirchlichenKanonisationsproze als hierarchische Parallele zu einemLebensvorgang festgelegt worden ist?

    Was uns zunchst an der Weise auffllt, wie ein Heiligerwir wollen sagen zustande kommt, ist, da er ich mumich wieder vorsichtig ausdrcken selbst so wenig dabeibeteiligt ist.

    Nicht, da er sich als Persnlichkeit passiv verhieltekeineswegs ! Manchmal wird er vor seiner Geburt seiner Mutterverkndigt, sie sieht ein strahlendes Licht oder eine hnlicheErscheinung. Und sobald er ins Leben tritt, ist sein Dasein aufTun gestellt. Es gibt Heilige, die schon in der Wiege die Hnd-chen zum Gebet falten. Als Knabe, als Mdchen, unterscheidensie sich von Kindern ihres Alters durch ihre Frmmigkeit, durchihre guten Werke. Und spter offenbart sich immer erneut ihreaktive Kraft, sie handeln fortwhrend. Es gibt tapfere Heilige,die mit Versuchungen, mit satanischen Feinden, mit dem Teufelkmpfen oder einem heidnischen Tyrannen entgegentreten. Esgibt fleiige Heilige, die zahllose gottgefllige Bcher schreibenoder die ununterbrochen von Land zu Land ziehen, um pre-digend das Heidentum zu bekehren. Es gibt Heilige, die freudigdie ihnen auferlegten Martern ertragen und heroisch nochschwerere begehren. Ttig sind sie gewi, und dennoch sind

  • LEGENDE 35

    sie bei dem Heiligungsproze, der sich erst im Leben vollziehtund danach in dem Verfahren der congregatio rituum spiegelt,unbeteiligt. Wir knnen sagen, sie werden, obwohl sie Haupt-personen sind, in diesen beiden Prozessen, dem des Lebens unddem der Kanonisation, durch Kontumacialverfahren abgeurteilt.

    Schrfer ausgedrckt, wir haben nicht die Empfindung,da der Heilige von sich aus und fr sich existiert, sondern daer von der Gemeinschaft aus und fr die Gemeinschaft da ist:erst in dem kleinen Kreis, in dem man ihn beobachtet, spterfr die ecclesia universalis, selbst dann noch, wenn er zwischenden Seligen im Jenseits wandelt oder geschmckt mit seinenAttributen auf dem Altare steht.

    Was aber bedeutet er der Gemeinschaft?Gut und Bse knnen wohl gewertet, aber nicht gemessen

    werden. Mebar sind sie erst, wenn sie sich im Heiligen als ttigeTugend, im Verbrecher als strafbares Unrecht gestaltet haben.Erst wenn wir sie so in den Personen gesehen haben, knnenwir sie in ihrer mebaren Selbstndigkeit von ihren Trgernloslsen: Heilige und Verbrecher sind also Personen , i ndenen sich Gut und Bse in einer bestimmtenWeise vergegenstndlichen.

    Da liegt der Grund, weshalb jene Gemeinschaft nicht fragt,wie der Heilige sich fhlt, wenn er fromm ist, wenn er handelt,wenn er leidet. Er ist ihr nicht in diesem Sinne ein Menschwie andere, er ist ihr ein Mittel, Tugend vergegenstndlichtzu sehen, vergegenstndlicht bis in die hchste Potenz, bis indie himmlische Macht. Deshalb fehlt der Heilige in seinemProze, deshalb sind es Zeugen und immer wieder Zeugen, dieals Vertreter der Gemeinschaft ihre berzeugung kundtun,da die Vergegenstndlichung stattgefunden hat, da siedurch Wunder besttigt worden ist Zeugen, die sich dannwiederum von der kirchlichen Behrde beglaubigen lassen, daihre berzeugung richtig war.

    Was ist damit gewonnen, da Tugend in dieser Weisemebar, greifbar wird, was eben ist die bestimmte Weise, inder sie sich in dem Heiligen vergegenstndlicht?

    Wir kommen hier zu dem, was uns in die G e i s t e s -b e s c h f t i g u n g, die den Heiligen bildet, einfuhrt. Wir

  • 36 LEGENDE

    knnen Gutes und Bses tun, ohne genau zu wissen, wie wirzu werten sind, wie wir dabei gerichtet sind. Erst wenn dieTugend mebar, greifbar, fabar geworden ist, erst wenn siebedingungslos, uneingeschrnkt in dem Heiligen vor uns steht,haben wir einen sicheren Mastab : der Heilige bringt uns zumBewutsein, was wir auf dem Wege der Tugend tun und er-fahren und sein mchten; er selbst ist dieser Weg zur Tugend,wir knnen ihm selbst folgen.

    Ich werde nunmehr, um die G e i s t e s b e s c h f t i gun gzu kennzeichnen, aus der das hervorgeht, was ich eine Form -in diesem Fall die Form Legende nenne, gentigt sein,K e n n w o r t e einzufhren, das heit Worte, die nicht in vollemUmfange bedeuten", sondern die andeuten", die nur eineRichtung geben.

    Hier greife ich, da weder das deutsche f o 1 g e n nochn a c h a h m e n diese Richtung gengend treffen, zu dem latei-nischen, im Mittelalter gebruchlichen Ausdruck imitatio.

    Etymologisch hngt imitor zusammen mit a e m u 1 u snacheifernd (aemulor, suche gleichzukommen) und mit

    imago Abbild. Neben der Etymologie steht jedoch derBegriff Eindeutung. So hat das Mittelalter imitari ein-deutend mit i m m u t a r e in Verbindung gebracht : sich soverwandeln, da man in etwas anderes eingeht.

    Der Heilige, in dem als Person die Tugend sich vergegen-stndlicht, ist eine Figur, in der seine engere und seine weitereUmgebung die imitatio erfhrt. Er stellt tatschlich denjenigendar, dem wir nacheifern knnen, und er liefert zugleich denBeweis, da sich, indem wir ihn nachahmen, die Ttigkeit derTugend tatschlich vollzieht. Er ist als hchste Stufe derTugend unerreichbar und liegt in seiner Gegenstndlichkeitdoch wieder in unserem Bereiche. Er ist eine Gestalt, an derwir etwas, was uns allseitig erstrebenswert erscheint, wahr-nehmen, erleben und erkennen und die uns zugleich die Mg-lichkeit der Bettigung veranschaulicht kurz, er ist imSinne der Form ein i m it ab i 1 e.

    Von dem Heiligen aus, den wir in seinem Werdegang sogenau beobachtet haben, ffnet sich unser Blick auf die Welt,die ihn in dieser Besonderung gebildet hat. Wir schauen uns

  • LEGENDE 37

    im M i t t e l a l t e r um und finden auf allen Seiten das gleiche.Da liegt auf einer steilen Anhhe eine Kirche, und der auf-steigende Pfad ist eingeteilt in vierzehn Stationen. Jede Stationbedeutet einen bestimmten Punkt aus der LeidensgeschichteChristi. Der Fromme folgt diesem Weg, und bei jeder einzelnenStation erlebt er jeweils die Verspottung, die Geielung, dieKreurtragung. Er erlebt sie nicht nur als Erinnerung an Ge-schehenes, er erlebt sie buchstblich, er begibt sich in sie hin-ein, er macht den Leidensweg mit, er wird mitverspottet, ge-geielt, er hilft das Kreuz tragen. Er vereinigt sich, soweites einem Menschen mglich ist, mit dem Unnachahmbaren, erwird zum aemulus Christi, er wird oben in der Kirche, diewiederum ein imago Christi ist, in Christus aufgenommen. EinePilgerfahrt zu einem Orte, wo ein Heiliger ruht oder wo erdurch seine Reliquie vertreten wird, ist nichts anderes als einetatschliche Wiederholung des Weges zur Heiligkeit wohl

    -verstanden, soweit sie einem Nicht-Heiligen mglich ist. Wennzu Ende der Fahrt der Heilige das gewhrt, was der Pilgervon ihm durch seine Reise zu erreichen hoffte, zum BeispielHeilung von einer Krankheit so geschieht das, weil der Pil

    -ger in eingeschrnktem Sinne selbst der Heilige geworden ist.Diesen Sinn einer Pilgerfahrt haben auch die Kreuzzge.

    Sie stehen zweifellos im Zusammenhang mit den groen ger-manischen Vlkerverschiebungen, durch die das Abendland ge-staltet wurde, sie sind ebenso sehr Vlkerwanderungen wiedie spteren Entdeckungsreisen. Aber sie unterscheiden sichvon den vorhergehenden wie von den nachfolgenden durchihren imitativen Charakter, der sich sowohl in ihrem Ziel wiein ihren Mitteln kundgibt. Sie mgen nach Ostland, nachSpanien oder nach Palstina gerichtet sein, sie stehen im Zei-chen der Nachahmung Christi: und wer nicht sein Kreuz aufsich nimmt und folget mir nach, der ist meiner nicht wert",heit es. Die Ritter heften sich das Kreuz auf die Schulterund machen eine Pilgerfahrt groen, kriegerischen Stils, derenletztes Ziel die grte aller Reliquien ist, das Grab Christi,das wiederum Christus selbst bedeutet.

    Tn dieser Weise knnen die hchsten Handlungen und Per-sonen des Christentums begriffen werden, ohne da damit ihre

  • 38 LEGENDE

    religise Bedeutung ganz erschpft wird, das Meopfer, Mariaund Jesus selbst. Jesus bedeutet gewi noch anderes, aber erist auch der hchste Heilige", dessen aemuli ihrerseits wiederdie anderen Heiligen sind. Und wiederum kann das Geschehenim Leben Jesu selbst imitativ gefat werden, wenn man es, sowie es im Evangelium des Matthus geschieht, als Erfllungeines frheren nimmt, wenn man sagt : und ist erfllet, dasgesagt ist von dem Propheten Jeremias, der da spricht ...",oder auch so, da man dieses Geschehen im Neuen Testamentals Wiederholung eines Vorgangs im Alten Testament be-trachtet, wie zum Exempel der Opfertod am Kreuze in AbrahamsOpfer schon vorgebildet ist.

    Wir wrden ein sehr betrchtliches Stck der Welt desMittelalters vor uns sehen, wollten wir in Einzelheiten nach-weisen, wo berall die Geistesbeschftigung der imitatio demLeben des mittelalterlichen Menschen eingelagert ist, dieseGeistesbeschftigung der aemuli, der imagines, die sich keines-wegs auf das religise Leben beschrnkt. Und immer verhltes sich dabei so, da sich in einer Person, einem Ding, einerHandlung ein anderes vollzieht, was in ihnen gegenstndlichwird und was von dieser Gegenstndlichkeit aus nun wiederanderen die Mglichkeit gibt, hineinzutreten und aufgenommenzu werden.

  • V.Diese Form nun, die sich im Leben verwirklicht, verwirk-

    licht sich wiederum in der Sprache. Wir haben den H e i -1 i g e n, wir haben seine R e l i q u i e, wir haben seine L e -gende; wir haben die Person, wir haben das Ding, wirhaben die Sprache. In allen dreien vollzieht sich dieseGeistesbeschftigung, diese Welt der imitatio.

    Die abendlndisch-katholische Legende hat sie ver-dankt das der Sicherheit, mit der die kirchliche Behrde hierschon frh diesen ganzen Vorgang beobachtet und hierarchischgedeutet hat eine geschlossene Gestalt : sie gibt das Lebendes Heiligen, oberflchlich gesagt seine Geschichte sie isteine Vita.

    Diese Vita als sprachliche Form hat aber so zu verlaufen,da sie in jeder Hinsicht dem Geschehen im Leben entspricht,das heit so, da sich in ihr dieses Leben noch einmal voll-zieht. Es ist nicht damit getan, da sie Ereignisse, Hand-lungen unparteiisch protokolliert, sondern sie mu diese in sichzu der F o r m werden lassen, die sie von sich aus noch einmalv e r w i r k l i c h t. Sie mu fr Hrer oder Leser genau dasvertreten, was im Leben der He"ige reprsentiert, sie muselbst ein imitabile sein. Deshalb sieht in dieser Vita das Lebeneines Menschen anders aus als in dem, was wir eine ,,histo-rische" Lebensbeschreibung nennen. Wir pflegen historisch"gesprochen; und wir werden spter zu sagen haben, was wirim Sinne der Form damit meinen das Leben eines Menschenals ein Kontinuum aufzufassen, eine Bewegung, die ununter-brochen von einem Anfang zu einem Ende luft und bei der sichalles Folgende immer auf ein Vorhergehendes bezieht. Wenndie Vita das Leben eines Heiligen so auffate, wrde geradedas, was sie bezweckt, nicht erreicht werden. Sie hat dasTtigwerden der Tugend zu realisieren, sie hat zu zeigen, wie

  • 40 LEGENDE

    die Ttigkeit der Tugend durch ein Wunder besttigt wird.Nicht der Zusammenhang des menschlichen Lebens ist ihrwichtig, nur die Augenblicke sind es, in denen das Gute sichvergegenstndlicht.

    Die Vita, die Legende berhaupt zerbricht das ,,Histo-rische" in seine Bestandteile, sie erfllt diese Bestandteile vonsich aus mit dem Werte der Imitabilitt und baut sie in einervon dieser bedingten Reihenfolge wieder auf. Die Legendekennt das Historische" in diesem Sinne berhaupt nicht,sie kennt und erkennt nur Tugend und Wunder. Wo derHeilige kein Mittel ist, Tugend vergegenstndlicht zu sehen.wo er nicht als imitabile gewertet werden kann, da ist er ebenkein Heiliger und die sprachliche Form, die ihn als Heiligenvertritt, kann ihn dort schlechterdings nicht fassen.

    Wir besitzen Beispiele, da Heilige

    natrlich nichtim Bewutsein ihrer Heiligkeit, sondern menschlich, auto-biographisch ihr eigenes Leben aufgeschrieben haben. Ichverweise auf die Confessiones des heiligen Augustin oderich mte hier besser sagen, des Kirchenvaters Augustinus.Nirgends erinnern diese Bekenntnisse an eine Legende, in dieActa Sanctorum gehren sie nicht. Andererseits liegen unsHeiligenleben aus einer Zeit vor, in der die Form Legende nichtmehr ganz lebendig war, in der sozusagen auch von kirchlicherSeite her an eine Vita" historische Anforderungen gestelltwurden. An dieser Stelle kann man das Ringen zweier Formenbeobachten, und man sieht zugleich, da, sobald von historischerEinstellung her etwas gelockert wird, die Mglichkeit derimitatio aufhrt, die Form zerbricht. Es ist eben die Eigenartder historischen Lebensbeschreibung, da in ihr die Person sieselbst bleibt und uns zwar ein Beispiel sein kann, aber keineMglichkeit bietet, uns ganz in sich aufzunehmen. Doch wenndie Lebensbeschreibung so verluft, da die historische Persn-lichkeit nicht mehr ganz in sich geschlossen ist, wenn sie sieso baut, da wir geneigt sind, uns in sie hineinzubegeben, wirdsie Legende.

    Wir knnen hnliches augenblicklich bei der Figur Fried-richs des Groen beobachten.

  • LEGENDE 41

    Sprache wre keine Sprache und sprachliche Form keinesprachliche Form, wenn sich nicht in ihr selbstndig vollziehenknnte, was sich auch im Leben begibt. So ist die sprachlicheForm nicht nur in der Lage, das Leben eines Heiligen in einerentsprechenden Weise zu vertreten, sondern sie bildet auchHeilige.

    Ich werde nun, nachdem wir den Proze der Heilig-werdung in Leben und sprachlicher Form beobachtet haben,

    tiefer stoen und, vermittelt durch ein Beispiel, dieses Sprache -werden und Sprachesein einer Form, hier der Form Legende,veranschaulichen.

  • VI.Wir lesen in alten Mrtyrerakten ungefhr folgendes:Ein Mann stammt aus einer christlichen Familie, die zu

    Ende des 3. Jahrhunderts in einem stlichen Bezirk desrmischen Reiches lebt, er tritt in das rmische Heer ein,zeichnet sich im Kriege aus und steigt zu den hchsten mili-trischen Chargen empor. Der Kaiser entschliet sich zu denChristenverfolgungen, seine Umgebung stimmt ihm zu, nurdieser Mann tritt ihm entgegen. Der Kaiser, wutentbrannt,lt ihn gefangennehmen und auf einem Rade mit scharfenKlingen martern. Eine Stimme aus dem Himmel ruft dem Ge-marterten zu : Frchte dich nicht, ich bin mit dir", und einehimmlische Erscheinung in weien Kleidern reicht ihm dieHand. Viele bekehren sich, auch manche seiner Kriegs

    -kameraden. Er wird von neuem gemartert, neue Wunder ge-schehen. Er wird in den Apollotempel gefhrt und soll demGotte opfern. Aber er sagt : Willst du von mir Opfer emp-fangen?" und macht dabei das Zeichen des Kreuzes. Daraufantwortet eine Stimme aus dem Gtterbilde : es gibt keinenGott auer dem Gott, den du verkndigst". Der Mrtyrersagt: wie wagst du es dann, in meiner Anwesenheit zu ver-weilen? Geh und bete den wahrhaftigen Gott an." Dem Mundedes Gtzen entfhrt ein wildes und jmmerliches Geheul, unddie Bilder zerspringen in Stcke. Der Christ wird von denHeidenpriestern von neuem geschlagen und gemartert, schlie-lich auf Befehl des Kaisers enthauptet.

    Es ist nach dem Vorhergehenden deutlich, da wir hiereinen Bericht ber ttige Tugend, Wunder, einen Heiligenvor uns haben. Wir stellen nun zunchst diesem Bericht -der schematisch das, was wir mit geringen Abweichungen inmehreren Mrtyrerakten finden, wiedergibt eine kurze ber-sicht des zeitgenssischen Geschehens, aus dem er hervor-

  • LEGENDE 43

    gegangen ist, und dem er in seiner Weise entspricht, an dieSeite.

    Wir befinden uns in der Zeit der diokletianischen Christen-verfolgung. Diokletian, der in der wachsenden Christengemeindeeine Gefahr fr seine weitgreifende Reorganisation des Rmer

    -reichs sieht, entschliet sich im Jahre 303, gedrngt von seinerUmgebung, sehr strenge Strafverordnungen gegen die Anhngerdes Christentums zu erlassen. Christen aber befinden sich inallen Kreisen, auch unter den hchsten Beamten des Heeresund des Hofes; wir wissen, da der Praepositus Cubiculi Doro

    -theus und sein Genosse Gorgonius hingerichtet worden sind.Da die Mutigen unter den Christen ihm entgegentreten, istselbstverstndlich. Der Kirchenhistoriker Eusebius erzhlt, wiein Nikomedia, wo die Verfolgung einsetzte, ein hherer Be-amter, dessen Namen er verschweigt, das angeschlagene Ediktmit hhnischen Worten abri. Es folgen Gefangennahmen,Folterungen, Hinrichtungen in allen Teilen des Reiches, siewerden unter Diokletians Nachfolgern, unter Galerius undMaximinus Daja, fortgesetzt. Kirchen werden niedergebrannt,kirchliches Eigentum wird eingezogen. Tausende fallen ab,viele bleiben treu. Aber noch vor dem Tode des Diokletian.der sich 305 von der Regierung zurckzieht, greift Konstantinein, im Jahre 313 kommt das Duldungsedikt von Mailand; 325ist das Konzil von Nica schon im Gange. Das Christentumhat gesiegt, die rmischen Staatsreligionen sind im Ver

    -schwinden.Beobachten wir weiter, in welcher besonderen Weise unser

    Bericht aus diesem Geschehen hervorgegangen ist, in welcherbesonderen Weise er diesem Geschehen, diesen Vorgngen,diesen Tatsachen entspricht, damit wir daraus ersehen, da das,was wir mit einem neutralen Wort Bericht nannten, in Wirk-lichkeit L e g e n d e heien mu.

    Die vielfltige Erscheinung, da Christen verfolgt, ge-fangen, gemartert werden, soll zusammenfassend gekenn-zeichnet und ausgedrckt, auf einen gemeinsamen Nennergebracht werden, -er heit: ein Rad mit scharfenK 1 i in g e n; der sich durch alle Kreise und Stnde ziehendeGegensatz zwischen der Vielheit der rmischen Staats-

  • 44 LEGENDE

    religionen zu der einheitlichen neuen Religion heit : d e rMrtyrer wird in den Tempel mit den vielenGtzenbildern gefhrt ; der Widerstand des Christenheit: er redet die falschen Gtter an, sie ant-worten und unterwerfen sich ihm; die Nutzlosigkeitder Verfolgungen und der Sieg des Christentums heien : d i eGtzenbilder zerspringen; wenn derChrist dieVer-folgung und die Folter bersteht, heit es: eine himmlischeStimme ruft ihm zu oder: eine himmlische Er-scheinung in weiem Gewande reicht ihm dieHand...

    Es ist als ob sich die Vielheit und Mannigfaltigkeitdes Geschehens verdichte und gestalte, als ob gleichartigeErscheinungen zusammengewirbelt und in dem Wirbel um-griffen wrden, so, da sie in einen Begriff eingehen, einen Be-griff darstellen. Wenn man sagt : Ein Rad mit scharfen Klingen-- so ist nicht ganz einzusehen, wie man einen Menschen damitmartern soll, aber es ist unmglich, den Begriff smtlicher see-lischen und krperlichen Foltern besser zu fassen als durchein Rad mit scharfen Klingen. Wieviel liegt nichtin einem Gott, der zerspringt!

    Was aber geschieht in diesem Proze der Umsetzung?Was teilt hier Geschehen in irgendwie letzte, nicht weiter teil-bare Einheiten und schwngert diese Einheiten, was greift aus-whlend in das Geschehen hinein und legt dieses Geschehen inBegriffe fest? Es ist die Sprache ; dieses R a d mit scharfenKlingen, dieser Gott, der zerspringt, sind sprach

    -liche Bildungen, sprachliche Gebilde. Ein Vorgang spielt siehab, bei dem die zwei sprachlichen Funktionen : das Ruf-etwas - hinweisen und das Etwas- darstellen miteinander ver-einigt sind. Ein pltzliches Zusammenkommen und ein voll-kommenes Ineinanderaufgehen von M e i n e n und B e d e u t e nfindet statt.

    Damit wiederholt sich auf einer zweiten Stufe ein Vor-gang, der sich schon einmal vollzogen hat, als sich die Sprachea n s i c h bildete. Hier erhartet die Sprache mit den Einheitendes Geschehens sich selbst in einer ersten litterarischen Form.Es wird hier zum zweiten Male etwas geboren, was auf einer

  • LEGENDE 45

    dritten Stufe wiederum geboren werden wird, wenn durcheinen einmaligen, nicht wiederholbaren Vorgang die Form ineinem Kunstwerk, in einem Gebilde des Knstlers, sich nocheinmal verdichtet und so endgltig erfllt wird.

    wo also unter Herrschaft einer Geistesbeschftigung dieVielheit und Mannigfaltigkeit des Seins und des Geschehens sichverdichtet und gestaltet, wo dieses von der Sprache in seinenletzten, nicht teilbaren Einheiten ergriffen, in sprachlichen Ge-bilden wiederum Sein und Geschehen zugleich meint und be-deutet, da reden wir von der Entstehung der E i n fa c h e nForm.

    Es ist nicht leicht, diese Gebilde nun, die wir bis jetztEinheiten des Geschehens genannt haben, und die von derSprache erfat wurden, zu benennen. In einer verschwommenenTerminologie pflegt die Litteraturgeschichte da, wo sie, ohnesie vollstndig zu begreifen, diese Dinge berhrt, von Motiven"zu reden. Sie pflegt aber auch stoffgeschichtliche Gegeben -heiten oder berits dem Kunstwerk in irgendwelchem Komplexprformierten" Stoff damit zu meinen. Motiv ist ein gefhr-liches Wort. Motiv heit doch wohl zunchst Beweggrund,Bestimmungsgrund, etwas, was ein anderes auslst. In diesemletzten Sinne knnte man zur Not das Wort hier. gebrauchen.Unsere Gebilde lsen gewi etwas aus, insoweit das Geschehendurch sie von einer Geistesbeschftigung aus vorstellbar wird.Aber das ist doch nicht ihr erster, ihr tiefster Sinn. Man istauf diesen Ausdruck durch die Musik gekommen, wo Motiv dasletzte charakteristische Glied" eines Kunstgebildes bezeichnet.Und es war Scherer, der es zuerst in dieser Bedeutung in seinerPoetik benutzte. Aber auch so knnen wir es hier nicht nehmen.Nietzsche definiert das musikalische Motiv als die einzelneGebrde des musikalischen Affekts". In der Tat., e i n e e i n -z e 1 n e G e b r d e der Sprache ist das, was wir bis jetzt dasin Begriffe gefate Geschehen, die geladenen Einheiten ge-nannt haben.

    Wir werden das Wort sprachliche Einzelgebrde, oderkurz S p r a c h g e b r d e, weiterhin in diesem Sinne ge-brauchen.

  • 46 LEGENDE

    In unserem Beispiel sind die sprachlichen Einzelgebrden:Rad mit scharfen Klingen, himmlische Stimme, eine Er-scheinung im weien Kleide, die hilfreich die Hand ausstreckt,Gtter, die angeredet werden, sich dem Zeichen des Kreuzesunterwerfen, Gtterbilder, die zerspringen und so weiter.

    Diese Sprachgebrden geben indessen, so wie sie hierin ihrer Gesamtheit vorliegen, noch keinen bestimmten Hei-ligen, sondern erst einmal irgendeinen frommen Christen zurZeit einer Verfolgung, einen heiligen Mrtyrer i m all -g e m e i n e n, und so sehen wir in einer Anzahl Mrtyrer-akten die gleichen sprachlichen Gebrden in der gleichenWeise wiederkehren. Sie sind nun aber dabei so gelagert,da sie jeden Augenblick bestimmt gerichtet und gebundenwerden knnen, so da sie eine g e g e n w r t i g e Bedeut-samkeit erlangen. In unserem Falle springt sozusagen aus denGebrden, zu denen sich das Geschehen zur Zeit der diokle-tianischen Christenverfolgungen verdichtete, nicht ein hei -liger Mrtyrer, sondern der heilige Georg heraus;das heit, die Gebrden richten sich so, da sie in ihrerGesamtheit gegenwrtig werden in einer Einzelperson, dasie in ihrer Vergegenwrtigung einen besonderen Heiligenschaffen.

    Das zeigt uns, da eine Form in doppelter Weise vorliegt,wobei sich die eine zur anderen ungefhr so verhlt, wie einSchachproblem zu seiner Lsung. In dem Problem ist eine Mg-lichkeit gegeben und enthalten, in der Lsung ist diese Mg-lichkeit durch ein bestimmtes Geschehen verwirklicht. Waswir L e g e n d e genannt haben, ist zunchst nichts anderes alsdie bestimmte Lagerung der Gebrden in einem Felde. Waswir ausnahmsweise haben wir dafr ein eigenes Wort dieHeiligen v i t a des heiligen Georg nennen, ist die Verwirklichungder in der Legende gegebenen und enthaltenen Mglichkeit.Wenn man sich einer scholastischen Terminologie bedient, sokann man sagen, da das, was in der Legende p o t e n t i a lit e rvorliegt, in der Vita a c t u alit e r gegeben wird. Wir verdeut-lichen das Verhltnis der beiden Weisen, in denen wir die Formwahrnehmen knnen, wenn wir sie einen Augenblick in dasLeben bertragen:

    von einer gewissen Geistesbeschftigung

  • LEGENDE 47

    aus m u t e aus dem Vorgehen Diokietians den Christen gegen-ber L e g e n d e entstehen; wo sich diese Legende entwedermit einer entsprechenden Persnlichkeit im Leben verband, odervon sich aus eine solche Persnlichkeit schuf, da wurde siedie V i t a dieser besonderen Person.

    Wir werden auch bei den anderen Formen sehen, wie not-wendig es ist, diese zwei Weisen zu unterscheiden. Ich nenne dieerste Einfache Form, die zweite Aktuelle oder Gegen -w r t i g e Einfache Form. Und ich wiederhole noch

    einmal, da ich dort von einer E i n f a c h e n F o r m rede, wosprachliche Gebrden in denen sich einerseits Lebensvorgngeunter der Herrschaft einer Geistesbeschftigung in einer be-stimmten

    Weise verdichtet haben und die andererseits volldieser Geistesbeschftigung aus Lebensvorgnge erzeugen,schaffen, bedeuten so gelagert sind, da sie jeden Augen -blick besonders gerichtet und gegenwrtig bedeutsam werdenknnen. In diesem Fall, wo sie besonders gerichtet und gegen

    -wrtig bedeutsam geworden ist, ist sie eine A k t u e 11 e oderGegenwrtige Einfache Form. Legende ist Ein-fache

    Form; eine Legende, oder wie wir sagen, die Vita desheiligen Georg, ist Gegenwrtige Einfache Form.

  • VII.Wenden wir uns nun diesem besonderen Einzelheiligen,

    diesem Hei 1 i g e n Georg , ber dessen historische"Existenz nichts bekannt ist, zu.

    Von der Geistesbeschftigung aus, die wir imitatio ge-nannt ha