Anmerkungen zum JMD-Themenheft: Semiotik in der Mathematikdidaktik — Lernen anhand von Zeichen und...

3
168 Manfred Buth, Helga Gebert Anmerkungen zum JMD-Themenheft : Semiotik in der Mathematikdidaktik - Lernen anhand von Zei- chen und Reprasentationen Zusammenfassung Der folgende Diskussionsbeitrag setzt sich kritisch mit dem Versuch auseinander Ele- mente der Semiotik fUr die Mathematikdidaktik zu verwenden. Insbesondere wird auf die Beitrage von W. Darfier und G. Kadunz Bezug genommen. Summary The following statement analyzes the attempt to learn from semiotics within mathemat- ics education. Special focus is put on the contributions of W. Darfier and G. Kadunz. Die folgenden Anmerkungen zu Heft 3/4 des Journals fUr Mathematikdidaktik beginnen im Allgemeinen, wenden sich anschlieBend den AusfUhrungen von W. Darfier zu und setzen sich dann speziell mit dem Forschungsprogramm von G. Kadunz auseinander. Das Vorhaben der Mathematikdidaktik und insbesondere des JMD-Themenheftes 3/4 (2006), langst Bekanntes und V orhandenes aus einer anderen Perspektive, hier der Se- miotik, zu beleuchten, ist ebenso begruBenswert wie die Bereitschaft, Ergebnisse einer anderen Wissenschaft fUr die eigene Disziplin zu nutzen. Wenn man aber anhand des Heftes 3/4 versucht, den Aufwand abzuschatzen, der allein in der deutschsprachigen Ma- thematikdidaktik auf diesem Sektor betrieben wird und es dem gegeniiberstellt, was da- bei iiber den Perspektivwechsel hinaus an Ergebnissen herausgekommen ist, dann bleibt die Frage, ob dieser Berg wirklich aufgerurmt werden musste, wenn doch nur ein kleines Mauslein herauskommt. Selbst W. Darfier und G. Kadunz bieten nur offene Fragen, wenn es urn den Versuch geht, Elemente der Peirceschen Theorie in die Mathematikdi- daktik einfiieBen zu lassen: "Wie weit ist diagrammatisches Denken lernbar und wie kann dieses Lernen ermaglicht werden? Diese Frage ist besonders relevant vor dem Hin- tergrund der bekannten Tatsache, dass viele Lernende gerade nicht zu 'selbstkritischem' Denken mit Diagrammen (Visualisierungen) bereit sind." (W. Darfier, G. Kadunz; S. 313) "Allerdings wird mit dem Konzept der Abduktion nicht erklart, wie denn iiber- haupt Ideen fUr Hypothesen (im Individuum) entstehen." (W. Darfier, G. Kadunz; S. 315) W. Darfier begrundet seine Abneigung gegeniiber den abstrakten Objekten der Mathe- matik mit dem Hinweis darauf, dass sie bei den Schiilern Angst auslose. Er 'schlieBt' also vom Symptom der Angst auf die abstrakten Objekte der Mathematik als deren Ursache (JMD 28 (2007) H. 2, S. 168-170)

Transcript of Anmerkungen zum JMD-Themenheft: Semiotik in der Mathematikdidaktik — Lernen anhand von Zeichen und...

Page 1: Anmerkungen zum JMD-Themenheft: Semiotik in der Mathematikdidaktik — Lernen anhand von Zeichen und Repräsentationen

168

Manfred Buth, Helga Gebert

Anmerkungen zum JMD-Themenheft : Semiotik in der Mathematikdidaktik - Lernen anhand von Zei­

chen und Reprasentationen

Zusammenfassung

Der folgende Diskussionsbeitrag setzt sich kritisch mit dem Versuch auseinander Ele­mente der Semiotik fUr die Mathematikdidaktik zu verwenden. Insbesondere wird auf die Beitrage von W. Darfier und G. Kadunz Bezug genommen.

Summary

The following statement analyzes the attempt to learn from semiotics within mathemat­ics education. Special focus is put on the contributions of W. Darfier and G. Kadunz.

Die folgenden Anmerkungen zu Heft 3/4 des Journals fUr Mathematikdidaktik beginnen im Allgemeinen, wenden sich anschlieBend den AusfUhrungen von W. Darfier zu und setzen sich dann speziell mit dem Forschungsprogramm von G. Kadunz auseinander. Das Vorhaben der Mathematikdidaktik und insbesondere des JMD-Themenheftes 3/4 (2006), langst Bekanntes und V orhandenes aus einer anderen Perspektive, hier der Se­miotik, zu beleuchten, ist ebenso begruBenswert wie die Bereitschaft, Ergebnisse einer anderen Wissenschaft fUr die eigene Disziplin zu nutzen. Wenn man aber anhand des Heftes 3/4 versucht, den Aufwand abzuschatzen, der allein in der deutschsprachigen Ma­thematikdidaktik auf diesem Sektor betrieben wird und es dem gegeniiberstellt, was da­bei iiber den Perspektivwechsel hinaus an Ergebnissen herausgekommen ist, dann bleibt die Frage, ob dieser Berg wirklich aufgerurmt werden musste, wenn doch nur ein kleines Mauslein herauskommt. Selbst W. Darfier und G. Kadunz bieten nur offene Fragen, wenn es urn den Versuch geht, Elemente der Peirceschen Theorie in die Mathematikdi­daktik einfiieBen zu lassen: "Wie weit ist diagrammatisches Denken lernbar und wie kann dieses Lernen ermaglicht werden? Diese Frage ist besonders relevant vor dem Hin­tergrund der bekannten Tatsache, dass viele Lernende gerade nicht zu 'selbstkritischem' Denken mit Diagrammen (Visualisierungen) bereit sind." (W. Darfier, G. Kadunz; S. 313) "Allerdings wird mit dem Konzept der Abduktion nicht erklart, wie denn iiber­haupt Ideen fUr Hypothesen (im Individuum) entstehen." (W. Darfier, G. Kadunz; S. 315) W. Darfier begrundet seine Abneigung gegeniiber den abstrakten Objekten der Mathe­matik mit dem Hinweis darauf, dass sie bei den Schiilern Angst auslose. Er 'schlieBt' also vom Symptom der Angst auf die abstrakten Objekte der Mathematik als deren Ursache

(JMD 28 (2007) H. 2, S. 168-170)

Page 2: Anmerkungen zum JMD-Themenheft: Semiotik in der Mathematikdidaktik — Lernen anhand von Zeichen und Repräsentationen

Themenheft Semiotik 169

und gibt damit ein schOnes Beispiel fur Abduktion - also fur jenen Denkprozess, den manche Leute irrtiimlich fur einen logischen Schluss halten, nur weil sie Logik, Er­kenntnistheorie und Kognitionspsychologie in einen Topf werfen. Aber mit Abduktion kann man aus dem Symptom der Angst ebenso gut folgem, dass die Ursache in einem trotz aller Bemilhungen der Mathematikdidaktik immer noch miserablen Mathematikun­terricht liegt. AuBerdem miissten, wenn es so ware, wie Darfier schreibt, Angste auch in anderen Hichem aufireten, weil die Schiiler auch dort die abstrakten Objekte des Unter­richts nicht sehen kannen, so etwa den Begriff 'Gesellschaft' in Gemeinschaftskunde oder das vom Autor eines Werkes sehr sorgfaltig zu unterscheidende 'literarische Ich' im Deutschunterricht. SchlieBlich leben wir nicht mehr in der Steinzeit, in der jeder Lehren­de den Lemenden die Waffe konkret zeigen und in die Hand geben konnte, mit denen ein Wild erlegt werden sollte, sondem in einer 'mediatisierten Welt', urn dieses Schlag­wort einmal an der richtigen Stelle anzubringen. Nun ware man geneigt, die Anregung, Mathematik am konkreten Handeln und an der unmittelbaren Wahmehmung festzumachen, immer noch fur 16blich zu halten, obwohl das auch nicht gerade die neueste Einsicht ist. Aber dann bekundet Darfier unmissver­standlich die Sichtweise, "in der Zeichen selbst und Handlungen mit ihnen die eigentli­chen Gegenstande der mathematischen Tatigkeiten sind" (S. 209). Wie immer auch die­ser Satz zu verstehen sein mag, hinsichtlich der 'mathematischen Tatigkeiten' gibt es nur zwei Maglichkeiten: Entweder das Adjektiv 'mathematisch' ist emst gemeint. Dann geht es do ch wieder urn jene abstrakten Objekte, die Darfier vermeiden will, in diesem Fall urn Abbildungen und Funktionen. Oder es sind nur Handlungen an konkreten Gegens­tanden gemeint. Dann handelt es sich urn einen Kurs in Fingerfertigkeit, der nichts mit Mathematik zu tun hat. Selbst fur den Fall, dass der Satz aus dem Zusammenhang geris­sen und somit Darfier missverstanden se in sollte, bleibt unklar, wie Darfier von den Ta­tigkeiten zur Mathematik kommen will. Damit eriibrigt sich jede weitere Diskussion bis auf den Hinweis, dass, wenn es so ware, wie Darfier schreibt, der Sportunterricht auch die Fiicher Mathematik und Physik abdecken wiirde. Denn jede Riesenwelle am Reek erzeugt eine Schar konzentrischer Kreise und das nicht etwa nur an einer hin gekritzelten lnskription, sondem am eigenen Karper. Jeder 1 OO-m-Lauf ware dann eine lineare Funk­tion. Die Gesetze des freien Falls wiirden am Trampolin gelemt und die Gesetze des schiefen Wurfs beim FuBball. Fazit: Wer die Schiiler aus psychotherapeutischen Griin­den vor der Begegnung mit den Gegenstanden der Mathematik bewahren will, sollte we­nigstens anderen nicht weismachen wollen, es handele sich bereits urn Mathematik, er sollte den Schiilem auch den Rest ersparen und fur das Ganze die Verantwortung ilber­nehmen. Das alles sei an den Aufzeichnungen von G. Kadunz erlautert. Dort wird ein rotations­symmetrischer Karper auf einer ebenen Unterlage abgerollt. Es entstehen zwei geschlos­sene Linien, die allein aufgrund der optischen Wahmehmung als konzentrische Kreise angesprochen werden. Falls das schon Mathematik sein soUte, ware die Kettenlinie eine quadratische Parabel und das pythagoreische Komma der Musik gleich Null. Femer macht die Projektion des vorgegebenen Karpers auf die Ebene, so wie die Schiller sie gezeichnet haben, nur dann Sinn, wenn die Rotationsachse zur Projektionsebene parallel verlauft. Aber dann bleibt die Frage, was die Projektion mit dem Abrollvorgang zu tun hat. Denn dort ist die Achse nicht parallel zur Abrollebene.

Page 3: Anmerkungen zum JMD-Themenheft: Semiotik in der Mathematikdidaktik — Lernen anhand von Zeichen und Repräsentationen

170 Manfred Buth, Helga Gebert

In der nun folgenden Skizze soll gezeigt werden, wie aus der manuellen Tatigkeit Ma­thematik erwachsen konnte. Dabei ist unerheblich, ob dergleichen im Normalunterricht uberhaupt moglich ist. Auch mussten die Ausfiihrungen noch durch Hinweise zur me­thodischen Umsetzung im Unterricht erganzt werden. Wenn Fund f die Kreisflachen sind, die den Rotationskorper begrenzen, K und k ihre kreisfOrmigen Rander, R und r ihre Radien und a die Rotationsachse, dann wahle man auf K den Punkt P und aufa den Punkt Q. Variiert man Q aufa, dann gibt es im Fall r < R genau einen Punkt Q auf a, so dass die Strecke PQ den Kreis k im Punkt S schneidet. Lasst man nun P bei festgehaltenem Punkt Q einmal auf K umlaufen, dann erzeugt die Strecke PQ einen Kegei mit der Grundflache K und der Spitze Q. Der gegebene Korper ist unter Voraussetzungen, die hier nicht we iter erortert werden sollen, in dem Kegei enthalten. Er schneidet den Kegel in den beiden Kreisen K und k und kann deshalb weg­gelassen werden. Wenn man aber den Kegei abrollt, dann ergibt sich sofort: es entstehen zwei konzentrische Kreise, deren Radien sich mit Hilfe des Strahlensatzes aus den Ma­Ben des urspriinglich gegebenen Korpers herleiten lassen. Das konnte auf Schulniveau ais Mathematik geiten. Schuiem, die schon den Strahlensatz kennen, sollte man diese Uberlegungen bei ent­sprechender methodischer Aufbereitung zumuten konnen. Sollte das nicht der Fall se in, dann ware zu uberiegen, ob man nicht von vomherein einen Kegel als abzurollenden Korper vorgibt. Besser no ch durfte es sein, ein 'diagrammatisches SchlieBen', das zur Mathematik fiihrt und nicht bei manuellen Tatigkeiten stehen bleibt, an Beispielen aus der ebenen Geometrie durchzufiihren. Eine Anregung dazu befindet sich in MNU, 1998, 340-343. Dort wird als Zugang zu den Strahlensatzen vorgeschlagen, die Ebene durch Verschieben eines geeigneten Dreiecks zu parkettieren und dann 'kollaterales Wissen' einzusetzen.

Adresse der Autoren

Manfred Buth Bataverweg 35 22455 Hamburg

He\gaGebert Saseler Miihlenweg 85 22395 Hamburg

Manuskripteingang: 25. Januar 2007 Typoskripteingang: 13. April 2007