Anna Perera • Guantanamo Boy - bücher.deAnna Perera Guantanamo Boy Aus dem Englischen von...

24
Anna Perera • Guantanamo Boy

Transcript of Anna Perera • Guantanamo Boy - bücher.deAnna Perera Guantanamo Boy Aus dem Englischen von...

Page 1: Anna Perera • Guantanamo Boy - bücher.deAnna Perera Guantanamo Boy Aus dem Englischen von Bernadette Ott 4441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB_Titelei.indd 341_30749_Perera_Guantanamo

Anna Perera • Guantanamo Boy

441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB_Titelei.indd 1441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB_Titelei.indd 1 18.03.11 08:5618.03.11 08:56

Page 2: Anna Perera • Guantanamo Boy - bücher.deAnna Perera Guantanamo Boy Aus dem Englischen von Bernadette Ott 4441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB_Titelei.indd 341_30749_Perera_Guantanamo

DIE AUTORIN

Aut

oren

foto

: © p

riva

t Anna Perera wurde in London geboren als Tochter einer Irin und eines sri-lankischen Vaters. Sie arbeitete als Lehrerin und hat mehrere Kinderbücher ver-öffentlicht. Auf einer Wohltä-tigkeitsveranstaltung erfuhr sie, dass selbst Kinder und Jugend-liche in Guantanamo Bay fest-gehalten werden und beschloss daraufhin, »Guantanamo Boy« zu schreiben.

441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB_Titelei.indd 2441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB_Titelei.indd 2 18.03.11 08:5618.03.11 08:56

Page 3: Anna Perera • Guantanamo Boy - bücher.deAnna Perera Guantanamo Boy Aus dem Englischen von Bernadette Ott 4441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB_Titelei.indd 341_30749_Perera_Guantanamo

Anna Perera

GuantanamoBoy

Aus dem Englischen vonBernadette Ott

441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB_Titelei.indd 3441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB_Titelei.indd 3 18.03.11 08:5618.03.11 08:56

Page 4: Anna Perera • Guantanamo Boy - bücher.deAnna Perera Guantanamo Boy Aus dem Englischen von Bernadette Ott 4441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB_Titelei.indd 341_30749_Perera_Guantanamo

cbt ist der Jugendbuchverlagin der Verlagsgruppe Random House

Für JLK, in Liebe

Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100Das für dieses Buch verwendeteFSC®-zertifizierte Papier München Super Extraliefert Arctic Paper Mochenwangen GmbH.

1. Auflage Erstmals als cbt Taschenbuch Juni 2011Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform© 2009 by Anna PereraDie Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel »Guantanamo Boy« bei Puffin Books, London.© 2009 der deutschen Ausgabe bei cbt Verlagin der Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenAlle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Übersetzung: Bernadette OttUmschlagfoto: mauritius images/SomosUmschlaggestaltung: init.büro für gestaltung, Bielefeldhe ∙ Herstellung: AnGSatz: Uhl + Massopust, AalenDruck und Bindung: GGP Media GmbH, PößneckISBN: 978-3-570-30749-6Printed in Germany

www.cbt-ju gend buch.de

441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB_Titelei.indd 4441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB_Titelei.indd 4 18.03.11 08:5618.03.11 08:56

Page 5: Anna Perera • Guantanamo Boy - bücher.deAnna Perera Guantanamo Boy Aus dem Englischen von Bernadette Ott 4441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB_Titelei.indd 341_30749_Perera_Guantanamo

ANMERKUNG DER AUTORIN

Obwohl Guantanamo Boy eine fiktive Geschichte ist, beruht sie auf wahren Begebenheiten. Es ist und bleibt eine Tatsache, dass Kinder und Jugendliche entführt, misshandelt und ohne Beweise im Namen der Gerechtigkeit in Guantanamo Bay und

vielen geheimen Gefängnissen auf der ganzen Welt festgehalten werden.

441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB.indd 5441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB.indd 5 21.03.11 16:2021.03.11 16:20

Page 6: Anna Perera • Guantanamo Boy - bücher.deAnna Perera Guantanamo Boy Aus dem Englischen von Bernadette Ott 4441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB_Titelei.indd 341_30749_Perera_Guantanamo

»Auge um Auge, und die ganze Welt wird bald blind sein.«

Mahatma Gandhi

441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB.indd 6441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB.indd 6 21.03.11 16:2021.03.11 16:20

Page 7: Anna Perera • Guantanamo Boy - bücher.deAnna Perera Guantanamo Boy Aus dem Englischen von Bernadette Ott 4441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB_Titelei.indd 341_30749_Perera_Guantanamo

7

1

Spiele

Manchmal, denkt Khalid, als er sich nach noch so einem lang-weiligen Tag aus der Schule nach Hause schleppt, manchmal wäre ich überall anders lieber als hier. Gleich wird er seinem Vater erklären müssen, was gestern im Unterricht los war, und bei dem Gedanken wird ihm jetzt schon schlecht. Vielleicht, hofft er, ist der Brief aus der Schule ja noch nicht da, in dem alles über sein schlechtes Betragen im Chemieunterricht drin-steht. Aber als er die Haustür aufsperrt, entdeckt er ihn so-fort. Der Brief ist durch den Schlitz auf den Boden gefallen. Mr Ahmed, 9 Oswestry Road steht auf dem weißen Umschlag. Khalid bückt sich danach.

Na super. Auf der Rückseite steht als Absender die Roch-dale Highschool. Khalid schüttelt den Kopf. Er schmeißt seine Schultasche in die Ecke, wirft seine Schuluniformjacke über den Garderobenhaken an der Wand und stürmt in die Küche, wo mehr Licht ist. Es riecht noch überall nach dem Curry, das sie gestern Abend gegessen haben.

Einen Augenblick lang starrt Khalid wie ein Fremder auf die ruhige Ordnung in der Wohnküche. Auf die Messer, die alle ordentlich in dem Messerblock stecken. Auf das blau-weiß gestreifte Geschirrtuch, das sauber gefaltet über dem Hand-tuchhalter hängt. Das rosa Seifenstück in der durchsichtigen Seifenschale neben dem glänzenden Spülbecken. Die gelb ge-strichenen Wände. Alles ist sauber und ordentlich, frisch und

441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB.indd 7441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB.indd 7 21.03.11 16:2021.03.11 16:20

Page 8: Anna Perera • Guantanamo Boy - bücher.deAnna Perera Guantanamo Boy Aus dem Englischen von Bernadette Ott 4441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB_Titelei.indd 341_30749_Perera_Guantanamo

8

hübsch – überhaupt nicht wie das Durcheinander und die Pa-nik, die er selbst spürt, wenn er sich vorstellt, dass sein Va-ter bald den Brief von seinem Chemielehrer lesen wird. Er lässt sich auf einen Stuhl fallen und hört auf das ferne Rau-schen des Verkehrs. Er wirft einen kurzen Blick auf die Wand-uhr, die gleichmäßig tickt, zählt die Minuten, bis die Haustür aufgehen wird. Seit Tagen ist sein Vater nicht vor sechs Uhr nach Hause gekommen, und jetzt ist es Viertel vor vier. Es kann noch Stunden dauern, bis er wieder da ist. Er arbeitet seit zehn Jahren in einem pakistanischen Restaurant als Koch.

Von dem schmalen Holztisch, der neben ihm an die Wand gerückt ist, steigt Khalid der Geruch nach Möbelpolitur in die Nase. Er legt die Füße auf den Tisch. Den Brief von der Schule behält er in der Hand. Er wird hier sitzen bleiben und warten, bis seine beiden Schwestern, die sechsjährige Aadab und die vierjährige Gul, aus dem Flur hereinstürmen, gefolgt von seiner Mutter mit den schweren Einkaufstüten in der Hand.

»Man kann sich nicht darauf verlassen, dass du dich im Che-mielabor so verhältst, wie es sich gehört«, hatte Mr Hanwood gesagt. »Das werde ich deinen Eltern leider mitteilen müssen, Khalid.«

Vielen Dank auch.»Ich hab ihn noch nie gemocht«, sagt Khalid laut. Dabei

war das gestern im Chemieunterricht überhaupt nicht seine Schuld gewesen. Sein Kumpel Nico war sauer auf Devy, weil der ihm immer noch Geld schuldete; und als Nico es von ihm zurückhaben wollte, meinte Devy, er könne ihn mal, worauf Nico Devy am Kragen packte und Devy ausrastete und mit seinem Chemiebuch Nico eins über die Rübe geben wollte. Doch Nico duckte sich rechtzeitig und stattdessen bekam Khalid eins ab. Natürlich hatte er sich gewehrt und mit seiner Schultasche nach Devy geworfen, die dann aber leider fast das

441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB.indd 8441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB.indd 8 21.03.11 16:2021.03.11 16:20

Page 9: Anna Perera • Guantanamo Boy - bücher.deAnna Perera Guantanamo Boy Aus dem Englischen von Bernadette Ott 4441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB_Titelei.indd 341_30749_Perera_Guantanamo

9

gesamte Labormaterial vom Tisch fegte. Und Mr Hanwood, der gerade zur Tür hereinkam, hatte nur gesehen, wie Khalid seine Schultasche als Wurfgeschoss benutzte.

Tja, daran kann er jetzt auch nichts mehr ändern. Außer er lässt den Brief verschwinden … Soll doch immer mal wieder vorkommen, dass was bei der Post verloren geht, oder? Aber einen Augenblick später fliegt auch schon die Haustür auf und Aadab und Gul stürmen kreischend herein.

»Aua! Gul hat mich gezwickt, Mummy!«, beschwert sich Aa-dab laut.

»Khalid, wie oft hab ich dir schon gesagt, dass du deine Schultasche nicht gleich hinter der Haustür fallen lassen sollst! Und deine Jacke sollst du auch nicht auf den Boden schmei-ßen!«

»Hab ich nicht!«, ruft Khalid zurück, nimmt schnell die Füße vom Tisch und stopft den Brief in seine Hosentasche. »Ich hab die Jacke an den Haken gehängt. Sie muss runterge-fallen sein!«

»Weil du sie nicht ordentlich aufgehängt hast«, sagt seine Mutter, die mit großen weißen Plastiktüten in jeder Hand in der Küchentür steht. Hinter ihr trampeln Aadab und Gul die Treppe hoch, um die Schuluniformen auszuziehen.

»Entschuldigung.« Khalid springt auf, um ihr die schweren Tüten abzunehmen. »Wann kommt Dad heute nach Hause?«

»Er muss jeden Augenblick da sein«, antwortet seine Mut-ter. »Ich hab ihm gesagt, er darf nicht mehr so spät Schluss machen, sonst rede ich mal ein ernstes Wörtchen mit seinem Chef. Typisch dein Vater, er schuftet andauernd und beklagt sich nie.«

Khalid schaut seine Mutter an. Sie hat eine Falte auf der Stirn, immer macht sie sich um irgendwas oder irgendwen Sorgen, das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum ihre glänzenden dicken, schwarzen Haare allmählich grau werden.

441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB.indd 9441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB.indd 9 21.03.11 16:2021.03.11 16:20

Page 10: Anna Perera • Guantanamo Boy - bücher.deAnna Perera Guantanamo Boy Aus dem Englischen von Bernadette Ott 4441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB_Titelei.indd 341_30749_Perera_Guantanamo

10

Ihre Adleraugen sind stets auf alles in ihrer Nähe gerichtet, was vielleicht nicht in Ordnung ist und ihrer Hilfe bedarf. Na-türlich könnte er auch ihr den Brief geben, aber sie sieht müde aus und hat schon angefangen, die Einkäufe auszupacken, und außerdem würde sie Khalid sowieso nur sagen, dass er warten soll, bis sein Vater da ist.

Also bemüht sich Khalid, so zu tun, als ob alles wie immer wäre; er geht ins Wohnzimmer und macht den Fernseher an. In den Nachrichten bringen sie einen Bericht über Guan-ta namo Bay, das Gefangenenlager auf Kuba, von dem Mr Tagg ihnen gestern im Geschichtsunterricht erzählt hat. Eine Gruppe von Soldaten ist zu sehen, die ihre Gewehre auf Män-ner in orangefarbenen Gefängnisanzügen gerichtet haben, die Männer hocken auf dem Boden und sind an Händen und Fü-ßen gefesselt, ringsum sind hohe Stacheldrahtzäune zu sehen, auf einer Seite außerdem scharfe, bissige Hunde.

»Derzeit findet ein Ausbau des Lagers statt, um weitere Tali-ban-Kämpfer aufnehmen zu können«, verkündet der Nachrich-tensprecher.

Arme Kerle, denkt Khalid.»Sechs Monate sind seit dem 11. September vergangen und

die Welt wird von Tag zu Tag verrückter«, sagt plötzlich sein Vater hinter ihm.

»Oh, hallo Dad! Ich hab gar nicht gehört, wie du reinge-kommen bist. Wie geht’s?« Khalids Herz klopft schneller als sonst, aber er versucht, ganz ruhig zu wirken.

»Meine Füße bringen mich noch um«, murmelt sein Vater, der nichts zu bemerken scheint. Seine müden Schritte entfer-nen sich.

Eine halbe Stunde später sitzt Khalid am Esstisch neben sei-nem Vater, der wieder mal erzählt, was er den ganzen Tag über alles durchmachen musste. Wie viele Linsencurrys nur halb

441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB.indd 10441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB.indd 10 21.03.11 16:2021.03.11 16:20

Page 11: Anna Perera • Guantanamo Boy - bücher.deAnna Perera Guantanamo Boy Aus dem Englischen von Bernadette Ott 4441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB_Titelei.indd 341_30749_Perera_Guantanamo

11

aufgegessen worden sind. Wie viele Brotreste weggeschmis-sen werden mussten. Er wühlt sich bei seiner Schilderung mit Leidensmiene durch sämtliche Abfalleimer des Restaurants. Aadab und Gul schneiden Grimassen und ahmen ihn nach, sie bemühen sich, nicht loszukichern und warten geduldig da-rauf, dass er den Muskatgewürzkuchen aus der Alufolie aus-wickelt, den er zum Nachtisch mitgebracht hat.

Khalid sitzt unruhig daneben und wird immer nervöser; er traut sich nicht, den Brief aus seiner Hosentasche zu ziehen.

»Und es wird immer schlimmer, sag ich euch«, fährt sein Vater fort. »Heute ist ein Mann ins Restaurant gekommen, er hat mit dem Finger auf Sabeeh, unseren neuen Ober, gezeigt und gesagt: ›Besser du verschwindest von hier! Sonst kriegst du’s mit mir zu tun!‹ Das ist doch nicht zu fassen. Der Junge hat ihm überhaupt nichts getan. Nichts, außer dass er einen Shalwar Kamiz trägt. Das ist alles.«

»Wir wollen hier am Tisch nicht über Weltpolitik diskutie-ren«, sagt seine Mutter. »Man verdirbt sich den Magen, wenn man sich über alles aufregt.« Sie will auch nicht, dass wir auf dem Boden essen wie ihr Bruder mit seiner Familie. »Wir le-ben in England«, sagt sie dann, »nicht in der Türkei oder in Pakistan, und die englischen Fußböden sind kalt, Kissen hin oder her.«

Khalid spült nach dem Abendessen immer ab. Er war erst sechs Jahre alt, als sein Vater ihm das beigebracht hat. »Das verlangt der Respekt vor deiner Mutter«, sagte er immer. »Wenn du ihr hilfst, zeigst du ihr, wie groß deine Achtung vor ihr ist.« Und Khalid tut es gerne, denn seine Mutter ist mit ihrer Arbeit als Sekretärin an der Grundschule ziemlich aus-gelastet und immer sehr müde, wenn sie nach Hause kommt.

Doch heute macht seine Mutter den Abwasch selbst und Khalid trocknet nur ab. Er steht neben ihr an der Spüle und packt mit dem Geschirrtuch das gesamte Besteck auf einmal,

441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB.indd 11441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB.indd 11 21.03.11 16:2021.03.11 16:20

Page 12: Anna Perera • Guantanamo Boy - bücher.deAnna Perera Guantanamo Boy Aus dem Englischen von Bernadette Ott 4441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB_Titelei.indd 341_30749_Perera_Guantanamo

12

um Zeit zu sparen. Hastig räumt er die roten Gläser auf das Regalbrett. Er will heute alles schnell hinter sich bringen. Um sechs Uhr ist er mit seinem pakistanischen Cousin am Com-puter verabredet. Tariq ist in Lahore, deshalb müssen sie eine Zeit vereinbaren, die für beide passt.

Seine Mutter bemerkt, dass er immer wieder auf die Uhr guckt. »Tariq ist kein schlechter Junge.« Sie lächelt, weil sie weiß, was in Khalids Kopf vorgeht. »Aber er kann sich nicht so recht entscheiden, was er mit seinem Leben anfangen will, sagt dein Onkel.«

»Was heißt, er kann sich nicht entscheiden? Er lernt doch Arabisch!« Khalids Vater breitet seine Zeitung auf dem Ess-tisch aus. »Ich zum Beispiel hab das nie fertiggebracht. Tariq spricht Englisch, Urdu, Punjabi – und jetzt lernt er auch noch Arabisch. Der wird es noch zu was bringen, der junge Mann! Du wirst schon sehen.«

Khalid blickt zu seiner Mutter, aber das Lächeln auf ihrem Gesicht ist verschwunden.

»Warum magst du Tariq nicht, Mum?«»Er hat einen schlechten Einfluss auf dich. Die ganze Zeit

höre ich immer nur, Tariq hier, Tariq da, als ob er für dich die wichtigste Person auf der Welt wäre.« Seine Mutter ver-schränkt die Arme vor der Brust und verdreht die Augen. »So-gar dein Vater sagt das.« Sie wirft einen trotzigen Blick zu Kha-lids Vater, der mit Unschuldsmiene dasitzt. »Doch, doch. Das tust du!«

Sein Vater blinzelt ihm heimlich zu, wie um zu sagen: Lass sie, ist gleich vorüber. Aber seine Mutter will nicht aufhören, sie starrt weiter auf den Computer in der Ecke, als wäre er ein böses Monster.

»Mein Bruder erzählt mir, dass Tariq viel zu viel Zeit am Computer verbringt und nicht mehr auf ihn hört«, fährt sie fort. »Was ist das denn für ein Leben für einen jungen Mann?

441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB.indd 12441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB.indd 12 21.03.11 16:2021.03.11 16:20

Page 13: Anna Perera • Guantanamo Boy - bücher.deAnna Perera Guantanamo Boy Aus dem Englischen von Bernadette Ott 4441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB_Titelei.indd 341_30749_Perera_Guantanamo

13

So verhält man sich nicht seinen Eltern gegenüber! Keine Dis-kussion!«

»Ich hab doch gar nichts gesagt!«, erwidert Khalid. Dabei hatte seine Mutter die Freundschaft zwischen ihm und Tariq überhaupt erst angestoßen. Lange Zeit war sein älterer Cou-sin für ihn eine Art Held gewesen, den er nur aus Erzählungen kannte. Vor zwei Jahren hatte er ihm dann die erste E-Mail geschrieben, nachdem Radhwa gestorben war, Tariqs heiß ge-liebte kleine Schwester. Sie war nur zwei Jahre alt geworden. Seine Mutter hatte ihm erzählt, dass Tariq danach total durch-gedreht war. Er wollte nicht glauben, dass sie wirklich tot war und hatte wochenlang die schlimmsten Albträume. Tariq war damals fünfzehn, Khalid erst dreizehn. Die ganze Familie trauerte um die kleine Radhwa, aber keinem brach dieser Tod so sehr das Herz wie Tariq.

»Schreib ihm, schreib deinem Cousin«, hatte seine Mutter zu ihm gesagt. »Damit er auf andere Gedanken kommt.« Und das hatte er getan. Er hatte Tariq die coolsten Weblinks über seine Heimatstadt und den AFC Rochdale geschickt. Es fühlte sich zuerst sehr seltsam an, mit jemandem E-Mails auszutau-schen, den er gar nicht kannte, aber allmählich wurden sie richtig gute Freunde, die miteinander über alles quatschten, was sie gemeinsam hatten. Computer, Videospiele, Fußball, Filme – was man eben so mag, egal ob man nun in Rochdale oder in Lahore lebt.

Wenn seine Mutter gewusst hätte, dass Khalid sich sogar mitten in der Nacht, wenn alle anderen im Haus schliefen, die Treppe runterschlich, um stundenlang mit Tariq zu chat-ten, dann hätte sie wahrscheinlich einen Anfall gekriegt. Doch wenn sie wüsste, wie viel er von seinem Cousin lernte, was er ihr natürlich nie erzählen konnte, dann würde sie sich wahr-scheinlich weniger Sorgen um ihn machen. Mit Tariq konnte er sich über alle möglichen Sachen unterhalten, die seine

441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB.indd 13441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB.indd 13 21.03.11 16:2021.03.11 16:20

Page 14: Anna Perera • Guantanamo Boy - bücher.deAnna Perera Guantanamo Boy Aus dem Englischen von Bernadette Ott 4441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB_Titelei.indd 341_30749_Perera_Guantanamo

14

Freunde hier überhaupt nicht interessierten. Die würden wahr scheinlich alle ihr ganzes Leben lang in Rochdale blei-ben, aber Khalid wollte die Welt sehen. Er wollte nicht wie sein Vater enden und tagaus, tagein für jemand anders schuf-ten, bis das Leben irgendwann vorbei war. Khalid lag seinem Vater andauernd in den Ohren, endlich ein eigenes Restaurant zu eröffnen – aber sein Vater wollte nicht.

»Es gibt nichts, was ich noch nicht gesehen habe.« Solche Sätze kommen von Tariq. »Ich war in der Türkei, ich war in Medina und ich habe die Moschee von Quba gesehen. Es ist unglaublich, wie grün die Kuppel leuchtet.«

Khalid versucht, sich ein Grün vorzustellen, das grüner und leuchtender ist als jedes andere Grün, aber es gelingt ihm nicht. Grün ist für ihn eine Farbe wie alle anderen.

Tariq erzählt ihm von den heiligen Stätten des Islam, vor allem Medina, wo der Prophet Mohammed begraben ist. Aber Khalid hat damit ehrlich gesagt seine Schwierigkeiten. Es lang -weilt ihn meistens, wenn Tariq in seinen E-Mails damit an-fängt. Ihn interessieren andere Weltgegenden und Länder – Island oder die Arktis. Einsame und abgelegene Orte. Klirrende Kälte. Länder, in denen wenig Menschen leben. Eisberge im Packeis. Er hasst heiße Temperaturen. Sein Traumziel wäre Grönland.

Und außerdem mag er es nicht, belehrt zu werden. Er fühlt sich dann so, als wäre er in der Schule, nicht als würde er zu Hause mit seinem Cousin chatten. Tariq ist nur zwei Jahre älter als er, aber er behandelt ihn manchmal wie ein kleines Kind. Bloß weil er nicht immer weiß, wo alle die Orte liegen, von denen Tariq spricht. Khalid war bisher nur ein einziges Mal in Pakistan und das war vor elf Jahren. Sie haben damals seinen Onkel besucht, den Bruder seiner Mutter, das war nach dessen Übersiedlung aus der Türkei. Tariq und er hat-ten sich damals nicht kennenlernen können, weil Tariq bei sei-

441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB.indd 14441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB.indd 14 21.03.11 16:2021.03.11 16:20

Page 15: Anna Perera • Guantanamo Boy - bücher.deAnna Perera Guantanamo Boy Aus dem Englischen von Bernadette Ott 4441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB_Titelei.indd 341_30749_Perera_Guantanamo

15

ner Großmutter war. Khalid kann sich an fast nichts von dieser Reise erinnern, nur an die unerträgliche Hitze und die stau-bigen Straßen und an den goldenen Krummsäbel an der Wand im Wohnzimmer des Onkels. Das ist nicht viel.

Er war auch noch nie in Karachi, wo die Schwestern seines Vaters leben. Aber er stellt es sich genauso langweilig vor wie den kleinen Ort in der Nähe von Lahore, wo Tariq mit seinen Eltern und seinen Geschwistern wohnt.

Was Khalid viel mehr interessiert, sind die neuesten Com-puterspiele. Auch Tariq ist davon begeistert und hat sogar selbst ein Spiel erfunden, das sie bald miteinander ausprobie-ren wollen.

»Khalid ist schon ganz flink auf der Tastatur, er braucht beim Schreiben gar nicht mehr auf die Buchstaben zu schauen«, er-zählt sein Vater jedem, der ihm zuhört. Meistens handelt es sich dabei um Mac, ihren schottischen Nachbarn aus Haus Nr. 11, der zwei Töchter im gleichen Alter wie Khalids Schwestern hat. »Das musst du mal gesehen haben, er tippt schneller als der Wind.« Mac streichelt Khalid immer wie einem kleinen Kind über den Kopf, wenn er kurz bei ihnen reinschaut, und dann müssen alle lachen. Danach gehen Mac und sein Vater meistens nach draußen, um über Benzinpreise, Scheibenwischerflüssig-keit, Chrompolitur oder andere Dinge zu reden, die niemanden sonst interessieren.

Mum schickt Aadab und Gul zum Waschen und Zähneput-zen hoch ins Bad und in der Küche wird es still. Das ist für Khalid immer die schönste Stunde des Tages.

Der Chat mit Tariq kann beginnen. Die Küchentür ist zu und Khalid sitzt endlich allein vor dem Computer auf dem kleinen Ecktisch.

»Hallo, Cuz«, fängt Tariq an. »Ich hatte noch keine Zeit, mir die Fußballergebnisse von Samstag anzuschauen. Wie hat Roch dale gespielt?«

441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB.indd 15441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB.indd 15 21.03.11 16:2021.03.11 16:20

Page 16: Anna Perera • Guantanamo Boy - bücher.deAnna Perera Guantanamo Boy Aus dem Englischen von Bernadette Ott 4441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB_Titelei.indd 341_30749_Perera_Guantanamo

16

»Die hatten Glück, dass es am Schluss noch zu einem Un-entschieden gereicht hat – ziemlich hartes Match«, antwortet Khalid.

»Das heißt, sie müssen das nächste Spiel gewinnen, sonst steigen sie wahrscheinlich ab, oder?«, fragt Tariq.

»Sieht so aus.« Khalid gibt einen Seufzer von sich, wartet auf Tariqs Antwort.

»Wäre aber schade. Was ich heute wirklich begriffen habe: Egal wieviel man lernt, man kann immer noch dazulernen. Ich weiß, dass ich nichts weiß. Ich habe schon so viele Bücher gelesen und stelle immer wieder fest, wie wenig ich von der Welt weiß! Und ich habe gedacht, die hätten das Spiel schon in der Tasche. Aber lass dir erzählen, was ich heute alles gelernt habe, denk nicht mehr an das vergangene Wochenende …«

Khalid überfliegt Tariqs weitschweifige Ausführungen über seinen Arabischunterricht. Er scrollt den Text ungeduldig wei-ter, bis endlich das Thema kommt, das ihn interessiert. Aufge-regt beugt er sich zum Bildschirm vor, die Ellenbogen aufge-stützt.

»Neue Nachrichten von der Spielefront«, kündigt Tariq da an. Und was dann folgt, liest Khalid ganz genau, Wort für Wort, egal ob er die Ideen und Pläne seines Cousins technisch genau versteht oder nicht.

»Ich habe noch keinen Namen für das Spiel«, schreibt Tariq. »Aber sechs Charaktere, sechs Mitspieler aus unterschied-lichen Ländern, das wäre wahrscheinlich am besten. Dann könnten mehrere Spieler gleichzeitig online gehen und gegen-einander kämpfen. Was hältst du davon?«

»Ja, super, sechs müssen unbedingt sein«, tippt Khalid schnell zurück. »Aber wir brauchen dafür einen echt coolen Namen!!!!«

Die Zeit vergeht schnell, während Khalid sich in die Prob-leme bei der Erfindung eines solchen Spiels vertieft. Ta-

441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB.indd 16441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB.indd 16 21.03.11 16:2021.03.11 16:20

Page 17: Anna Perera • Guantanamo Boy - bücher.deAnna Perera Guantanamo Boy Aus dem Englischen von Bernadette Ott 4441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB_Titelei.indd 341_30749_Perera_Guantanamo

17

riq beschreibt ihm alles ausführlich. Die ganzen mathemati-schen Schwierigkeiten beim Programmieren, dann noch die Spielregeln, wer schließlich der Gewinner sein soll – das al-les liest sich so, als müsste das Ergebnis noch spannender sein als Counter Strike. Khalid ist ein absoluter Fan von Counter Strike, das er immer bei Nico spielt. Auf der einen Seite sind die Terroristen, die überall Bomben legen wollen, und die an-deren gehören zu einer Spezialeinheit der Polizei, die diese Bomben aufspüren und entschärfen müssen. Und es wird viel geballert. Wie im Krieg. Tariq und Khalid spielen auch gerne Grand Theft Auto, bei dem man einen Adrenalinkick kriegt, wenn man alles Mögliche in die Luft fliegen lässt und Autos stiehlt. Starcraft, ein Online-Strategiespiel, bei dem man im Weltall kämpft, ist im Augenblick ihr Lieblingsspiel. Aber sie chatten auch noch über jede Menge anderer Spiele, während Tariq an seiner eigenen Erfindung weiterbastelt, dem ultima-tiven Computerspiel, das immer noch keinen Namen hat. Der Name ist natürlich ganz wichtig. Aber der größte Spaß dabei wird sein, dass es ihr eigenes Computerspiel ist.

Über dem Chat mit Tariq vergisst Khalid den Brief von der Schule, den er seinem Vater noch zeigen muss. Dann geht die Küchentür auf, und seine Mutter kommt herein, um sich einen Apfel aus der Obstschale auf dem Tisch zu holen.

»Es ist schon halb acht. Schluss jetzt mit dem Computer, Khalid!«

Immer das Gleiche. Er hat nie genug Zeit, um mit Tariq ausführlich über alles zu quatschen. Widerwillig tippt Khalid schnell Bis später, Cuz!, dann schaltet er den Computer aus.

»Überall in der Welt werden die Anti-Terror-Gesetze ver-schärft. Der Präsident von Pakistan hat den USA versprochen, Flughäfen und Militärstützpunkte für den Kampf gegen die Taliban zur Verfügung zu stellen«, ist aus dem Wohnzimmer ein Nachrichtensprecher zu hören.

441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB.indd 17441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB.indd 17 21.03.11 16:2021.03.11 16:20

Page 18: Anna Perera • Guantanamo Boy - bücher.deAnna Perera Guantanamo Boy Aus dem Englischen von Bernadette Ott 4441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB_Titelei.indd 341_30749_Perera_Guantanamo

18

»Musst du keine Hausaufgaben mehr machen?«, fragt seine Mutter.

»Ich kann nicht richtig denken, wenn hier dauernd der Fernseher an ist«, sagt Khalid.

»Na, das ist ja mal ganz was Neues.« Seine Mutter lässt ihn spüren, dass sie diese Ausrede nicht gelten lässt. Sie lacht, geht zurück ins Wohnzimmer und macht die Tür hinter sich wie-der zu.

Khalid holt seine Schultasche, setzt sich an den Esstisch und vertieft sich in sein Geschichtsbuch.

Galileo Galilei war ein Genie, wusste alles über Mathema -tik und Astronomie. Hat dann schnell noch das Fernrohr verbessert. Khalid lehnt sich in seinem Stuhl zurück. Woher wusste Galilei, dass das Fernrohr verbessert werden konnte? Je mehr er darüber nachdenkt, desto schwindliger wird ihm im Kopf. So viel Lernstoff auf einmal. Khalid muss fast alles zwei Mal lesen, bevor er irgendetwas begreift. Doch eines weiß er, Galileo war auf alle Fälle ein wichtiger Mann. Irgendwie cool. Alle mussten das schließlich anerkennen. Und er hat sich sogar mit der katholischen Kirche angelegt.

»Dieses Elend wird uns auch nicht verschonen.« Khalids Vater schaut kurz in die Küche rein, um sich ein Glas Was-ser zu holen. Khalid weiß nicht, was er meint oder wovon er spricht. Und er fragt ihn auch nicht. Aber er denkt einen Augenblick darüber nach. Typisch sein Vater. Er sagt Dinge, mit denen man nie so richtig was anfangen kann; das ist das Hauptproblem zwischen ihnen beiden. Wie wird sein Vater re-agieren, wenn er ihm den Brief gibt? Er weiß es nicht.

Khalid überlegt, was seine Freunde wohl über seinen Vater sagen würden, wenn sie hier wären. Wahrscheinlich würden sie ihn für leicht bekloppt halten, dass er aus heiterem Himmel plötzlich solche Sätze sagt. Aber seine Familie passt sowieso in kein Schema. Es ist alles ganz anders, als die Leute viel-

441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB.indd 18441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB.indd 18 21.03.11 16:2021.03.11 16:20

Page 19: Anna Perera • Guantanamo Boy - bücher.deAnna Perera Guantanamo Boy Aus dem Englischen von Bernadette Ott 4441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB_Titelei.indd 341_30749_Perera_Guantanamo

19

leicht denken. Seine Mutter hat nie einen Schleier getragen und auch ihre Mutter damals in der Türkei nicht, wo sie auf-gewachsen ist. Vielleicht will sein Vater mit diesem Satz ja auf die wachsende Feindseligkeit gegenüber Moslems anspielen, auch hier in ihrer Nachbarschaft. Khalid selbst ist noch nie be-schimpft oder bedroht oder verprügelt worden, aber er kennt ein paar moslemische Jungs an seiner Schule, die sich nachts auf der Straße nicht mehr sicher fühlen; seit dem 11. Septem-ber hat sich das alles stark verändert.

Okay, manchmal sprechen sie in seiner Familie die Freitags-gebete und meistens befolgen sie auch die Essensvorschriften, aber weiter geht es in seiner Familie mit der Religion nicht. Natürlich sind sie muslimisch. Sein Vater ist in Karachi auf-gewachsen. Dessen Vater, der inzwischen tot ist, hatte dort in Pakistan eine Möbeltischlerei und Dad war das jüngste Kind, seine Mutter war damals bereits neununddreißig. Seine drei Schwestern sind viel älter als er. Nur eine von ihnen, die Äl-teste, ist verheiratet, und deshalb leben die anderen bei ihr und ihrem Ehemann.

»Diese ewig tuschelnden Weiber!« So nennt sein Vater sie. Er mag sie nicht besonders und erwähnt sie nur ganz selten.

»Dein Dad ist wie mein Opa«, sagt Nico. »Erzählt dir im-mer, dass du dein Hemd ordentlich in die Hose stecken und dir die Haare kämmen sollst, bevor du aus dem Haus gehst. Als ob irgendjemand sich da heute noch drum schert!«

Immer wenn Khalid Nico nach der Schule auf der Straße trifft, trägt Nico ein schwarzes T-Shirt und blaue Low-Riders, und er isst immer eine Tüte Chips. Dabei grinst er dauernd wie ein Blödmann, als hätte er gerade was besonders Ver-rücktes entdeckt. Nico ist ein echter Kumpel. Vor allem aber sorgt er dafür, dass den Kids in der Nachbarschaft der Alkohol nicht ausgeht. Sein Bruder Pete ist schon achtzehn und die beiden sehen sich total ähnlich, deshalb braucht Nico im La-

441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB.indd 19441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB.indd 19 21.03.11 16:2021.03.11 16:20

Page 20: Anna Perera • Guantanamo Boy - bücher.deAnna Perera Guantanamo Boy Aus dem Englischen von Bernadette Ott 4441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB_Titelei.indd 341_30749_Perera_Guantanamo

20

den bloß den Ausweis seines Bruders vorzuzeigen und schon kann er kistenweise Bier kaufen, das er dann zu Wucherprei-sen ver dealt. Warum er dauernd Chips mampfen muss, ver-steht Khalid nicht. Aber Nico weiß darauf natürlich eine Ant-wort, wie auf fast alles.

»Chips essen, Bier trinken und die Glatzen im Park auf-mischen, hey, is doch ’n super Leben, Kumpel!« Sein tie-fes Lachen klingt fast wie das Bellen eines Hundes, jeden-falls nicht nach einem fünfzehnjährigen Jungen. Khalid muss dann immer mitlachen. Nico hat noch nie gesagt, dass er auch mal gerne Moslems aufmischen würde, und Khalid glaubt, das würde er auch nie tun. So ein Typ ist er nicht. Keiner von seinen Freunden ist so ein Typ. Sie gucken nicht auf Haar-farbe, Rasse oder Religion und lauter solche Sachen. Und die Gruppe, die sie die Glatzen nennen, das sind ein paar elf- und zwölfjährige Jungs mit glatt rasierten Köpfen, die in der Sied-lung hinter der Schule wohnen und sich einen Spaß draus machen, ständig das Arschloch rauszukehren und alte Damen zu belästigen.

»Fertig mit den Hausaufgaben?« Seine Mutter ist wieder in die Küche gekommen und blickt zu Khalid, während sie sich einen Pfefferminztee macht.

»Ja. Ich glaub, ich geh noch mal kurz zu Nico. Die Strategie für unser Fußballspiel morgen besprechen.«

Seine Mutter verzieht den Mund. Sie hat sich mit einer Zeitschrift an den Tisch gesetzt. »Frag erst Dad, Khalid. Du weißt, dass ich diesen großspurigen Jungen nicht mag!«

»Mum! Nico ist in Mathematik der Beste in unserer Klasse und sein Bruder studiert in Manchester an der Uni Elektro-technik. Dad sagt, viel schlauer geht’s schon fast nicht mehr.«

»Trotzdem, ich mag ihn nicht. Ich finde ihn irgendwie selt-sam. Egal was du sagst.«

»Ja, ja. Schon gut!« Khalid drückt ihr einen kleinen Versöh-

441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB.indd 20441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB.indd 20 21.03.11 16:2021.03.11 16:20

Page 21: Anna Perera • Guantanamo Boy - bücher.deAnna Perera Guantanamo Boy Aus dem Englischen von Bernadette Ott 4441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB_Titelei.indd 341_30749_Perera_Guantanamo

21

nungskuss auf die Wange und tut einen Augenblick so, als würde er sich für das Stickmuster in ihrer Handarbeitszeit-schrift interessieren. Der Geruch ihres Jasminparfüms steigt ihm in die Nase. Dann schnappt er sich blitzschnell seine blaue Baseballkappe und ist auch schon zur Tür hinaus.

»Warte einen Augenblick, Sohn!« Dad streckt seinen Kopf unter der Motorhaube von Macs altem Ford Fiesta hervor, als Khalid an ihm vorbeisausen will. »Zieh erst deine Schuluni-form aus. Du ruinierst deine Sachen.«

Khalid setzt eine Unschuldsmiene auf. »Ich geh nur schnell mal zu Nico – wegen Mathe, er soll mir ein paar Gleichungen erklären und solche Sachen.«

Aus irgendeinem Grund muss Mac laut lachen.»Als ich in deinem Alter war, haben wir uns nicht groß um

Mathe und Fußball gekümmert, sondern auf der Straße den Mädchen hinterhergepfiffen.«

Khalids Vater seufzt. Er hört es nicht gerne, wenn Mac seinem Sohn solche Ratschläge gibt. Aber mit vierundfünfzig ist Mac nun wirklich aus dem jugendlichen Alter raus, da muss Dad sich keine Sorgen machen, dass Khalid sich von seinen Sprüchen groß beeindrucken lässt. Khalid versucht, sich vor-zustellen, wie es für Mac wohl wäre, wenn er mit ihm und sei-nen Kumpels im Park rumhängen würde. Wenn er mal mit-kriegen würde, wie sich das Leben heute wirklich anfühlt, wenn man jung ist.

»Mannomann, so viele attraktive Weiber gab es damals, und wir waren immer mittendrin!« Mac erinnert sich grinsend.

»Ja? Echt? Cool!« Khalid grinst und geht weiter. »Bis spä-ter.«

An der Straßenecke rollt Khalid seine Hemdsärmel hoch, zieht den Bund seiner Schulhose so weit runter, bis sie tief auf den Hüften sitzt, biegt rechts ab, danach die zweite links und dann schnell durch die Sackgasse rüber in den Park. Am

441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB.indd 21441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB.indd 21 21.03.11 16:2021.03.11 16:20

Page 22: Anna Perera • Guantanamo Boy - bücher.deAnna Perera Guantanamo Boy Aus dem Englischen von Bernadette Ott 4441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB_Titelei.indd 341_30749_Perera_Guantanamo

22

Kinderspielplatz mit den Schaukeln vorbei. Zu dem geteerten Platz zwischen den Eichen, wo sie sich normalerweise alle auf den kaputten Bänken treffen.

»Hey, Kumpel, was läuft?« Tony Branda zeigt sein breites Grinsen. »Du verpasst hier nix!«

Sie sind alle schon da: Nico, Mikael, Holgy, Tony und ein paar andere Jungs von der Schule, die nicht zu ihrer Clique gehören. Weil ringsum nichts los ist, sorgen sie selbst für Un-terhaltung. Machen kleine Schaukämpfe, um die Reaktionsge-schwindigkeit der anderen zu testen, reißen schmutzige Witze, rauchen, trinken Bier und streiten miteinander um die letzten Pringles.

»Blödgesicht! Gib sie mir zurück!« Holgy versucht, Tony die grüne Papprolle wieder wegzuschnappen.

»Nein! Du hast letzte Woche alle aufgegessen!« Tony gibt ihm mit der Papprolle eins über den Kopf. Daraufhin stößt Holgy, dem die dicken braunen Haare wirr ins Gesicht fal -len, Tony so lange den Ellenbogen in die Seite, bis der die Pringles-Rolle fallen lässt. Holgy macht hastig einen Schritt zu -rück, seine Nase verschwindet in der Papprolle, als er sich die Chips schnell in den Mund schüttet. Man hört ihn schmat-zen. Alle müssen lachen. Holgy ist einfach ein total verrückter Spinner.

»Tor! Tooor! Jaaaa!!!«, ruft Mikael laut. Das Bild muss ihm bei Holgys Sieg sofort in den Kopf gekommen sein und Khalid muss lächeln. Sie gehen nicht nur zusammen auf die-selbe Schule, sie haben auch noch eine andere Sache gemein-sam: Sie spielen jeden Donnerstagabend zusammen Fußball in einer Fünf-gegen-Fünf-Mannschaft. Und der Punktestand ihres Teams spukt dauernd in ihren Köpfen herum, vor allem in Mikaels Kopf.

»Wir brauchen noch eine Strategie für das Spiel morgen.« Tony Banda guckt zu Nico.

441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB.indd 22441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB.indd 22 21.03.11 16:2021.03.11 16:20

Page 23: Anna Perera • Guantanamo Boy - bücher.deAnna Perera Guantanamo Boy Aus dem Englischen von Bernadette Ott 4441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB_Titelei.indd 341_30749_Perera_Guantanamo

23

»Lasst uns doch einfach gewinnen!« Nico drückt eine Ziga-rette aus. »Wär doch mal was Neues, oder?«

»Ja, stimmt. Wir haben letzte Woche etwas lahm gespielt«, meint Khalid.

»Etwas lahm gespielt?« Holgy lacht dröhnend. »Wir haben seit ewigen Zeiten kein Tor mehr geschossen – und Tony, sei so nett und versuch nicht wieder, eine rote Karte zu kriegen, indem du den Schiedsrichter anspuckst, okay?« Holgy war ein begnadeter Keeper mit kräftigen Sprungwaden, der bei jedem schwierigen Ball, den er gerade noch erwischte, wie ein See-löwe brüllte. Der beste Spieler in ihrer Mannschaft.

»Ach komm schon«, sagt Tony. »Das war nicht mein Feh-ler.«

Tony ist ein großartiger Stürmer, denkt Khalid. Er konnte wie kein anderer Druck machen und nach vorne spielen. Aber egal wie lang Tony inzwischen schon Fußball spielte, er schaffte es einfach nicht, sich an die Regeln zu halten. Wo hatte er bloß immer seinen Kopf?

»Wo steckt eigentlich Lexy heute?«, fragt Mikael. Die Er-wähnung von Lexy lässt Tony schwach werden. Nicht nur ihn. Lexy mit ihren langen blonden Haaren, ihren großen blauen Augen und ihrer super Figur lässt sie alle schwach werden. Bei jedem Spiel steht sie am Spielfeldrand, in ihren hochhacki gen schwarzen Stiefeln und ihrem rosa Duffelcoat, egal bei wel-chem Wetter. Sie rennt zu Tony hin, wenn er mal wieder vom Platz gestellt worden ist (was ungefähr jedes zweite Spiel vor-kommt), und dann umarmt sie ihn, als hätte er gerade ein Tor geschossen.

»Weißnich«, sagt Tony. »Wird schon noch aufkreuzen.« Und da kommt sie auch schon mit ihren hohen Absätzen auf alle zugestöckelt.

»Was findet sie bloß an dir, Tony?« Nico schüttelt ungläubig den Kopf. Auch er schaut Lexy bewundernd an.

441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB.indd 23441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB.indd 23 21.03.11 16:2021.03.11 16:20

Page 24: Anna Perera • Guantanamo Boy - bücher.deAnna Perera Guantanamo Boy Aus dem Englischen von Bernadette Ott 4441_30749_Perera_Guantanamo Boy_TB_Titelei.indd 341_30749_Perera_Guantanamo

UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Anna Perera

Guantanamo Boy

Taschenbuch, Broschur, 384 Seiten, 12,5 x 18,3 cmISBN: 978-3-570-30749-6

cbt

Erscheinungstermin: Mai 2011

Hochaktuell, politisch, packend Der fünfzehnjährige Khalid, Sohn pakistanischer Einwanderer, führt ein ganz normales Leben inRochdale, England. Doch das ändert sich schlagartig, als Khalid die Ferien in Pakistan verbringt.Ohne Vorwarnung wird er verhaftet, gewaltsam verhört und nach Guantanamo verschleppt.Immer wieder hofft Khalid, dass sich seine Inhaftierung als Missverständnis herausstellt. Dochder Albtraum hat erst begonnen und während seine Altersgenossen gerade erst ihre Freiheitentdecken, verbringt Khalid zwei Jahre in dem rechtslosen, dunklen Ort, der Guantanamoheißt...