Anmerkung zu BGH, Beschl. v. 30.7.2013 – VI ZR 284/12 (LG Stendal)
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Revision nicht angegriffene – Schadensschätzung Bestand haben, denn es ist weder dargetan noch ersichtlich, dass die infolge der Austauschoperationen entstandenen Kosten niedriger sein könnten als die der Erstoperationen.
[17] IV. Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt deshalb von der Beantwortung der Frage ab, ob die implantierten Herzschrittmacher bereits deshalb einen Produktfehler i. S. von § 3 Abs. 1 ProdHaftG, Art. 6 der Richtlinie 85/374/EWG aufwiesen, weil Geräte derselben Produktgruppen ein nennenswert erhöhtes Ausfallrisiko hatten, und, falls diese Frage bejaht wird, ob es sich bei den Kosten der Operationen zur Explantation des Produkts und zur Implantation anderer Herzschrittmacher jeweils um einen durch Körperverletzung verursachten Schaden i. S. von § 1 Abs. 1, § 8 ProdHaftG, Art. 1, Art. 9 S. 1 lit. a der Richtlinie 85/374/EWG handelt.
DOI: 10.1007/s00350-014-3683-6
Anmerkung zu BGH, Beschl. v. 30. 7. 2013 – VI ZR 284/12 (LG Stendal)
Marc Oeben
I. Fehlerverdacht als Fehler i. S. des Art. 6 der Produkthaftungsrichtlinie
Der BGH eröffnet im Rahmen des Vorlagebeschlusses dem EuGH die Möglichkeit, sich im Rahmen des Vorab entschei dungsverfahrens zu der europarechtlich gebotenen Auslegung der Produkthaftungsrichtlinie im Hinblick auf den Fehlerbegriff i. S. des Art. 6 der Produkthaftungsrichtlinie zu äußern und zwar konkret bezogen auf den Aspekt des „Fehlerverdachtes“.
1. Die bisherige Rechtsprechung zum Fehlerverdacht
Im Gegensatz zum BGH hatte sich die untergerichtliche Rechtsprechung schon mehrfach mit der Frage zu beschäftigen, ob bereits die bloß abstrakt erhöhte Ausfallwahrscheinlichkeit eines implantierbaren Klasse III Medizinproduktes (insbesondere eines Herzschrittmachers) einen Produktfehler i. S. des § 3 ProdHaftG begründen kann 1.
In dem Parallelverfahren vor dem OLG Frankfurt a. M. 2 lehnte der Senat einen Konstruktionsfehler des Herzschrittmachers ab, da die Produktserie in ihrer Gesamtheit den Sicherheitsstandard der Vergleichsgruppe eingehalten hat und somit die berechtigten Sicherheitserwartungen des Verkehrs nicht enttäuscht wurden. Die (abstrakte) Fehlerhaftigkeit einzelner Bauteile des Produktes war insoweit nicht ausreichend für die Einordnung in die Kategorie des Konstruktionsfehlers, da das Gerät im Vergleich zu anderen Herzschrittmachern keine erhöhte Ausfallwahrscheinlichkeit aufwies. Demgegenüber ließ es das OLG Hamm 3 in dieser Hinsicht bereits ausreichen, dass in bestimmten Geräten identifizierbarer Modelluntergruppen ein Fehler an einem Bauteil aufgetreten ist und das streitgegenständliche Produkt dieser Modelluntergruppe angehört, unbeschadet der Frage, ob auch dem streitgegenständlichen Produkt selbst ein Mangel anhaftet. Das LG Stendal 4 hat sich als Vorinstanz der vorstehenden Entscheidung dieser Auffassung angeschlossen. Eine Einordnung des Fehlers des Herzschrittmachers in eine der üblichen Fehlerkategorien des Produkthaftungsrechts nehmen weder das OLG Hamm noch das LG Stendal vor.
2. Der maßgebliche Adressatenkreis
Im Hinblick auf den maßgeblichen Adressatenkreis für die berechtigten Sicherheitserwartungen führt der BGH aus,
es sei allein auf die Erwartungen der Patienten abzustellen, denen ein Herzschrittmacher implantiert wird. Denn es gehe nicht um die mit der Implantation des Medizinproduktes im Zusammenhang stehenden gesundheitlichen Risiken, sondern um das Risiko eines vorzeitigen Ausfalls des Produkts. Dieses betreffe primär aber nicht den Arzt, sondern das Integritätsinteresse des Patienten, der auf die Funktionsfähigkeit des Herzschrittmachers vertraue 5.
Die Auffassung des BGH, es komme allein auf die Sicherheitserwartungen des Patienten an, ist allerdings nicht zwingend. Unstreitig ist, dass nicht auf die subjektiven Sicherheitserwartungen des konkret Geschädigten abzustellen ist, sondern ein objektivierter Maßstab zugrunde zu legen ist 6. Bei (aktiven) implantierbaren Medizinprodukten handelt es sich jedoch um Spezialprodukte, die der Anwendung durch die Fachkreise vorbehalten sind 7. Auch kann der entsprechende Arzt aufgrund seines überlegenen Fachwissens die Nutzen und Risiken eines Produkts besser einschätzen als der Patient. Dies zeigt auch die Tatsache, dass im Rahmen von ärztlichen Heileingriffen stets eine Selbstbestimmungsaufklärung des Patienten erforderlich ist. Vielfach verlässt sich der Patient dabei auf die Risikoeinschätzung durch den Arzt und vertraut auch bei der Wahl des Produktes auf dessen Urteil. Somit muss im Hinblick auf den maßgeblichen Adressatenkreis zumindest auch auf die Sicherheitserwartungen der Fachkreisangehörigen abgestellt werden, da der Patient seine Möglichkeiten einer Abschätzung etwaiger Nutzen und Risiken im Hinblick auf das betreffende Produkt maßgeblich von den jeweiligen Fachkreisangehörigen ableitet und auf deren Urteil vertraut 8. Dem Patienten fehlt vielfach die Fachkenntnis und Erfahrung, die mit der Behandlung in Zusammenhang stehenden Risiken und möglichen Alternativen substantiiert abzuschätzen. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass der Hersteller die Sicherheitserwartungen, die der relevante Adressatenkreis an ein Produkt stellen darf, durch eine Information über die Gefahren des Produkts durchaus begrenzen kann. Denn wird auf eine Gefahr ausdrücklich hingewiesen, so kann in dieser Hinsicht keine Sicherheit erwartet werden 9. Anerkannt ist auch, dass die Instruktionspflichten des Herstellers bei implantierbaren Produkten wie Herzschrittmachern grundsätzlich nur gegenüber den Ärzten als Nutzern des Produkts bestehen. Die Produktinformation muss die Ärzte – aufbauend auf deren Fachwissen – auf die bestehenden Gefahren in Zusammenhang mit dem Produkt hinweisen. Implantierbare Medizinprodukte sind primär der Verwendung durch das ärztliche Personal vorbehalten, sodass
Rechtsanwalt Marc Oeben, LL.M. (Norwich), Clifford Chance, Königsallee 59, 40215 Düsseldorf, Deutschland
Rechtsprechung242 MedR (2014) 32: 242–244
1) Vgl. insoweit aus der höchstrichterlichen Rspr. BGH, VersR 2010, 1666; demgegenüber aus der instanzgerichtlichen Rspr. AG Stendal, Urt. v. 25. 5. 2011 – 3 C 408/09 –, unveröffentlicht; LG Stendal, Urt. v. 10. 5. 2012 – 22 S 71/11 –, unveröffentlicht; OLG Düsseldorf, BeckRS 2013, 14696 (hinsichtlich eines Implantierbaren Cardioverter Defibrillators – ICD); OLG München, MPR 2012, 6 (ICD); OLG Hamm, VersR 2011, 637 (Herzschrittmacher); OLG Frankfurt a. M., MPR 2010, 211 m. Anm. Oeben (Herzschrittmacher); LG Magdeburg, BeckRS 2010, 26573 (ICD); LG Düsseldorf, BeckRS 2013, 14717 (ICD).
2) OLG Frankfurt a. M., MPR 2010, 211 m. Anm. Oeben.3) Vgl. OLG Hamm, VersR 2011, 637.4) LG Stendal, Urt. v. 10. 5. 2012 – 22 S 71/11 –, unveröffentlicht.5) BGH, Beschl. v. 30. 7. 2013 – VI ZR 284/12 –, Rdnr. 12.6) Vgl. Wagner, in: MüKo/BGB, Bd. 5, 6. Aufl. 2013, § 3 ProdHaftG,
Rdnr. 7; Dahm=Loraing/Koyuncu, Phi 2010, 108, 110.7) Vgl. zum Folgenden auch Oeben/Schiwek, MPR 2011, 145, 148.8) Vgl. zu dieser Problematik auch Koyuncu/Müller, MPR 2012, 158,
161. Diese stellen zwar auf die Sicherheitserwartungen des Patienten ab, stellen jedoch fest, dass diese maßgeblich durch die ärztliche Aufklärung gesteuert werden, und werfen diesbezüglich die Frage auf, inwieweit die Hervorrufung von Sicherheitserwartungen durch die ärztliche Aufklärung dem Hersteller des Medizinprodukts zurechenbar ist.
9) Vgl. Graf von Westphalen, in: Foerste/Graf von Westphalen (Hrsg.), Produkthaftungshandbuch, 3. Aufl. 2012, § 48, Rdnr. 49.
die Aufklärung des Patienten über mögliche vom Produkt ausgehende Risiken durch das ärztliche Personal und nicht durch den Hersteller selbst erfolgt.
Patientenindividuelle Faktoren, die einen Arzt bei seiner Therapieentscheidung leiten, würden bei der Bewertung der „berechtigten Sicherheitserwartungen des Patienten“, wie sie der BGH und die entsprechende untergerichtliche Rechtsprechung vornehmen, außer Acht gelassen 10.
Dementsprechend wäre im Rahmen der Bestimmung möglicher Produktfehler jedenfalls auch auf die Sicherheitserwartung der Fachkreise als Anwender der Produkte abzustellen. Der maßgebliche Personenkreis kann vor diesem Hintergrund je nach Produkttyp und Anwenderkreis durchaus unterschiedlich sein. Das bloße Abstellen auf den Patienten wird den unterschiedlichen Produkteigenschaften nicht gerecht und führt in der Gerichtspraxis dazu, dass jede noch so geringfügig erhöhte Ausfallwahrscheinlichkeit eines Produktes als Enttäuschung der berechtigten Sicherheitserwartungen des Patienten angesehen werden würde.
3. Grenze der „berechtigten Sicherheitserwartungen“
Im Hinblick auf die Frage, ob das streitgegenständliche Produkt einen Fehler i. S. des § 3 ProdHaftG aufweist, beschränkt sich der BGH auf die Feststellung, dass angesichts der Lebensgefahr, die von einem fehlerhaften Herzschrittmacher ausgehe, vieles dafür spreche, dass der Patient hinsichtlich eines möglichen vorzeitigen Ausfalls des implantierten Geräts berechtigterweise eine Fehlerquote gegen Null erwarten dürfe 11. Die Formulierung des BGH ist nicht unproblematisch und birgt hinsichtlich der Reichweite dieser Aussage erhebliches Potenzial für Missverständnisse. Bereits heute führt die instanzgerichtliche Rechtsprechung zu einer übereiligen Subsumtion der Sachverhalte unter den Begriff der abstrakten Fehlerwahrscheinlichkeit.
Bei dem Begriff der berechtigten Sicherheitserwartungen i. S. des § 3 ProdHaftG handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, dessen Konkretisierung nach der deutschen Gesetzesbegründung im Einzelfall der Rechtsprechung obliegt 12. Innerhalb dieser besteht jedoch Uneinigkeit darüber, wie die berechtigten Sicherheitserwartungen in den Fällen des Fehlerverdachts zu bestimmen sind. Grundsätzlich bestimmen sich die berechtigten Sicherheitserwartungen danach, mit welcher Sicherheit des Produkts der durchschnittliche Adressat rechnen darf 13. Hierbei spielen die Vorgaben aus den technischen und wissenschaftlichen Standards eine maßgebliche Rolle 14. Denn der Verbraucher wird in der Regel erwarten können, dass das Produkt bei einem bestimmungsgemäßen Gebrauch zumindest die Sicherheit bietet, die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik möglich ist. Auf der anderen Seite wird man einen Fehler zumindest dann verneinen müssen, wenn dieser im Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Produkts mit allen der Wissenschaft und Technik zur Verfügung stehenden Mitteln nicht zu entdecken war 15.
Offen bleibt in dem Vorlagebeschluss, was der BGH unter der Formulierung „nennenswert erhöht“ versteht und welche Bezugsgröße dem Vergleich zugrunde zu legen ist. Im vorliegenden Fall ergab die Beweisaufnahme, dass das Ausfallrisiko eines bestimmten Bauteils 17–20 Mal so hoch sei, wie bei vergleichbaren Produkten. Wann die Grenze zu einer „nennenswerten Erhöhung“ erreicht ist, bleibt jedoch nach wie vor unklar. Hinzu kommt, dass der BGH offenbar im Rahmen des Vorlageverfahrens von einer uneinheitlichen Auslegung des Fehlerbegriffs je nach Produktgruppe ausgeht, da er seine Fragen lediglich auf implantierbare Medizinprodukte beschränkt. Eine individuelle Auslegung des Fehlerbegriffs je nach Produktgruppe erscheint indes wenig tauglich, um einen Beitrag zur Rechtssicherheit in dem sensiblen Produkthaftungsbereich zu leisten 16.
Bei dem Vergleich von Produktrisiken wurde bisher in der Rechtsprechung und Literatur einhellig vertreten, dass
keine 100 %ige Sicherheit verlangt werden kann 17. Eine solche Einschränkung ist erforderlich, um dem Begriff der „berechtigten Sicherheitserwartungen“ die gebotene verfassungsmäßige Kontur zu geben. Die Anforderung einer Fehlerquote, die gegen Null tendiert, mag wünschenswert sein. Ein Patient mag verständlicherweise eine Sicherheitserwartung von 100 % an das implantierte Produkt haben. Davon zu trennen ist die Frage, inwieweit diese Sicherheitserwartungen tatsächlich „berechtigt“ sind. Die „berechtigten“ Sicherheitserwartungen haben ihre Grenze zwingend in dem Bereich des „technisch Machbaren“. Darüber hinaus gehende Erwartungen mögen auf Seiten der Anwender und Patienten verständlicherweise bestehen, sind aber im Ergebnis nicht „berechtigt“. Andernfalls würde von Herstellern – insbesondere von Hochrisikoprodukten – etwas Unmögliches verlangt.
II. Operationskosten als durch Körperverletzung verursachter Schaden i. S. der Artt. 1, 9 S. 1 lit. a der Produkthaftungsrichtlinie
Die zweite Vorlagefrage beschäftigt sich mit der Problematik, ob es sich bei den Operationskosten der Austauschoperation um einen durch Körperverletzung verursachten Schaden i. S. der Artt. 1, 9 S. 1 lit. a der Produkthaftungsrichtlinie handelt.
In diesem Zusammenhang ist bereits fraglich, ob die Frage in ihrer vom BGH gewählten Formulierung überhaupt zulässiger Vorlagegegenstand im Rahmen des Art. 267 AEUV sein kann. Denn grundsätzlich muss sich die nationale Frage auf eine abstrakte Auslegung des Unionsrechts beschränken 18. Es wird abzuwarten sein, ob der EuGH eine Fragestellung annimmt, die sich auf die Auslegung der Richtlinie im Hinblick auf einen konkreten Schadensposten beschränkt, oder ob er aus dieser Fragestellung zumindest noch einen zulässigen Kern herauszuschälen vermag 19. Bereits in der Rechtssache Veedfald hat der EuGH insoweit festgestellt, dass der Begriff des Schadens in der Richtlinie nicht definiert werde, weshalb es grundsätzlich dem nationalen Gesetzgeber überlassen bleibe, die in Art. 9 genannten Schadensarten näher zu definieren 20. Jedoch müsse für die genannten materiellen Schadensarten eine angemessene und vollständige Entschädigung der durch ein fehlerhaftes Produkt Geschädigten sichergestellt werden. Somit dürfte die zweite Vorlagefrage primär nach nationalem Recht zu klären sein. Eine europarechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts wäre nur dann in Erwägung zu ziehen, wenn ein Schadensersatzanspruch nach nationalem Recht mangels Kausalität ausscheidet, wofür es im vorliegenden Fall aber keine Anhaltspunkte gibt.
Rechtsprechung MedR (2014) 32: 242–244 243
10) Hierzu auch Oeben, MPR 2010, 212.11) BGH, Beschl. v. 30. 7. 2013 – VI ZR 284/12 –, Rdnr. 12.12) BTDr. 11/5520, S. 15; ebenso Handorn, PHi 2011, 206, 207.13) Vgl. hierzu auch Graf von Westphalen, in: Foerste/Graf von Westpha-
len, Produkthaftungshandbuch, 3. Aufl. 2012, § 48, Rdnrn. 11, 36.14) Vgl. Graf von Westphalen, in: Foerste/Graf von Westphalen, Produkt
haftungshandbuch, 3. Aufl. 2012, § 48, Rdnr. 25.15) Vgl. Kullmann, Produzentenhaftung, 2013, Bd. 2, 3604, C S. 21.16) Ebenso, wenngleich diff. Brock/Lach, PharmR 2013, 480, 483.17) BGH, NJW 2013, 1302, 1303; BGH, NJW 2009, 1669, 1670;
Wagner, in: MüKo/BGB, Bd. 5, 6. Aufl. 2013, § 3 ProdHaftG, Rdnr. 5; Backmann/Wagner, MPR 2008, 29, 30; Oeben/Schiwek, MPR 2011, 145, 150.
18) Vgl. Classen, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, 2. Aufl. 2010, § 4, Rdnr. 70.
19) Zur Möglichkeit des EuGH, falsch gestellte Fragestellungen umzuformulieren, vgl. Classen, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, 2. Aufl. 2010, § 4, Rdnr. 70; auch hat der EuGH bereits sehr konkret formulierte Fragestellungen im Vorabentscheidungsverfahren angenommen, vgl. z. B. EuGH, RdA 2001, 180.
20) Ebenso EuGH, Urt. v. 25. 4. 2002 – c154/00 – Kommission/Griechenland.
III. Zusammenfassung und Ausblick
Die Auslegung des Art. 6 Abs. 1 der Produkthaftungsrichtlinie wird ein Stück Rechtssicherheit für die Beurteilung von Fällen herbeiführen, in denen zwar ein Fehler des konkreten Produkts nicht nachgewiesen ist, die Produktserie jedoch von einer gewissen erhöhten Fehlerwahrscheinlichkeit betroffen ist. Die unterschiedliche Rechtsprechung sowie die Diskussion in der Literatur verdeutlichen, dass es eine erhebliche Notwendigkeit gibt, dem unbestimmten Rechtsbegriff der „berechtigten Sicherheitserwartungen“ die notwendige verfassungsmäßige Kontur zu geben.
Es bleibt jedenfalls zu hoffen, dass der EuGH eine differenziertere Betrachtungsweise des Fehlerbegriffs vornimmt. Denn ausschlaggebend für die bisher ergangenen Entscheidungen jedenfalls des OLG Hamm oder des LG Stendal war, dass es um lebenserhaltende implantierbare Klasse IIIMedizinprodukte ging, deren Ausfallwahrscheinlichkeit in Bezug auf ein konkretes Bauteil deutlich höher lag als bei vergleichbaren Produkten. Es sollte dem Patienten letztlich nicht zumutbar sein, zunächst das Auftreten eines Fehlers abzuwarten, was im Hinblick auf lebenserhaltende implantierte Medizinprodukte der Billigkeit entsprechen dürfte. Inwieweit dieser Billigkeitsgedanke ohne Weiteres auf andere (Medizin)Produkte übertragbar ist, bleibt ungewiss und wird hoffentlich ausreichend trennscharf durch den EuGH beantwortet. Höchst fraglich ist bereits, ob eine erhöhte Fehlerrate im Promille oder unteren Prozentbereich hierfür ausreichend sein soll. Eine allzu liberale Haltung des EuGH würde zu einer unüberschaubaren Haftungserweiterung für Hersteller von Medizinprodukten führen und im Ergebnis zu einem unausgewogenen und innovationsfeindlichen Haftungsregime. Bei Anerkennung der abstrakten Fehlerwahrscheinlichkeit würde sich die weitere Diskussion auch auf die Frage verlagern, inwieweit bei solchen „Serienschäden“ eine Haftung gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 5 ProdHaftG ausgeschlossen ist. Lässt man den bloßen Fehlerverdacht bereits für die Annahme eines Fehlers i. S. des § 3 Abs. 1 ProdHaftG ausreichen, so läuft man Gefahr, dass dies zu einer faktisch uferlosen Ausweitung der Haftung des Herstellers von Medizinprodukten führt. Damit würde das ProdHaftG in die Nähe einer rechtspolitisch unangemessenen und vom Gesetzgeber nicht gewollten reinen Kausalhaftung für das bloße Inverkehrbringen von Produkten rücken. Dem Hersteller wäre dann eine realistische Möglichkeit zu eröffnen, sich für Entwicklungsrisiken gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 5 ProdHaftG zu entlasten.
Bei Kindern bedürfen Maßnahmen nach § 1906 Abs. 4 BGB keiner gerichtlichen Genehmigung
BGB §§ 1631 b, 1626, 1906 Abs. 4
1. Die nächtliche Fixierung eines Kindes in einer of-fenen heilpädagogischen Einrichtung ist keine geneh-migungsbedürftige Unterbringungsmaßnahme i. S. des § 1631 b BGB.
2. Die Vorschrift des § 1906 Abs. 4 BGB gilt nur für volljährige Betreute und kann im Kindschaftsrecht nicht analog angewendet werden.BGH, Beschl. v. 7. 8. 2013 – XII ZB 559/11 (OLG Oldenburg)
Problemstellung: In der Entscheidung des BGH geht es darum, ob die nächtliche Fixierung eines Kindes in einer offenen Einrichtung einer Genehmigung des
Familiengerichts nach § 1631 b Abs. 1 BGB oder § 1906 Abs. 4 BGB analog bedarf. Dies war aufgrund der aktuellen Gesetzeslage streitig:
Gemäß § 1906 Abs. 1, Abs. 2 BGB bedarf die Unterbringung eines Betreuten durch den Betreuer, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, der betreuungsgerichtlichen Genehmigung. Gleiches gilt gemäß § 1906 Abs. 4 BGB, wenn dem Betreuten, der sich in einer Anstalt, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung aufhält, ohne untergebracht zu sein, durch mechanische Vorrichtungen, Medikamente oder auf andere Weise über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig die Freiheit entzogen werden soll.
Gemäß § 1631 b S. 1 BGB bedarf die Unterbringung eines Kindes, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, der Genehmigung des Familiengerichts. Eine vergleichbare Regelung, wie sie § 1906 Abs. 4 BGB für sog. „unterbringungsähnliche Maßnahmen“ bei Betreuten enthält, existiert im „Kindschaftsrecht“ nicht.
Vereinzelt wurden die unterbringungsähnlichen Maßnahmen unmittelbar unter den Begriff der Unterbringung i. S. des § 1631 b BGB gefasst. Überwiegend wird der Begriff der Unterbringung jedoch eng ausgelegt, sodass es danach darauf ankommt, ob bei „unterbringungsähnlichen Maßnahmen“ § 1906 Abs. 4 BGB analog angewandt werden kann oder nicht.
Eine Meinung befürwortete die Analogie, da Kinder als nicht weniger schutzbedürftig angesehen werden als erwachsene Betreute, sodass der Minderjährigenschutz nicht hinter den für Betreute geltenden Regelungen zurückbleiben dürfe und damit eine Analogie geboten sei.
Nach anderer Ansicht wurde die Analogie verneint, da es bereits an einer planwidrigen Regelungslücke fehle. Der Gesetzgeber habe hier bewusst keine Regelung getroffen. Insbesondere wurde auch darauf verwiesen, dass es an einer vergleichbaren Interessenlage fehle, da Kindschaftsrecht und Betreuungsrecht sich hier wesentlich unterscheiden. Die Elternverantwortung sei anders als die Rechtsmacht des Betreuers keine rechtlich verliehene, sodass die Entscheidung über unterbringungsähnliche Maßnahmen allein bei den Eltern liege und der Staat nicht ohne ein hinreichend bestimmtes Gesetz durch eine Genehmigung eingreifen dürfe.
Der BGH hat sich in seiner Entscheidung der letztgenannten Meinung angeschlossen.
Zum Sachverhalt: Die Antragsteller sind Eltern eines 1999 geborenen Kindes, für das sie das gemeinsame Sorgerecht innehaben. Das Kind leidet unter einem frühkindlichen Autismus mit geistiger Behinderung und einem Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivitätssyndrom. Es zeigt krankheitsbedingt ausgeprägte Unruhezustände und extreme Weglauftendenzen. Seit 2008 lebt das Kind in einer offenen heilpädagogischen Einrichtung, in der es eine Einzelbetreuung erhält. Aus kinder und jugendpsychiatrischer Sicht war es zum Schutz des Kindes und seiner Mitbewohner indiziert, es nachts durch eine Fixierung mittels eines Bauch oder Fußgurtes bzw. eines entsprechenden Schlafsackes zu sichern. Die Eltern erteilten hierzu ihre Zustimmung, die das AG mit Beschl. v. 29. 1. 2009 in entsprechender Anwendung von § 1906 Abs. 4 BGB für die Dauer von längstens zwei Jahren genehmigte.
Auf Nachfrage des Gerichts haben die Eltern im vorliegenden Verfahren die Verlängerung der Genehmigung der nächtlichen Fixierung des Kindes beantragt. Das Familiengericht hat dem Kind einen Verfahrensbeistand bestellt, Stellungnahmen der Fachärzte des Kindes und des Jugendamtes eingeholt sowie die Eltern und das Kind in der Einrichtung angehört. Es hat den Antrag zurückgewiesen, da die Maßnahme nicht genehmigungsbedürftig sei. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Verfahrensbeistands blieb ohne Erfolg. Mit der vom OLG zugelassenen Rechtsbeschwerde möchte er weiter die gerichtliche Genehmigung der Fixierung erreichen.
Bearbeitet von RiAG Dr. iur. Markus Lamberz, Rathausstraße 99, 53859 Niederkassel, Deutschland
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